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Brigitte Melzer

Whisper

Königin der Diebe

Roman

hockebooks

»Whis, wach auf!« Eindringliche Worte, die sich in ihren Verstand bohrten. Schlagartig war sie hellwach. Sie öffnete die Augen und fuhr hoch, die Hand tastend nach ihrem Dolch ausgestreckt.

Finger schlossen sich um ihr Handgelenk und hinderten sie daran, nach der Waffe zu greifen. Anajas’ Finger. »Du sollst nur aufwachen, niemanden angreifen.«

Whisper entspannte sich. »Vielleicht könntest du dir dann angewöhnen, einen Menschen nicht so zu wecken, als müsste er in die Schlacht ziehen.« Gähnend setzte sie sich auf und schlug die Decke zur Seite. Sie unterdrückte einen Fluch, als sie sah, dass sie in ihrem Kleid eingeschlafen war. Rasch sprang sie auf und begann damit, den Stoff ihrer Röcke geradezustreichen. Zu ihrem Glück ließen sich die Falten ohne Weiteres herausziehen. »Hat Gavin gestern noch etwas herausgefunden?«, fragte sie Anajas, während sie sich mit ihrem Kleid beschäftigte.

Anajas schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Aber ich bin mir sicher, er hatte einen erfüllten Abend. Er liegt im Wagen und schläft seinen Rausch aus.«

»Rausch?« Whisper fuhr herum. »Das glaube ich ja nicht! Wie kann er sich in unserer Lage betrinken?«

»Glaube mir, das ist nicht sonderlich schwer.« Anajas lächelte. »Nachdem du gestern eingeschlafen warst, bin ich auch noch einmal losgezogen. Ich wollte mich umsehen und nach einem Weg in die große Halle suchen. Ganz gleich, mit wem du sprichst, jeder drückt dir sofort einen Humpen in die Hand. Da ist es wirklich nicht leicht, nüchtern zu bleiben.«

»Hast du wenigstens etwas herausgefunden?«

Anajas verzog das Gesicht. »Die Menschen sind ausgesprochen gesprächig, dennoch weiß ich nicht mehr, als wir bereits wussten. Aber«, und augenblicklich hellte sich seine Miene wieder auf, »dein neuer Freund Alanderiel war heute Morgen hier, um dir einen Besuch abzustatten.«

»Heute Morgen?« Sie betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Welche Tageszeit haben wir jetzt, Anajas?«

»Kurz nach Mittag.«

»Was! Warum hast du mich so lange schlafen lassen?«, fuhr sie ihn an.

»Du warst müde.«

Whisper hatte Mühe, nicht die Fassung zu verlieren. »Das glaube ich einfach nicht! Uns läuft die Zeit davon, und du lässt mich den halben Tag verschlafen! Anajas, das ist nicht dein Ernst!«

Anajas strahlte immer noch. »Nur zum Teil. Sieh es einfach so: Bis zum Abend haben wir kaum etwas zu tun.« Mit einem breiten Grinsen griff er in sein Hemd. »Und heute Abend werden wir uns in der großen Halle umsehen.« Er zog zwei gelbe Tücher aus seinem Hemd und wedelte damit vor Whispers Nase herum. Ein blauer Eisvogel hüpfte aufgeregt vor ihren Augen auf und ab.

Es dauerte eine Weile, bis Whisper begriff, was sie da sah. »Das ist unser Passierschein. Wie hast du das geschafft?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht ich. Wie ich schon sagte, war der Barde heute Morgen hier. Er meinte, du würdest dich vermutlich darüber freuen.«

Whisper streckte zögernd die Finger aus und strich über das Tuch in Anajas’ Händen. »Warum hat er das getan?«

Anajas zuckte die Schultern. »Vielleicht hat er ja was für dich übrig.«

Whisper schenkte seinen Worten keine Beachtung. Sie griff nach ihrer Bürste, kämmte ihr Haar und fasste es mit einem roten Samtband im Nacken zusammen.

Gefolgt von Anajas trat sie vor das Zelt. Nach dem gedämpften Licht im Innern war das Sonnenlicht strahlend hell. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich um. Auf dem Hof herrschte dasselbe Durcheinander wie tags zuvor. Whisper setzte sich in Bewegung. Zielsicher bahnte sie sich einen Weg durch die Gassen und ließ dabei den Blick schweifen.

»Was hast du vor?« Anajas wich keinen Zoll von ihrer Seite.

Ich suche Alanderiel. »Wir werden noch eine Kleinigkeit essen, dann wird es ohnehin bald an der Zeit sein, in die große Halle zu gehen.« Es stimmte sie misstrauisch, dass der Barde ihr ein derart kostbares Geschenk gemacht hatte. Warum sollte er das tun? Sie fragte sich, wie er an die beiden Bänder gekommen war.

Ohne Anajas in ihre Gedanken einzuweihen streifte sie quer über den Hof, wanderte von Feuer zu Feuer und sah sich um. Von Alanderiel war keine Spur zu entdecken. Da sie nicht wusste, wo sich sein Zelt befand, blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten. Er würde mit Sicherheit ebenfalls am Abend in der großen Halle sein.

Anajas besorgte für sie beide etwas Braten, frisches Brot und einen Schlauch Wein. Whisper kaute lustlos darauf herum ohne irgendeinen Geschmack wahrzunehmen und spülte alles mit einigen Schluck Wein hinunter. Hätte man sie gefragt, sie wäre nicht einmal in der Lage gewesen, zu sagen, ob der Wein süß oder sauer war. Ihre Gedanken waren weit entfernt. Sie versuchte sich auf den Abend vorzubereiten. Ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen, da sie nicht im Entferntesten wusste, was sie in der großen Halle erwartete.

Anajas versuchte mehrmals, sich mit ihr zu unterhalten. Whisper antwortete lediglich mit einem knappen Nicken oder Kopfschütteln. Schließlich gab er auf. Seite an Seite kehrten sie zum Zelt zurück und warteten auf den Abend.

Sie hockte neben Anajas auf dem Boden und starrte grübelnd ins Nichts. Es war später Nachmittag, als eine Stimme vom Zelteingang her zu hören war. »Ist jemand hier?« Einen Augenblick später steckte Alanderiel den Kopf herein.

Whisper war beinahe erleichtert ihn zu sehen. Sie wollte einige drängende Fragen beantwortet haben, ehe sie sich am Abend in die große Halle begab. Sie winkte ihn herein.

»Ich hoffe, mein kleines Geschenk hat dir gefallen, meine Schöne?«, fragte er lächelnd. Als er Anajas erblickte, verneigte er sich leicht.

»Du hättest mir kaum eine größere Freude bereiten können.« Whisper deutete auf eines der Kissen, die auf dem Boden lagen. »Nimm Platz, ich möchte mit dir sprechen.«

Alanderiel ließ sich im Schneidersitz nieder und blickte ihr mit einem verschmitzten Lächeln entgegen. »Was kann ich für dich tun? Möchtest du ein Lied hören?«

Whisper schüttelte den Kopf. »Nein. Erkläre mir nur, warum du das für mich getan hast.«

»Whis!« Anajas stieß sie in die Seite. »Wie kannst du so direkt sein?!«

Alanderiel winkte lachend ab. »Das macht mir nichts aus. Im Gegenteil: Ich finde es ausgesprochen erfrischend.« Sein Blick wanderte von Anajas zu Whisper und wieder zurück. »Du willst also wissen, warum ich dir die Tücher geschenkt habe.«

»Ganz recht. Für eine nahezu Unbekannte erscheint mir das doch ein ausgesprochen kostbares Geschenk zu sein – zumal sich jeder hier wünscht, in der großen Halle singen zu dürfen.« Whisper sah ihm tief in die Augen. »Warum, Alanderiel?«

Alanderiel lächelte noch immer. Er wich ihrem Blick nicht aus. »Ich kann nicht behaupten, ein Bewunderer deiner Kunst zu sein, wenngleich mir der Name Silberzunge nicht gänzlich unbekannt ist.« Whisper schnappte nach Luft, Alanderiel ließ sie jedoch gar nicht erst zu Wort kommen. »Wie dem auch sei, nicht du warst es, die mich dazu bewogen hat, dir dieses Geschenk zu machen, sondern dein Leibwächter.«

»Was?«

»Er hat mich erkannt«, hörte sie Anajas neben sich sagen.

Alanderiel nickte. »Im letzten Sommer spielte ich in der Halle Eures Vaters, dort habe ich Euch gesehen, Herr. Es war nicht ganz einfach, Euch ohne Bart wiederzuerkennen, dennoch ist es mir geglückt.«

Ich hätte von Anfang an allein arbeiten sollen. Whisper seufzte.

Alanderiel fuhr fort: »Ich weiß, welcher Tag bald bevorsteht, und wenn man die Dinge logisch betrachtet und eins und eins zusammenzählt, kommt man nur zu einem Ergebnis.«

Whisper hob den Kopf. »Ich wage kaum zu fragen.«

»Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Ich bin kein Anhänger Dungarvans. Ich stamme nicht einmal aus Dallán, wenngleich ich mich hier sehr wohl fühle. Doch wenn ich eine Wahl hätte, würde ich lieber Euren Bruder auf dem Thron sehen, Anajas.«

Whisper starrte ihn an, unfähig, etwas zu sagen.

Anajas hingegen schien nicht sonderlich überrascht zu sein. »Womöglich gibt es noch mehr, womit Ihr uns helfen könntet?«

»Das wäre durchaus denkbar. Wenn ihr Dungarvans Arbeitszimmer sucht, begebt euch in die erste Etage. Folgt dem Gang, der hinter der Galerie verläuft. Es ist die dritte Tür auf der rechten Seite. Seine Privatgemächer erreicht ihr über die Treppe am Ende dieses Ganges. Sie ist der einzige Zugang«, erklärte Alanderiel.

»Ich danke Euch, mein Freund«, Anajas nickte.

Whisper hatte ihre Sprache wiedergefunden. »Du dankst ihm? Wer sagt dir, dass uns Dungarvans Männer nicht schon erwarten, wenn wir dort erscheinen?« Anajas’ Gutgläubigkeit machte sie fassungslos.

Alanderiel hob beschwichtigend die Hände. »Wenn es dich beruhigt, werde ich einfach so lange hier bleiben, bis ihr zurück seid. Euer Freund kann einstweilen auf mich achtgeben.«

Ja, und die Wache weiß längst von uns. Alles an Alanderiels Geschichte schrie danach, eine Falle zu sein, und doch – sie hatten kaum eine andere Wahl.

Anajas rief nach Gavin.

*

Als es endlich so weit war, überprüfte sie ein letztes Mal den Sitz ihres Kleides und ordnete ihre Frisur. Sie griff nach ihrer Gitarre und hängte sie sich über die Schulter. Das Tuch mit Dungarvans Wappen befestigte sie zwischen all den anderen Bändern, die den Hals des Instruments zierten. Ganz zum Schluss nahm sie Hasenfuß in die Hand. Die Waffe war ein verrückter Einfall gewesen. Gleichzeitig betrachtete Whisper sie als eine Art Glücksbringer. Lass mich nicht im Stich.

Anajas trat zu ihr. »Also gut, gehen wir.«

Whisper musterte ihn von oben bis unten. Er trug einfache dunkle Gewänder und ein Schwert an seiner Seite. Sie schüttelte den Kopf. »Lass das Schwert hier. Damit werden sie dich nicht in die Halle lassen.«

»Ich bin dein Leibwächter.«

»Muss ich dich wirklich erst daran erinnern, dass niemand in der Halle eines Adligen Waffen trägt – von seinen Männern einmal abgesehen?«

Anajas seufzte. »Nein, ich fürchte, du hast recht.« Er löste die Schnalle seines Waffengürtels und warf ihn zur Seite.

Whisper schenkte ihm ein gehässiges Grinsen. »Du wirst mich wohl mit deinen Fäusten verteidigen müssen, großer Held.«

Seine finstere Miene sagte ihr deutlich, dass er genau das tun würde, sollte es nötig sein.

Nachdem Anajas Gavin angewiesen hatte, im Zelt auf ihre Rückkehr zu warten und Alanderiel nicht aus den Augen zu lassen, machten sie sich schließlich auf den Weg.

Der Hof war vom Licht unzähliger Fackeln und Lagerfeuer erhellt, deren Widerschein die bei Tage grauen Mauern in zuckende Ungeheuer aus schwarzen Schatten und orange züngelnden Flammen verwandelte. Ein wogendes Meer aus Licht und Schatten.

Wann immer sich ihnen eine Wache in den Weg stellte, hob Whisper ihre Gitarre und zeigte das Tuch. Sie verließen den äußeren Teil der Festungsanlage und erreichten schließlich den inneren, ruhigeren Hof. Hier waren weniger Menschen unterwegs. Whisper sah sich um. Allein an der Längsseite des Hauptgebäudes waren drei Eingänge. Der Haupteingang, ein großes Portal mit zwei Flügeln, vor dem sechs Wachen postiert waren, und zwei Nebeneingänge, jeweils von zwei Männern bewacht. Die Götter allein wussten, wie viele Eingänge es sonst noch geben mochte.

»Wenn du in der Halle bist, kann es gut sein, dass du singen musst. Was wirst du dann tun?«, raunte Anajas ihr zu.

Und wenn schon. Whisper lächelte entspannt. »Bei den vielen Menschen, von denen jeder nichts anderes im Sinn hat, als einmal vor dem Herzog zu singen? Unwahrscheinlich.«

Sie erreichten das Hauptportal.

»Euer Herr erwartet die großartige Silberzunge in seiner Halle«, sagte sie. Gleichzeitig wedelte sie mit dem gelben Tuch vor der Nase eines Wachmannes.

»Folge einfach dem Gang bis zum Ende, dann triffst du geradewegs auf die große Halle«, erklärte der Wachmann. Ein anderer meinte grinsend: »Und mach dich darauf gefasst, nicht die Einzige zu sein. Heute Abend ist wirklich alles vertreten: Silberzungen, Goldkehlchen. Die Götter allein wissen, wer noch alles.«

Umso besser. Whisper dankte mit einem Lächeln für die Auskunft und betrat mit Anajas an ihrer Seite das Hauptgebäude. Sofort gingen ihre Augen auf Wanderschaft. Unmittelbar hinter dem Portal tat sich eine gewaltige, belebte Eingangshalle auf, in deren Zentrum eine breite Freitreppe nach oben führte. Whisper erkannte eine Galerie, die über der Eingangshalle von der Treppe wegführte. Dahinter lag die Welt im Dunkeln. Das werde ich mir später genauer ansehen. Ein breiter, mit Fackeln erhellter Gang führte links an der Treppe vorbei, von einem Ende des Hauses zum anderen. Die große Halle war bereits von Weitem zu erkennen. Die Türen standen weit geöffnet und entließen den Schein des Feuers in den Gang. Menschen wanderten umher. Damen, die sich bei ihren Galanen untergehakt hatten, unterhielten sich miteinander oder kicherten verstohlen. Andere summten eine Melodie oder lachten über einen Scherz, den jemand gemacht hatte. Auf den Gängen und in der Eingangshalle herrschte lebhaftes Treiben.

»Ganz schön voll hier«, murmelte Anajas.

»Es könnte kaum besser sein«, gab Whisper leise zurück. »Je mehr Menschen hier sind, desto weniger wird man uns beachten. Falls wir getrennt werden, treffen wir uns im Zelt wieder.«

»Ich würde dich hier nur ausgesprochen ungern aus den Augen verlieren.«

Whisper unterdrückte einen Seufzer. »Anajas, du bist mein Leibwächter, damit du nicht als Gaukler auftreten musst. Ich brauche nicht wirklich Schutz«, erinnerte sie ihn.

Er nickte. »Hatte ich doch tatsächlich für einen Augenblick vergessen. Komm, sehen wir uns um.«

Whisper und Anajas betraten die große Halle. Zunächst wurde ihnen der Blick nach vorne von unzähligen Rücken verwehrt. Menschen drängten sich hinter dem Eingang, stellten sich auf die Zehenspitzen und versuchten einen Blick darauf zu erhaschen, was im Zentrum der Halle dargeboten wurde. Die Klänge einer Laute drangen an ihr Ohr, sie vernahm eine zarte Stimme, die dazu sang. Whisper sah die Gesichter andächtig lauschender Menschen. Dann verhallten die letzten Klänge der Melodie. Beifall brandete auf.

Aus den Tiefen der Halle vernahm sie die Stimme eines Mannes: »Wohl gesungen, Mädchen. Wir werden sicher noch Gelegenheit haben, uns zu unterhalten.« Sie vermutete, dass es der Herzog selbst war, der da gesprochen hatte.

Neugierig geworden reckte sie den Kopf, um über die breite Front aus Rücken hinwegzuspähen. Ein Stück weiter vorne erkannte sie hufeisenförmig angeordnete Tische. Das Holz war so dunkel, dass es im Fackelschein beinahe schwarz wirkte. Massiv, alt und schartig, ebenso wie die Bänke, die davor standen. Immer wieder wurde die Reihe der Tische und Bänke von gewaltigen Säulen aus Stein unterbrochen, auf denen die Last der Decke ruhte. Menschen drängten sich um die Säulen herum, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu haben. An der offenen Seite des Hufeisens entdeckte sie ein Podest. Zwei Stufen führten zu der langen Tafel hinauf, die dort oben stand. Im Zentrum saß Herzog Aedh Dungarvan auf einem mächtigen Thron aus Holz und blickte auf ein Mädchen mit goldenen Locken herab, das sich tief vor ihm verneigte. Mit der Laute in der Hand zog es sich langsam zurück. Whisper achtete nicht weiter auf das Mädchen. Ihr Blick wanderte zu Dungarvan zurück, der auf dem Podest zwischen anderen hochrangigen Mitgliedern seines Haushalts saß. Der Herzog war völlig anders, als sie erwartet hatte. Ein böser Tyrann war in ihrer Vorstellung immer ein älterer Mann mit rabenschwarzem Haar, finsterer Miene und eng zusammenstehenden Augen gewesen. Der Herzog war etwa so alt wie Anajas. Sein Haar war golden, die Augen blau, und wenn er lachte, wie er es gerade tat, wirkte er keineswegs finster und bedrohlich. Er sah gut aus. Groß und von der schlanken, muskulösen Gestalt eines Kriegers. Offensichtlich sollte ich meine Vorstellung von einem Bösewicht dringend ändern.

Anajas bahnte sich einen Weg seitlich in die Halle hinein. Sie wollte ihm sagen, er solle in der Nähe der Tür bleiben, doch es war zu spät. Mit einem unterdrückten Fluch folgte sie ihm.

Eine gewaltige Hand legte sich auf ihre Schulter. So überraschend, dass sie Mühe hatte, nicht nach dem Mann zu schlagen, dem die Hand gehörte.

»Leonie Silberzunge!«, dröhnte eine tiefe Stimme hinter ihr.

Whisper erstarrte. Einen Augenblick lang war sie unfähig sich zu bewegen. Wie lange habe ich diesen Namen nicht mehr gehört?

Sie fuhr herum und blickte in das Gesicht eines Fremden. Doch es war nur auf den ersten Blick das Gesicht eines grimmigen Unbekannten. Der Kerl war ein Bär von einem Mann, nahezu zwei Meter groß und doppelt so breit wie sie. Nach und nach erkannte sie vertraute Züge. Ein schwarzer, von silbernen Strähnen durchzogener Bart verdeckte den größten Teil seines Gesichtes.

Die Haut war rau und zerfurcht wie altes Leder, von Wind und Wetter gegerbt.

»Du bist es wirklich, Mädchen!« Seine grauen Augen strahlten, und auf einmal wirkte er alles andere als grimmig.

Alles, was sie herausbrachte, war: »Kalva Bärentöter!« Dann streckte der Riese seine Pranken nach ihr aus und verschlang sie in einer herzlichen Umarmung, die ihr die Luft abdrückte. Whisper spürte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor, als er sie von den Beinen hob und wild im Kreis herumwirbelte.

Ein paar Menschen in ihrer Nähe hatten die stürmische Begrüßung bemerkt und beobachteten sie skeptisch. Wahrscheinlich weniger aus Neugierde als vielmehr aus Angst, der Bär könne ihnen auf die Füße treten. Nachdem Kalva Whisper wieder abgesetzt hatte, richteten die Zuseher ihre Aufmerksamkeit jedoch erneut nach vorne. Niemand achtete mehr auf die beiden – mit Ausnahme von Anajas, der stehen geblieben war und wirkte, als würde er jeden Augenblick angreifen.

»Kalva Bärentöter!«, wiederholte Whisper. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Den Anführer der Gauklertruppe hier zu sehen überraschte sie. Das letzte Mal war sie ihm auf dem Kontinent in der Nähe von Kilshannon begegnet.

»Es ist lange her, Leonie.«

Sie nickte. »Ja, das ist es.« Plötzlich verspürte sie einen dicken Kloß im Hals.

Kalva lächelte. »Es freut mich, zu sehen, dass du noch immer ein Herz für die schönen Künste hast.«

Anajas rückte näher. »Belästigt dich dieser Kerl?«

Whisper spürte seine Anspannung und legte ihm zur Beruhigung eine Hand auf den Arm. »Nein, es ist alles in Ordnung. Er ist ein alter Freund.« Es fiel ihr schwer, zu glauben, was sie da sagte, dennoch entsprach es der Wahrheit. Kalva Bärentöter war in der Tat ein alter Freund. Ein Freund, aus einer Zeit, in der sie Garian noch nicht gekannt und den bitteren Geschmack von Verrat noch nicht gekostet hatte. Und tatsächlich freute sie sich ihn zu sehen.

Anajas schien ebenfalls Schwierigkeiten zu haben, ihren Worten Glauben zu schenken. Ein Freund? Deutlich konnte sie die Frage in seinem misstrauischen Blick lesen. Whisper nickte.

Kalva achtete nicht weiter auf Anajas. Seine Feindseligkeit berührte den alten Bären offensichtlich nicht im Mindesten. »Bist du hier, um zu singen?«

»Singen?«, echote sie. »Nicht direkt. Wohl eher, um einen Blick auf die Konkurrenz zu werfen.«

In der Mitte der Halle verstummten die letzten Töne einer tragischen Melodie. Erneut brandete Beifall auf.

Kalva lachte. Ein heiseres Bellen, das die Luft zum Vibrieren brachte. »Du erscheinst in der Halle des Herzogs von Dungarvan und willst nicht singen? Ein guter Scherz.«

»Kein Scherz, Kalva. Es hat sich viel verändert. Ich habe seit Jahren nicht mehr …«

Von irgendwoher hörte sie jemanden rufen: »Wer ist der Nächste?«

Ehe sie wusste, wie ihr geschah, packte Kalva sie bei der Hand und zerrte sie hinter sich her. Mit seiner bloßen Masse bahnte er sich mühelos einen Weg zwischen den Menschen hindurch, geradewegs auf den Thron des Herzogs zu. Sie hörte, wie Anajas nach ihr rief, doch er erreichte sie nicht mehr. Vor dem Podest angekommen verneigte Kalva sich vor dem Herzog. »Euer Gnaden, Ihr solltet es Euch nicht entgehen lassen, dieses Mädchen singen zu hören.«

Überdeutlich spürte sie den Blick des Herzogs auf sich ruhen. Sie musste erkennen, dass es kein Zurück mehr gab. Es sei denn, der Herzog schickt mich fort.

Der Herzog schickte sie nicht fort. »Wie ist dein Name, Mädchen?«, fragte er stattdessen.

Whisper verneigte sich tief. »Leonie Silberzunge, Herr.«

»Nun denn, Leonie Silberzunge, warum zeigst du uns nicht einfach, dass dein Freund hier nicht schamlos übertrieben hat?«

Kalva nickte ihr aufmunternd zu und zog sich zu den übrigen Zuschauern zurück. Plötzlich stand Whisper allein im Zentrum der Halle. Sie verspürte keine Angst und keine Nervosität. Einzig eine innere Aufregung machte sich in ihr breit. Ein Gefühl, das sie lange nicht mehr verspürt hatte. Vorfreude. Sie nickte. »Warum nicht«, murmelte sie und griff nach ihrer Gitarre. Sie schlug versuchsweise ein paar Saiten an, dann hob sie den Kopf und blickte in die Runde. Irgendwo sah sie Anajas, der sie erschrocken anstarrte. Sein entsetzter Gesichtsausdruck entlockte ihr ein Lächeln.

»Nun denn, ihr Leute!«, rief sie. »Kommt und lauscht der Geschichte von Leonie Silberzunge.«

Sie hob Sir Hasenfuß in die Höhe und rief mit verstellter Stimme: »Silberzunge? Vielleicht wenn du dir eine Münze in den Mund steckst!«

Vereinzeltes Gelächter wurde laut. Whisper fuhr fort: »Warum überlässt du es nicht einfach den Leuten, sich ein Urteil darüber zu bilden, Hasenfuß?«

Und mit verstellter Stimme ließ sie Hasenfuß sagen: »Ja, ja, so ist es immer. Du redest und ich soll den Mund halten!«

»Ganz recht, mein Freund.« Für einen Augenblick schloss sie die Augen. Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal vor Publikum gesungen hatte? Whisper konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie wusste nicht, ob sie damals gut oder schlecht gewesen war. Alles, was sie wusste, war, dass sie jetzt ihr Bestes geben musste. Sie stimmte eine fröhliche Melodie an und begann zu singen:

 

»Es war einmal ein Herzog und der war froh,
er hatte ’nen ganzen Beraterzoo.
Wann immer was anstand, was ihn nicht betraf,
so schickte er einfach ein anderes Schaf.

Der Herzog, er war ein ganz schlauer Fuchs,
gesegnet mit Augen und Ohren vom Luchs,
doch ein Fuchs unter Schafen
lässt keins der Viecher mehr schlafen.

Der Herzog war weise, lieh jedem sein Ohr,
doch so manches Wort kam seltsam ihm vor.
Er traf die Entscheidung, geschickt und bedacht,
mancher Berater blieb schlaflos bei Nacht.

Die Berater wollten Einfluss,
das war ihr Verdruss.
Der Herzog durchschaute rasch dieses Spiel,
die Macht zu behalten, das war sein Ziel.

Die Berater wollten sich seiner entledigen,
fassten einen Plan, der sollt’s erledigen.
Sie schmiedeten Ränke, tagein und tagaus,
doch nun seht selbst, das kam dabei raus:

Geleitet von Ehrgeiz, zerfressen von Neid,
wollten sie Rache, noch heut tut’s ihnen leid.
Sie wollten gleich alles, zu viel auf einmal,
der Herzog bemerkte es, zu ihrer Qual.

Da sie nur die Schaf sind und der Herzog nicht dumm,
ließ er sie scheren und wandert nun auf Schaffellteppich’ herum.
Und die Moral von der Ballade:
Berater sind Schafe – schade.«

*

Sprachlos verfolgte Anajas, wie Kalva Bärentöter Whisper bei der Hand packte und vor Dungarvan zog. Er wollte einschreiten, doch da war es bereits zu spät. Zu seinem großen Erstaunen versuchte sie gar nicht erst, sich aus der Affäre zu ziehen. Sie griff einfach nach ihrer Gitarre und begann ihren Vortrag. Ein ausgesprochen gekonnter Vortrag, wie er zugeben musste. Sie hatte einfach ein altes Lied genommen und den König, der darin vorkam, kurzerhand gegen den Herzog ausgetauscht. Sie versucht ihm zu schmeicheln. Gerissenes, kleines Biest.

Anajas lauschte ihrem Lied einige Takte lang. Der warme Klang ihrer Stimme hielt ihn sofort in Bann. Whisper besaß die Stimme einer ausgebildeten Bardin, davon war er überzeugt. Abgesehen davon war ihr Verhalten alles andere als scheu oder zurückhaltend. Jeder Mensch, der sich überraschend im Mittelpunkt des Interesses – noch dazu vor dem Herzog – wiedergefunden hätte, wäre vermutlich ins Stottern geraten. Nicht so Whisper. Sichtlich gibt es einen Punkt in ihrer Vergangenheit, den sie mir bisher verschwiegen hat.

Anajas seufzte. Ihm war bewusst, dass sich Whisper so schnell nicht mehr der allgemeinen Aufmerksamkeit würde entziehen können. Bereits jetzt forderte der Herzog ein weiteres Lied.

Sein Blick wanderte zur Tür. Menschen kamen und gingen noch immer in einem steten Strom. Anajas riss sich von Whispers Gesang und ihrem Anblick los und zog sich langsam zurück. Er bahnte sich einen Weg zur Tür und verließ die große Halle. Gemächlich schlenderte er auf die Treppe zu. Mit sicheren Schritten stieg er die Stufen bis zum ersten Stock empor und folgte der Galerie, bis er den Gang erreichte, von dem Alanderiel erzählt hatte.

Am hinteren Ende der Galerie entdeckte er einen Wachmann, der ihm den Rücken zugewandt hatte. Rasch schlüpfte Anajas um die Ecke und trat in den Gang. Die dritte Tür auf der rechten Seite. Anajas verdrängte die Frage, ob Whispers Misstrauen womöglich berechtigt gewesen war. Bald würde er wissen, ob Alanderiel ihnen eine Falle gestellt hatte.

Er hastete den Gang entlang, vorbei an brennenden Fackeln, deren zuckendes Licht die Umgebung in etwas Lebendiges zu verwandeln schien. Anajas spürte, wie die Aufregung seinen Herzschlag beschleunigte. Er war es gewohnt, in den Kampf zu ziehen. Mann gegen Mann, bis einer unterlag. Klammheimlich irgendwo einzubrechen gehörte nicht zu den Dingen, die ihm vertraut waren. Das alles kam ihm irgendwie unwirklich vor.

Seine Hände tasteten nach der Steinwand. Den kühlen, rauen Stein zu fühlen vermittelte ihm ein beruhigendes Gefühl. Dennoch wünschte er sich sehnlichst, sein Schwert bei sich zu haben.

Mit den Fingern an der Wand folgte er dem Gang, zählte die Türen ab. Immer wieder warf er einen Blick zurück, um sich davon zu überzeugen, dass die Wache von der Galerie nicht auf einmal vor dem Gang stand und ihn erblickte. Er rechnete jeden Augenblick damit, einen lauten Alarmschrei zu hören. Es blieb jedoch still.

Vor der dritten Tür hielt er inne und lauschte. Kein Laut drang durch das dicke Holz nach außen. Zu seiner Erleichterung gab es kein Schloss. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und ließ die Tür aufschwingen. Alles war ruhig.

Anajas schlüpfte in das Arbeitszimmer des Herzogs und schloss die Tür hastig hinter sich. Erst dann sah er sich um. Die Vorhänge waren zurückgezogen und ließen den schwachen Widerschein der unzähligen Feuer im Hof herein. Es war nicht hell, doch das Licht reichte Anajas aus, um sich zu orientieren.

Wie ein schwarzer Schatten ragte der Schreibtisch des Herzogs aus der grauen Dunkelheit empor. Ein mächtiges schwarzes Skelett aus Holz, hinter dem ein gewaltiger Lehnstuhl lauerte. Der Stuhl war nicht verlassen. Anajas’ Herz setzte für einen Schlag aus. Dann erkannte er, dass er lediglich eine Robe des Herzogs gesehen hatte, die achtlos über die Stuhllehne geworfen worden war. Langsam ließ er den Blick weiterwandern. Er sah die Umrisse von Schränken und Regalen, erkannte einen großen Tisch, um den herum zwölf Stühle gruppiert waren, und einen Beistelltisch, auf dem eine Karaffe und einige Weinkelche standen. Vorsichtig setzte er sich in Bewegung, näherte sich dem Schreibtisch. Weiche Teppiche dämpften das Geräusch seiner Schritte, nahmen es auf und würden es nie wieder freigeben. Jeder Laut, jedes noch so geringe Zucken von Licht ließ ihn zusammenfahren und erschrocken in der Bewegung innehalten. Dafür bin ich wahrlich nicht geschaffen.

Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, als er endlich den Schreibtisch erreichte. Darum bemüht, nicht gegen den Tisch zu stoßen, umrundete er ihn und begann sich umzusehen. Unzählige Papiere stapelten sich darauf und begruben die hölzerne Oberfläche unter sich. Anajas machte sich daran, jedes einzelne Pergament hochzuheben und darunterzusehen. Sorgfältig darauf bedacht, nichts durcheinander zu bringen, legte er die Schriftstücke anschließend wieder so hin, wie er sie vorgefunden hatte. Er nahm sich Zeit für seine Aufgabe. Weder der Herzog noch einer seiner Schreiber würden mitten in der Nacht hierher kommen, so hoffte er zumindest. Der Herzog ist in der großen Halle und lauscht den Barden. Seine Schreiber sind entweder ebenfalls dort oder sie schlummern selig in ihren Betten. Das redete er sich immer wieder ein.

Nachdem seine Suche auf dem Schreibtisch nichts ergeben hatte, begann er damit, die Schubladen zu öffnen und zu durchsuchen. Ohne Erfolg. Sein Blick schweifte gerade zu einem der Schränke, als er von der Tür her ein Geräusch vernahm. Etwas, das wie ein leises Kratzen klang. Anajas schreckte auf. Er fand nicht mehr die nötige Zeit, die letzte Schublade zu schließen. Hastig zog er sich hinter die Tür zurück, wo ihn die Schatten verschlangen und vor neugierigen Blicken verbergen würden. So hoffte er zumindest.

Anajas wartete ab. Das Herz schlug ihm bis zum Halse, sodass er glaubte, es müsse selbst auf dem Gang noch zu hören sein. Die Tür lag ebenso im Schatten wie sein Versteck. Er musste jedoch nicht sehen, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. Er konnte es deutlich hören. Ich hätte den verdammten Riegel vorlegen sollen.

Fieberhaft dachte er darüber nach, was er jetzt tun sollte. Er kam zu dem Schluss, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als den nächtlichen Besucher niederzuschlagen und die Flucht zu ergreifen, ehe er wieder zu sich kommen konnte. Dann hatte er einen anderen Gedanken. Was, wenn der unliebsame Gast wusste, wo sich der Ring befand? Wenn es ihm gelang, ihn zum Reden zu bringen, war sein Problem gelöst. Er könnte ihn fesseln und knebeln, sich den Ring holen und Dungarvan-Hall auf dem schnellsten Wege verlassen.

Die Tür schwang auf. Jemand betrat das Arbeitszimmer. Anajas wartete ab, bis der Eindringling die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, ehe er aus seinem Versteck sprang und angriff. Er sah kaum mehr als einen dunklen Umriss, der sich undeutlich von der Dunkelheit abhob. Seine Hand schoss vor, suchte nach dem Mund des unbekannten Besuchers und fand ihn. Kein Schrei entrang sich der Kehle seines Opfers. Mit der anderen Hand umschlang er es von hinten. Anajas’ Griff war so hart, dass der andere seine Arme nicht mehr bewegen konnte. Das galt nicht für seine Beine. Ein harter Tritt traf Anajas am Schienbein. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut und konzentrierte sich darauf, seinem Opfer den Mund weiter zuzuhalten. Zähne gruben sich in seinen Zeigefinger, dennoch ließ er nicht los. Er wich einem weiteren Tritt aus, dabei lockerte er seinen Griff ein wenig. Sein Gegner fuhr herum und schlug blind nach ihm. Anajas duckte sich unter dem Hieb hinweg, holte aus und schlug ebenfalls zu. Er streifte sein Gegenüber mit der Faust. Das geriet ins Taumeln, hielt sich jedoch noch immer auf den Beinen. Anajas warf sich nach vorne, dem Angreifer entgegen. Von seinem Schwung mitgerissen gingen beide zu Boden. Mit dem Gewicht seines Körpers nagelte er den anderen auf dem Boden fest. Seine Hände tasteten nach seinem Mund, um zu verhindern, dass er um Hilfe schreien konnte. Zu spät. Doch es war kein Schrei, der sich dem Mund seines Opfers entrang.

»Anajas, hör auf! Willst du mich umbringen?« Es dauerte einen Augenblick, bis er das leise Raunen als Whispers Stimme erkannte.

Verblüfft starrte er auf den dunklen Schatten vor sich. »Whis?«, fragte er leise.

»Wen hast du erwartet?«

Bei allen Göttern, ich habe sie niedergeschlagen! Hastig erhob er sich und reichte ihr die Hand, um ihr auf die Beine zu helfen. Er führte sie aus den Schatten heraus an einen Ort, an dem er ihr Gesicht besser erkennen konnte, und musterte sie eingehend. »Bist du verletzt?«

»Nur mein Stolz.«

Anajas wollte etwas erwidern, doch sie legte ihm einen Finger auf die Lippen und brachte ihn zum Schweigen. »Lass uns den Ring suchen.« Sie wandte sich ab und trat an den Schreibtisch heran.

Anajas folgte ihr. »Den habe ich bereits durchsucht.«

»Geheimfächer?«

Geheimfächer? »So weit war ich noch nicht.« Natürlich würde Dungarvan den Ring nicht einfach in einer Schublade verwahren, wo jeder ihn in die Finger bekommen konnte. Anajas schalt sich insgeheim einen Idioten. Einmal mehr wurde ihm bewusst, warum er Whisper für diesen Auftrag angeheuert hatte. Sie verstand ihr Handwerk. Im Gegensatz zu mir.

Mit sicherem Griff begann sie damit, eine Schublade nach der anderen herauszuziehen. Geschickt glitten ihre Finger über Rückwände und Boden, tasteten jeden Zollbreit ab und suchten nach einem doppelten Boden oder einem Riegel. Als sie nicht fündig wurde, kroch sie unter den Schreibtisch und machte sich am Holz zu schaffen. Anajas hörte ein leises Scharren. Immer wieder glitten seine Blicke zwischen Whisper und der Tür hin und her.

Nach einer Weile kam ihr Gesicht wieder unter dem Tisch zum Vorschein. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nichts.« Sie sprang auf. Mit Anajas’ Hilfe brachte sie die ausgehängten Schubladen an ihren Platz zurück und ging dann zu den Schränken hinüber. Der Reihe nach begann sie die Schränke auf dieselbe Art zu untersuchen, wie sie es mit dem Schreibtisch getan hatte.

Anajas wollte ihr helfen. Whisper hielt ihn am Arm zurück. »Weißt du, wonach du suchen musst?«

»Nicht direkt.«

»Dann warte einfach und rühr nichts an.«

Anajas war sich selten so nutzlos vorgekommen wie in diesen scheinbar endlosen Minuten, in denen er darauf wartete, dass sie ihre Arbeit vollendete. Immer wieder hoffte er einen Ruf zu hören, der ihm signalisierte, sie hat den Ring gefunden. Der Ruf blieb aus.

Whisper nahm sich viel Zeit. Sie untersuchte jede noch so kleine Ritze – ohne Erfolg. Schließlich blieb sie mitten im Raum stehen und ließ ihren Blick schweifen. Nach einer halben Ewigkeit schüttelte sie den Kopf. »Hier ist er nicht. Lass uns gehen.«

Anajas spürte seine Zuversicht schwinden. Es war ihnen gelungen, in das Arbeitszimmer des Herzogs vorzudringen, und dennoch hatten sie nichts ausrichten können. Whisper riss ihn aus seinen finsteren Gedanken. Sie packte ihn bei der Hand und zog ihn mit sich zur Tür. Vorsichtig öffnete sie die schwere Tür einen Spaltbreit und steckte den Kopf nach draußen.

»Niemand zu sehen.« Sie trat auf den Gang hinaus.

Anajas folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Er blieb dicht hinter Whisper, die langsam auf die Galerie zuging. Noch immer hielt sie seine Hand. Was machen wir, wenn uns jetzt eine Wache überrascht? Schnell verdrängte er die quälende Frage, doch sie fand wieder und wieder einen Weg in seinen Geist. Er dachte noch darüber nach, als sie die Galerie erreichten und die Treppe hinuntergingen, selbst als sie sich völlig unbehelligt unter das Volk gemischt hatten.

Whisper kehrte der großen Halle den Rücken und führte Anajas hinaus auf den Hof. Sie verließen den inneren Teil der Anlage durch den gemauerten Durchgang und fanden sich kurz darauf im äußeren Hof wieder.

Hier draußen dachten die Menschen noch lange nicht daran, sich zur Ruhe zu begeben. Um die Feuer herum wurde gelacht, getanzt, gesungen und getrunken. Der Geruch von Alkohol und Gebratenem lag schwer in der Luft.

Anajas nahm kaum etwas von dem Getümmel wahr, durch das sie sich bewegten. Er folgte Whisper wie in Trance, erfüllt von einem einzigen Gedanken, der sich vehement in sein Gehirn gebrannt hatte, seit sie das Haupthaus verlassen hatten. Wie soll es uns jemals gelingen, den verdammten Ring zu finden?

Whisper führte ihn zum Zelt zurück, schlug die Tierhäute zur Seite und trat gefolgt von Anajas ein. Gavin und Alanderiel saßen sich auf dem Boden gegenüber und waren lachend in ein Würfelspiel vertieft. Als Whisper und Anajas im Zelt standen, unterbrachen sie ihr Spiel und sahen auf. Deutlich war Anajas sich der neugierigen Blicke bewusst, mit denen die beiden sie bedachten.

Er nestelte an den Tierhäuten herum und verhängte den Eingang sorgfältig, um den Lärm von draußen zumindest ein wenig zu dämpfen. Tatsächlich war ihm der Lärm gleichgültig. Er hörte ihn nicht einmal. Alles, was er wollte, war Zeit zu gewinnen. Es fiel ihm nicht leicht, sich einzugestehen, dass sie versagt hatten.

»Hattet ihr Erfolg?«, vernahm er Gavins Stimme.

Whisper seufzte vernehmlich. »Nein. Um ehrlich zu sein habe ich auch nicht damit gerechnet.«

Anajas fuhr herum. »Wie kannst du das sagen?«

Whisper betrachtete ihn völlig ungerührt. »Hast du wirklich geglaubt, dass er einen derart wertvollen Gegenstand in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt?« Sie ließ ihm keine Gelegenheit, zu antworten, und sagte: »Sicher nicht.«

Anajas starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Warum hast du dann dort gesucht?«

Whisper erwiderte seinen Blick gelassen. »Zwei Gründe. Zum einen will ich keine Möglichkeit auslassen und zum anderen war heute Abend nicht der geeignete Zeitpunkt, um sich in seinen Privatgemächern umzusehen. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass der Herzog dazu neigt, früh zu Bett zu gehen, dennoch war es nach meinem Intermezzo in der Halle bereits zu spät.«

Gavin und Alanderiel wechselten einen raschen Blick und nickten einander zu. Sie schienen deutlich zu spüren, dass Ärger in der Luft lag. Gleichzeitig erhoben sie sich und gingen zum Ausgang. Ehe Gavin das Zelt verließ, wandte er sich noch einmal um. »Vorhin war so ein riesiger Kerl hier und brachte deine Sachen.« Er deutete in eine Ecke des Zeltes, wo ihre Gitarre und Hasenfuß standen. Als weder Anajas noch Whisper auf seine Worte reagierten, folgte er Alanderiel nach draußen.

Noch immer starrten sich Whisper und Anajas an.

Whispers Blick war von unverhohlener Wut erfüllt, als sie erneut das Wort ergriff: »Würdest du mir jetzt verraten, was du in seinem Arbeitszimmer zu suchen hattest?«

»Nachdem du auf einmal vor dem Herzog standest, dachte ich nicht, dass es dir so rasch gelingen würde, zu verschwinden. Ich wollte keine Zeit verschwenden, deshalb beschloss ich mich in der Zwischenzeit selbst ein wenig umzusehen.«

»Was hast du dir dabei gedacht?«, fuhr sie ihn an.

Anajas spürte, wie sich sein eigener Zorn regte. »Was ich mir gedacht habe? Wir suchen nach dem verdammten Ring! Was glaubst du wohl, was ich gedacht habe?«

Er hatte ihr Temperament inzwischen so oft zu spüren bekommen, dass er fest davon überzeugt war, sie würde ihn anschreien. Sie schrie nicht. Ruhig sagte sie: »Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt. Ich dachte wirklich, es ist aus, als du mich angegriffen hast.«

Sofort legte sich seine Wut wieder. »Das war nicht meine Absicht.«

»Verdammt, das weiß ich selbst.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich bin auch nicht sonderlich erfreut, dass wir heute keinen Erfolg hatten. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass uns morgen auch kein Erfolg beschert sein wird.«

Anajas ließ sich auf den Stapel Kissen fallen. »Wie geht es jetzt weiter, große Meisterin?«

Ein Lächeln stahl sich in ihre Züge und ließ ihre Augen leuchten. »Morgen werde ich mit dem Herzog speisen. Mal sehen, was ich aus ihm herausbekommen kann.«

Anajas setzte sich ruckartig auf. »Du wirst was?«

»Mein Gesang hat ihn offensichtlich so bezaubert, dass mir einer seiner Diener im Anschluss eine Einladung überbrachte.« Whisper zog eine verknitterte Pergamentrolle aus dem Ärmel und hielt sie ihm vor die Nase. Anajas riss ihr die Nachricht förmlich aus der Hand, entrollte das Pergament und überflog es.

In der Tat, eine Einladung des Herzogs. Er begann zu lachen. »Du überraschst mich wirklich stets von Neuem.« Schließlich fragte er: »Wieso hast du mich erkannt, als ich dich angriff? Es war stockfinster. Ich konnte dich nicht erkennen.«

»Wem sollte sonst daran gelegen sein, mich zum Schweigen zu bringen? Du hast ständig versucht mir den Mund zuzuhalten. Ein Mann des Herzogs hätte wahrscheinlich einfach nach den Wachen gebrüllt. Da lag die Vermutung nahe.«

Kopfschüttelnd betrachtete er sie. Nach einer Weile fragte er: »Wo hast du gelernt, so zu singen, und wer war dieser Kalva Bärentöter, Whisper?«

*

Whisper ließ sich neben Anajas auf den Kissen nieder. »Als ich zwölf war, begegnete ich einer Gauklertruppe. Ich musste die Stadt, in der ich mich gerade befand, auf dem schnellsten Wege verlassen. Es gab einige Unstimmigkeiten wegen ungeklärter Besitzverhältnisse bei einem Beutel Gold. Die Gaukler waren ebenfalls dabei, ihre Zelte abzubrechen. Der Zufall wollte es, dass sie noch jemanden suchten, der sich um die Tiere kümmerte. Ich schloss mich ihnen an mit dem festen Vorsatz, sie wieder zu verlassen, sobald die Stadtgrenzen ein Stück hinter uns lagen. Verborgen in einem der Wagen ließ ich die Stadt hinter mir. Der Anführer dieser Truppe war ein Barde, und Kalva Bärentöter war sein bester Freund.«

»Du willst mir doch jetzt nicht erzählen, dass du binnen weniger Stunden das Handwerk des Barden gelernt hast.«