Über Max Scharnigg

Max Scharnigg wurde 1980 in München geboren und arbeitet als Redakteur für die Süddeutsche Zeitung. Er veröffentlichte das Reisebuch Hotel Fatal, die Kolumnensammlungen Das habe ich jetzt akustisch nicht verstanden und Feldversuch2011 erschien sein Romandebüt Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe, das mit diversen Preisen ausgezeichnet wurde. 2013 folgte der Roman Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau.

Für meinen vier Meter großen Papa

My biggest fear is

that my wife (when I’m dead)

will sell my fishing gear

for what I said I paid for it.

 

Anonym

Vorwort

Eigentlich wollte ich an diesem Nachmittag nicht das Vorwort schreiben, sondern angeln gehen. Eigentlich will ich immer angeln gehen. Aber ich sehe, wie der Wind die Äste der Linden vor meinem Arbeitszimmer wackeln lässt, und ich weiß genau, dass dann auf dem See die Wellen Schaumkronen tragen, und kenne das Geräusch, mit dem mein Boot hart gegen den Steg schlagen würde, während ich es belade. Auf dem Wasser würde ich den Wind bei jedem Ruderschlag in den Ruderblättern spüren und hören, wie er in den gespannten Schnüren meiner Angeln singt, ein warnendes Lied. Und nach einer Stunde wäre ich ausgekühlt, weil die Millionen Kubikmeter Seewasser unter mir noch winterkalt sind, schließlich ist es erst Ende April. Also fahre ich heute nicht und schreibe das Vorwort.

Angler sind es oft auch nur in Gedanken. Es kann so viel dazwischenkommen. Heute ist es der Wind, im Sommer die Badegäste, dann gibt es Schonzeiten, Hochwasser und andere ungünstige Prognosen, und im Winter friert der Austragungsort einfach zu, und eine Angel sieht dann auf einmal so lächerlich aus wie ein Skianzug in der Wüste. Ich angle also oft einfach so, im Kopf, während ich eigentlich mit dem Rad durch die Stadt fahre und auf der Isarbrücke kurz anhalte, um einen Blick in den tiefen Gumpen zu werfen, in dem manchmal ein alter Bogenhausener Huchen steht. Wussten Sie das? Angler erkennt man daran, dass sie über keine Brücke gehen können, ohne wenigstens eine Minute andächtig in das Wasser unter ihnen zu blicken. Motorradfahrer haben diesen Blick, wenn sie einen kurvigen Bergpass sehen, Surfern reicht ein Bild von einem Strand, um in die Ferne zu schmachten. Zu allen guten Passionen gehört es wohl, dass ihre Anhänger gelegentlich etwas durchgeknallt wirken. Außenstehende mögen das belächeln, weil sich da jemand so offensichtlich in etwas verrennt. Aber eine Passion hat nichts Lächerliches an sich, im Gegenteil, wenn es eine gute Passion ist, beschäftigt sie ihren Menschen bis ans Ende des Lebens, sie hält ihn wach, lässt ihn fiebern und hoffen, Wünsche formulieren und Pläne fassen.

Eine Leidenschaft bewegt uns, deswegen sollte jeder eine haben, eine gute, anhaltende, wie sie das Angeln ist.

Aller Fang ist schwer

Es fängt wohl mit ein paar neuen Schimpfwörtern an. Ich lerne sie an diesem Morgen von meinem Vater. Er hat eine geliehene Teleskoprute in der Hand und eine Rolle, und auf der Rolle macht die Schnur einen Knoten, so groß wie eine Orange. Ein fürchterliches Durcheinander. Und mein Vater, ein Riesenmensch, Riesenfinger auch, müht sich seit einer halben Stunde, das Ende der Schnur zu finden oder die richtige Schlaufe, die aus dem Getüdel wieder eine schöne glatte Angelschnur macht. Wir wissen beide noch nicht, dass es diese Schlaufe niemals gibt.

Um uns herum stehen Angler, bei denen das alles problemlos funktioniert. Sie werfen aus, ihre Schwimmer stehen kerzengerade im Wasser, sie fangen Forellen. Jeder fängt hier Forellen, denn wir sind an einer Angelanlage in Tirol, wo meine Oma wohnt. In Deutschland ist so etwas Ende der achtziger Jahre noch verboten. Angelanlage funktioniert so: Morgens werden in den kleinen See Fische aus den Zuchtbecken nebenan geworfen, tagsüber fangen die Gäste sie heraus und zahlen einen hübschen Preis dafür. In einem Häuschen kann man die Angelruten und Köder leihen, und hinterher stehen die Gäste an einem langen Waschbecken und nehmen ihre Forellen aus, die alle genau gleich groß sind. Es ist eigentlich wie beim Fischhändler, nur mit etwas mehr Eigenleistung.

Während mein Vater die Rolle der Einfachheit halber in ihre Einzelteile zerlegt und dabei lautstark den einen oder anderen grundlegenden Konstruktionsfehler aufdeckt, streune ich an unserem Platz herum. Wie herrlich alles ist! Jeder Angelplatz hat eine Bank, der ganze See ist mit gehobelten Holzstämmen eingefasst, in seinem klaren Wasser spiegelt sich der Wilde Kaiser, und überall stehen die kleinen roten Köpfe der Schwimmer, wenn sie nicht gerade von einer Forelle unter die Oberfläche gezogen werden. Es ist immer noch Vormittag, von den Bergen kommt neue Luft. Ich bin an diesem strahlenden Kaisermorgen neun Jahre alt und trage einen Pullover mit einem Fisch, den mir meine Oma extra für den Ausflug gestrickt hat.

Es wird der einzige Fisch bleiben, den wir an diesem Tag abkriegen. Mein Vater und ich schaffen es, an dem Forellenteich keine Forelle zu fangen, eine Sensation, die ich erst heute so richtig ermessen kann. An dem Tag ist es mir aber ziemlich egal, ich versteh gar nicht genau, warum die Mama und die Oma später so enttäuscht die Hände ringen und alle über die leere Bratenform neben den Salzkartoffeln lachen. Ich hab doch wunderbare Sachen von unserem Angelausflug mitgebracht. Unter unserer Bank habe ich rostige Haken gefunden, ein paar Bleikugeln; sogar ein beinahe nicht kaputter Schwimmer hatte da gelegen und jede Menge Schnurknoten, die genauso aussahen wie die auf unserer Rolle. Diese Schätze habe ich sorgfältig gesammelt und in ein Kistchen gelegt, das nenne ich fortan mein Angelzeug.

Je öfter ich das Kistchen und seine Bestandteile in die Hand nehme und sortiere, desto dringender wird mein Wunsch, wieder an den See zu fahren. Schließlich, wenn schon auf unserem Platz so viele nützliche Dinge auf dem Boden lagen, was wäre zu finden, wenn ich ein bisschen größere Suchrunden drehen würde? Mein Vater will auch wieder hin. Er nimmt eines Tages, da sind wir schon wieder in der Stadt, beim Frühstück ein Stück Käse, schneidet es in kleine Würfel und behauptet, das sei ein guter Forellenköder. Das hätte er gelesen. Mama und ich finden das ungeheuer komisch, Käsewürfel für Fische! Die frühstücken doch gar nicht! Bei unserem ersten Besuch hatten wir Mais aus der Dose benutzt, was bei näherer Betrachtung eigentlich auch nicht weniger komisch war.

Das mit dem Käse müssen wir testen, also fahren wir ein paar Wochen später wieder hin. Wir sind auch schon ein bisschen bessere Angler. Mein Vater lässt sich an der Ausleihe eine andere Angelrute geben, dazu haben wir die professionellen Käsewürfel und gehen damit an eine neue Stelle, von deren Qualität wir uns das letzte Mal überzeugen konnten. Während mein Vater die Rute schwingt, beginne ich mit meiner Suche nach Überbleibseln am Ufer und feiere die schönsten Erfolge. Offenbar muss das Forellenangeln hier die Menschen ganz schön anstrengen, wenn sie dabei nicht mehr auf ihre Sachen aufpassen können. Ich finde zwei zerzauste Fliegen, einen rostigen kleinen Blinker und ein Päckchen Vorfachhaken, in dem noch zwei neue Vorfächer drin sind. Ich kenne den Zweck und den Namen dieser Dinge nicht genau, aber es sind schöne erwachsene Sachen, und mein Angelzeug wächst von ganz allein. Mein Vater optimiert unterdessen seine Wurfkünste.

Das Auswerfen ist ja ein essenzieller Bestandteil beim Angeln. Es war mir beim letzten Mal gar nicht aufgefallen, dass unser Schwimmer immer nur ganz nah am Ufer gestanden hatte, während die anderen in der Seemitte fischten. Der Papa ist der stärkste Papa, den ich kenne, er würde problemlos über den See werfen können. In Wirklichkeit hat er aber die Schnur immer zu früh losgelassen, was zur Folge hatte, dass Schwimmer und Köder zwar enorme Höhen erreichten, dann aber senkrecht vor unseren Füßen ins Wasser klatschten. Jetzt geht es besser, unsere Käsewürfel vom Frühstückstisch baden schon deutlich im Nichtschwimmerbereich. Es sieht gut aus, ist aber auch ein bisschen langweilig, finde ich.

Nach zwei Stunden, in denen ringsherum im Minutentakt die Forellen aus dem Wasser gehoben werden, äußert mein Vater den Gedanken, die Angel und das Häuschen, in dem er sie ausgeliehen hat, zu zerhacken. Ich weiß gar nicht, warum er so sauer ist, es ist doch genau wie letztes Mal. Einer, der nahe genug steht, um die Drohungen mitzuhören, kommt zu uns und wedelt mit einer kleinen Tüte. Damit sollten wir es probieren, das würde uns hundertprozentig unsere Fische verschaffen. Er hält uns den Tüteninhalt unter die Nase, so etwas habe ich noch nie gesehen. »Leber!«, sagt der Mann und geht, seine Forellen zu putzen. Mein Vater verzieht das Gesicht, aber die Verzweiflung ist beträchtlich, deswegen schneidet er ein Stück der triefenden Leber ab und hängt sie zu dem Käsewürfel an den Haken. Mich wundert gar nichts, höchstens, dass die Forellen so viele unterschiedliche Speisen mögen.

Schon wiesele ich wieder hinter ihm herum, aber nicht lange, denn mit einem Schlag sehe ich nur noch einen hellen Schmerz und habe ein blitzendes Reißen am Kopf, das mich jäh aufheulen und zu Boden gehen lässt. In den nächsten Sekunden beugen sich mein Vater und die halbe Anlage über mich. Der Schmerz kommt von meinem rechten Ohr. Als ich die Hand wegnehme, geht ein Raunen durch die Runde. »Der Vater hat eam’s Ohrwaschl ausgrissen!«, ruft einer. Der blutige Fetzen am Ohr ist aber nur die Leber und nicht das Waschl, der Käsewürfel ist mir derweil in den Pullover gefallen. Mein Vater hat mich beim Auswerfen also sauber durchs Ohrläppchen gehakt.

Der Betreiber der Anlage eilt mit Zange und Pflaster herbei und kneift den Haken ab, ein anderer schenkt mir eine halbvolle Dose Mais, die restliche Menge zerstreut sich. Ich heule vorsichtshalber noch ein bisschen, dann pule ich nach dem Käsewürfel im Pullover, aber der bleibt für immer verschwunden. Das ist bedauerlich, denn es ist unser letzter. Also gibt es nur noch Leber für die Forellen, die weiterhin nicht daran denken, uns zu erlösen.

Mir reicht’s, ich baue aus einem Ast und den gefundenen Utensilien meine eigene Angel und halte sie mit einem Maiskorn ins Wasser. Beim Rausheben ist ein Fisch dran. Keine Forelle, irgendwas Winziges, das glitzernd zappelt. Wir springen vor Überraschung aus dem Stand zwei Meter nach hinten. Schließlich wagt mein Vater sich vor und entlässt das Fischchen wieder ins Wasser. Das ist er also, der Erste! Mein Vater inspiziert argwöhnisch den dünnen Ast und meinen Haken, mit dem solche Wunderdinge möglich sind. Dann zieht er seinen Schwimmer ein und platziert ihn neben meinem, an der Wunderstelle, zwei Handbreit vom Ufer entfernt. Aber das nächste Fischlein hängt wieder bei mir. Ein schaurig-schönes Gefühl, etwas Zappelndes an der Schnur zu haben. Es muss am Haken liegen. Der, den ich gefunden habe, war klein, der an der Leihangel hängt, hat etwa die Größe eines Enterhakens.

Gönnerhaft gebe ich meinem Vater den zweiten kleinen Haken aus meiner Schatzkiste. Er ködert einen neuen Batzen Leber an, wirft aus, und klatsch, die Leber landet ziemlich weit hinten im See, der Schwimmer ziemlich weit vorne. So geht es noch ein paar Mal, das Zeug hält einfach nicht am kleinen Haken. Es fängt an zu regnen, kein Berg spiegelt sich mehr im Wasser, Tropfen und Leberstücke prasseln leise auf uns nieder. Am Ende schenkt uns der Anlagenbesitzer zwei Fische, schließlich haben wir sie irgendwie schon bezahlt.

»Ich brauche meine eigene Angel«, sagt mein Vater noch auf dem Parkplatz. Für mich klingt das ungeheuerlich und etwa so, als würden wir uns eine Achterbahn in den Garten stellen.

»Ich auch«, melde ich vorsichtshalber an. Angelzeug habe ich ja schon. Und ein kleines Loch im Ohr.

Die Fischerprüfung

Wie die Dinge standen, mussten wir die Fischerprüfung machen. Ich rechne es meinen Eltern heute hoch an, dass sie mich, immerhin gerade mal zehn Jahre alt, wie selbstverständlich für den Vorbereitungskurs anmeldeten.

Sechs Samstage im Winter verbringen mein Vater und ich also in einem großen Wirtshaussaal und trinken warmes Spezi. Wir haben da hundert Lernbögen mit Fragen vor uns. Am Ende des Saals steht ein alter Mann mit Bart und spricht in ein Mikrofon über Schonzeiten und Merkmale der einzelnen Fische, erklärt die Lustbarkeiten der Gelbrandkäfer und welche Schnurstärke bei welchem Fisch angeraten ist. Er macht Witze, bei denen sogar ich als Kind merke, dass er sie jedes Jahr macht. Es riecht nicht so gut in diesem Saal. Viele der Männer haben Hüte auf und lachen an manchen Stellen laut. Ich bin froh, dass mein Papa dabei ist. Ich bin froh, dass wir beide gleichzeitig mit dem Angeln anfangen, auch wenn ich noch nicht weiß, dass so was selten ist.

Zu Hause fragen wir uns gegenseitig ab, und ich komme mir sehr erwachsen vor, weil ich manchmal die Sachen besser weiß als mein Vater. Ich lerne alles auswendig, es ist gar nicht so einfach, denn es sind wirklich viele Fische, die alle unterschiedliche Merkmale, Lebensräume und Laichausschläge haben. Mit meiner Kinderstimme lese ich laut vor:

»Schlammpeitzger besitzen die Fähigkeit zur Darmatmung.«

»Die Altersbestimmung beim Wels erfolgt am besten anhand von Kiemendeckeln und Gehörsteinchen.«

»In Bayern sind Schlingen, Abzugseisen, Reißangeln, Harpunen, Sprengstoffe und Schusswaffen nach der Landesfischereiverordnung beim Fischfang verboten.«

Es gibt sehr viele solcher Sätze, wir haben ein ganzes Buch, das nur aus solchen Sachen besteht. Mein Vater stöhnt, und ich bin so erwachsen, denke ich, es ist durchaus möglich, dass ich morgen einen Schnurrbart habe. Wie der dicke Hubert, der samstags immer neben uns im Schulungssaal sitzt und ganz besonders viel lacht.

Vom dicken Hubert lerne ich nebenbei eine Menge bayerischer Sachen, die gar nichts mit dem Angeln zu tun haben, die ich aber heute noch befolge, wenn ich mal im Wirtshaus sitze. Zum Beispiel, dass man Weißwürste immer in ungerader Zahl bestellt. Und dass man deswegen bei der Bestellung auch nie »Paar«, sondern immer »Stück« und vor allem zur Kellnerin Du sagen muss. »Bringst mir erst mal drei Weiße!«, so sagt der Hubert immer, wenn er sich hinsetzt, und dann lacht er gleich darüber, und die Kellnerin lacht auch. Einmal hat er solchen Hunger gehabt, da hat er fünf Stück bestellt, weil vier geht ja nicht wegen nur ungerade. Aber danach war er ein bisschen käsig, der Hubert mit dem Schnurrbart. Die Weißwürste isst er auf die einzige richtige Art, wie er sagt, und das ist eben nicht das Zuzeln, das in jedem Reiseführer steht. Er nimmt ein scharfes Taschenmesser aus seiner Hose, das er immer dabeihat, und schneidet die Haut wurstlängs ganz vorsichtig ein, aber nicht vollständig von Zipfel zu Zipfel, sondern nur dazwischen. Mit einer schnellen Bewegung zwischen zwei Fingern drückt er die Wurst dann aus der Pelle, sodass sie ganz unversehrt auf dem Teller landet. Wichtig ist, sagt der dicke Hubert, dass man das immer nur mit einer Wurst macht, die man dann gleich essen muss, während die anderen im warmen Wasser bleiben, man darf nicht gleich alle schälen, nein, Stück für Stück muss es sein. Ein anderer am Tisch sagt, dass man Aale auch so häutet wie Weißwürste, aber das sei nicht ganz so einfach. Ich sehe die nackten Weißwürste, die der dicke Hubert mit den Fingern nimmt und in den Senf taucht. Ich will lieber erst mal keine Aale fangen und denke, meinem Vater geht es ähnlich.

Wir lernen gut. Am Tag vor der Prüfung gehen wir noch ins Fischereimuseum in der Münchner Fußgängerzone. Ich drücke mir die Nase an der Vitrine mit den »modernen Angelgeräten« platt, obwohl da nur ganz normale Schwimmer und Blinker ausgestellt sind. Aber der Gerätewahn meldet sich schon: Am liebsten würde ich gleich ins Angelgeschäft fahren, da war ich noch nie. Ich stelle es mir vor wie Disneyland, da war ich auch noch nie. »Erst mal die Prüfung«, sagt mein Vater.

Es ist ein Sonntag, an dem die Prüfung stattfindet. Niemand bestellt Bier, die Männer mit den Hüten schwitzen, man darf nicht abschauen, es wird aber doch abgeschaut. Eigentlich sind die meisten Fragen babyeinfach, genau wie in dem Buch, mit dem wir gelernt haben, und man muss nur richtig ankreuzeln. Der dicke Hubert sagt trotzdem immer »Omeiomeiomei!«, ganz oft hintereinander, erst lacht er noch danach, am Schluss aber nicht mehr.

Ich denke, man bekommt hinterher gleich einen Ausweis und darf losangeln. Niemand hat mir gesagt, dass es ein paar Wochen dauert, bis man weiß, ob man geprüfter Angler ist. Eine große Enttäuschung. Während ich warten muss, werde ich erfolgreich elf Jahre alt. Drei Wochen nach meinem Geburtstag ruft meine Mutter beim Prüfungsamt an und erhält die Auskunft, dass es noch eine Woche dauert, und sie stöhnt, es sei ja nicht für sie, sondern für einen kollabierenden Elfjährigen, der seit zwei Wochen täglich seine Angel griffbereit an die Tür stellt. Dann kommt ein großer Umschlag, und darin steckt eine Urkunde für mich, eine für meinen Vater. Wir sind geprüfte Angler, dem Schlammpeitzger sei Dank!

Leider kann man immer noch nicht losangeln. Das ist auch etwas, was ich eigentlich nicht einsehe. Es gibt ausgezeichnete Teiche in den Münchner Parks, gestapelt voll mit Karpfen, aber man darf sie nicht angeln. Es gibt einen Fluss, und wenn man ein bisschen weiter hinausfährt aus der Stadt, gibt es richtig große Seen, wo ich auch am Dampfersteg schon oft Angler gesehen habe. Aber für die braucht man noch mal eine eigene Erlaubnis, der erbüffelte Schein allein ist für gar nix gut. Und im Westpark, wo man die Karpfen streicheln kann, so dumm und dick treiben sie zwischen den Enten und fressen das Brot der Besucher, im Westpark ist Angeln immer verboten, egal mit welchem Schein.

Weil mein Vater auch ein bisschen ungeduldig ist, fahren wir erst mal wieder zu dem Forellensee, den wir schon kennen. Nach unserer Schlappe im letzten Jahr muss es diesmal besser gehen, schließlich sind wir mit Diplom und Schein, und eine Menge Ausrüstung haben wir jetzt auch. Es gibt im Keller eine Stelle, wo neuerdings unsere Angeln stehen, und da liegt immer eine neue Tüte vom Angelgeschäft, denn mein Vater kommt auf dem Rückweg von der Arbeit daran vorbei – ein glücklicher Umstand, der unser Geheimnis ist. Auf diese Weise bin ich auch in den Besitz eines richtigen Angelkastens gekommen, mit einem Verschluss, den man lösen muss, und dann klappen sich auf zwei Ebenen Fächer auf, es ist großartig. Der Kasten steht aber natürlich in meinem Zimmer unter meinem Bett.

Derart hochgerüstet kommen wir am Forellensee an, die Berge strahlen, und auf der Sonne liegt noch ein bisschen Schnee, oder umgekehrt, ich bin so nervös, dass ich kein Auge dafür habe. Es sind weniger Menschen da als sonst, aber die Forellen springen, keine zehn Meter vor unseren Füßen. Mein Vater hat einen Spezial-Forellenteig gekauft, den er an den Haken batzelt. Der Teig sieht ein bisschen verrückt aus, mit Glitzerflitter drin, und hat einen Geruch wie nichts, was man so kennt, wie Knoblauch und Zimt oder so. Wir dürfen nur mit einer Angel fischen und wechseln uns ab. Ich werfe aus, und sofort geht der Schwimmer unter. Zu viel Blei, denken wir, aber dann ruppelt es an der Rute, und die Spule der Rolle dreht sich in die falsche Richtung, nämlich Richtung See.

»Da ist einer dran!«, rufen mein Vater und ich gleichzeitig, und als hätte ich nie etwas anderes gemacht, fange ich meine erste Forelle. Stolz hebe ich sie aus dem Wasser und meinem Vater in die Arme, der sich seinen Schrecken nicht anmerken lässt. Während ich sehr intensiv aufs Wasser starre, versorgt er den Fisch. Über diesen, den blutrünstigen Teil haben wir nie so richtig gesprochen. Ich bin durchaus bereit, meinen Mann zu stehen, nur vielleicht nicht gleich beim ersten Fisch. Jetzt will mein Vater angeln. Auch sein Schwimmer geht sofort unter, gleiches Spiel, gleiche Forelle.

Irgendwie ist der Angelknoten geplatzt, wir fangen an diesem Tag sieben Satzforellen, und mein Vater flucht ganz schön, weil er für fünf Forellen extra bezahlen muss. Aber daheim ist das Hallo groß, und ich fühle mich am Abend erschöpft wie ein großer Fischer. Ich eröffne ein Fangbuch, weil ich gehört habe, dass ernsthafte Angler so ein Buch führen. In Anbetracht meiner großen anglerischen Zukunft versehe ich gleich mal die ersten zwanzig Seiten mittels Lineal und Bleistift mit ordentlichen Tabellen.

Ins erste Fach trage ich ein: 13. Mai 1991, Regenbogenforelle, 7, ca. 700 gr/St., Glitterteig. Besondere Vorkommnisse: Sie haben sehr schnell gebissen. Sogar bei Papa.

Ausrüstung

Die Rolle

Immer wieder taucht unter Anglern die Frage auf, was wichtiger ist, Rute oder Rolle. Nun, die Rolle ist zumindest ein wesentlich komplexeres Teil, das kann ich bezeugen, denn ich habe schon mal eine auseinandergebaut und nie wieder zusammengesetzt bekommen. Ein Getriebe aus Zink oder Aluminium, eine Bremse, die im Kampf mit dem Fisch die Schnur dosiert freigeben soll, jede Menge Kugellager und als wichtigstes Detail der Schnurfangbügel mit dem kleinen Röllchen, das die Schnur mit jeder Umdrehung der Kurbel und 1000-mal sauber aufwickelt.

Nichts ist ärgerlicher als eine Schrottrolle, und doch fängt jedes Anglerleben irgendwie mit einer Schrottrolle an, nichts zu machen. Man kauft sie vom Taschengeld, bekommt was geschenkt, im schlimmsten Fall eines dieser Einstiegsangelsets, die so manchem den Einstieg eher erschwert als erleichtert haben.

Eine gute Rolle fängt bei etwa 70 Euro an, sie schnurrt, wenn man die Kurbel kurz andreht, läuft weich und wickelt die Schnur sauber auf. Die besten kommen natürlich aus Japan, kleine funkelnde Wundermaschinen, die bis zu 1000 Euro kosten können – und dann oft die Vitrinen gar nicht verlassen.

Ohne die Rolle könnte der Angler seinen Köder nicht auswerfen, ohne ihr Schnurmanagement gäbe es ständig Verwicklungen. Die gibt es allerdings durchaus auch mit Rolle, egal welcher Güteklasse. Gerade am Anfang gehört das, was die Fachliteratur »Perücke« nennt, zum Angeln dazu. Der bayerische Volksmund nennt das Ärgernis »Wurling«, der Norddeutsche »Getüdel«, wie auch immer – es muss durchlitten werden. Die Ursachen sind ebenso vielfältig wie das Entwirren eines Schnursalats mühsam ist, wenn nicht gar unmöglich. Eine Schlaufe, ein nicht bemerktes Fallenlassen einer Wicklung beim Auswerfen und zehn andere Pannen, die dem Geübten nur selten passieren, dem Anfänger aber ziemlich oft, schon türmt sich über der Rolle ein gordischer Knoten, bei dem meistens nur noch Abschneiden hilft.

Es gibt etliche Arten von Rollen: Der Fliegenfischer nimmt eine simple Spule, von der er beim Wurf mit der Hand die Schnur abstrippt. Eine Multirolle hat keinen Bügel und eine Querspule, sie gibt die Schnur auf Tastendruck frei, was besonders bei der Fischerei im Meer und auf kampfstarke Fische angeraten ist. Die Stippangler, eine besondere Anglerspezies, die in Großbritannien, den Niederlanden und Norddeutschland verbreitet ist, haben gar keine Rolle, sie binden die Schnur an die Rutenspitze und benutzen bis zu dreizehn Meter lange Ruten, um den Köder auf Abstand zu bringen. Das ähnelt dann wieder der Fischerei, die viele als Kind und intuitiv betreiben, mit einem Stock und einem Bindfaden.

Aberglaube

»Blesshühner bringen Unglück«, sagt mein Vater. Er hat die Pfeife aus dem Mund genommen, starrt auf die Schilfkante des kleinen Sees, der in der Anglerkarte als »Karpfenstein« geführt wird, obwohl weder Stein noch Karpfen zu sehen sind. Da ist ein Blesshuhn, das sich gerade ruckend aus dem Schilf schält. Er sagt es voll finsterer Überzeugung, und seit diesem Tag gilt es für uns so. Blesshühner an der Angelstelle bringen Unglück. Haubentaucher bringen Glück. Enten sind neutral, weil eben Enten. Das Dumme ist: Es gibt viel mehr Blesshühner als Haubentaucher.

Zeug & Zinnober

Ich denke, Angeln ist die Freizeitbeschäftigung mit dem höchsten Materialaufwand. Natürlich kostet eine Segelyacht mehr, aber was die schiere Menge an unterschiedlichen Utensilien angeht, ist Segeln dagegen die reinste Übung in Minimalismus. Und die Angelausrüstung ist nie komplett. Am ehesten kann man den Gerätewahn des ernsthaften Anglers mit dem Einrichten einer eigenen Werkstatt vergleichen: Zu beachten sind viele unterschiedliche Disziplinen und Techniken, die alle eigene Systeme benötigen, und dazu jeweils Hunderte hochspezielle Kleinteile, und die dann noch mal in allen Preisklassen und von etlichen Anbietern. Es gibt einen großen Angelversandhändler namens Gerlinger, dessen armdicker Jahreskatalog bringt es auf tausend engbedruckte Seiten, und da ist noch nicht mal alles drin. Vielleicht macht das die Ausmaße der Verlockung deutlich, mit denen ein ernsthaft Infizierter zu kämpfen hat.

Es mag sein, dass es noch Angler gibt, die genügsam mit einer kleinen Tasche und den beiden immer gleichen Ruten ans Wasser gehen, und sehr wahrscheinlich sind das erfolgreiche Angler, weil sie Wert auf das Wesentliche legen und nicht auf den Zinnober. Aber das Gros hat sich nach und nach von den Gebetsmühlen bzw. Gerätsmühlen der Angelmagazine und von den immer größeren Geschäften überzeugen lassen und braucht für die Mobilmachung seiner Ausrüstung mindestens einen Kleinbus – was umso erstaunlicher ist, als die meisten Sachen ja sehr klein sind.

Man kann diesen Fetisch beklagen, und mein Konto tut das auch in regelmäßigen Abständen, aber ich habe die Gerätesammelei längst als eine weitere liebenswerte Eigenheit des passionierten Anglers erkannt. Ich glaube wirklich, dass ein nicht geringer Teil der Faszination in diesem Horten von Sachen liegt, im Ausgerüstetsein für jede Situation. Ich habe zum Beispiel eine hervorragende und nahezu komplette britische Barbenausrüstung in meinem Zimmer stehen, ergänze alle paar Wochen wie ferngesteuert das eine oder andere, zuletzt eine besonders abriebfeste Schnur, die an den scharfkantigen Steinen, zwischen denen die Barbe auf Grund steht, nicht aufreibt. Die Rute ist ein wunderbares Stück, made in Scotland, mit einer sehr sensiblen Signalspitze, die aber gleich in ein richtig hartes Rückgrat übergeht, optimal für ihren Zweck, denn Barben sind stramme Kämpfer. Nun, die Ausrüstung ist toll, die Sache ist nur, dass ich noch nie Barben angeln war. Es wird in naher Zukunft auch nicht dazu kommen, denn ich habe keinen Zugang zu einem Barbengewässer, mir fällt nicht mal eines ein. Aber es gefällt mir ungemein, dass ich alles dafür hätte.

Angeln ist also markttechnisch eine wirklich interessante Sucht, der ganze Kapitalismus lässt sich damit kinderleicht erklären: Immer wenn nichts beißt, schiebt es der Angler irgendwann auf seine Ausrüstung. Die Fische stehen vielleicht weiter draußen? Neue Rute muss her. Die Fische sind sehr scheu hier? Alles – Schnur, Haken, Bissanzeiger – wird noch mal in feiner Ausführung gekauft. Die anderen Angler fangen hier Zander, während ich mit meinem Hechtzeug da stehe? Auf zum Laden und in die Zanderabteilung! Und so weiter. Die Optimierung ist der Grundmodus des Angelns, und sie führt eben allermeistens auch ins Angelgeschäft.

Dazu kommt, dass die vielen unterschiedlichen Fliegen fürs Fliegenfischen, eine tolle neue Rolle oder die tausend verrückten Kunstköder-Varianten eben auch den Sammelimpuls bedienen, der bei vielen Menschen und insbesondere wohl Männern irgendwo angelegt ist. Ich besitze etwa zweihundert Wobbler, verteilt auf zwanzig Kisten. Gehe ich mit denen los? Nein, wäre ja logistisch gar nicht möglich. Ich nehme zum Fischen eigentlich immer nur die gleichen zehn Wobbler. Niemand braucht wirklich zweihundert Wobbler, schon gar nicht die Fische. Aber es beruhigt mich einfach sehr, sie zu besitzen, ich hüte sie wie eine Schafherde. An manchen Abenden, wenn ich aus der Redaktion komme und ein bisschen Trost brauche, schaue ich in meine Wobblerkisten, nehme einen heraus, halte ihn, lege ihn wieder zurück, und zwar in einer Weise, dass die Madame eifersüchtig wird. Ja, sie hat recht, es könnte Liebe sein.

Wenn ich, das gehört zu den schlimmsten Momenten im Leben eines Wobblervaters, einen Hänger habe und den Wobbler unter Wasser an einem Hindernis abreiße, betäube ich den Schmerz, indem ich zwei Wobbler nachkaufe. Die Industrie reagiert auf diesen Reflex mit rasant steigenden Preisen. Vor zwanzig Jahren noch, als es kaum fünfzehn verschiedene Wobbler auf dem Markt gab und nur zwei namhafte Hersteller, legte man zehn Mark für einen hin und wurde schon schräg angesehen. Heute gibt es handgemachte, signierte und speziallackierte Modelle aus Schweden oder Japan, die bis zu 80 Euro kosten.