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Das Buch

 

Eigentlich hat die begnadete Musikstudentin und Pianistin Matilda alles, was man sich wünschen kann. Doch von ihrem Waschzwang, ihren Angststörungen und ihrer schwer depressiven Mutter weiß niemand. Nach einem Auslandsaufenthalt bezieht Matilda in Dresden die Wohnung ihrer Urgroßmutter und beschwört damit buchstäblich die Geister der Vergangenheit herauf. Als der attraktive Cellist Richard immer wieder wie aus dem Nichts in ihrem Wohnzimmer auftaucht, glaubt Matilda zunächst, den Verstand zu verlieren. Doch dann setzt sich Stück für Stück Matildas Familiengeschichte zusammen, an deren Anfang eine geheimnisvolle Tragödie steht, in die Richard auf tragische Weise verwickelt ist.

 

 

 

Die Autorin

 

Sofia Traut ist ein wahres Multitalent. Geboren 1983, studierte sie Anglistik, Biologie, Geschichte und Literaturwissenschaft, spielt wie ihre Romanfigur selbst leidenschaftlich gerne Cello und lässt sich auch beim Schreiben von der Musik inspirieren. Sie lebt, schreibt und arbeitet in Bielefeld.

Sofia Traut

 


 

Der Fremde
in der Stille

 

 

Roman

 

 

 

 

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Originalveröffentlichung

 

© 2015 Verlag in Farbe und Bunt

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Cover-Gestaltung: Eileen Steinbach

E-Book-Satz: Winfried Brand

verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Stefanie Zurek

Korrektorat: Cathrin Kühl

 

Herstellung und Verlag:

in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100

45145 Essen

 

www.ifub-verlag.de

 

ISBN Taschenbuch: 978-3-941864-32-0

ISBN E-Book: 978-3-941864-33-7

ISBN Audiobuch: 978-3-941864-36-8

Widmung

 

Für Barbara, die mir so viel über Musik und mich selbst beigebracht hat.

Kapitel 1

 

04. Oktober

 

Was ist bloß passiert?

 

Lieber Richard,

du wirst nicht verstehen, warum ich dir das schreibe, aber du musst zurückkommen. Ich weiß, du hast Verpflichtungen in Wien, doch ich bitte dich. Richard, es gibt niemanden außer dir, den ich fragen könnte. Ich brauche deine Hilfe!

Deine Anna

 

Da sitze ich mit diesem Brief in der einen und der Einladung nach New York in der anderen Hand. Die Partitur habe ich schon. Reihe um Reihe geschwungene Notenfiguren. Concerto für Cello und Orchester, Adagio, steht oben über der ersten Zeile. G-Moll, hier ein espressivo, da ein sostenuto. Ausdrucksvoll, gewichtig. Con dolore, mit Schmerz.

Die Wolken treiben so tief über den Dächern und die Luft ist so feucht, so elektrisch aufgeladen, als müsste jeden Moment ein Gewitter losbrechen. Aber das Gewitter kommt nicht. Zurück nach Hause. Wenn ich die Chance habe, in der Carnegie Hall zu spielen? Ich könnte jetzt schon in New York sein, noch ein bisschen von der Welt sehen, aber Anna bittet mich um Hilfe. Also sitze ich an der Elbe statt am Hudson. Der Fluss führt kaum Hochwasser dieses Jahr. Nichts könnte wegspülen, was für mich in dieser Stadt begraben liegt. All die Erinnerungen, die ich hier zurückgelassen habe. Nun denn.

Con dolore.

 

 

Matilda räumte Bücher aus einem Umzugskarton ins Regal und summte die Töne aus dem Flügel nebenan mit. Oktave nach unten, Quinte nach oben.

Die neuen Möbel dunsteten noch ihren holzigen Geruch aus. Er vermischte sich mit dem Duft der frischen Wandfarbe und schien von einem Neuanfang zu künden. Dabei war Matildas Umzug nach Dresden alles, nur kein Neuanfang.

Zwischen Büchern und Klavierklängen wünschte sie sich mehr denn je, alles Alte hinter sich zu lassen – so wie die alten Möbel, verkauft, zurückgeblieben in England. Sie schälte einen Bilderrahmen aus einem Stück Zeitungspapier. Darin steckte ein Foto ihrer Mutter in einem blauen Kleid. Sigrid Halbweiß, in glücklicheren Tagen, nach dieser glorreichen Premiere von La Bohème. Die wichtigen Dinge zeigte das Bild nicht. Es war Weihnachten in Berlin. Mama strahlte, weil sie die Musetta sang und weil der Schwangerschaftstest im Mülleimer der Damentoilette zwei rosafarbene Linien zeigte. Die ewige Zweitbesetzung wähnte den Durchbruch auf der Bühne und jenseits davon das Glück für immer. Hinter der Kamera lächelte Papa. Zumindest in Matildas Vorstellung.

Sie nahm das Staubtuch von der Fensterbank und wischte über das Glas, dann stellte sie das Foto ins Regal, um es sorgfältig auszurichten. Es klopfte.

Matilda blickte auf und entdeckte den Klavierstimmer im Türrahmen, ein Mann mit Schnauzer namens Herr Thiel. Er sprach tiefstes Sächsisch. »Fräulein Halbweiß?«

Fräulein. Matilda gab sich Mühe, nicht die Augen zu verdrehen.

»Nu simmer fertisch. Sie genne loslegge.« Der Klavierstimmer lächelte Matilda an und streckte ihr die Hand entgegen.

Matilda klammerte sich am Staubtuch fest. Wenn sie unbedingt musste, dann konnte sie Hände schütteln, aber das hieß nicht, dass sie es wollte. »Oh … ich … entschuldigen Sie, ich bin ganz schmutzig.«

»Na, macht nüscht.« Falls Herr Thiel die Lüge bemerkte, verbarg er es gut. Er schmunzelte einfach weiter. »Ich schigge Ihne die Reschnung, ja?«

»Ja.« Matilda atmete erleichtert auf. »Danke sehr.«

»Ich find schon den Wesch raus.« Der Klavierstimmer ging noch einmal nach nebenan, nahm seinen Koffer und wünschte Matilda ein schönes Wochenende, dann verschwand er durch den Flur aus der Wohnungstür. Stirnrunzelnd sah Matilda ihm nach. Draußen standen noch die Pfützen vom morgendlichen Regen in den Rinnsteinen. Mit Herrn Thiel waren Feuchtigkeit und Dreck durch die Wohnung gewandert. Ein Grund, warum Matilda niemals Teppiche verlegte. Sie nahm sich den Besen, der noch an der Wand lehnte, und fegte alles auf. Anschließend holte sie sich ein frisches Einwegstaubtuch aus der Küche. Zurück beim Flügel richtete sie die Schreibtischlampe aus, die das Zimmer notdürftig erhellte. Deckenlampen gab es noch keine. Die hob sie sich fürs Wochenende auf.

Sorgsam wischte Matilda Herrn Thiels Fingerabdrücke vom schwarzen Lack, dann widmete sie sich den Tasten, vom tiefsten a bis zum höchsten c, allen achtundachtzig, einer nach der anderen, damit das fremde Hautfett verschwand. Danach musste sie nur noch die Hände waschen und dann konnte sie endlich wieder spielen. Den ganzen Tag hatte sie noch nicht einen Ton angeschlagen, das machte sie langsam nervös. Am Montag stand die erste Einzelstunde bei ihrer neuen Klavierprofessorin an und Matilda wollte vorbereitet sein.

Nach der Behandlung mit Wasser und Seife spannte und prickelte ihre Haut. Sie pflegte ihr Waschritual in letzter Zeit eindeutig zu häufig. Das kalte Wetter tat das Übrige. Matilda verzog das Gesicht und rieb ihre Hände mit der Spezialcreme aus der Apotheke ein. So ein Umzug verursachte Dreck und Matilda konnte Dreck nicht ertragen.

Auf dem Weg zurück zum Flügel ließ sie die Hände schwingen, damit die Creme schneller einzog. Das Parkett knarrte unter ihren Füßen. Es war alt, bestimmt noch original, so die Behauptung des Handwerkers, der es abgeschliffen und neu versiegelt hatte. Matilda mochte es. Jedes Ächzen und Quietschen schien ein Lied aus alten Tagen zu singen, und die Vorstellung von einer Wohnung voller Vergangenheit gefiel Matilda.

Sie suchte einen Stapel Notenhefte aus einem ihrer ordentlich beschrifteten Umzugskartons und öffnete den Deckel des Flügels. Nur ein Stück, gerade weit genug, um die Töne nicht im Korpus einzusperren. Die Noten legte sie auf dem Pult zurecht – für später.

Das Instrument stand in der Mitte des Zimmers, genau wie in dem winzigen Appartement in London. Die neue Bleibe gab Matilda und dem Flügel mehr Raum. Sie quetschten sich nicht länger zwischen ein Achtzigzentimeterbett und einen Schrank, der sich nur halb öffnen ließ, waren nicht länger eingesperrt mit sich selbst und viel zu viel Klang. Hier gab es Luft nach oben, zur Decke hin, zu allen Seiten. Dennoch schielte Matilda zu ihrem Handy, das stumm und dunkel auf der Fensterbank lag. Auch mit Platz schien Dresden ihr viel enger als London.

Matilda wandte sich entschlossen wieder der Klaviatur zu. Ihr blieb nicht viel Zeit. Im Kühlschrank gähnte Leere. Das Einkaufen dauerte und Mama erwartete, besucht zu werden. Trotz aller Eile konnte Matilda nicht aufbrechen, ohne zumindest ein paar Töne anzuschlagen.

Der Flügel war alt. Nicht so alt, dass er erhaben gewesen wäre, aber alt genug, um bereits eine Generalüberholung hinter sich zu haben. Saiten, Hämmer, Dämpfer, Stege, alle Verschließteile des Spielwerks. Nur der Resonanzboden sang seit fünfundzwanzig Jahren im gleichen Korpus. Er machte den Klang. Man tauschte ihn nicht einfach aus.

Matilda trat das rechte Pedal, um die Dämpfer von den Saiten abzuheben. Ohne hinzusehen, spielte sie nacheinander jedes a auf der Klaviatur an, vom tiefsten, bis zum höchsten. Die trockene Haut ihrer Hände rebellierte gegen die Streckung. Der ganze Tonumfang des Flügels, der ein paar Sekunden lang den Raum erfüllte, entschädigte sie völlig dafür. Sie lauschte auf die Klangfarbe, die längst nicht so brillant und nach außen orientiert schwang wie vor fünfundzwanzig Jahren.

Matilda stellte sich die Finger ihres Vaters vor, wie sie damals, weit weg, noch vor Matildas Geburt, die gleichen Tasten anschlugen. Seitdem hielt der Resonanzboden beständig dem immensen Druck der Saiten stand. Das dünne Fichtenholz hatte etwas Wölbung eingebüßt und nun schickte es einen warmen aber noch immer reinen Klang in den Raum. Matilda spürte ihn bis tief in die Brust hinein, wo er ein zartes Glück keimen ließ. Das einzige, das Matilda niemals verloren ging.

Die Töne flüchteten sich zurück in die Stille, aber es blieb eine Ahnung von Musik, die in Holz vibrierte – nur, dass sie nicht zum Flügel zu gehören schien. Matilda runzelte die Stirn. Lag es am Hall des leeren Zimmers? Das Instrument musste in Ordnung sein, sonst hätte Herr Thiel es bemerkt. Jedenfalls, wenn er etwas von seinem Fach verstand.

Matilda schlug ein weiteres Mal die Tasten an – und der Klang schwang wieder mit. So, als befände sich ganz in der Nähe noch ein Resonanzkörper …

Eine quäkende Version von Schwanensee riss Matilda aus ihren Gedanken. Das Handy. Sie schnalzte mit der Zunge, ging zur Fensterbank und starrte auf den Namen, der ihr vom Display des Handys entgegenleuchtete. Kurz überlegte sie, Schwanensee zu ignorieren. Das hier war der dritte Anruf an einem Tag. Matilda nahm trotzdem ab.

»Hallo Mama.«

»Schatz!« Ihre Mutter klang fröhlich, aber Matilda fürchtete, dass sie nur einmal mehr schauspielerte. »Wie geht es dir? Hast du schon ausgepackt?«

Die gleichen Fragen wie vor zwei Stunden. »Für die Kisten brauche ich bestimmt noch ein paar Tage.« Matilda sah aus dem Fenster und erhaschte vor dem schweren, grauen Himmel einen Blick auf ihr undeutliches Spiegelbild. Beim Auspacken und Putzen war ihre Frisur schlimmer in Unordnung geraten, als sie gedacht hatte. Dumm, wenn noch kein Spiegel im Bad hing. Sie klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter und zupfte sich den blonden Pony zurecht. »Um die Ecke ist ein Laden. Mal sehen, ob man da einkaufen kann.«

»Wirklich?« Mama klang zweifelnd. »Ist das auch nicht zu viel auf einmal nach dem ganzen Stress? Ich meine, in einem fremden Supermarkt. Ach, ich würde dir so gern helfen, aber …«

»Schon gut, Mama.« Matilda rückte an dem ungewohnt großen Gestell ihrer neuen Brille herum. Modell ›Nerd‹, damit sie nicht gar so langweilig aussah. Sie konnte allein einkaufen. Sie brauchte lange dafür, weil sie jede Packung penibel auf Beschädigungen untersuchte, aber Matilda schaffte das seit drei Jahren ohne ihre Mutter. Besser, sie wechselte das Thema. »Der Flügel ist gestimmt.«

»Das ist natürlich erst mal das Wichtigste. Aber …« Mama zögerte. »Du ziehst wirklich ausgerechnet in diese Wohnung?«

»Es ist alles renoviert, Mama.« Sie verdrehte die Augen. Das ging seit Wochen so. Sie solle sich doch lieber etwas in einem Neubau suchen. In einer ruhigeren Gegend, in der nachts keine Horden von Betrunkenen in den Straßen grölten. Dabei fand Matilda die Katharinenstraße bisher ziemlich ruhig, ob sie nun in der Neustadt mit all ihren Kneipen und Bars lag oder nicht. »Und die neuen Fenster sind super. Hier drin ist es still wie im Tonstudio.«

»Also, mir gefällt das einfach nicht, Matilda.«

Matilda seufzte. »Du hör mal, ich wollte eben anfangen, zu üben.«

Wie immer wirkte der Hinweis Wunder. »Oh, natürlich! Ich muss sowieso zum Mittagessen. Aber du kommst nachher, oder Schatz?«

»Ja, Mama. Wenn die Besuchszeit anfängt, stehe ich vor der Tür.«

»Ich freu mich! Bis später.«

»Bis später.«

Es klickte in der Leitung. Matilda presste die Lippen zusammen und starrte das Display an. Zum hundertsten Mal wünschte sie sich, sie hätte ihren wagemutigen Plan aus dem letzten Jahr nicht kurz vor dem Ziel aufgegeben.

Die Erinnerung an den regnerischen Nachmittag spukte in den unmöglichsten Momenten in ihren Gedanken. Allein in ihrem winzigen Zimmer in Surbiton, das ungefähr fünfzehn Kilometer von der Londoner City entfernt lag und mit günstigen 180 Pfund in der Woche nah an der Grenze zu nicht mehr bezahlbar war. Kaum Licht, über eine Stunde herumprobieren mit dem geliehenen Videoequipment, drei Stunden, um die geforderten Stücke einzuspielen, einen halben Sonntag, um das Material zusammenzuschneiden und auf eine DVD zu brennen. Umschlag, Briefkasten, alles schnell vergessen, und bloß nicht darüber grübeln, was die Leute in New York denken würden, die sich die Aufnahme in den folgenden Wochen ansahen.

Der Brief mit der Zusage für einen Platz im Masterprogramm der Juilliard steckte in einer Plastikhülle, ordentlich abgeheftet ganz oben in dem Ordner mit Matildas Studiumsunterlagen. Sie wollte, sie könnte sich überwinden, das Schreiben wegzuwerfen. Mama ließ sich nicht ignorieren. Auch nicht für die Juilliard.

Matilda schüttelte den Kopf. Das Üben hätte diese Gedanken vertrieben. Nur, um halb drei begann die Besuchszeit, also blieben ihr kaum mehr als zwei Stunden. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, warf sich die Jacke über und schnappte sich ihren Rucksack.

Im Treppenhaus warf sie noch einen Blick in den Briefkasten, obwohl sie die gähnende Leere darin ahnte. Sie wartete auf Noten, aber Matildas Projekt für die Meisterklasse war ein bisschen avantgardistisch. Sowohl Leo Ornstein als auch Ruth Crawford Seeger gehörten nicht in den gewöhnlichen Lagerbestand jedes Musikgeschäfts, also musste man aus den Staaten bestellen. Und das dauerte viel länger, als Matilda befürchtet hatte.

Sie eilte zur Haustür. Eben legte sie eine Hand auf die Klinke, da kam die Tür ihr entgegen. Vor Überraschung begriff Matilda zuerst nicht einmal, warum sie rückwärts taumelte, dann jedoch begann der Schmerz in ihrer Schläfe zu pochen. Unwillkürlich presste sie die Hand auf die Stelle und hörte sich selbst keuchen. Verschwommen erkannte sie vor dem Herbstlicht von draußen die Person, die so unvorsichtig heftig die Tür geöffnet hatte.

Der Mann war schwer beladen, soviel nahm sie gerade noch wahr. Alles, was er bei sich trug, polterte auf die Fliesen.

»Alles in Ordnung?« Eine tiefe Stimme, genauso erschrocken wie Matildas Keuchen.

Der Fremde packte Matilda bei den Schultern. Etwas klingelte metallisch und sie atmete eine Mischung aus Herbstkälte, Zigarettenqualm und Lederjacke ein.

»Haben Sie was abbekommen?«

»Ja, die Tür«, brachte Matilda heraus, obwohl ihr klar war, dass er etwas anderes meinte. Sie löste die Hand von der schmerzenden Stelle und betrachtete sie. Kein Blut. Immerhin.

Der Fremde ließ Matilda los, was sie noch mehr erleichterte, als einer Platzwunde entgangen zu sein. Dennoch raste ihr Herz. Sie schob die verrutschte Brille wieder in Position. Der Schock war immer schlimmer als der Schlag. Das Pochen ließ bereits nach. »Passen Sie doch auf«, murmelte sie trotzdem.

Langsam nahm sie ihre Umgebung wieder wahr. Als Erstes sah sie den Cellokasten, der kaum einen Meter entfernt auf dem Boden stand. Braun, abgewetzt, mit Messingbeschlägen – eine Antiquität, die doch sicher niemand mehr freiwillig benutzte, seit es diese schicken, ultraleichten Kästen aus Carbon gab. Danach erst fiel Matildas Blick auf den Mann, der für die Misere verantwortlich war.

Er war groß, etwa einen Kopf größer als sie selbst, obwohl sie mit ihren eins zweiundsiebzig auch nicht gerade kurz geraten war. Sehr viel älter als sie selbst schien er nicht zu sein, fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig. Er wirkte genauso exzentrisch wie der Cellokasten. Kurzer Ledermantel, offen mit doppelter Knopfreihe und Gürtel, dessen Schnalle vermutlich vorhin geklingelt hatte. Matilda sah kräftige Brauen und eine markante Nase. Dunkles Haar lugte unter seiner Schiebermütze hervor. Anscheinend waren die wieder so modern, dass man sie vor dem siebzigsten Lebensjahr tragen konnte.

»Bitte um Verzeihung.«

Matilda rieb sich noch einmal über die schmerzende Stelle an ihrer Stirn. Wie höflich. »Ist ja nichts passiert.«

Der Fremde atmete tief ein und wieder aus. Er klang erleichtert. »Wohnen Sie hier?«

»Seit heute.« Matilda starrte in sein schmales Gesicht, in freundliche, dunkle Augen, und fragte sich, wie schlimm dieser Tag noch werden konnte. Wenigstens sagte er nicht gleich »du«, so wie die meisten Leute, weil Matilda immer noch wie siebzehn wirkte.

Der Fremde tat inzwischen etwas, das Matilda nicht verstand. Er langte nach dem Lichtschalter neben der Tür – nach einem von den altmodischen zum Drehen. Die Lampen jedoch blieben dunkel. »Das habe ich geahnt.« Er lächelte schmal. »Stecken Sie sich lieber eine Taschenlampe ein, wenn es so früh dunkel wird. Die Sicherung fliegt ständig raus.«

»Na ja …« Matilda hatte keine Ahnung, was sie davon halten sollte. Wollte er ihr mitteilen, wie ernst es ihm mit der Entschuldigung war, oder versuchte er, sie in ein Gespräch zu verwickeln? »Danke für den Hinweis.«

»Ich kümmere mich nachher darum. Na dann.« Er tippte sich an die Krempe der Schiebermütze. »Ich wohne im ersten Stock, also auf gute Nachbarschaft, Fräulein. Ich verspreche Ihnen, ich bin in Zukunft vorsichtig.« Damit zwängte er sich an Matilda vorbei, griff nach dem Cellokasten und eilte die Treppe hinauf. Trotz der Last nahm er zwei Stufen auf einmal.

»Fräulein«, murmelte Matilda. Aus welcher Mottenkiste gruben die Leute dieses Wort nur wieder aus?

Einen Moment stand sie steif da und musste die Augen zukneifen, um sich zu sammeln. Sie spürte den Drang, zurück nach oben zu laufen und etwas zu tun, um das Herzhämmern zu vertreiben. Noch einmal die Hände waschen. Die Kleider wechseln. Gut, dass sie sich mittlerweile entscheiden konnte, es einfach zu lassen. Sie zog die Jacke enger, lief auf die feuchtgraue Straße hinaus und hoffte, in dem fremden Laden nach diesem Schrecken wirklich so ruhig bleiben zu können, wie sie ihrer Mutter weisgemacht hatte.

 

Alles ging gut. Matildas Gedanken kreisten fortwährend darum, ob sie bei dem Zusammenstoß nicht zu unhöflich gewesen war. Sie hatte sich nicht einmal vorgestellt und dabei wohnte dieser Mensch mit dem Cellokoffer im ersten Stock, also offenbar direkt neben ihr. Die Sache beschäftigte sie so intensiv, dass sie sich kaum auf den Einkauf konzentrierte. Erst an der Kasse bemerkte sie das neue Verpackungsdesign ihrer Müslimarke. Höher und schmaler. Unmöglich, die Schachtel wie geplant ins obere Schrankfach zu stellen. Allerdings hatte die Kassiererin den Müsli schon über den Scanner geschoben. Matilda wollte nichts lieber, als die Packung zurückgehen lassen. Hinter ihr jedoch staute sich die Schlange bis in die Regalreihen hinein. Matilda stellte sich die bösen Blicke all der Leute vor und biss sich auf die Zunge. Sie hatte ohnehin ganz andere Sorgen.

Ob sie später nebenan klingeln musste? Machte man das nicht so, sich bei seinen Nachbarn vorstellen? Musste sie nicht sowieso durchs ganze Haus gehen und alle Parteien fragen, wie oft sie in der Wohnung üben konnte, ohne dass sie jemanden nervte?

Wieder draußen auf dem Parkplatz war ihr ein bisschen schlecht, aber bei all der Nachdenkerei verging wenigstens die Nervosität über die Müslischachtel. Kurz vor der Ausfahrt zur Straße schlug neben Matilda ein Kofferraum zu, dann stand ihr eine Gestalt im Weg.

»Das kann ja gar nicht sein!«

Matilda blinzelte. Eine junge Frau in einem auffällig gestreiften, kurzen Mantel starrte sie an. Sie trug einen frechen Bob, schwarz gefärbt. In der einen Hand hielt sie eine Packung Tampons, in der anderen eine Flasche Wein. »Sehe ich Gespenster oder steht da wirklich meine Tilda?«

Matilda brauchte einen Moment, um einzuordnen, wer sie da so enthusiastisch begrüßte. »Chloe?«

»Meine Güte, du siehst ja noch genauso aus wie früher!« Chloe strahlte.

Matilda fragte sich, ob sie das als Kompliment auffassen sollte. Chloe jedenfalls schien sich zu freuen.

»Na ja, ich habe eine neue Brille.«

»Na, die ist jedenfalls top!« Chloe riss die Augen auf, als wäre ihr gerade etwas unglaublich Wichtiges eingefallen. »Warte mal, du hast heute Geburtstag!« Sie klemmte sich die Tampons unter den Arm und griff nach Matildas Unterarm. »Herzlichen Glückwunsch, Süße!«

Matilda schaffte ein verwirrtes Lächeln und war froh, dass Chloe sie schnell wieder losließ. Über den Umzug hatte sie ihren Geburtstag fast wieder vergessen. »Das fällt dir gleich ein?«

»Ja klar! Was denkst du denn? Mensch, ich wusste gar nicht, dass du in Dresden bist!«

»Ich bin auch erst seit heute so richtig hier.« Matilda rückte ihren Rucksack zurecht und versuchte, die Überraschung zu verarbeiten. Wann hatte sie Chloe zuletzt gesehen? Vor drei Jahren? Jedenfalls noch zu Schulzeiten. »Ich wohne um die Ecke.«

»Das ist der Hammer!« Chloe lachte. »Wie geht’s dir, was machst du?«

»Meisterklasse.« Das war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber es reichte wohl vorerst als Erklärung.

»Ja, wow!« Chloe machte eine beeindruckte Miene. Früher hatte sie neben Matilda im Schulorchester gesessen und Geige gespielt. Matilda hatte sie getreten, wenn Chloe sich ständig verspielte und nur herumblödelte, weil sie mal wieder nicht geübt hatte. Chloe war ein Naturtalent, sonst wäre sie nicht mit Matilda zusammen auf dem Musikinternat gewesen. Nur strengte Chloe sich nicht gern an. Sie schickte Matilda jedes Jahr zwei Karten. Eine zum Geburtstag und eine zu Weihnachten. »Ich hätte es mir denken können. Ich habe mir erst vor ein paar Wochen YouTube-Videos von dir angesehen.«

»Oh.« Matilda spürte ein unsicheres Lächeln um ihren Mund huschen. »Da gibt’s welche?«

»Aber ja, Süße. Von deinem Abschlussprojekt vom letzten Jahr und von ein paar Wettbewerben. Tschaikowski-Competition zum Beispiel, oder?«

»Ja, richtig.« Matilda trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Das war bitter. Ich bin in der zweiten Runde rausgeflogen. Knapp daneben ist auch vorbei.« So war das mit Wettbewerben. Wenn man nicht ins Finale kam, war man hinterher eine Randnotiz, und fühlte sich für ein paar fürchterliche Wochen wie ein Totalversager – auch wenn man wusste, dass nicht jeder mit achtzehn einen internationalen Durchbruch hinlegen konnte. Dieses Jahr gab es keine Wettbewerbe für Matilda. Das war eine der wenigen positiven Seiten an dem Umzug nach Dresden.

Chloe verzog das Gesicht. »Themenwechsel?«

Matilda zuckte die Schultern. »Schnee von gestern. Was ist mit dir? Ich dachte, du studierst Grundschullehramt in Berlin.«

»Ja, hab ich auch. Jetzt stecke ich tief in der Hölle namens Referendariat. Hey, was meinst du?« Chloe deutete mit der Weinflasche auf ihr Auto, einen quietschgelben Twingo. »Wollen wir nicht einen Kaffee trinken gehen?«

»Also …« Matilda überlegte, was sie sagen sollte. »Ich muss noch zu meiner Mutter.«

»Oh!« Chloe grinste. »Ich erinnere mich an deine Mutter. Ist sie immer noch so furchterregend?«

Furchterregend beschreibt Mama nicht ausreichend, dachte Matilda. Aber besonders weit weg davon war die Wahrheit auch nicht.

Glücklicherweise ließ Chloe sie nicht zu einer Antwort kommen. »Wann willst du da sein? Ich kann dich fahren.«

Matildas Augen huschten zu Chloes Auto. Sie ahnte, dass Chloe noch genauso wenig von Staubsaugern hielt wie früher. Der Gedanke, aus einer Tasse zu trinken, die nicht aus ihrem eigenen Schrank stammte, war noch weniger verlockend. Und es war auch schon fast halb zwei …

»Ich kann dich auch später besuchen.« Chloe klimperte mit den Wimpern. »Auf ä Scheelchn Heeßn.«

Matilda holte tief Luft und spürte zu ihrer eigenen Überraschung ein Lächeln um ihren Mund. »Na gut. Du kannst mich gegen fünf besuchen und meine Wohnung besichtigen.«

 

Es war bereits nach zwei, als Matilda ihr Fahrrad aus dem Keller trug. Glücklicherweise hatte ihr neuer Nachbar sein Versprechen gehalten und das Licht ging wieder. Im Dunkeln ließ sich den Spinnweben nur schwer ausweichen.

Das Grau hing noch schwer über den Dächern. Sonnenstrahlen kämpften sich hier und da durch die Wolken und malten goldene Flecken aufs Pflaster. Matildas dünne Wollhandschuhe halfen nicht viel gegen den Fahrtwind. Zum Glück waren es nur ungefähr drei Kilometer bis zur Uniklinik. Andere Leute hätten es vielleicht angenehmer gefunden, mit der Straßenbahn zu fahren, mit der ›Bimml‹, wie sie hier sagten, aber Matilda hasste wenig so sehr, wie öffentliche Verkehrsmittel. Eine Straßenbahnfahrt endete zwar nicht mehr damit, dass Matilda heulend unter der Dusche saß, aber es ekelte sie immer noch, auf den Sitzen zu hocken oder sich an den Stangen festzuhalten, an denen jeden Tag Hunderte von Leuten ihre Bakterien hinterließen. Lieber zehn Minuten auf dem Rad frieren.

Es war kurz nach halb drei, als sie die Tür öffnete, hinter der Station PS-1 lag. Die sogenannte Aufnahmestation. Man hätte auch geschlossene Psychiatrie sagen können, aber das hätte weit weniger freundlich geklungen. Die meisten Patienten blieben nur ein paar Tage hier. Mamas Aufenthalt dauerte schon fast zwei Monate. Beim ersten Mal hatte sie sich drei Tage aufpäppeln lassen, um dann wieder nach Hause und zur Arbeit zu gehen, als wäre nichts gewesen. Ach nein, wir müssen nicht darüber sprechen, Schatz. Diese Phasen gehen vorbei, das weißt du doch.

Eine blonde Schwester kam Matilda auf dem Gang entgegen. »Hallo! Sie kenne ich doch schon, oder?«

»Ja.« Matilda lächelte und hoffte, dass es nicht zu gezwungen aussah. »Ich möchte zu Sigrid Halbweiß.«

»Sie sind die Tochter, oder?« Die Schwester machte gleich auf dem Absatz kehrt und winkte Matilda, ihr zu folgen. »Ich habe sie grade gesehen. Sie wartet schon.«

Der blass orangefarbene PVC-Boden quietschte unter Matildas Turnschuhen. Sie hielt sich am Riemen ihrer Umhängetasche fest und folgte der Frau durch einen typischen Krankenhausflur bis zur nächsten Gabelung.

»Den Gang runter und dann links«, erklärte die Schwester. »Sie ist im Aufenthaltsraum.« Mit geschäftigen Schritten lief sie in die andere Richtung davon.

Matilda atmete tief durch und ging den beschriebenen Weg, bis zum Ende des Flurs. Hinter einer weiteren Glastür lag ein geräumiges Zimmer mit ein paar Tischen, hellen Ledersesseln und einer Schrankwand mit Büchern. Mama saß an einem der Tische und spielte an einer Ecke des Einwegdeckchens darauf herum. Das weiße Haar trug sie zu einem strengen Dutt zurückgebunden, wahrscheinlich um zu verbergen, dass sie schon länger nicht mehr alle sechs Wochen zum Friseur rannte. Sie steckte in einem rosafarbenen Oberteil und einer schwarzen Hose mit ordentlicher Bügelfalte. Beides saß viel zu locker, weil Mama sicher zehn Kilo abgenommen hatte. So war sie, wenn Matilda kam. Sie gab sich Mühe, ganz normal auszusehen, obwohl sie kaum wiederzuerkennen war.

»Hallo Mama.«

Ihre Mutter sah auf, und ihr schmales Gesicht erhellte sich sofort. Sie stand auf, kam zu Matilda hinüber und drückte sie an sich.

Matilda grub die spröden Finger ins Shirt ihrer Mutter. Fast wären ihr wieder die Tränen gekommen, aber sie konnte jetzt nicht heulen. Mama mochte selbst hier noch so tun, als wäre alles in Ordnung – als hätte Matilda nie getrocknetes Erbrochenes aus dem Teppich neben Mamas Bett gerieben. Als hätte Matilda nicht beim Packen ihrer Tasche den Abschiedsbrief gefunden, beschwert mit leeren Tablettenpackungen.

»Geht es dir gut, meine Kleine?« Ihre Mutter schob Matilda ein Stück von sich weg.

»Immer noch.« Matilda zog sich die Mütze vom Kopf, schälte sich aus der Jacke und versuchte, nicht daran zu denken, dass Mama nur mit sehr viel Glück überhaupt noch da war – nur wegen der vergessenen Geldbörse der Putzfrau. »Und dir?«

»Ach, schon viel besser.«

Sie setzten sich gemeinsam wieder an den Tisch.

»Ich glaube, ich entlasse mich nächste Woche selbst. Dann kann ich dich auch endlich besuchen und wir können nachträglich auf dich anstoßen, ja?«

Matilda verbiss es sich zu sagen, dass Mama bei den Medikamenten, die sie bekam, sicher keinen Alkohol trinken durfte. Und die anderen beiden Gelegenheiten, zu denen ihre Mutter behauptet hatte, sie würde wieder nach Hause gehen, erwähnte sie lieber auch nicht. Sie hielt es für sicherer, über etwas Unverfängliches zu reden. »Du wirst nicht erraten, wen ich getroffen habe.«

Ihre Mutter hob überrascht die Brauen. »Du kennst jemanden in Dresden?«

Stell dir vor, hätte Matilda beinahe gesagt, ich kenne einen Menschen, den du nicht genau inspiziert hast. »Erinnerst du dich an Chloe? Sie war im Gymnasium in meiner Klasse.«

»Chloe … ach, war das nicht dieses wilde Mädchen, das immer in Schwarz herumgelaufen ist? Die, die nie geübt hat und deshalb rausgeworfen wurde?«

»Sie wurde nicht rausgeworfen.« Matilda wippte unruhig mit den Füßen und fragte sich, ob Chloe wirklich ein gutes Thema war. »Sie wollte nur auf eine normale Schule gehen.«

»Und die hast du getroffen? Wo denn? Im Supermarkt?«

»Ja.« Matilda kratzte sich an der Nase. »Witzig, oder? Sie wird Grundschullehrerin.«

»Aha«, machte ihre Mutter mit der üblichen unterschwelligen Verachtung für alle weniger besonderen Menschen. Dieses »Aha« bedeutete, Matilda solle sich nicht mit Chloe abgeben. Besser, sie erwähnte die Einladung zum Kaffee nicht.

»Schau mal, Schatz.« Das Lächeln kehrte auf das Gesicht ihrer Mutter zurück. Sie griff nach einer Papiertüte neben ihrem Stuhl und reichte sie Matilda. Darin lagen mehrere in bunt gestreiftes Geschenkpapier geschlagene Päckchen.

»Nur eine Kleinigkeit, damit du ein bisschen was zum Aufreißen hast.« Ihre Mutter tätschelte Matilda die Hand. »Na los.«

Matilda erwiderte das Lächeln, obwohl sie bemerkte, mit welchem Blick Mama ihre spröden Finger bedachte. Vorsichtig knibbelte sie das Klebeband von dem ersten Päckchen.

»Es geht wieder auf den Winter zu, was? Cremst du dich denn nicht ein?«

Matilda fummelte das Geschenkpapier auf. »Doch, ständig.« Unter dem Papier kam eine Metalldose zum Vorschein. Kühlschrankmagneten erklärte der Aufkleber auf dem Deckel. Rundherum war er mit bunten Noten bedruckt. »Das ist gut. Meine Küche ist noch ziemlich weiß.«

»Kannst du denn überhaupt richtig spielen?« Mama war sehr nah an ihrem vorwurfsvollen Tonfall.

Matilda zuckte die Schultern und griff nach dem nächsten Päckchen, das nicht viel größer war als das erste, dafür aber viel schwerer. »So schlimm ist es nicht.«

Mama beobachtete genau, wie Matilda sich bemühte, auch das zweite Geschenk zu öffnen, ohne das Papier zu zerreißen.

Sie wickelte eine Pappschachtel aus. In ihrem Innern, halb verborgen unter noch mehr Papier, schimmerte eine durchsichtige Kugel, so groß wie ihr Handteller – ein Briefbeschwerer aus klarem Acryl, darin eingeschlossen der Kopf einer Distel, mattgrün, ein wenig violett. Die langen Kelchblätter wanden sich majestätisch. Der Briefbeschwerer war schön, auch wenn Matilda keine Ahnung hatte, was sie mit dem Ding anfangen sollte, außer es anzusehen und ständig abzustauben.

»Wenn du ihn nicht magst, behalte ich ihn.«

Matilda schüttelte den Kopf und strich über die glatte Oberfläche des Briefbeschwerers. »Nein, er gefällt mir – und ich habe überhaupt keinen Kram, den ich irgendwo hinstellen könnte.«

Erneut huschte ein kleines Lächeln um Mamas Mund. Muss sie sich dazu zwingen?, fragte sich Matilda. Sie beobachtete, wie Mama ihr mit ihren kleinen zarten Händen das dritte Päckchen zuschob.

Es sah aus wie eine CD. Matilda mühte sich erneut mit dem Papier ab. Mama schien ein wenig ausgeglichener als die letzten Male. Matilda traute dem Frieden nicht. Mama war nie einfach gewesen, aber seit London gab es einen neuen Grad von schwierig – ganz, als läge die Schuld an Mamas Zustand bei Matilda. Weil sie ausgezogen war, um ein eigenständiges Leben zu führen. Auch wenn jeder Psychologe sicher sein Bestes gegeben hätte, möglichst schnell das Gegenteil zu beweisen.

Im letzten Päckchen steckte tatsächlich eine CD. Alt sah sie aus, die Hülle zerkratzt, als wäre sie viel transportiert worden. Das Cover zeigte ein verblichenes Landschaftsbild. Darüber stand auf weißem Grund Johann Sebastian Bach – Goldberg-Variationen. Werner Halbweiß.

Matilda sah auf. »Von Papa?«

Mama nickte. »Ich glaube nicht, dass die Aufnahme noch zu haben ist, also pass mir gut darauf auf, ja?«

Matilda wünschte sich, sie hätte nur die Kühlschrankmagneten bekommen, die sie niemals an ihrem Kühlschrank anbringen würde, weil sie dort Fett und Staub ansetzten. Mama musste diese CD gehütet haben wie ein Drache seinen Schatz. Sie hatte niemals im Regal gestanden und sie hatte auch niemals im CD-Player gelegen. Sie kannte alle Spuren ihres Vaters in Mamas Leben. Es waren nicht viele.

»Die ist aus dem April vorher.« Mama lächelte wieder, aber ihr Mund sah verkniffen aus. »Das Päckchen mit dem Belegexemplar kam genau an dem Tag, weißt du?«

Das war Matilda tatsächlich neu. Bei dem Gedanken, dass Mama die Aufnahme weggab, wurde ihr flau im Magen. Vorsichtig klappte Matilda die Hülle auf und starrte die silberne Scheibe an. Matilda kannte den Mann nicht, der ihr von dem kleinen Schwarzweißfoto im Innern des Booklets entgegenlächelte. Halbglatze, große Brille. Laut Mama hatte Matilda nicht nur die Hände von ihm, sondern auch die Kurzsichtigkeit. Mehr erzählte sie nie über Papa. Dachte Mama, die CD könnte etwas ändern? Dachte sie, alle Fragen könnten sich in Luft auflösen, weil ihre Tochter Musik so viel besser verstand als Worte?

Matilda biss sich auf die Unterlippe. Wenigstens lag Mama ihr nicht mit der Wohnung in den Ohren. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Oh, nichts, Schatz. Ich möchte einfach, dass du sie hast.« Mama lehnte die Unterarme auf den Tisch. »Sie würden uns übrigens ins Musiktherapie-Zimmer lassen. Hättest du Lust?«

Matilda atmete auf. »Sicher.«

Mama strahlte. Wenigstens etwas Gutes hatte dieser Tag, dachte Matilda. Und sie hatte wirklich viel zu lange nicht gespielt.

 

Man durfte nicht denken. Wenn man sich darauf konzentrierte, bloß immer die Zwei zu betonen, obwohl man einen Dreivierteltakt spielte, war man schon verloren. Wenn man damit erst anfing, dann fiel einem ein, dass man Chopins Mazurkas mit naiver Frische und pianistischer Meisterschaft gleichzeitig spielen musste. Man begann, sich wie ein Zählwerk zu fühlen.

Nein, Kleinhirn und Rückenmark erledigten alles. Man ließ das prozedurale Gedächtnis machen, ließ die Finger wie von allein über die Klaviatur wandern. Wenn man ein Stück so beherrschte, dass man das Gefühl bekam, man spiele gar nicht selbst, erst dann hatte man es geschafft. Das, dachte Matilda und sah durch den Schleier der eigenen Kurzsichtigkeit zu, wie ihre Hände den Schlussakkord griffen, f-Moll, das war Kontrolle. Wenn man etwas so beherrschte, dass man loslassen konnte, erst dann gewann man die absolute Kontrolle. Sie würde diese Mazurka noch sehr oft spielen müssen, bevor es so weit war.

Mit dem Ersterben der Töne atmete Matilda aus, ließ die Finger von den Tasten gleiten. Langsam, bis auch die letzte Erinnerung von Klang verlosch, und die Stille zurückkehrte – gemeinsam mit dem Bewusstsein, dass Mama auf einem Drehhocker neben dem Klavier saß. Sie lehnte eine Schulter gegen den Korpus, als wolle sie den Klang spüren. Matilda fand nicht, dass sich das lohnte. Der Kasten war mehr Schaukelpferd als ein Klavier, aber vielleicht war sie auch einfach nur verwöhnt.

»Und, was hast du vor im nächsten Jahr? Nach Bozen?«

Matilda zwang sich, zu lächeln. Solche Dinge verstand Mama immer ohne Worte. Chopin war nicht gerade Teil der Projekte, an denen Matilda aus persönlichem Interesse werkelte. Sicher, auf ihrem alten Flügel mit seinem weichen, blühenden Klang hätte sie nur romantische Komponisten spielen dürfen, aber sie konnte die Impressionisten besser leiden. Ravel, Debussy, Fauré – und den späten Liszt auch. Am nächsten war ihr allerdings die neue Musik. Schönberg, Schostakowitsch, Skrjabin, Reger, Strawinsky. Chopin hieß Wettbewerb. Wenn Mama nur auch den Rest verstanden hätte.

Matilda nahm ihre Brille vom Notenpult und setzte sie wieder auf. Plötzlich plagte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie Mama nicht von dem Konzert am Samstag erzählt hatte. In der Kunsthalle im Lipsiusbau gab es eine Ausstellung zur Neuen Sachlichkeit mit Vortragsreihe. Matildas Repertoire passte ausnahmsweise hervorragend und auch ihre neue Klavierprofessorin, Carla Scholl, war Feuer und Flamme. Das Konzert war keine große Sache – nur würde Mama eine daraus machen. Matilda konnte die Beschwerden schon hören. Viel zu wenig Werbung! Was denken die sich dabei, diesen Saal auszusuchen? Und überhaupt, wer hat bloß den Text in diesem Flyer verbrochen? Wofür schickt man denen denn so viel Pressematerial? Vielleicht war Mama gar nicht in der Verfassung dafür, in der Galerie anzurufen und den Leuten dort auf die Nerven zu gehen, aber Matilda wollte in ihrer ersten Woche in Dresden nichts riskieren. »Busoni-Wettbewerb, ja. Damit bin ich dann wohl die nächsten zwei Jahre beschäftigt – neben meinem Projekt für die Uni meine ich. Falls ich die Vorausscheidungen schaffe.«

»Aber das steht doch außer Frage, Schatz.« Der Satz klang vehement, aber Matilda fand, dass ihre Mutter müde aussah – oder eher ausgezehrt. Dennoch schaffte sie es, zu witzeln. Auf ihre Art. Sie wedelte mit der Hand. »Der Wettbewerb ist viel besser, als die Tschaikowski-Competition. Da gewinnen sowieso immer nur Russen.«

Trotz allem musste Matilda lachen. »Ja, genau. Ist schon ein echter Saftladen, diese Tschaikowski-Competition.« Sie schüttelte den Kopf. »Willst du noch was hören?«

»Wie wäre es mit Beethoven?« Ihre Mutter lehnte auch den Kopf gegen den Korpus.

Beethoven. Die Liste mit Klavierstücken von Beethoven war lang, aber in Mamas Fall musste Matilda nicht fragen, welches Stück genau gemeint war. Beethoven war Mamas Abkürzung für Klaviersonate Nummer 23. Die Appassionata – eins der Stücke, um das kein klassisch ausgebildeter Pianist herumkam. Matilda kannte sie noch auswendig, obwohl sie die Sonate zuletzt vor Jahren gespielt hatte. Vor London. In dieser Beziehung hatte Matilda ein Elefantengedächtnis. Sie mochte das Stück nicht. Höchstens in Glenn Goulds Version. Die Aufnahme brachte sie zum Lachen, weil sie klang wie die Karikatur des großen Genies und seines selbstherrlichen Egos.

So wie Glenn Gould konnte Matilda die Appassionata aber jetzt kaum zum Besten geben. Die Sonate war ein Relikt, das Mama seit Papas Tod anbetete. Glenn Gould konnte sie auch nicht leiden – schon aus Prinzip nicht, weil er bei den Goldberg-Variationen Wiederholungen ausließ. Matilda klemmte die Hände zwischen die Knie. Sie mochte Beethovens berühmte Sonate genauso wenig wie Glenn Gould und sie wusste nicht, wie sie das verbergen sollte.

»Ich weiß nicht, wann ich sie zuletzt gespielt habe.«

Für einen Augenblick trug Mama eine enttäuschte Miene zur Schau, dann aber kehrte das Lächeln auf ihr Gesicht zurück. »Du hast wohl zu viele von diesen unzugänglichen Sachen im Kopf, die du so magst. Wie heißt dein neuster Fund? Ornstein und noch so ein Amerikaner?«

»Crawford Seeger«, murmelte Matilda. Noch einer der Gründe, warum es gut war, nicht von dem Konzert zu erzählen. Mama hätte auch über das Programm die Augen verdreht. Antheil, Hindemith und Wolpe. »Das ist eine Frau.«

»Ach ja.« Mama zeigte ihr das gespielte Lächeln. Matilda konnte es genau vom echten Lächeln unterscheiden, weil Mama davon faltig wurde. Faltig und bitter. »Gut, Schatz. Wie wäre es morgen? Nur, wenn du Zeit hast, natürlich.«

Matilda wollte auch morgen nicht Beethoven spielen. Sie wollte nicht abends dasitzen, drei oder vier verschiedene Aufnahmen hören und die Noten mitlesen, nur um Mama für ungefähr dreiundzwanzig Minuten Zufriedenheit zu verschaffen. Sie hätte es einfach sagen sollen.

Ich habe keine Lust auf diese blöde Sonate. Ich habe keine Lust, mir anzuhören, dass dir nicht gefällt, was ich gern spiele. Ich bin doch nicht dein dressiertes Äffchen, und ich kann nichts dafür, dass du seit zwanzig Jahren so tust, als würdest du keine echten Freunde brauchen. Nur welche, die dich um dein perfektes Leben beneiden können. Um deine teuren Klamotten, deinen superkreativen Job als Dramaturgin, bei dem man einfach ständig diese tollen Leute trifft. Sänger und Schauspieler, die so eitel sind, dass sie sich gegenseitig aus den Theatern mobben. Und die Unabhängigkeit, ja die ist echt beneidenswert. Sich jedes Mal was Neues suchen müssen, wenn die Intendanz wechselt. Und wer wünschte sich nicht eine perfekte Tochter, die auch noch etwas so Besonderes macht? Wir dürfen ihnen bloß nicht erzählen, dass wir beide ein bisschen bescheuert im Kopf sind, das ist alles.

Matilda zwang sich, zurückzulächeln. Eines Tages, dachte sie, würde sie dabei genau aussehen, wie ihre Mutter. »Okay«, sagte sie. »Okay, dann morgen.«

Kapitel 2

 

04. Oktober, Ankunft

 

Ein herzliches Willkommen sieht anders aus. Tante Margarete scheint nicht gewusst zu haben, dass ich vor der großen Reise auf Besuch bin. Ich frage mich, warum, ich habe es Anna schließlich geschrieben. Um mich hinauszuwerfen, hat meine Tante freilich zu viel Anstand, also bleibe ich und sie backt widerwillig einen Kuchen. Sie findet, das gehöre sich so, wenn der Ziehsohn sich sehen lässt, ob es ihr gefällt oder nicht.

Einiges ist seltsam anders, seit ich das letzte Mal hier war. Über ein Jahr ist das her. Das Geld ist knapp, ja sicher. Zu knapp für einen neuen Teppich oder frische Tapeten, so ist es seit Onkel Felix’ Tod – obwohl sein Sterben ja nicht schuld ist an der Geldnot. Das Erbe und das Ersparte sind einfach nichts mehr wert. Mir kommt es kaum so vor, als hätte ich dieses Haus überhaupt verlassen und doch scheint die ganze Wohnung mir um so vieles dunkler und schäbiger als im letzten Jahr.

Und Bilder hat Tante Margarete aufgehängt. Bilder über Bilder. Nicht, dass sie das früher nicht getan hätte, aber früher war ihr kaum etwas gut genug, um einen Platz an der Wand zu bekommen. Die Masse ist erdrückend und schlimmer noch, jedes Bild – jedes! – zeigt Anna. Anna, Anna und wieder Anna, wohin man sich auch dreht.

Nur Anna selbst ist noch nicht aus ihrem Zimmer gekommen. Ich habe zwei Mal an die Tür geklopft, aber Anna antwortet nicht. Nicht einmal begrüßt hat sie mich.

In der Küche lässt es sich nicht aushalten, während Tante Margarete hantiert. Sie hasst wohl immer noch jeden einzelnen Handgriff, den sie dort oder im Waschkeller tun muss. Das kann man ihr schwerlich verübeln, wenn man weiß, wie es früher war, mit dem Hausmädchen und der Köchin. Und obwohl sie es schon zehn Jahre so machen muss, verabscheut sie es offenbar mit jedem Tag mehr.

Ich habe mich eine Weile mit der Partitur beschäftigt, anstatt mir ihr eisiges Schweigen und ihre widerwilligen Kommentare zu meinen mehr oder minder großen Erfolgen in Wien anzuhören. Ich wage nicht recht, Margarete nach Anna zu fragen. Alles in allem scheint die Sache ihr zuzusetzen, was auch immer das für eine Sache ist, wegen der Anna mir diesen Brief geschrieben hat.

Das Klavier ist abgeschlossen. Ich wollte das Cello stimmen, da merkte ich es. Der Schlüssel hängt an Tante Margaretes Schlüsselbund und sie sah nicht sehr glücklich aus, als sie mir aufschließen sollte. Ein Blick, der mich gleich denken lässt, ich sollte mir besser die Stimmgabel neu kaufen, die ich vergessen habe, einzupacken. Dabei dachte ich, ich hätte jemanden klimpern hören, als ich draußen auf der Straße stand. Früher hatte das Klavier kein Schloss.

Von der Schiffspassage kann ich nicht zurücktreten und ich komme mir weise vor, dass ich sie bereits gebucht habe. Was auch immer im letzten Jahr hier passiert ist, ich bleibe eine Woche, nicht länger.

 

 

Matilda ließ kaltes Wasser über ihre Hände und ihre Unterarme laufen. Sie rieb die Haut mit Seife ein, obwohl es brannte. Dabei kreisten ihre Gedanken nur darum, was sie alles angefasst hatte. Die Sinnlosigkeit des Schrubbens war ihr nur zu bewusst, und dass sie das Ritual trotzdem ausführte, war kein gutes Zeichen.

Matilda biss die Zähne zusammen und drehte den Wasserhahn zu, dann schnappte sie sich das Handtuch. Das Waschen half nicht. Im schlimmsten Fall sorgte es dafür, dass sie nicht mehr würde spielen können, weil die Finger zu bluten begannen. Wenigstens würde sie sich dann nicht mehr mit der Appassionata auseinandersetzen müssen.

Ein gedämpftes Klingeln riss sie aus den beklemmenden Gedanken. Matilda atmete tief durch, ging zurück in den Flur zu ihrer Tasche und zog ihr Handy hervor. Die Nachricht war von Chloe.

 

Hey, komme gegen 7! Bringe dir eine Überraschung mit! LG, Chloe

 

Typisch. Fünf hatte Matilda gesagt, nicht sieben, aber Chloe hatte sich schon früher nicht für solche Sachen interessiert. Eine Sekunde lang bereute sie, Chloe überhaupt eingeladen zu haben.

Matilda presste die Lippen zusammen. Leute loszuwerden, die ihr zu nahe kamen, war eins ihrer größten Talente. Chloe nahm ihr diese Unart nicht übel – warum auch immer.

Matilda ging zum Flügel und setzte sich auf die Klavierbank. Eine halbe Stunde Technik, so fing sie immer an. Jeden Tag eine Übung, um die Handgelenke zu lockern, Tonleitern, Dreiklänge, Oktavpassagen, ein paar von Brahms’ 51 Übungen für Klavier. Eine halbe Stunde mit sich selbst kämpfen, mit der Trägheit der eigenen Muskeln, mit Kleinhirn und Rückenmark und mit Brahms’ hausgemachtem Folterinstrument für Pianisten. Früher hatte sie sich dabei einen Wecker gestellt, aus Prinzip, damit auch nicht eine Minute verloren ging. Aber das musste jetzt anders werden. Jedenfalls hatte Matildas letzte Therapeutin das gesagt, also stellte sie diesmal keinen Wecker.

Stattdessen nahm sie sich den Stapel Notenhefte vor, den sie sich zurechtgelegt hatte. Etüden von Chopin, Liszt, Debussy, Rachmaninoff, Bartók und Prokofjew. Sie musste sich überlegen, welche sie am besten für die Vorauswahl im nächsten Jahr vorbereitete und wie sie alles in maximal einer halben Stunde unterbrachte. Sie wollte nicht länger für Wettbewerbe üben – aber welche Alternative gab es schon? Pädagogisches Talent besaß sie nicht, also schaffte sie es entweder als freischaffende Künstlerin oder sie schlug sich mit tausenden anderen um eine der rar gesäten Festanstellungen in einem Orchester. Für beides brauchte sie Kontakte, für beides brauchte sie Referenzen.

Auf einmal kam ihr der Stapel beängstigend vor, und ihr fiel ein, wie sehr sie diese Wettbewerbe verabscheute. Immer hoffen zu müssen, dass die anderen sich schlechter präsentierten als man selbst, dass sie lahme Interpretationen hinlegten oder einfach nur am Geschmack der Jury vorbei spielten. Man tat so, als wäre Musik ein Sport. Ein Kampf. Und dann musste man noch dankbar sein, dass man überhaupt bei dieser Turnvorführung für Pianisten mitmachen durfte.

Trotzig griff sich Matilda das oberste Heft. Debussy. Einfach anfangen, dachte sie, da segelte ihr ein loser Zettel entgegen. Sie runzelte die Stirn. Handgeschriebene Noten, nur im Bassschlüssel notiert, also gehörten sie sicher nicht Matilda. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben. Das Blatt wirkte alt und mitgenommen. Die Ränder fühlten sich weich und abgegriffen an. Ein Stück in g-Moll stand auf dem Zettel notiert. II prangte in energischen Federstrichen oben auf der Seite, als handele es sich um den zweiten Satz einer Sonate oder eines Konzerts. Das Papier war gelb und es roch entfernt nach kaltem Zigarettenqualm.

Matilda schüttelte den Kopf und legte die Noten zur Seite. Seltsam, dass sie ihr nicht beim Umzug entgegengefallen waren, aber solche Dinge passierten nun mal. Sie wandte sich wieder Debussy zu.

Sie steckte mitten in einer Etüde, Pour les sonoriés opposés, als es schellte. Die Klingel war ein schrilles, lautes Ding, das einen zusammenzucken ließ – das Einzige, was ihr an der Wohnung nicht gefiel.

Matilda hielt vor Schreck mitten im Takt inne und stampfte unwillkürlich mit dem Fuß auf. Sie kannte das Stück gut. Sie hatte es für das Vorspiel an der Juilliard geübt. Trotzdem musste sie die Etüde sechs Mal von vorn beginnen, sechs Mal das feine Motiv bis zum lointain, mais clair et joyeux spielen – fern, aber licht und fröhlich –Schau mal nach, ob ich noch lebe, wenn du wiederkommst.