Johanna Spyri


Cornelli wird erzogen


Eine Geschichte für Kinder und solche, die Kinder lieb haben

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-046-9


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Kapitel 10 - Neues Leben in Illerbach



Der Winter war gekommen. Die Tage waren für alle Bewohner der Mansardenwohnung mit geregelter Arbeit so besetzt, daß jeden Abend, wenn die Feierzeit kam, allgemeiner Jammer erscholl, daß der Tag schon wieder um war und nicht noch viele Stunden hatte. Vor allem war es Agnes, die aussah, als wollte sie vergehen vor Entrüstung, wenn immer wieder alles abgebrochen und zu Bette gegangen werden sollte.

"Mit Schlafen verliert man die halbe Zeit seines Lebens", rief sie öfters empört aus, "wenn du uns noch erlauben wolltest, die Nächte durch zu singen, Mama, wir wären nachher am Tag nur um so frischer bei der anderen Arbeit; denn so könnten wir doch einmal nach Herzenslust beim Singen bleiben und müßten nicht immer, wenn wir im besten Zug sind, alles abbrechen." Aber die Mutter war nicht der Ansicht; die Nächte mußten immer wieder zum Schlafen verwendet werden.

Cornellis Gesang war auch für Agnes ein immer neues Entzücken. Mühelos und leicht wie ein Vogel sang Cornelli alles, was sie auch nur einmal hörte und mit einer Stimme, so klangvoll und klar, daß jeder sich daran freuen mußte. In der ganzen Schule war keine zweite Stimme zu finden wie die ihre, so voll und so sicher zugleich. So sagte der Lehrer selbst, und beim allgemeinen Gesangunterricht wollte er Cornelli gleich vor sich an der ersten Stelle haben, ihre Stimme war die sicherste Leiterin des Chores.

Mitten im Winter schrieb der Direktor an die Frau Pfarrer: Da er sein Kind nun so gut untergebracht wisse, habe er beschlossen, jetzt gleich eine Reise zu unternehmen, die ihn längere Zeit im Auslande festhalten werde. Seine letzte Reise hätte er abkürzen müssen, um nicht gar zu lange die gütigen Stellvertreterinnen an sein Haus zu binden. Dem plötzlichen Entschluß sei es zuzuschreiben, daß er sein Vorhaben, einmal nach der Stadt zu fahren und ihr Haus aufzusuchen, nicht ausführen könne.

"So schnell ist es noch niemals Frühling geworden, wie nach diesem Winter", dachte Cornelli, als eines Tages ein lauer Wind durch die Straßen blies und der schmelzende Schnee von allen Dächern tropfte. Sie kam allein aus der Schule; heute hatte sie früher frei als die anderen. Von einem sonnigen Dach herunter pfiff ein Vöglein wie jauchzend zu dem blauen Himmel hinauf. Cornelli stand still und lauschte. Ein Sonnenstrahl fiel in die Gasse hinein, leise tropfte der aufgelöste Schnee; das Vöglein pfiff fort und fort, so lieblich, so bekannt. Vor Cornellis Augen standen die jungen Buchen droben im Wald mit dem ersten Grün bedeckt, unter der Hecke kamen die Veilchen hervor, die ersten Veilchen, im Garten am Haus glitzerten die gelben Krokusblümchen und roten Primeln, und so pfiffen die Vögel ringsum von allen Bäumen, daheim war's so schön! Oh, das alles wieder zu sehen, wieder zu hören, wieder heimzukommen, wie müßte es doch schön sein! Cornelli lief die Straße entlang und alle Treppen hinauf, um so schnell als möglich zu ihrem Tintenfaß zu gelangen. Da setzte sie sich hin und schrieb:

"Lieber Papa!

Daheim ist es gewiß jetzt so schön, wie sonst nirgends. Darf ich nicht bald heimkommen? Jetzt sind gewiß die Veilchen da, und im Wald ist alles grün, und dann kommen alle kleinen Blumen im Garten, und dann die Rosen und die Beeren und in den Wiesen die Vergißmeinnicht. Oh, es ist nirgends so schön, wie es daheim ist! Ich möchte auch alles so gern der Mutter und Nika und Agnes zeigen, und dem Mux das Geißlein. Dino kennt schon den Garten und die Wiesen; er möchte auch so gern wieder nach Illerbach kommen. Oh, wenn ich nur bald wieder alles sehen könnte! Viele hundert Grüße von Deiner Tochter

Cornelli."

Erst nach drei Wochen kam eine Antwort vom Vater. Er schrieb, seine Reise hätte sich viel weiter ausgedehnt, als ursprünglich in seiner Absicht gelegen hätte. Daß seiner Tochter plötzlich ins Bewußtsein getreten sei, daß sie eine schöne Heimat habe, freue ihn sehr; aber daß sie nun sofort aus der Schule laufe, dafür sei er nicht. Bis zu den Sommerferien solle sie noch in der Stadt bleiben, bis dahin werde auch er fortbleiben müssen. Dann sollte sie die Familie, in der es ihr so gut gehe, Mutter und Kinder, für die Ferienzeit einladen; da sei Platz genug für alle im Hause, und er, wie auch Cornelli, seien der Frau Pfarrer großen Dank schuldig.

Erst war Cornelli ein wenig enttäuscht, daß es noch so lange währen sollte, bis sie den Garten und die Wiesen und den Buchenwald wiedersehen konnte; denn ihr Verlangen danach war immer größer geworden. Aber die Aussicht, alle mit zu haben, die ganze Familie, auch Dino und auch die Mutter, erfreute sie so sehr, daß die Enttäuschung darüber verschwand. Noch viel größer aber war dann ihre Freude, als sie am Mittagstisch die Einladung ihres Vaters vorbrachte und nun von allen Seiten ein großer Jubel losbrach. Die Mädchen hatten nichts anderes vorausgesehen, als daß sie, wie jeden vergangenen, so auch diesen Sommer, ohne besondere Ferien in ihrer heißen Dachwohnung zubringen würden. Und nun die Aussicht auf ein wochenlanges Herumstreifen in dem herrlichen Illerbach, von dem Dino nicht genug hatte erzählen können. Und dazu sollten sie in Cornellis Haus und Garten wohnen, die nach Dinos Schilderung das Schönste von allem waren. Agnes schrie laut auf vor Freude, Nikas Gesicht leuchtete wie lauter Sonnenschein. Die Mutter war ganz bewegt vor Dank und Wonne. Wie oft schon hatte sie sich heimlich gesorgt, ob sie es wohl dazu bringen werde, ihren Dino zu einer rechten Erholung nach Illerbach zu senden, oder ob sie ihm die Zeit so kurz zumessen müsse, daß ihr wenig Hoffnung auf eine rechte Kräftigung blieb. Und nun hatte der liebe Gott ihr plötzlich nicht nur alle Sorge darüber weggenommen, sondern sie noch in solchen überreichen Segen verwandelt. Dino lächelte in tiefsinnigstem Vergnügen und sagte immer wieder: "Ihr solltet nur wissen, wie schön alles ist. Dieser Garten! Diese Bäume, diese Ställe, diese Pferde! Oh, dieses ganze Illerbach!"

Mux aber schrie immer lauter: "Nimm mich auch mit. Cornelli, nimm mich auch mit!" Denn er konnte nicht begreifen, daß es wirklich so sein werde, daß er auch mitkomme. Noch waren viele Tage, ja noch manche Woche zu durchleben, bevor die schöne Zeit kommen würde; aber in der herrlichen Aussicht, die allen vor Augen stand, mußte es nicht schwer sein, noch durchzumachen, was eben durchzumachen war.

Cornelli ging es anders. Ihr Verlangen nach der Heimat wurde mit jedem Tage stärker und heftiger, und wenn sie irgendwo ein grünes Plätzchen oder einen Baum erblickte, da standen der Garten der Heimat, die Wiesen, die Blumen am Illerbach so lebendig vor ihr, daß der Wunsch, das alles wiederzusehen, wieder heimzukommen, ein ganzes Weh in ihr wurde. Zuletzt war ihr so, als würde der Tag, da sie die Heimat wiedersehen würde, nie kommen, nie. Aber er kam doch. Wenn auch vor Freude keiner recht daran glauben konnte, er war wirklich da.

Der große Koffer wurde auf einem Karren fortgebracht; hinterher wanderte die ganze Familie der Eisenbahn zu. Zuhinterst folgte Trine mit ganz erstaunten Augen; denn daß auch sie eine Reise aufs Land machen dürfe, konnte sie noch nicht begreifen, obschon sie nun auf dem Wege war. Cornelli hatte am gestrigen Tag noch so dringend für sie gebeten, daß die Frau Pfarrer nicht mehr widerstehen konnte. Cornelli sollte dann beim Vater selbst den unerwarteten Gast verantworten. Mux war so aufgeregt, daß er beständig dem einen oder dem andern vor die Füße lief und ihn am Gehen hinderte.

"Du unvernünftiger Mux", rief Dino aus, "wenn du nicht aus dem Wege gehst, kommen wir natürlich zu spät auf die Eisenbahn, und die Reise ist aus."

Diese Aussicht brachte Mux ganz außer Fassung. Er stürzte davon wie unsinnig, und Dino konnte nun auch laufen, um ihn einzufangen; denn Mux wußte ja weder Steg noch Weg; er lief nur zu, um nicht zu spät zu kommen. Endlich war man doch glücklich an die Haltestelle gekommen, der Zug wurde bestiegen, und nun ging's ins Land hinaus. Die Sonne strahlte über alle Felder und alle Wege; es war keine Wolke am Himmel. Cornelli saß am offenen Fenster und schaute gespannt hinaus. Zwei Stunden und noch eine kleine Zeit waren schnell vorübergegangen; hier mußte ausgestiegen werden.

"Dort kommt er! Dort kommt er!" schrie Cornelli und stürzte der Straße zu, die ins Tal hineinführte.

Eben hielt Mathis seine lustig dahertrabenden Braunen an. Cornelli stand schon vor ihnen.

"Grüß Gott, Mathis, ich komme wieder heim, ist alles noch wie früher daheim?" rief Cornelli dem heruntersteigenden Kutscher zu.

"Willkommen, Cornelli, willkommen daheim", sagte er freudestrahlend; denn das Kind seines Herrn war sein ganzer Stolz. "Aber wie ist Cornelli gewachsen! Hm, hm, wie hat sich Cornelli verändert!"

Er schüttelte ihre Hand noch einmal in seiner Freude, dann ging er, den Wagen aufzumachen. Die Familie war nun auch herangekommen.

"Oh, da ist noch ein Bekannter, da ist ja der junge Herr von vor dem Jahr", sagte Mathis wieder; denn Dino war zu ihm herangetreten, um ihm die Hand zu schütteln; "aber der junge Herr sah besser aus bei uns, ja, das ist wirklich wahr, viel besser."

"Das glaub ich wohl, Mathis, wenn ich jeden Morgen so gute Milch aus dem Stall bekam und sie draußen in der schönen, frischen Morgenluft trinken konnte", sagte Dino, "in der Stadt war's anders."

Die Mutter war nun eingestiegen, die Mädchen folgten. Mux stand unbeweglich vor den zwei glänzenden Braunen und starrte sie an. Er war nicht von dem Anblick wegzubringen.

"Wir nehmen sie mit", verhieß Mathis, dem die unverhohlene Bewunderung des Kleinen gut gefiel. "Da kannst du sie jeden Tag betrachten und darauf zum Brunnen reiten."

Das half. Nun waren alle im Wagen, Trine kam zu Mathis auf den Bock, und nun ging's sausend ins Hochtal hinein.

"Mutter, Mutter, sieh die roten Margeritenblumen", schrie Cornelli auf, "sieh die goldenen Bachranunkeln! Oh, alle die blauen Vergißmeinnicht!"

Cornelli war aufgesprungen, sie konnte nicht mehr stillsitzen; sie mußte vorwärts, rückwärts, nach allen Seiten schauen. So voller Blumen von allen Farben waren die Wiesen noch nie gewesen. Alle Augenblicke schrie Cornelli wieder auf vor Entzücken. Jetzt fuhr der Wagen in den Hof hinein. Cornelli sprang zuerst hinunter.

"Esther, Esther, grüß dich Gott!" schrie sie der alten Bekannten zu, die in würdevoller Ruhe und in einer tadellos weißen Schürze herankam, um die Gäste zu empfangen.

"Jetzt bin ich wieder daheim. Ist alles noch, wie es immer war? Ist der Garten noch ganz so wie früher? Und die Marthe und ihr Häuschen?"

"Ja, ja, Cornelli, und grüß dich Gott!" erwiderte Esther, Cornelli betrachtend. "Aber du hast dich verändert, der Tausend, bist du verändert! Du bist nicht mehr wie vorher."

Cornelli war schon ins Haus gelaufen, nach der Wohnstube, zu ihrem Schrank. Es war alles so geblieben, wie es gewesen war. Cornelli stürzte wieder hinaus, der Mutter entgegen, um sie hereinzuführen. Des Kindes Gesicht strahlte vor Freude.

Drüben in seiner Arbeitsstube stand der Vater in seine Schreibereien vertieft; eben hörte er den Wagen heranrollen. Er fuhr auf: "Da sind sie ja schon", sagte er bei sich, warf schnell den Arbeitsrock über den Sessel und zog den guten an. Dann trat er aus der Gießerei und ging über den Hof. "Ach Gott", seufzte er auf; denn noch stand ihm in frischer Erinnerung, welchen Eindruck sein Kind auf ihn gemacht, als er vor dem Jahr von seiner Reise zurückgekehrt war und Cornelli nun vor ihm stand, scheu abgewandt, seinem Blick ausweichend und anzusehen wie ein noch nie gekämmtes Insulanerkind.

"Was wird jetzt mit dem Kind sein?"

Er trat ins Wohnzimmer ein. Cornelli schaute ihm eben entgegen. Der Direktor stutzte, er stand unbeweglich da, als könnte er nicht fassen, was er mit Augen vor sich sah. Cornelli stürzte nun auf ihn zu.

"Oh, Papa! Papa! Es ist so schön daheim! Es ist alles noch, wie es war. Oh, ich bin so froh, wieder daheim zu sein!"

Der Vater wollte sein Kind umarmen; aber er hielt es noch einmal von sich, er mußte es noch einmal anblicken. Er hatte Tränen in den Augen.

"Cornelli, mein Kind, du schaust mich an wie deine Mutter. Wie bist du deiner Mutter so ähnlich geworden!" sagte er, in der größten Bewegung, das Kind in seine Arme schließend. "Wie ist es möglich! Wie hast du dich verändert! Wie bist du so geworden?"

"Die Mutter weiß es, Papa, die Mutter hat mir geholfen", sagte Cornelli, mit leuchtenden Augen die Mutter herbeiholend, die mit ihren Kindern zurückgetreten war.

Der Direktor ging auf sie zu.

"Seien Sie herzlich willkommen in meinem Hause, Frau Pfarrer, und Ihre Kinder mit Ihnen", sagte er, in der herzlichsten Weise eines nach dem andern begrüßend. Dann, sein Kind wieder bei der Hand nehmend, fuhr er in bewegtem Tone fort: "Und was haben Sie mir hier zurückgebracht! Was haben Sie mit meinem Kind gemacht? Wie war es möglich? Ist dies dasselbe Kind, das ich Ihnen zuführte?"

Er mußte wieder und wieder Cornelli anschauen; sah sie wirklich so aus, war es keine vorübergehende Erscheinung? Keine Einbildung? War dies sein Kind? Der Vater hielt die Hand des Kindes fest und schaute ihm immer wieder in die glänzenden Augen; es war, als könne er's nicht glauben.

Die sorgliche Esther brachte nun allerlei Geschirr herein; der Tisch sollte gerüstet werden. Unter der Tür teilte sie ihrem Herrn mit, die Zimmer der Gäste seien alle in Ordnung; die Damen würden sich wohl gern noch zurückziehen.

Die Mutter nahm für sich und ihre Töchter den Vorschlag gern an; aber Cornelli sagte: "Gell, Papa, ich darf schnell zu Marthe hinüberrennen, ich bin bald wieder da?"

Der Vater nickte bejahend.

Dino erbat sich auch die Erlaubnis; er konnte nicht zurückbleiben, wenn es zu der guten Marthe ging.

Die Kinder wollten den Weg hinausrennen; aber Cornelli kam nicht vom Fleck. Die Wiesen waren ja ganz besät mit all den Blumen, die sie so lange nicht gesehen hatte. Sie mußte hier die roten Margeriten, dort die gelben Bachranunkeln holen, die blauen Vergißmeinnicht konnte sie erst recht nicht stehen lassen. Aber Dino mahnte, doch zu kommen; sie mußten ja bald wieder heim, und die Blumen würden doch morgen noch da sein.

Marthe hatte schon vernommen, daß heute Cornelli erwartet wurde und mit wem sie kommen sollte. Lange schon hatte sie nach dem Hof und Garten hinübergespäht, ob sie nicht ein Stückchen von Cornelli entdecken könne, oder vielleicht etwas von Dino. Nun kamen beide miteinander ihr Treppchen heraufgerannt. Marthe lief hinaus. Das war Dino, ja, so wie sie ihn ja wohl kannte. Aber Cornelli – Marthe schaute auf das Kind und drückte ihm die Hände und wollte etwas sagen; aber die hellen Tränen liefen über ihre Wangen; sie konnte nichts sagen.

"Oh, Marthe, ich habe mich so gefreut heimzukommen und bin dann auf der Stelle zu dir gelaufen!" rief jetzt Cornelli. "Freust du dich denn nicht mit mir? Oh, ich bin so froh, so froh!"

"Ich auch, oh, ich auch", versicherte Marthe; "es ist ja nur die Freude über dich und die Erinnerung. Oh, wie siehst du doch deiner seligen Mutter gleich, und wie anders siehst du doch aus, als da du gingst, Cornelli! Dir hat der liebe Gott dein Stadtleben so gesegnet, daß es mir ist wie ein Wunder; wie habe ich auch gebetet dafür!"

Nun mußte sie auch noch einmal Dino die Hand schütteln und noch einmal; aber in die große Freude, ihn wiederzusehen, mischte sich eine Betrübnis.

"So schmal und bleich, Dino, warum denn bloß?" fragte sie besorgt. "Vor einem Jahr waren die Wangen voller."

"Eben darum komm ich wieder nach Illerbach", erwiderte Dino fröhlich, "und nun müssen Sie sich auch mit uns freuen, Frau Marthe; wir sind so unbändig froh, wieder da zu sein, Cornelli und ich. Oh, da ist es noch ganz so schön wie vor dem Jahr, und zu Ihnen kommen wir alle Tage; da bin ich ja ganz daheim."

Marthe konnte vor Rührung nichts mehr sagen. Da stand Cornelli vor ihr, so frisch und froh wie nur je; alles unbegreiflich Traurige und alle Entstellung an dem Kind waren verschwunden und ein Ausdruck in die fröhlichen Augen gekommen, der das Herz der Alten im tiefsten bewegte. So hatte die junge Mutter sie angeblickt. Und da stand Dino mit der alten Anhänglichkeit und sprach so freundliche Worte zu ihr; sie konnte sich vor Glück gar nicht fassen.

"Nun müssen wir gehen, Marthe", sagte Cornelli; "aber du weißt schon, wie es immer war; ich kam ja alle Tage zu dir gelaufen, so soll's wieder sein."

"Und ich mit! Und ich mit!" rief Dino, und wie sie nun dahinrannten zusammen, schaute Marthe, auf ihrem Treppchen stehend, die Augen voller Freudentränen, ihnen nach, solange sie noch etwas von ihnen sehen konnte.

Mit gefalteten Händen schaute sie noch hin, auch als sie schon verschwunden waren.

"Oh, du lieber Gott", sagte sie leise, "mein Herz ist übervoll von Dank. Du hast es alles gesegnet, was hart für das Kind war, es ist alles zum Guten geworden."

Als die Kinder ins Haus traten, sagte Cornelli: "Geh nur hinein, Dino; ich komme gleich nach."

Dann schwenkte sie ab und trat in die Küche ein.

"Hab ich doch gedacht, daß unser Cornelli noch den Weg zur Küche finden wird", sagte Esther befriedigt. "Komm, laß dich einmal recht ansehen, Cornelli."

Esther stellte sich breit vor das Kind hin.

"Du bist aber ordentlich gewachsen in dem Jahr, und so geordnet und schön gekämmt siehst du jetzt aus. Ja, ja, unser Cornelli darf man schon anschauen."

Cornelli wurde ein wenig rot. Sie dachte daran, wie sie ausgesehen hatte, als sie fortging; sie wußte nun wohl, wie alles gewesen war, und wie sie sich gegen allerlei gute Meinung der anderen gesperrt hatte.

"Esther, ich muß dir etwas sagen. Wo ist die Trine, die mitgekommen ist?" fragte jetzt Cornelli.

"Ich habe ihr gesagt, sie soll hinters Haus gehen und den Gemüsegarten ein wenig betrachten", sagte Esther; "sie stand mir in der Küche überall im Weg, sie sieht nicht gerade flink aus."

"Nein, das tut sie nun schon nicht. Siehst du, Esther, wegen der Trine wollte ich dir gerade etwas sagen: gell, du willst schon gut mit ihr sein?" sagte Cornelli ganz bittend. "Siehst du, die Trine ist viereckig und vernagelt, aber sie kann nichts machen, daß sie anders wird. Du weißt vielleicht nicht, wie es ist; aber ich weiß es ganz gut. Und wenn du recht gut zu ihr bist, so tut es ihr dann weniger weh, daß sie so sein muß. Gell, du willst es mir schon zu Gefallen tun?"

Esther schaute ganz erstaunt auf das Kind, das nun der Stube zurannte.

"Wie nur unserem jungen Kind solche Gedanken kommen!" mußte Esther bei sich sagen. "Man könnte meinen, unser Cornelli hätte selber ganz unten durch müssen und wäre nicht die Direktorstochter, die haben kann, was sie will."

Noch lange mußte Esther von Zeit zu Zeit den Kopf schütteln; aber sie wollte Cornelli beweisen, daß sie die einzige Tochter vom Hause sei, die zu befehlen habe; denn sie war stolz auf Cornellis Stellung; sie wollte zeigen, wie sie die Wünsche ihrer jungen Herrin zu erfüllen wußte.

Nach der ersten fröhlichen Mahlzeit rannten die Kinder, wie ihnen erlaubt worden war, nach dem Garten hinaus. Sie wußten, was da alles zu sehen war. Wie begeistert hatte Dino bei seiner Heimkehr den Garten mit den Blumen aller Farben, mit den Spalieren voll roter Pfirsiche geschildert! Die fruchtbeladenen Birn- und Apfelbäume, die großen Ställe drüben mit den glänzenden Kühen, den stolzen, prächtigen Pferden; nun sollten sie alles selbst sehen. Mit dem gleichen Verlangen stürzten sie alle fünf davon.

Der Direktor saß noch bei seinem Kaffee, und die Frau Pfarrer leistete ihm gern Gesellschaft.

"Nun, Herr Direktor", sagte sie, als die Tür sich hinter den Kindern geschlossen hatte, "lassen Sie mich endlich aus tiefstem Herzen meinen Dank aussprechen für Ihre große Freundlichkeit."

"Was? Wie? Sie wollen mir danken, Frau Pfarrer?" unterbrach sie der Direktor. "Sie mir? Nun lassen Sie mich sprechen! Wie kann ich je den Dank abtragen, den ich Ihnen schulde! Was haben Sie aus meinem Kind gemacht! Wie haben Sie dieses störrische, eigensinnige Kind so zurechtgebracht, so verwandelt, so entwickelt! Wie sieht mein Kind aus! Ich muß es immer wieder ansehen, ob es wirklich sein kann. Wie war es möglich? Und wie soll ich Ihnen danken? Wie könnte ich Ihnen je vergelten, was Sie an Mühe, Sorge, Geduld – ach, ich weiß ja nicht, was Sie alles an mein Kind gewandt haben, daß Sie es so mir wiedergeben können!"

"Nein, Herr Direktor, so steht die Sache wirklich nicht", sagte die Frau Pfarrer, "Cornelli hat mich weder Mühe, noch schwere Sorge, noch Geduld gekostet. Wenn ich den guten Kern ihres Wesens herausholen und durch Liebe zu seiner erfreulichen Entfaltung etwas beitragen konnte, so ist es alles, was ich getan habe. Schwer hat mir Cornelli meine Aufgabe keinen Augenblick gemacht. Wir alle haben das Kind so lieb gewonnen, daß wir mit Schmerzen daran denken, die Zeit könnte nahe sein, da es unser Haus wieder verlassen müßte. Welche schöne Zeit Cornelli besonders meinem Dino während seiner Krankheit, und meinem freundschaftbedürftigen Kleinen fortwährend durch ihre unveränderliche Heiterkeit und Freundlichkeit bereitet hat, das will ich dem lieben Kind nie vergessen. Ja, Herr Direktor, Sie haben ein liebes Kind."

Der Direktor war aufgesprungen vor Erregung. Er lief hin und her im Zimmer. Es war eine andere Erregung als diejenige, die ihn vor dem Jahr so in der Stube auf und nieder getrieben hatte.

"Sie wissen nicht, was Sie mir sagen, Frau Pfarrer", sagte er jetzt, vor ihr stillstehend, "Sie wissen nicht, von welcher Qual Sie mich befreien! Wie habe ich gelitten unter dem inneren Vorwurf, ich hätte das Kind meiner Kornelia vernachlässigt, bis alles zu spät, bis das Kind völlig verdreht und verstockt war für immer, und nun kommen Sie und bringen mir das Kind so wieder, daß ich die Mutter in seinen Augen, in seinem Ausdruck, in seiner ganzen Erscheinung erkenne, und Sie sagen mir, unveränderliche Heiterkeit und Freundlichkeit sei sein Wesen; das ist ja meine Kornelia ganz und gar, ganz so, wie sie war."

"Noch eins möchte ich berichtigen, Herr Direktor", wandte die Frau Pfarrer ein. "Ich bin zwar überzeugt, daß es gar nicht gleichgültig ist, unter welchen Einflüssen ein Kind schon in den ersten Jahren steht; auch glaube ich, Cornelli hätte der liebevoll leitenden Hand der Mutter wohl bedurft. Dennoch muß ich sagen, Ihre Cornelli war durchaus kein vernachlässigtes Kind, als sie zu mir kam, und aus allem, was ich von ihr selbst und was ich von Dino weiß, der ja bei der guten Frau Marthe wohnte, muß ich glauben, daß diese Frau Ihrem Kind das Beste gegeben hat, was wir den Kindern an innerer Erziehung gebenkönnen. Frau Marthe halte ich recht hoch, sie ist eine wahre Kinderbeschützerin."

"So sagte auch meine Kornelia, darum hatte ich Vertrauen in sie. Aber dann kam die Zeit, da ich denken mußte, es sei alles gefehlt. So habe ich doch zu wenig geschätzt, was sie dem Kind war. Sie erinnern mich an meine Schuld."

Ein so lauter Jubel erscholl jetzt vom Garten herauf, daß die beiden ans offene Fenster traten.

Von unten herauf schrie Mux wie unsinnig: "Mama! Mama! Schau! Ein lebendiger Geißenbub und eine lebendige Geiß! Komm herunter, Mama, und sieh!"

Wirklich, auf dem hohen Sitz eines schönen Korbwagens saß Mux, zwei Zügel in der einen, eine große Peitsche in der anderen Hand. Eine schlanke junge Geiß zog den Wagen. Agnes und Cornelli liefen als Beschützerinnen neben dem Wagen her, Dino hielt die Geiß leicht am Zügel fest, damit sie nicht ausreiße. Alle jubelten und jauchzten über die herrliche Fahrt.

Hinten beim Gebüsch stand Mathis und überwachte diesen ersten Versuch, ob etwa seine Hilfe noch nötig sein könnte. Er hatte den Wagen für Cornelli hergerichtet und sehr schön aufgerüstet. Die Geiß hatte er schon mehrmals eingespannt, damit sie sich unter Cornellis Leitung ordentlich benehme. Als nun Mathis sein Fuhrwerk den Kindern vorgeführt hatte, da hatte Cornelli gleich gefunden, da gehöre Mux hinauf. Dann werde ganz lebendig das Bild erstehen, das den Mux in seinem Buche am meisten entzückte.

Mux schrie vor Wonne wie außer sich auf seinem Wagen der Mutter zu; sie mußte wirklich die Herrlichkeit in der Nähe sehen; sie kam heraus.

Auch der Direktor verließ das Haus; er ging einer anderen Seite zu. Bald nachher stieg er das Treppchen zu der kleinen Galerie hinauf, wo die Marthe auf ihrem Flickstühlchen saß. "Herr Direktor", rief sie überrascht und machte die Tür zur Stube auf; denn draußen war nicht Platz genug für beide.

Er trat ein.

"Marthe, ich habe Ihr Geschäft verdorben, das fordert Entschädigung", sagte er im völligen Geschäftston zu Marthes größtem Erstaunen, "ich habe Ihnen Ihren Pensionär abspenstig gemacht und für alle Zeit. Nun habe ich soeben dem Bauer drüben Ihr Häuschen abgekauft mit dem kleinen Stück Land hier davor; da werden Sie etwas mehr Platz für Ihre Nelken haben. Wirtschaften Sie gut, und aus dem Zins machen Sie sich jährlich ein paar gute Tage. Ist's Ihnen so recht?"

"Herr Direktor, mein Häuschen frei, und einen Garten dazu! Oh, Herr Direktor!"

Aber er ließ sie nicht weiter kommen; er schüttelte ihr herzlich die Hand und lief fort.

Die großen dunkelroten Himbeeren glühten noch aus den grünen Blättern hervor, und schon fielen von den reichlich behangenen Zweigen goldgelbe Mirabellen auf den grünen Rasen. Mux schwamm vom Morgen bis zum Abend ununterbrochen in Glück. Jeden Morgen in der ersten Frühe, bevor er die Augen recht offen hatte, schrie er die Mutter aus dem Schlaf auf mit seinem Alarmruf: "Mutter, sind wir auch noch da? Sind wir noch nicht fort?" Dann begannen die Stunden des Tages, eine schöner als die andere; Mux wußte nicht, welches die schönste war. Die Mutter hatte wirklich eine eigene Stallbekleidung für ihn verfertigen müssen; denn Mux ging nicht nur ab und zu in den Stall, er brachte den ganzen Tag in der Scheune, auf dem Heuboden, bei den Pferden, bei der Geiß und beim Melken der Kühe zu.

Mathis war sein bester Freund geworden, der denn auch immerfort etwas Erfreuliches für den Mux erdachte; denn er hatte ein großes Wohlgefallen an dem eifrigen Mux mit seinen landwirtschaftlichen Neigungen. Hatte Mathis eine notwendige Arbeit vor, bei der er seinen kleinen Schützling nicht brauchen konnte, dann hatte er schon immer Ersatz für ihn gefunden: "Geh dort an die Himbeerhecke unterdessen", sagte er dann meist; "aber nicht hier oben, dort, weit unten sind die schönsten, die allergrößten Beeren, die noch so recht von der Sonne ausgekocht sind. Und nachher geh unter den Mirabellenbaum und warte auf mich."

Pünktlich gehorchte dann Mux, und von den roten Himbeeren, die er gehörig gelichtet hatte, wanderte Mux unter den Mirabellenbaum und setzte sich beschaulich auf den Rasen hin, bis Mathis erschien. Dieser schüttelte alsobald den Baum so mächtig, daß eine Flut von goldenen Pfläumchen über Mux hinrollte und er nur so aus der Fülle schöpfen konnte.

Wenn Mathis einmal nicht zu finden war und Dino und Cornelli ihre eigenen Angelegenheiten verfolgten, so daß von ihrem Beistand nichts zu erwarten war, dann wußte Mux noch eine Freundin, von der er allezeit eine liebevolle Aufnahme erfuhr. Mux wanderte dann zu Esther nach dem Gemüsegarten. Hier erwarteten ihn neue Unterhaltung und erfreuliche Dinge. Daß hier die grünen Erbsenschoten, die zu Hause nur an großen Festtagen auf den Tisch kamen, in solchen Massen von den Stauden niederhingen, war ihm wie ein Wunder. Er konnte ganz ängstlich werden beim Zuschauen, wie Esther einen ganzen Korb voll abpflückte.

Wenn er dann aber warnen wollte: "Nimm nicht alle auf einmal, sonst haben wir nachher keine mehr", dann lachte sie nur und sagte: "Sie wachsen immer wieder; über acht Tage sind noch viel mehr da."

Schaute Mux die ungeheuren Kohlköpfe, die daneben standen, etwas von der Seite an, dann sagte Esther: "Vor denen mußt du dich nicht fürchten, Muxchen; müssen die auf den Tisch, so koch ich so gut, daß die andern alle davon haben wollen, und du kriegst nur lauter gelb gebratene Kartöffelchen auf den Teller, die kommen immer dazu."

Vom Gemüsegarten begleitete Mux Esther nach der Küche, wo er wieder zu vielen nützlichen Kenntnissen gelangte. Kein Pastetchen kam auf den Tisch, von dem er nicht sagen konnte, wie es zubereitet war und genau wußte, wie es schmecken würde. Mux verlebte goldene Tage.

Nicht weniger golden waren sie für die anderen Geschwister. Dino und Cornelli hatten ein großes Werk unternommen; sie legten den Garten der Marthe nach eigenem Plan an und hatten nun soviel zu erfinden und auszuführen, daß die beiden niemals zu finden waren, wie sehr auch Agnes immer wieder mit Dino um die Freundschaft von Cornelli kämpfte. Dino blieb immer wieder Sieger, und Cornelli rannte mit ihm davon.