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Lesen was ich will!

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Dieses Buch ist allen gewidmet, die du hasst.
Tut mir leid, aber so ist das Leben manchmal.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski

ISBN 978-3-492-97037-2
April 2015
© Dan Wells 2014
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»Ruinen. Partials 3« bei Balzer+Bray, HarperCollins, New York.
Deutschsprachige Ausgabe:
© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: Trinette Reed / Getty Images; FinePic, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

ERSTER TEIL

1

»Dies ist eine Botschaft für alle Einwohner von Long Island.«

Bei der ersten Durchsage hatte niemand die Stimme erkannt. Allerdings wurde der Text unablässig, Tag für Tag und Woche um Woche, auf sämtlichen verfügbaren Frequenzen wiederholt, damit es alle Bewohner der Insel hörten. Die verschreckten Flüchtlinge, die in Gruppen oder allein in der Wildnis hockten, kannten den Wortlaut bald auswendig. Erbarmungslos plärrte die Drohung aus den Funkgeräten und brannte sich ihnen unauslöschlich ins Gehirn und in die Erinnerungen ein. Nach einigen Wochen suchte sie die Stimme sogar in ihren Träumen heim, bis nicht einmal mehr der Schlaf Erholung von der gelassenen, nüchternen Drohung bot.

»Wir wollten keine Invasion durchführen, doch die Umstände zwangen uns dazu.«

Schließlich erfuhren sie, dass die Sprecherin eine Wissenschaftlerin namens McKenna Morgan war und dass sich das Wir in der Botschaft auf die Partials bezog – unbesiegbare Supersoldaten, in Laboratorien erschaffen und in Bruttanks gezüchtet, um einen Krieg zu führen, den die Menschen aus eigener Kraft nicht gewinnen konnten. Sie kämpften und siegten, doch als sie in die Vereinigten Staaten zurückkehrten und sahen, dass sie heimatlos und verloren waren, wandten sie sich gegen ihre Schöpfer und zogen abermals in den Krieg. Dies war der Partialkrieg, der das Ende der Welt heraufbeschwor.

Allerdings war der Krieg, in dem die Welt unterging, nicht der letzte Krieg, den es auf der Erde geben sollte. Zwölf Jahre später standen Partials und Menschen kurz vor der Ausrottung, und beide Gruppen waren bereit, die jeweils andere zu vernichten, um selbst zu überleben.

»Wir suchen ein Mädchen namens Kira Walker. Sie ist sechzehn Jahre alt, einen Meter achtundsiebzig groß und wiegt etwa sechzig Kilogramm. Sie ist indianischer Abstammung und hat helle Haut und pechschwarzes Haar. Möglicherweise hat sie es abgeschnitten oder gefärbt, um ihre Identität zu verschleiern.«

Nur wenige Bewohner der Insel kannten Kira Walker persönlich, doch jeder wusste, wer sie war: eine Sanitäterin, die im Krankenhaus ausgebildet worden war und nach einem Mittel gegen die RM-Seuche gesucht hatte. Dabei hatte sie dem Wunderkind Arwen Sato das Leben gerettet. Die Kleine war seit zwölf Jahren das erste menschliche Kind, das mehr als drei Tage überlebt hatte. Kira war berüchtigt, weil sie während der Suche nach dem Heilmittel zwei willkürliche Angriffe auf die Partialarmee durchgeführt und dadurch vermutlich das Ungeheuer geweckt hatte, das nach dem Partialkrieg in Schlaf gefallen war. Sie hatte die Welt sowohl gerettet als auch zum Untergang verdammt. Bei der ersten Ausstrahlung der Botschaft hatten die Menschen noch nicht gewusst, ob sie Kira Walker lieben oder hassen sollten. Mit jedem neuen Einwohner, der starb, sollte sich das Bild verändern.

»Bringen Sie uns dieses Mädchen, und die Besetzung ist sofort beendet. Wenn Sie das Mädchen weiterhin verstecken, richten wir jeden Tag einen von Ihnen hin. Diese Botschaft wird nacheinander auf allen Frequenzen ausgestrahlt und wiederholt, bis Sie unsere Anweisungen befolgen. Danke.«

Am ersten Tag hatten die Partials einen alten Mann getötet, der in den Zeiten, als es noch Schulkinder gegeben hatte, Lehrer gewesen war. John Dianatkah hatte fünf Bienenstöcke betrieben, um für die Schüler Honigbonbons herzustellen. Die Soldaten hatten ihn mitten in East Meadow, der größten Siedlung auf Long Island, durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet. Zum Zeichen dafür, dass sie es ernst meinten, hatten sie ihn danach auf der Straße liegen gelassen. Niemand hatte Kira verraten, weil die Menschen damals noch stolz und unbeugsam gewesen waren. Die Partials sollten mit den Säbeln rasseln, so viel sie wollten, die Menschen gaben nicht klein bei. Doch die Botschaft spielte unablässig ab, und am nächsten Tag töteten die Besatzer ein gerade siebzehn Jahre altes Mädchen, am Tag darauf eine alte Dame und danach einen Mann in mittleren Jahren.

»Bitte zwingen Sie uns nicht, dies länger als nötig zu tun.«

Eine Woche verging, sieben Menschen starben. Zwei Wochen, und vierzehn Einwohner waren umgebracht worden. In der Zwischenzeit führten die Partials keine Angriffe auf die Menschen mehr durch und trieben sie nicht in Arbeitslagern zusammen, sondern sperrten sie einfach in East Meadow ein und nahmen jeden fest, der fliehen wollte. Wer einen Partial angriff, wurde ausgepeitscht oder geschlagen, und wer allzu großen Ärger machte, diente am folgenden Tag als Opfer. Wenn ein Mensch spurlos verschwand, machten getuschelte Gerüchte die Runde: Vielleicht war er entkommen. Vielleicht hatte Dr. Morgan ihn in ihr blutfleckiges Labor verschleppt. Oder der Betreffende kniete am folgenden Tag vor einem Partial, während in der ganzen Stadt die Botschaft aus den Lautsprechern plärrte, und bekam eine Kugel in den Kopf. Jeden Tag gab es eine neue Hinrichtung. Jede Stunde wurde die Botschaft wiederholt, immer wieder, unerbittlich.

»Wir suchen ein Mädchen namens Kira Walker.«

Dennoch verriet sie niemand – aber schließlich nicht mehr deshalb, weil die Menschen so stolz waren, sondern weil niemand Kiras Aufenthaltsort kannte. Einige behaupteten, sie habe die Insel verlassen, andere meinten, sie verstecke sich im Wald. Natürlich würden wir Kira ausliefern, wenn wir ihrer habhaft würden, aber sie ist nicht auffindbar, verstehen Sie das denn nicht? Können Sie das nicht begreifen? Können Sie nicht aufhören, uns zu töten? Es sind doch kaum noch Menschen am Leben. Gibt es denn keinen anderen Weg? Wir wollen Ihnen ja helfen, aber wir können es einfach nicht.

»Sechzehn Jahre alt … einen Meter achtundsiebzig groß … pechschwarzes Haar.«

Nach einem Monat hatten die Menschen genauso große Angst voreinander wie vor den Partials. Die Hexenjagd vergiftete die Gemeinschaft der Flüchtlinge … Du siehst aus wie Kira, vielleicht akzeptieren sie dich, vielleicht reicht das. Junge Mädchen, Frauen mit schwarzem Haar, alle, die auch nur entfernt indianisch wirkten oder den Eindruck erweckten, sie hätten etwas zu verbergen. Woher soll ich wissen, ob du nicht Kira bist? Und wie sollen es die Partials wissen? Vielleicht stellen sie das Töten ein, und sei es nur für eine Weile. Und wie sollen wir wissen, ob du sie nicht versteckst? Ich will dich ja nicht hinhängen, aber wir sterben. Ich will dir nicht wehtun, aber sie zwingen uns dazu.

»Wenn Sie das Mädchen weiterhin verstecken, richten wir jeden Tag einen von Ihnen hin.«

Die Partials waren von Natur aus stärker als die Menschen. Sie bewegten sich schneller, waren widerstandsfähiger und in jeder Hinsicht überlegen. Sobald sie aus den Bruttanks geholt wurden, begann die militärische Ausbildung. Die Partials kämpften wie Löwen, bis sie zwanzig wurden und das genetisch eingebaute Verfallsdatum sie umbrachte. Sie wollten Kira Walker fassen, weil Dr. Morgan den Menschen eine Information voraushatte: Kira war eine Partial. Ein Modell, das vorher nie in Erscheinung getreten war und von dessen Existenz keiner wusste. Nach Morgans Ansicht konnte Kiras DNA dazu beitragen, das Verfallsdatum aufzuheben. Doch selbst wenn die Menschen Bescheid gewusst hätten, wäre es ihnen gleichgültig gewesen. Sie wollten einfach nur überleben. Einige Widerstandskämpfer schlugen sich in der Wildnis durch, nutzten ihre Ortskenntnis und kämpften auf verlorenem Posten gegen die endgültige Auslöschung. Den fünfhunderttausend Partials standen fünfunddreißigtausend Menschen gegenüber, und zum Zahlenverhältnis von mehr als zehn zu eins kam die Tatsache hinzu, dass die Partials erheblich bessere Kämpfer waren. Wenn sie beschlossen, die Menschen zu töten, dann entkamen ihnen die Menschen auf keinen Fall.

Dann fanden die Widerstandskämpfer in einem untergegangenen Zerstörer der Kriegsmarine einen Atomsprengkopf.

»Wir wollten keine Invasion durchführen, doch die Umstände haben uns dazu gezwungen«, hieß es in der Botschaft.

Die Widerstandskämpfer sagten sich das Gleiche, als sie die Bombe ins Heimatland der Partials schmuggelten.

2

Senator Owen Tovar atmete gedehnt aus. »Woher wusste Delarosa, dass eins der versenkten Schiffe eine Atombombe an Bord hatte?« Er warf Haru Sato, dem Soldaten, der ihm die Neuigkeiten übermittelt hatte, einen Blick zu und wandte sich an Mr. Mkele, den Geheimdienstchef der Insel. »Genauer gesagt – wie kommt es, dass Sie es nicht wussten?«

»Die versenkte Flotte war mir bekannt«, erwiderte Mkele. »Hingegen hatte ich keine Ahnung, dass sie eine Atombombe transportierte.« Haru hatte Mkele immer als fähigen und selbstbewussten Mann betrachtet – furchtbar, wenn er und Haru unterschiedlicher Meinung waren, und äußerst zielstrebig, solange sie die gleichen Ziele verfolgten. Nun wirkte der Geheimdienstler niedergeschlagen und überfordert. Mkele derart ratlos zu sehen, war in gewisser Weise sogar noch verstörender als die Schrecken, die dieser Situation vorausgegangen waren.

»Ein Mitglied von Delarosas Widerstandsgruppe wusste davon«, erklärte Haru. »Ich kann nicht sagen, wer. Nur so viel, dass es wohl ein alter Marineoffizier war.«

»Und das hat er all die Jahre für sich behalten?«, fragte Tovar. »Wollte er irgendjemanden damit überraschen?«

Senator Hobb trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Wahrscheinlich hegte er die begründete Befürchtung, man könne die Bombe bergen und einsetzen, falls er jemandem davon erzählte. Offenbar wird nun genau das passieren.«

»Delarosa behauptet, die Partials überrennen uns«, meinte Haru. Die vier Männer saßen tief unter dem ehemaligen JFK Airport in einem Tunnel. Die Anlage war zerstört und zerbombt, doch dank der weiten freien Flächen konnten anrückende Partials früh entdeckt werden. Dies war der letzte Rückzugsort des verzweifelten Senats. »Nicht nur jetzt – sie würden bis in alle Ewigkeit damit fortfahren. Sie denkt, die Menschen könnten ihre Welt nie wieder aufbauen, solange sich die Partials dort draußen herumtreiben. Damit hat sie recht, so schrecklich es auch ist. Das heißt aber noch längst nicht, dass alles besser wird, wenn wir eine Atombombe zünden. Ich hätte sie nur zu gern aufgehalten, doch sie verfügt über ein ganzes Heer an Guerillakämpfern, und die meisten Soldaten meiner Einheit haben sich ihr angeschlossen.« Er schüttelte den Kopf. Haru war mit seinen gerade dreiundzwanzig Jahren der jüngste der vier Männer. Schon lange hatte er sich nicht mehr so klein und hilflos gefühlt – genau genommen seit dem Zusammenbruch nicht mehr. Der Untergang und das Chaos waren schon schlimm genug, aber die Tatsache, dass er das alles bereits kannte, machte ihm noch viel mehr zu schaffen. Vor zwölf Jahren war die Welt schon einmal untergegangen, und nun wiederholte sich die Geschichte. Damals war er noch ein Kind gewesen, und plötzlich fühlte er sich abermals wie ein Kind: verloren, verwirrt und von dem verzweifelten Wunsch beseelt, irgendjemand möge einschreiten und alles zum Besseren wenden. Dieses Gefühl mochte er überhaupt nicht, und er verachtete sich sogar selbst, weil es überhaupt in ihm aufgekommen war. Immerhin war er selbst Vater – der erste Vater seit zwölf Jahren, der ein lebendes, gesundes, atmendes Kind hatte. Die Kleine und ihre Mutter saßen zusammen mit ihm in der Patsche. Um ihretwillen musste er sich zusammenreißen.

»Mir gefiel Delarosa besser, als sie noch im Gefängnis saß«, erklärte Hobb. »Das haben wir davon, dass wir einer Terroristin vertraut haben.« Er warf Tovar einen raschen Blick zu. »Anwesende natürlich ausgenommen.«

»Nein, Sie haben ganz recht«, erwiderte Tovar. »Wir haben viel zu oft Fanatikern vertraut, und das ist für uns selten gut ausgegangen. Ich war ein ziemlich gerissener Terrorist – jedenfalls klug genug, um mich als Freiheitskämpfer zu verkaufen und eine führende Position zu übernehmen. Aber ich bin ein schrecklicher Senator. Wir mögen es, wenn sich die Menschen erheben und kämpfen, ganz besonders, wenn wir mit ihnen übereinstimmen, aber es ist der nächste Schritt, auf den es wirklich ankommt. Was geschieht, wenn die Kämpfe vorüber sind?« Er lächelte traurig. »Ich habe Sie alle enttäuscht.«

»Die Invasion der Partials war nicht Ihre Schuld«, widersprach Mkele.

»Die letzten Reste der Menschheit werden sich freuen, das zu hören«, erwiderte Tovar. »Es sei denn, die Invasion der Partials erweist sich als wundervolles Geschenk. In diesem Fall würde ich alle Belobigungen für mich beanspruchen.«

»Aber nur, wenn Hobb Ihnen nicht zuvorkommt«, warf Haru ein.

Senator Hobb stotterte etwas Unzusammenhängendes, um sich zu verteidigen, und Mkele warf Haru einen missbilligenden Blick zu. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als Sticheleien auszutauschen.«

»Selbst wenn sie wahr sind«, sagte Tovar. Daraufhin starrten Mkele und Hobb ihn an, doch Tovar zuckte nur mit den Achseln. »Was denn? Bin ich etwa als Einziger bereit, persönliches Versagen einzugestehen?«

»Auf unserer Insel läuft eine abgeurteilte Kriegsverbrecherin mit einer Atombombe herum«, erklärte Hobb. »Ganz zu schweigen von der Armee von Supersoldaten, die uns abschlachten wie Vieh. Könnten wir uns vielleicht darauf statt auf persönliche Angriffe konzentrieren?«

»Sie wird die Bombe nicht auf der Insel einsetzen«, gab Haru zu bedenken. »Nicht einmal Delarosa ist derart blutrünstig. Sie will nicht um jeden Preis Partials töten, sondern vor allem die Menschen retten. Natürlich bringt sie Partials um, aber nicht auf Kosten der wenigen Menschen, die noch übrig sind.«

»Das ist ein guter Einwand«, räumte Mkele ein. »Aber eine Atombombe ist eine sehr ungenaue Waffe. Woher wissen wir, dass sie klug damit umgeht? Im günstigsten Fall schafft sie die Bombe aufs Festland und zündet sie irgendwo nördlich der Partials, damit sie der strahlende Fallout tötet. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie die Basis der Partials in die Luft jagt, worauf der Fallout anschließend uns umbringt.«

»Das könnte der einzige Plan sein, der überhaupt gelingen kann«, überlegte Hobb. »Soweit wir wissen, sterben die Partials nicht einmal an Strahlenvergiftung.«

»Wie weit ist White Plains entfernt?«, fragte Tovar. »Hat jemand eine Landkarte?«

»Aber klar.« Mkele legte die Aktentasche auf den Tisch, und die Schlösser öffneten sich mit leisem Klicken. »Die Reise von hier nach White Plains dauert eine gewisse Zeit, weil der Long Island Sound umgangen werden muss.« Er entfaltete eine Karte und breitete sie auf dem Tisch aus. »Selbst wenn Delarosa den Sund mit dem Boot überquert, braucht sie eine ganze Weile, um das Ziel zu erreichen. Wobei sie allerdings höchstwahrscheinlich erwischt wird. Sofern sie sehr vorsichtig ist und heimlich vorgeht, dauert die Reise vielleicht sogar mehrere Monate. Betrachtet man lediglich die Luftlinie, scheint es nicht sonderlich weit zu sein. Von White Plains bis East Meadow sind es …« Er betrachtete die Karte und maß die Entfernung mit einem abgegriffenen Plastiklineal. »Ungefähr sechzig Kilometer.« Er hob den Kopf. »Wissen wir, welche Atomwaffe sie besitzt? Wie stark ist die Ladung?«

»Sie sagte, die Bombe stamme aus einem Schiff namens The Sullivans«, berichtete Haru. »Ich weiß nicht, warum der Name die Pluralform hat.«

»Das war ein Zerstörer«, ergänzte Tovar. »Arleigh-Burke-Klasse. Das Schiff war schon vor zwölf Jahren recht alt, aber sehr zuverlässig. Die Navy setzte diesen Typ lange ein. Die The Sullivans ist nach fünf Brüdern benannt, die im Zweiten Weltkrieg gemeinsam in einer Schlacht gefallen sind.«

»Ich dachte, Sie wussten nichts von der Atombombe«, meinte Hobb.

»Das trifft auch zu«, erwiderte Tovar. »Aber Sie reden hier mit einem ehemaligen Marinesoldaten. Das Schiff, dessen Beschreibung ich nicht kenne, muss erst noch gebaut werden.«

»Dann klären Sie uns doch mal über die Daten dieses Schiffs auf!«, drängte ihn Mkele. »Trägt ein Zerstörer dieser Bauart Atomraketen, oder hatte er eine Bombe geladen, die von einem Selbstmordkommando direkt an Bord gezündet werden sollte?«

»Die Zerstörer der Arleigh-Burke-Klasse sind mit Tomahawks ausgerüstet«, erklärte Tovar. »Das sind Marschflugkörper mit Zweihundert- bis Dreihundertkilotonnenbomben. Die Waffen sind für Langstreckenangriffe gedacht, aber die Partials hatten eine starke Raketenabwehr und konnten sie abschießen, bevor sie einschlugen. Ich vermute, diese Bombe ist unmittelbar vor der Küste von Long Island gelandet, weil man sie dicht heranbringen und direkt am feindlichen Stützpunkt zünden wollte. Damit hätten sie die Flotte, den größten Teil von New York sowie New Jersey und Connecticut geopfert, aber die Partials wären auf jeden Fall vernichtet worden.«

Haru schnitt eine Grimasse und staunte wieder einmal darüber, wie verzweifelt die damalige Regierung gewesen war, um so etwas in Erwägung zu ziehen. Allerdings sah ihre eigene Situation derzeit auch nicht viel besser aus. Kurz vor dem Weltuntergang und wenn bereits klar war, wohin die Reise ging, war eine Atomexplosion ein kleiner Preis. Zwar kämen alle Menschen in Reichweite um, und die ganze Gegend bliebe für Jahrzehnte unbewohnbar, aber auch die Partials wären verschwunden. Das wäre es vielleicht sogar wert gewesen. Aber nun, da sich die letzten Vertreter der Menschheit nur sechzig Kilometer entfernt aufhielten …

»Wie sieht der Zerstörungsradius aus?«, fragte Haru. »Ist anschließend die ganze Insel tot?«

»Nicht unbedingt«, sagte Tovar. »Aber wenn es irgendwie möglich ist, wollen wir dann nicht hier sein. Bei dieser Ladung ist der Feuerball sofort nach der Zündung etwa zwei Kilometer groß. In diesem Bereich herrschen bis zu zweihundert Millionen Grad. Im Umkreis von etwa zehn Kilometern wird die Druckwelle alles zerstören. In diesem Bereich geht alles sofort in Flammen auf, und der jäh ausbrechende Brand saugt genügend Luft an, um einen Hurrikan mit Lufttemperaturen zu erzeugen, bei denen Wasser verkocht. Alle Lebewesen in einem Umkreis von … von zehn Kilometern sterben binnen weniger Minuten. Zehn bis fünfzehn Kilometer weiter entfernt sterben immer noch so viele Lebewesen, dass man den Unterschied kaum bemerkt. Die primären Auswirkungen würden wir hier auf der Insel nicht spüren. Der Boden bebt, und wer in die Richtung der Explosion blickt, wird erblinden, aber das dürfte auch schon das Schlimmste sein. Theoretisch jedenfalls. Dann aber geht die radioaktive Asche nieder, und wir bekommen alle Leukämie und sterben qualvoll und langsam.«

»Wie groß ist die Wolke?«, fragte Haru.

»Eine radioaktive Staubwolke breitet sich nicht so schnell aus wie eine Druckwelle«, erklärte Mkele. »Die Wolke verteilt Feststoffe, deren Niederschlag vom Wetter abhängt. In dieser Gegend weht der Wind meistens nach Nordosten, daher wird die Aschewolke größtenteils in diese Richtung ziehen, doch wir bekommen auf jeden Fall am Rand noch etwas Fallout mit – Turbulenzen am Rand der Strömung und Mitbringsel der Winde, die beim Brand entstehen.«

»Alles, was weniger als zweihundertfünfzig Kilometer in Windrichtung entfernt ist, stirbt binnen zwei Wochen«, ergänzte Tovar. »Wir müssen einfach hoffen, dass sich der Wind nicht dreht.«

»Aber die Partials werden dabei auf jeden Fall umkommen«, meinte Hobb.

»Ja, auf dem Festland wird es keine Überlebenden geben«, bestätigte Mkele. »Da wir der Explosion sehr nahe sind, werden wir allerdings – selbst unter idealen Bedingungen – viele Menschen verlieren.«

»Richtig, aber die Partials sind dann vernichtet«, wiederholte Hobb. »Delarosas Plan wird funktionieren.«

»Ich glaube, Sie begreifen nicht, welche Auswirkungen …«, setzte Haru an, doch Hobb fiel ihm ins Wort.

»Sie begreifen es anscheinend auch nicht«, fauchte Hobb. »Welche Möglichkeiten stehen uns denn überhaupt noch offen, wenn wir es nüchtern betrachten? Glauben Sie, wir können Delarosa aufhalten? Seit Wochen sucht die ganze Partialarmee vergeblich nach der Frau. Wir können nicht einmal diesen Stützpunkt verlassen, ohne beschossen zu werden. Deshalb bin ich ziemlich sicher, dass auch wir sie nicht finden werden. Möglicherweise könnten wir ihre Truppen entdecken, weil wir wissen, wie wir es anstellen müssen. Aber das Team, das den Sprengkopf befördert, kann vermutlich sowieso nicht mehr zurückgerufen werden. Die Bombe wird explodieren, ob es uns gefällt oder nicht, und darauf müssen wir uns vorbereiten.«

»Die Partials werden sie schnappen«, widersprach Mkele. »Einen Atomsprengkopf kann man nicht so leicht transportieren. Sie dürfte Schwierigkeiten haben, sich damit zu verstecken.«

»Und wenn sie erwischt wird, jagt sie ihn womöglich auf der Stelle in die Luft«, wandte Hobb ein. »Solange sie mehr als dreißig Kilometer von East Meadow entfernt ist, kann unseren Einwohnern nichts passieren, und der Wind weht den Fallout immer noch nach Norden in Richtung White Plains.«

»Sofern sie überhaupt dreißig Kilometer weit kommt«, gab Haru zu bedenken.

Tovar zog die Augenbrauen hoch. »Sind wir bereit, für eine Reihe von Ungewissheiten das Überleben der Menschheit aufs Spiel zu setzen?«

»Was riskieren wir schon?«, meinte Hobb. »Wir schicken jemanden los, der sie aufhalten soll, und die anderen verlassen die Insel. Erst wenn wir die Hände in den Schoß legen, wird es gefährlich.«

»Hobb hat mit seiner Aussage nicht übertrieben, dass es schwierig ist, sich dort draußen zu bewegen«, meinte Mkele. »Haru kann es, weil er dazu ausgebildet ist und die Insel kennt. Aber wie wollen Sie eine Massenevakuierung durchführen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen?«

»Wir nehmen es nach der Explosion in Angriff«, schlug Hobb vor. »Wir informieren die Menschen und bereiten sie darauf vor. Sobald die Bombe explodiert ist und die Besatzungstruppen abgelenkt sind, erheben wir uns, töten möglichst viele Partials und fliehen nach Süden.«

»Ihr Plan besteht also darin, eine überlegene Armee auszuschalten und dann vor dem Wind davonzulaufen«, fasste Tovar zusammen. »Es freut mich, dass es so einfach ist.«

»Wir müssen vorher evakuieren«, sagte Haru. »Am besten sofort, um nach Möglichkeit auch der Peripherie des Fallout zu entgehen.«

»Wir haben schon geklärt, dass dies nicht möglich ist«, widersprach Hobb. »So viele Menschen können wir nicht transportieren, ohne die Aufmerksamkeit der Partials zu erregen, die uns natürlich sofort daran hindern würden.« Er wandte sich an die anderen. »Könnte mir mal jemand erklären, warum der Junge überhaupt hier ist?«

»Er hat sich als wertvoll erwiesen«, sagte Mkele. »Wir müssen jede nur mögliche Hilfe in Anspruch nehmen.«

»Aus diesem Grund sind übrigens auch Sie selbst hier«, warf Tovar ein.

»Meine Frau und mein Kind leben in East Meadow«, drängte Haru. »Sie wissen, wer die beiden sind – jeder lebende Mensch kennt die Namen. Daher wissen Sie auch, dass wir keine Zeit verschwenden dürfen. Arwen ist das einzige Kind auf der Welt, und sie wird früher oder später Aufmerksamkeit erregen. Soweit wir informiert sind, befinden sich beide bereits im Gewahrsam der Partials und könnten jederzeit seziert und untersucht werden.«

»Das Kind dürfen wir keinesfalls verlieren.« Haru sah, dass der Mann große Angst hatte. »Arwen repräsentiert unsere Zukunft. Wenn sie bei der Explosion oder beim anschließenden Fallout stirbt …«

»Deshalb müssen wir sofort mit der Evakuierung beginnen«, fiel Haru ihm ins Wort. »Noch bevor Delarosa die Bombe zündet. Es muss doch einen Weg geben.«

»Hobb wollte die Explosion als Ablenkung nutzen«, sagte Mkele. »Vielleicht können wir für eine andere Ablenkung sorgen.«

»Wären wir zu einer Ablenkung fähig, um die Partials zu überwinden, dann hätten wir sie längst vorgenommen«, widersprach Hobb. »Die Atombombe ist die einzig wirksame Waffe, die wir haben.«

Mkele schüttelte den Kopf. »Wir müssen sie ja nicht besiegen, sondern nur ihre Aufmerksamkeit ablenken. Delarosas Guerillakämpfer tun das mehr oder weniger jetzt schon. Wenn wir nun alle losziehen …«

»Dann sterben wir«, wandte Tovar ein. »Wie Hobb schon sagte – gäbe es eine Möglichkeit, die uns selbst nicht gefährden würde, hätten wir sie längst ergriffen.«

»Dann gefährden wir uns eben«, sagte Mkele.

Die anderen Männer schwiegen.

»Die Situation ist sowieso schon bedrohlich und lebensgefährlich«, fuhr Mkele fort. »Wir reden über eine Atombombenexplosion in sechzig Kilometern Entfernung von der letzten Gruppe menschlicher Bewohner auf dem Planeten. Selbst im günstigsten Fall, wenn wir nämlich davon ausgehen, dass Delarosa gefunden und rechtzeitig von ihrem Vorhaben abgebracht wird, sind wir einer Besatzungstruppe nicht menschlicher Wesen ausgeliefert, die uns wie Tiere einpferchen. Bei einem offenen Angriff auf die Partials stirbt jeder Soldat, den wir noch haben, darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen. Wenn es aber eine Fluchtmöglichkeit für die restlichen Menschen gibt, dann sollten wir zumindest überlegen, ob es die Sache nicht wert ist.«

Haru dachte an seine Familie: an seine Frau Madison und seine kleine Tochter. Die Vorstellung, Arwen ohne Vater aufwachsen zu lassen, war schrecklich, doch Mkele hatte recht. Wenn die Alternative die völlige Ausrottung war, dann wurden viele Schrecken auf einmal tragbar. »Wir sterben sowieso«, sagte er. »Auf diese Weise könnten wir mit unserem Tod wenigstens noch etwas bewegen.«

»Melden Sie sich nicht zu früh als Freiwilliger!«, gab Tovar zu bedenken. »Der Plan muss zwei Teile haben: Eine Gruppe sorgt für die Ablenkung, die andere führt die Einwohner so weit nach Süden, wie es überhaupt menschenmöglich ist, und das meine ich nicht ironisch.«

»Also laufen wir weg.« Mkeles Stimme klang belegt. »Wir entfernen uns von der einzigen Quelle des Heilmittels. Haben Sie das alle schon vergessen?«

Wieder herrschte Schweigen im Raum. Haru war wie betäubt. Gleichgültig, wie weit sie wegliefen, sie litten immer noch an der RM-Seuche. Arwen hatte allein deshalb überlebt, weil Kira im Pheromonsystem der Partials ein Heilmittel gefunden hatte, das die Menschen bisher allerdings nicht im Labor hatten replizieren können. Sie mussten in einer anderen medizinischen Einrichtung noch einmal von vorn beginnen. Es konnte Jahre dauern, überhaupt ein passendes Labor zu finden und in Betrieb zu nehmen. Es gab keinerlei Garantie, dass ihre Forschungen jemals von Erfolg gekrönt wären. Wenn die Partials starben, ging das Heilmittel höchstwahrscheinlich zusammen mit ihnen unter.

Haru sah den Männern an, dass sie über das gleiche unlösbare Problem nachdachten. Mit trockener Kehle und schwacher Stimme brach er das Schweigen. »Der günstigste Fall verwandelt sich nach und nach in den schlimmsten.«

»Die Partials sind unser größter Feind, aber sie sind auch die einzige Hoffnung für unsere Zukunft«, sagte Mkele. Er legte die Fingerspitzen zusammen und presste die Hände an die Stirn, bevor er fortfuhr. »Vielleicht sollten wir einige von ihnen mitnehmen.«

»Sie sagen das, als wäre das kinderleicht«, meinte Haru.

»Was wollen Sie denn tun? Partials in Käfige einsperren und ihnen die Pheromone entziehen, sobald Sie sie brauchen? Finden Sie das nicht verwerflich?«

»Es ist meine Aufgabe, die Menschen zu beschützen«, erwiderte Mkele. »Wenn es auf die Frage hinausläuft, ob wir überleben oder sterben, ja, dann bin ich bereit, die Partials in Käfigen zu halten.«

Tovar machte eine grimmige Miene. »Ich vergesse immer wieder, dass Sie unter Delarosa den gleichen Job hatten.«

»Delarosa hat versucht, die Menschheit zu retten«, antwortete Mkele. »Als einziges Verbrechen ist ihr vorzuwerfen, dass sie dabei zu weit gehen wollte. Wir haben beschlossen, ihr auf diesem Weg nicht zu folgen, aber nun betrachten Sie unsere Lage! Wir verstecken uns im Keller, lassen Delarosa unsere Kämpfe ausfechten und spielen ernsthaft mit dem Gedanken, sie eine Atombombe zünden zu lassen. Wir sind längst über den Punkt hinaus, an dem wir moralisch urteilen und entscheiden können. Entweder retten wir die Menschheit, oder wir lassen es sein.«

»Ja«, entgegnete Tovar, »aber danach sollten wir es immer noch wert sein, gerettet zu werden.«

»Entweder wir retten die Menschheit, oder wir lassen es sein«, wiederholte Mkele mit größerem Nachdruck. Nacheinander, bei Hobb beginnend, musterte er die anderen Männer. Der amoralische Senator nickte beinahe sofort. Dann wandte Mkele sich an Haru, der kurz zurückstarrte und schließlich ebenfalls nickte. Wenn die Alternative die Ausrottung ist, dann sind auf einmal viele Schrecken tragbar.

»Die Sache gefällt mir nicht, ist aber immer noch besser, als wenn alle sterben«, sagte Haru. »Für einen anderen Versuch haben wir keine Zeit mehr.«

Mkele wandte sich an Tovar, der ergeben beide Hände hob. »Wissen Sie, wie lange ich gegen eine solche Art von faschistischer Politik gekämpft habe?«

»Ich weiß es«, antwortete Mkele ruhig.

»Ich habe einen Bürgerkrieg begonnen«, fuhr Tovar fort. »Ich habe mein eigenes Volk bombardiert, weil ich die Freiheit für wichtiger hielt als das Überleben. Es nutzt aber nichts, wenn wir uns retten und dabei die Menschlichkeit verlieren.«

»Wenn wir überleben, können wir uns verändern«, sagte Mkele. »Sogar eine Nation, die auf Sklaverei aufbaut, kann sich verändern, sofern wir nicht alle sterben.«

»Das ist falsch«, beharrte Tovar.

»Ich habe nie behauptet, es sei richtig«, räumte Mkele ein. »Jede Entscheidung, die wir treffen könnten, ist falsch. Dies ist das kleinste von neunundneunzig anderen Übeln.«

»Ich sorge für die Ablenkung«, sagte Tovar. »Ich gebe mein Leben, damit ihr anderen fliehen könnt, und ich will mich so teuer wie möglich verkaufen. Teufel auch, ich bin als Senator sowieso nicht so gut wie als Terrorist!« Er starrte alle herausfordernd an. »Aber geben Sie den Glauben an das Gute nicht völlig auf! Irgendwo dort draußen gibt es einen Weg, das alles zu überstehen.« Er öffnete den Mund, um noch etwas hinzuzufügen, schüttelte schließlich aber nur den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Ich hoffe nur, wir finden diesen Weg auch rechtzeitig.«

Tovars Hand war nur noch Zentimeter vom Türknauf entfernt, als die Tür plötzlich in den Scharnieren erbebte, weil von draußen jemand kräftig anklopfte.

»Senator!« Es war eine junge Stimme, die nach Harus Vermutung einem Soldaten gehörte. Tovar sah sich neugierig nach den anderen um, bevor er öffnete.

»Senator Tovar«, sagte der Soldat so aufgeregt, dass sich seine Stimme schier überschlug. »Die Botschaft hat aufgehört.«

Tovar runzelte die Stirn. »Die Botschaft hat … aufgehört?«

»Die Sendung der Partials«, erklärte der Soldat. »Sie haben die Sendung eingestellt. Alle Kanäle sind frei.«

Mkele stand auf. »Sind Sie sicher?«

»Wir haben alle Frequenzen überprüft«, bekräftigte der Soldat.

»Sie haben sie gefunden.« Die Mischung aus Erleichterung und Entsetzen lähmte Haru. Er kannte Kira seit Jahren, und ihm wurde übel bei der Vorstellung, dass sie sich in den Händen der Partials befand. Kira hätte allerdings sofort dagegengehalten, dass ein einziges Mädchen ein guter Preis für die vielen Menschen sei, die die Partials auf der Suche nach ihr töten würden. Er hatte sie gehasst, weil sie sich nicht freiwillig gestellt hatte, und sich schließlich eingeredet, sie sei entweder tot oder von der Insel geflohen. Sonst hätte sie sich seiner Meinung nach doch längst gemeldet. Niemand konnte stumm zusehen, wie Menschen hingerichtet wurden. Wenn sie tatsächlich gefasst wurde, muss ich annehmen, dass sie die ganze Zeit in der Nähe war … Der Gedanke machte ihn wütend.

»Wir haben keine Gewissheit, dass sie das Mädchen gefunden haben«, sagte Mkele. »Möglicherweise sind nur die Sender vorübergehend ausgefallen.«

»Oder sie haben es einfach aufgegeben«, meinte Hobb.

»Überwachen Sie weiter die Frequenzen!«, wies Tovar den Soldaten an. »Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie etwas herausfinden! Ich komme so bald wie möglich zu Ihnen.« Der Soldat nickte und rannte los. Tovar schloss die Tür und sperrte ab, damit ihre Unterhaltung geheim blieb. Bisher wusste niemand sonst von der Atombombe, und nach Harus Meinung war das sinnvoll und sollte so bleiben. »Inwieweit beeinflusst dies unsere Pläne?«, fragte Tovar und betrachtete die anwesenden Männer. »Hat es überhaupt einen Einfluss? Die Atombombe ist noch immer unterwegs, und Delarosa will ihren Plan zweifellos weiter ausführen. Auch ohne tägliche Hinrichtungen ist es nur eine Frage der Zeit, und dies ist nach wie vor der schwerste Schlag, den wir ihnen versetzen können.«

»Wenn sich die Partials zurückziehen, ist die Atombombe sogar eine noch attraktivere Möglichkeit«, sagte Mkele. »Denn dann erwischen wir bei der Explosion eine größere Anzahl von ihnen.«

»Und außerdem Kira«, warf Haru ein und wusste nicht recht, wie er sich damit fühlen sollte.

Tovar lächelte traurig. »Vor zwanzig Minuten haben wir um eine Rechtfertigung für den Angriff gerungen, und nun ertragen wir es nicht, den Plan aufzugeben.«

»Delarosa wird ihren Plan umsetzen, und wir sollten mit dem unseren fortfahren«, bekräftigte Hobb.

»Ich glaube, dann ist es Zeit, den überwältigend starken Feind nachhaltig zu ärgern.« Tovar salutierte ungelenk. Wie durch Zauberhand kam der ehemalige Marinesoldat in dem erfahrenen alten Mann zum Vorschein. »Es war mir ein Vergnügen, gemeinsam mit Ihnen zu dienen.«

Mkele erwiderte den militärischen Gruß und wandte sich an Hobb und Haru. »Sie leiten die Evakuierung.«

»Damit meint er mich«, sagte Hobb.

»Er meint uns beide«, entgegnete Haru. »Nur weil Sie Senator sind, haben Sie nicht das Kommando.«

»Ich bin doppelt so alt wie Sie.«

»Wenn Ihnen kein besserer Grund einfällt, sollten Sie eindeutig nicht das Kommando haben.« Haru stand auf. »Können Sie schießen?«

»Ich habe seit der Gründung von East Meadow mit dem Gewehr trainiert«, erklärte Hobb beleidigt.

»Dann packen Sie Ihre Sachen!«, verlangte Haru. »Wir brechen in einer Stunde auf.« Gedankenverloren verließ er den Raum. Vielleicht hatten die Partials tatsächlich Kira gefunden – aber wo? Und warum nach so langer Zeit?

Und was würden sie als Nächstes tun, nachdem sie Kira gefasst hatten?

3

Kira starrte den spinnenähnlichen Operationsroboter an, der unter der Decke hing. Zwölf dünne Arme mit vielen Gelenken fuhren in die vorgeschriebenen Positionen. Jeder Arm war mit einem anderen chirurgischen Instrument ausgerüstet: mit einem halben Dutzend Skalpellen und Klammern in verschiedenen Größen, Spritzen mit auswechselbaren Kolben, die bunte Flüssigkeiten enthielten, mit Wundspreizern, Kanülen und anderen Geräten, deren Zweck Kira nur ahnen konnte. Bereits mit zehn – also vor beinahe acht Jahren – hatte ihre medizinische Ausbildung begonnen, doch hier entdeckte sie Gegenstände, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte.

Dafür spielten sie nun in ihren Albträumen eine Rolle. Alles entsprach haargenau der Einrichtung in Greenwich, Connecticut, wo Dr. Morgan sie schon einmal gefangen gehalten und gefoltert hatte, bevor Marcus und Samm sie befreit hatten. Jetzt hatte sie sich von beiden losgesagt und war aus freien Stücken zurückgekehrt.

Die Spinne rotierte lautlos und griff mit schlanken Metalltentakeln nach ihr. Kira unterdrückte einen Schrei und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Örtliche Betäubung für die Punkte vier, sechs und sieben.« Morgan tippte mehrmals auf den riesigen Wandbildschirm, der Kiras Körper als Diagramm zeigte. »Ausführen.« Augenblicklich und ganz unzeremoniell senkte sich die Spinne ab und stach Kira Nadeln in die Hüfte und in den Bauch. Wieder einmal unterdrückte Kira einen Schrei, knirschte mit den Zähnen und beschränkte sich auf ein leises Grunzen.

»Sie sind wirklich der Inbegriff der Höflichkeit am Krankenbett«, stichelte Dr. Vale, der an einer anderen Wand stand. »Es wärmt mir das Herz, McKenna. Sie sind eine richtige Glucke.«

»Ich habe einen Krieg begonnen, um das Mädchen zu finden«, entgegnete Morgan. »Soll ich sie jedes Mal um Erlaubnis bitten, wenn ich sie berühre?«

»Ein freundlicher Hinweis wie etwa ›Das tut jetzt vielleicht etwas weh‹ wäre nicht schlecht«, meinte Vale. »Vielleicht auch die Frage ›Sind Sie bereit, Kira?‹, bevor wir mit der Operation beginnen.«

»Würde meine Antwort irgendetwas ändern?«, warf Kira ein.

Morgan sah sie an. »Sie haben sich freiwillig entschieden herzukommen.«

Vale schnaubte. »Auch das ist eine Bemerkung, die im Grunde nichts ändert.«

»Es hat sich sogar eine Menge verändert.« Morgan betrachtete den Wandbildschirm und zeichnete die Einschnitte vor. »Ich bin beeindruckt.«

»Nun gut«, entgegnete Vale. »Dann behandeln Sie das Mädchen eben wie ein dummes Versuchskaninchen.«

»Beim letzten Mal war ich ein dummes Versuchskaninchen«, warf Kira ein. »Glauben Sie mir, dieses Mal ist es viel besser.«

»Das ist nun wieder eine Antwort, die alles nur noch schlimmer macht.« Vale schüttelte den Kopf. »Sie waren schon immer gefühllos, McKenna, aber dies hier ist eine quälende, menschenunwürdige …«

»Ich bin kein Mensch.« Kira erschrak, weil Morgan im gleichen Moment fast das Gleiche gesagt hatte: »Sie ist kein Mensch …« Die Frauen wechselten einen Blick, dann konzentrierte Morgan sich wieder auf den Wandbildschirm.

»Im Interesse der …« Morgan hielt inne, als suchte sie erst nach den richtigen Worten. »Im Interesse einer gedeihlichen Arbeitsbeziehung werde ich mich mitteilsamer verhalten.« Sie tippte auf einige Symbole auf dem Wandbildschirm, der sich daraufhin in drei Abschnitte aufteilte – auf einer Seite Kiras Körper, in der Mitte und auf der anderen Seite Daten. Eine Gruppe war mit Verfallsdatum, die andere mit Kira Walker überschrieben. »Doktor Vale und ich haben dem Trust angehört. Das war die Gruppe von Wissenschaftlern, die bei ParaGen die Partials und die RM-Seuche erschaffen haben. Natürlich sollte die Seuche die Menschheit nicht ausrotten, aber der Schaden ist angerichtet. Sobald mir bewusst wurde, dass die Menschen nicht mehr zu retten waren, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Partials. In den letzten zwölf Jahren habe ich ihnen beim Aufbau einer neuen Zivilisation geholfen und nach Wegen gesucht, ihre Sterilität und andere Einschränkungen zu beheben, die in ihrer DNA angelegt sind. Sie können sich meine Überraschung kaum vorstellen, als sie genau zwanzig Jahre nach ihrer Erschaffung aus unersichtlichem Grund zu sterben begannen.«

Vale schaltete sich wieder ein. »Das Verfallsdatum …«

»Das Verfallsdatum war ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Trust eine verbrecherische Organisation war«, unterbrach Morgan ihn. »Lebende und denkende Wesen, bei deren Erschaffung ich mitwirkte, wurden darauf programmiert, binnen Stunden zu Staub zu zerfallen, sobald sie ihr biologisches Ablaufdatum erreicht hatten. Davon wusste ich nichts und tat alles in meinen Kräften Stehende, um dies in Ordnung zu bringen. Genau deshalb sind wir heute hier.«

»Sie glauben, ich könnte ein Heilmittel finden«, ergänzte Kira.

»Ich glaube, irgendwo in Ihrem Körper verbirgt sich das Geheimnis, das mir bei der Heilung der Partials hilft«, erklärte Morgan. »Als Sie das letzte Mal in meinem Labor waren, fanden wir heraus, dass Sie eine Partial sind. Auch das war ein Geheimnis, in das mich der Trust nicht eingeweiht hatte. Schon während der ersten Untersuchungen wurde allerdings klar, dass Sie nicht unter den genetischen Einschränkungen leiden, die man den anderen Partials zugemutet hat: Sie sind nicht unfruchtbar, Sie altern, Ihr Wachstum ist so wenig gehemmt wie alle anderen menschlichen Funktionen. Wenn sich herausstellt, dass Sie auch kein Verfallsdatum haben, lässt sich vielleicht Ihr genetischer Code entschlüsseln, und die anderen Partials können gerettet werden.«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass das unmöglich ist«, wandte Vale ein. »Ich bin derjenige, der das Verfallsdatum programmiert hat – es tut mir leid, dass ich es Ihnen damals nicht sagen konnte, aber es ist nun einmal so. Sie waren instabil, und tatsächlich vertrauten wir Ihnen nicht. Aber Sie waren nicht die Einzige. Auch mir enthielt Armin einige Puzzleteile vor.«

Armin, dachte Kira. Mein Vater – oder der Mann, den ich für meinen Vater hielt. Er nahm mich mit nach Hause, erzog mich wie sein eigenes Kind und verriet mir nie, wer ich in Wirklichkeit war. Vielleicht hätte er es eines Tages getan. Nun weiß niemand, wo er sich aufhält. Sie fragte sich, ob er tot war. Alle anderen Angehörigen des Trusts hatten den Zusammenbruch überlebt – Trimble und Morgan waren hier bei den Partials gewesen, Vale hatte sich mit einer Gruppe von Menschen im Reservat versteckt, Ryssdal hatte in Houston an Umweltproblemen gearbeitet, was auch immer das bedeuten mochte, während Nandita auf Long Island bei den Menschen gelebt hatte.

Nandita. Die Frau, die mich aufzog, und auch sie verriet mir nicht, dass ich eine Partial bin.

Doktor Morgan wollte mich umbringen, aber sie hat sich wenigstens nicht verstellt.

»Selbst wenn Sie etwas finden, wissen Sie immer noch nicht, wie Sie es in den genetischen Code der Partials integrieren können. Genveränderungen? Wir reden hier über mehrere Hunderttausend Partials. Uns bliebe nicht einmal genug Zeit, wenn wir die nötigen Einrichtungen und das Personal hätten, um eine solche Massenbehandlung durchzuführen. Wie viele Partials sind noch am Leben? Eine halbe Million?«

»Zweihunderttausend«, entgegnete Morgan. Kira keuchte, als sie die unerwartet niedrige Zahl hörte. Morgans Antwort klang ebenso aufgebracht wie erschöpft. »Sie wurden in mehreren Schüben erschaffen, daher sterben sie auch in entsprechenden Wellen. Die nächste Welle beginnt in wenigen Wochen.«

»Und es sind alles Soldaten«, überlegte Vale. »Infanteristen, Piloten und einige Einzelkämpfer. Die Anführer sind schon alle tot. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass sämtliche Ärzte tot sind. Es bleibt an Ihnen und an mir hängen, und wir könnten nicht einmal ein Zehntel von ihnen behandeln, bevor die Zeit abläuft – selbst wenn wir schon wüssten, was zu tun ist.«

»Deshalb müssen wir unbedingt etwas unternehmen«, schaltete sich Kira ein. Sie dachte an Samm und an die Beziehung zu ihm, an den letzten, schrecklichen, leidenschaftlichen Augenblick vor der Trennung. Sie liebte ihn, und wenn ihr Opfer dazu beitrug, dass er überlebte … »Alle Geschöpfe auf der Welt, Menschen wie Partials, sterben jetzt. Ich habe mich Ihnen gestellt, weil auf diese Weise überhaupt jemand gerettet werden kann. Also lassen Sie uns endlich weitermachen!«

Vales Miene verdüsterte sich. »Ich will Ihnen doch helfen, Kira. Werden Sie nicht frech!«

»Offenbar kennen Sie das Mädchen nicht besonders gut«, entgegnete Morgan, und es klang nicht einmal unfreundlich.

Vale starrte sie an, schnitt eine Grimasse und wandte sich ab.

Morgan betrachtete Kira. »Beim letzten Mal haben wir Ihren Fortpflanzungsapparat nur oberflächlich untersucht. Da wir Sie für menschlich hielten, schien dies nicht so wichtig zu sein. Heute werden wir mehrere Biopsien durchführen.«

Kiras Hüften und der Bauch waren bereits örtlich betäubt und gefühllos. Sie erwiderte Morgans Blick, nahm sich zusammen und nickte stumm.

»Ausführen!«, befahl Morgan, und die Spinne klappte die Messer auf.