Über Chase Novak

Illustration: Celeste Dupuy-Spencer

Chase Novak ist das Pseudonym für Scott Spencer. Spencer, geboren 1945 in Washington, D.C., gilt als einer der wichtigsten amerikanischen Gegenwartsautoren und war bereits zweimal für den National Book Award nominiert. Zuletzt erschien von ihm Breed.

 

 

Für Celeste

PROLOG

Sie waren nicht hier, um den Tatort eines Verbrechens zu säubern. Diese schaurige Aufgabe war zwei Jahre zuvor von RestorePro erledigt worden, als das Haus in der 69th Street eher dem neunten Kreis der Hölle geähnelt hatte als seiner früheren Inkarnation – einem stilvollen, makellosen, historisch korrekten Stadthaus an der Upper East Side, einem der wenigen in New York, das seit der Bauzeit im Besitz derselben Familie verblieben war. Der letzte Besitzer war Alex Twisden gewesen, der dort sein gesamtes Leben verbracht hatte, zuerst als Kind, dann als Playboy, dann als von seiner Arbeit besessener Firmenanwalt, dann als relativ einsiedlerischer Junggeselle, dann als frischvermählter Gatte einer schönen jüngeren Frau namens Leslie Kramer, dann als Vater von Zwillingen und schließlich, aufgrund der Fruchtbarkeitsbehandlung, die er und Leslie zum Zweck der Fortpflanzung über sich hatten ergehen lassen, als eine Art Bestie, für die weder Wissenschaft noch Folklore einen Namen kennt.

Der Trupp von RestorePro war mit Gummistiefeln, Atemgeräten und Chemikalienschutzanzügen ausgestattet. Das Schlimmste an der Säuberungsaktion waren natürlich das Blut, die Haare, das Fell, die Knochen und die Zähne, außerdem die Körperteile, an denen weder Alex noch Leslie Geschmack gefunden hatten – beide mochten keine Ohren und fanden Füße normalerweise ungenießbar. Doch es gab wesentlich mehr zu tun, als nur die Beweise dafür zu beseitigen, dass das elegante alte Gebäude eine Weile ein Schlachthaus gewesen war. Man musste alles desinfizieren. Es gab Gerüche, die vertrieben werden mussten, und andere, die man nur überdecken konnte. Im Putz waren Kratzer, in die Holzböden waren tiefe Klauenspuren geritzt. Die Haufen aus zertrümmerten Möbeln sahen aus, als hätten wild gewordene Vandalen vor einer Antiquitätenauktion im Lager von Sotheby’s gewütet. Einst kostbare Schlehdorn-Tapeten, von William Morris persönlich ins Haus gebracht, hingen schlaff in langen, gerollten Bahnen herab. Leuchter waren von den Wänden gerissen worden; Sofas hatten sich in Sozialwohnungen für allerlei Arten von Nagetieren verwandelt. Das Motto von RestorePro lautete »Keine Spuren!«, doch obwohl der Trupp seine Arbeit sorgfältig erledigte und weder Mühe noch Zeit scheute, trug das Haus, das er schließlich am Ende der vertraglich vereinbarten Zeit verließ, noch immer die unauslöschlichen Merkmale eines Ortes, an dem etwas Grässliches geschehen war. Man musste nicht an Geister glauben, um zu spüren, dass eine Aura des Elends und des Verhängnisses über allem lag, selbst nachdem gründlich gereinigt worden war.

Zwei Jahre vergingen. Falls es im Haus spukte, hatten die Gespenster es für sich allein. Die Türen waren verschlossen, die Jalousien heruntergezogen. Strom und Gas waren abgestellt. Die anfallenden Steuern wurden aus dem Nachlass von Alex beglichen, wenngleich dessen einst beträchtliches Vermögen in den zehn Jahren zwischen der Fruchtbarkeitsbehandlung in Slowenien und seinem jähen Unfalltod vor dem Metropolitan Museum of Art, wo ihn auf der 5th Avenue ein Bus überrollt hatte, erheblich geschrumpft war. (Leslies gewaltsamer Tod – deutlicher als der von Alex absichtlich herbeigeführt – hatte sich wenig später auf dem Rollfeld des Flughafens von Ljubljana ereignet.) Alex Twisdens Schwester wollte nichts mit dem Haus zu tun haben, und Leslies Schwester Cynthia Kramer, von Beruf Antiquitätenhändlerin, hatte zwar immer eine an Gier grenzende Liebe dazu gehegt, war jedoch nicht berechtigt, es zu erben. Eigentlich gehörte es Adam und Alice, den Zwillingen von Alex und Leslie, doch die waren beim Tod ihrer Eltern erst zehn Jahre alt gewesen und anschließend unglückselig durch die trüben, unruhigen Wasser des New Yorker Kinderfürsorgeapparats getrieben.

In dieser Hinsicht war das Testament ihrer Mutter ganz klar gewesen: Die Zwillinge sollten zu ihrer Schwester Cynthia kommen. Da die Mühlen der Justiz jedoch langsam auf die ihnen eigene, unerträgliche Weise mahlten, vergingen zwei Jahre, bevor Cynthia einen Termin beim Vormundschaftsgericht bekam, um die Adoption der Kinder abzuschließen. Sie hatte vor, von San Francisco nach New York zu ziehen, damit die Zwillinge wieder in ihr altes Heim kamen – an den Ort zahlloser furchtbarer Nächte, der dennoch das einzige echte Heim war, das sie je gekannt hatten.

Besonders gut kannte Cynthia diese Kinder nicht, doch sie war begeistert über die plötzlich bestehende Gelegenheit, Mutter zu sein, was sie noch vor kurzem als so unwahrscheinlich bezeichnet hätte wie die Chance, Außenministerin oder Rockstar zu werden. Zugegeben, irgendwann einmal waren Alex und Leslie liebevolle Eltern gewesen, doch in den letzten ein oder zwei Jahren bei ihnen hatten die Zwillinge Furchtbares erlebt, und wer wusste schon, welchen Schaden die Zeit bei den Pflegefamilien angerichtet hatte. Cynthia akzeptierte die Tatsache, dass die beiden mühsam wieder ins normale Leben eingegliedert werden mussten. Vielleicht brauchten sie eine Therapie. Definitiv aber jede Menge Liebe.

Jede Menge Liebe hatte sie zu bieten.

Und damit nicht genug. In ihrem ganzen Leben war sie sich keiner Sache so gewiss gewesen. Sie konnte und würde die Kinder mit ihrer Liebe wieder gesund machen. Sie würde den beiden zurückgeben, was sie von Geburt an verdienten – eine gute Schulbildung, Sicherheit, Fürsorge und das Leben in ihrem wunderschönen Haus.

Während sich die Räder der Justiz also langsam drehten, überwachte Cynthia von der anderen Seite des Kontinents aus die letzten Renovierungen des Hauses in der 69th Street. Sie organisierte alles mittels E-Mail, Telefon und Skype, ohne ihren Laden in Pacific Heights zu verlassen. Die Küche musste modernisiert, Lampen mussten entfernt und ersetzt, neun Bäder und Toiletten saniert werden. Manches brauchte ein wenig Auffrischung im Stil des einundzwanzigsten Jahrhunderts, manches brauchte … alles. Es mussten Möbel gekauft, Fenster ersetzt und mit Vorhängen oder Jalousien versehen werden; das Parkett war teilweise so brutal zerkratzt, dass es herausgerissen und erneuert werden musste, und sechzehn Zimmer mussten frisch gestrichen werden.

Die dringlichste Aufgabe war jedoch der Keller. Hier hatten Alex und Leslie ihre tragische Menagerie gehalten, die Katzen und Hunde, die sie teils im Handel erworben, teils aus verschiedenen Tierheimen der Region »gerettet« hatten. Die Käfige und die engen Laufställe, in denen die zum Tode verurteilten Geschöpfe einst eingesperrt gewesen waren, mussten fortgeschafft werden, um anschließend sämtliche Spuren ihrer Existenz auszulöschen. Die Käfige waren schwer und mit Bolzen an den Steinwänden des Kellers befestigt. Mack Flaherty, der für die gesamten Arbeiten verantwortliche Unternehmer, hatte sich den Keller bis zuletzt aufgespart, und um dafür zu sorgen, dass dieser rechtzeitig fertig wurde – in einer Woche kam Cynthia nach New York –, stellte er zusätzliche Männer ein. Die arbeiteten täglich vierzehn Stunden, um ihre Aufgabe zu erledigen. Einige von ihnen hörten in den Wänden das Quietschen und Scharren von Nagetieren, es hatte jedoch niemand ein Interesse daran, das an die große Glocke zu hängen. Die Ziellinie war in Sicht. Cynthia war unterwegs. Bringen wir’s hinter uns, war das Mantra; jeder der Männer wiederholte es. Bringen wir’s hinter uns.

1

»Wissen Sie, was ich immer sage?«, verkündet Arthur Glassman, während er Cynthia am Ellenbogen durch die hallenden Flure des Vormundschaftsgerichts im Zentrum von Manhattan führt. »Wenn das Leben dir Zitronen serviert, musst du sagen: ›Hör mal, Leben! Von den verfluchten Zitronen hab ich jetzt genug.‹« Er ist ein korpulenter Mann mit einem breiten Lächeln und einem teuren Duft – das Lächeln hat ihn etwa hunderttausend Dollar gekostet, der Duft kostet 315 Dollar pro Flakon. Schöne Frauen machen ihn ganz verrückt, und Cynthia ist genau sein Typ. Sie hat glänzende dunkle Haare, die in der Mitte gescheitelt sind, einen üppigen Mund, einen langen Hals, breite Schultern, lange Beine. Wenn er mit seiner Frau auf einer Party ist und jemand wie Cynthia hereinkommt, versetzt Mrs. Glassman ihm einen Rippenstoß und sagt: »Guck mal, da ist eine für dich.« Früher war Arthur der Anwalt von Alex und Leslie Twisden, und jetzt ist er der von Cynthia, ohne dass man ihn richtig darum gebeten hätte. Er hat Cynthia ohne Honorar geholfen, die armen Zwillinge aus dem Fürsorgesystem herauszuholen und ihrer Tante ein für alle Mal das Sorgerecht zuzusprechen; jetzt stehen sie kurz vor dem Ziel, und er ist glücklich – falls ein Wort wie glücklich angebracht ist, um etwas zu beschreiben, das mit seiner Beziehung zu den verstorbenen Eltern der Zwillinge zu tun hat.

»Ob ich die beiden wohl gleich mit nach Hause nehmen kann?«, fragt Cynthia.

»Ich glaube, heute ist Ihr Tag, Cynthia. Und ich hoffe, inzwischen ist so viel Zeit vergangen, dass das makabre Interesse dieser Stadt an den Kindern verblasst ist und sie ein normales Leben führen können – falls man Teenager überhaupt als normal bezeichnen kann.« Er zwinkert, um zu zeigen, dass er das mehr oder weniger scherzhaft meint.

»Die beiden haben viel durchgemacht«, fährt Arthur fort. »In psychologischer Hinsicht natürlich. Der Verlust ihrer Eltern. Und wie sie wissen, leiden beide unter schweren Essstörungen. Sie waren oft im Krankenhaus.«

»Ich bin eine ausgezeichnete Köchin«, sagt Cynthia. »Wenn etwas Stabilität in das Leben der Kinder kommt, werden sie normal essen. Glaube ich wenigstens.«

»Das ist auch meine Theorie«, sagt Arthur und tätschelt ihr den Arm. »Ich glaube, sie haben das Essen nur deshalb verweigert, weil sie sonst keine Kontrolle über ihr Leben hatten. Alles andere lag schließlich nicht in ihren Händen.«

»Na, jedenfalls habe ich schon für ganz verschiedene Leute gekocht. Kinder können beim Essen ausgesprochen wählerisch sein, aber ich stehe ganz gern in der Küche. Eigentlich koche ich sogar mit Begeisterung.«

Arthur wirft einen Blick über die Schulter und lenkt Cynthia unvermittelt in einen leeren Gerichtssaal, der praktisch auf die beiden zu warten scheint. Hinter ihnen schließt sich mit leisem Fauchen die Tür.

»Es ist eine sehr komplizierte Situation, Cynthia, das sollte Ihnen voll und ganz bewusst sein. Die schreckliche Behandlung, die Alex und Ihre Schwester durchgemacht haben – die beiden waren nicht die einzigen, verstehen Sie? Viele wohlhabende Paare haben sich solchen Behandlungen unterzogen. Manchmal hat das gut geklappt, und manchmal …« Er spreizt seine weichen Hände, als wollte er Raum für das Unsagbare schaffen. »Ist komisch, oder? Geld kann Flügel verleihen, aber eventuell fliegt man dann irgendwohin, wo man nie hätte landen sollen.«

»Also haben andere Kinder denselben Horror erlebt wie Adam und Alice? Wollen Sie darauf hinaus?«

»Und manche von diesen Kindern sind immer noch am Leben. Darauf will ich hinaus. Nicht viele, aber doch ein paar. Nicht nur hier – an vielen Orten. Aber hier in New York gibt es sehr viele, weil …« Er lächelt sein teures Lächeln. »Bei uns sind die oberen Zehntausend eben besonders stark vertreten. Offen gesagt, würde ich mir wünschen, dass Sie Adam und Alice von hier wegbringen. Immerhin haben Sie wenigstens vor, den Namen Twisden aufzugeben – eine kluge Entscheidung, das wird das Gericht Ihnen bestätigen.«

»Sie klingen so, als ob alles schon entschieden wäre.«

»Oh, das ist es auch. Im Testament Ihrer Schwester steht eindeutig, dass die Kinder in Ihre Hände kommen sollen, und im Testament von Alex ist nichts hinsichtlich des Sorgerechts für Adam und Alice zu finden. Niemand hat sich gemeldet, um das Testament anzufechten, und die Stadt New York ist ausgesprochen froh, die finanziellen Verpflichtungen für die kleinen Waisen loszuwerden. Aus juristischer Sicht gibt es keine bessere Lösung. Die Zwillinge kommen zu ihrer Tante, und die Behörde kann damit aufhören, für ihren Unterhalt zu bezahlen, ab dem heutigen Tag. Übrigens, nur unter uns und dem Laternenpfahl, es gibt Leute in der Stadtverwaltung – sagen wir, in den höchsten Positionen, ja? –, die ein besonderes Interesse daran haben, dass diesen Kindern Gerechtigkeit widerfährt.«

»Und was ist mit dem Haus?«, fragt Cynthia. »Ist das auch schon entschieden?« Sie räuspert sich und wendet den Blick ab. Sie will nicht den Eindruck erwecken, übermäßiges Interesse an dem Stadthaus der Twisdens in der East 69th Street zu haben. Sie kennt seinen Schätzwert nicht, aber es muss sich um ein Vermögen handeln – trotz der Gerüchte um die schaurigen Taten, die dort begangen worden sind.

»Ach ja. Das Haus. Natürlich. Das Jugendamt hat es mit Kusshand genehmigt. Es ist bewundernswert, wie Sie es wieder auf Vordermann gebracht haben.«

»Waren Sie dort? Haben Sie es gesehen?«

Arthur schüttelt den Kopf. Er kann sich nicht vorstellen, je wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen.

»Es muss eine Menge gekostet haben«, sagt er.

»Stimmt. Es gibt Firmen, die auf so etwas spezialisiert sind. Allein schon die Reinigung hat fast hunderttausend Dollar gekostet. Ich musste einige ihrer Sachen verkaufen, um die Kosten zu decken.«

Arthur wirkt schockiert, als hätte sie gerade etwas gestanden, was die Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Klient auf eine harte Probe stellt.

»Darüber will ich nichts hören, Cynthia.«

»Hatte ich denn eine andere Wahl? Das Haus war unbewohnbar.« Sie schaudert und schüttelt den Kopf bei der Erinnerung daran, wie sie einst nach diesem klassischen Stadthaus in Manhattan mit seinen eleganten Treppen, den Wandleuchtern, Tischen, Gemälden und Teppichen gegiert hat. Vieles davon verschwand, als das Leben von Leslie und Alex zunehmend außer Kontrolle geriet; die beiden haben allerhand verkauft (oft zu schockierend niedrigem Preis), und das meiste, was übrig war, hat den Alltag im Haus nicht überlebt.

»Ich mache mir Sorgen, weil die Kinder an diesen Ort zurückkehren«, sagt Arthur. »Aber andererseits ist es das einzige Heim, das sie je gekannt haben.«

»Sie werden ja nicht unter dem Namen Twisden dort wohnen«, erinnert Cynthia ihn. »Sie werden Kramer heißen. Und in ihre alte Schule gehen sie auch nicht mehr.«

»Na, warten wir mal ab, wie es läuft.«

Während sie durch die Flure des Gerichtsgebäudes gehen, wirkt es, als gäbe es niemanden, den Arthur nicht kennt, oder zumindest niemanden, den er sich nicht zu grüßen verpflichtet fühlt, entweder mit einem Nicken oder mit seinem bewährten Gruß: »Ach, sieh mal an, wer da kommt!«

Cynthia ist overdressed; sie sieht aus, als würde sie durch die Halle eines schicken Hotels schreiten statt durch die abgenutzten, chaotischen Flure der städtischen Justiz. Sie trägt Stöckelschuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen, einen Bleistiftrock und ihre teuerste Satinbluse. Gestern hat sie Arthur am Telefon gefragt, wie sie sich für den Gerichtstermin kleiden solle, aber er hat sich über ihre Sorgen nur lustig gemacht.

»Hauptsache, Sie tragen keinen Umhang mit Kapuze«, hat er gesagt. »Oder einen von diesen Armreifen in Schlangenform, mit kleinen Rubinsplittern, die wie leuchtend rote Schlangenaugen aussehen. Ehrlich gesagt würde ich mir keine zu großen Sorgen machen. Sie sollten manche von den Leuten sehen, die das Gericht für geeignet hält, Kinder mit nach Hause zu nehmen. Mütter mit Tätowierungen! Wer hätte gedacht, dass wir je eine Zeit erleben, in der sich Mami eine Tarantel aufs Kreuz tätowieren lässt, während Papi Lidstrich trägt? Das ist eine ganz neue Welt da draußen, Cynthia.«

 

Mit dem prahlerischen Schwung eines Sheriffs, der den Saloon betritt, drückt Arthur die Schwingtür von Gerichtssaal 4 auf.

»Sie kommen zu spät, Mr. Glassman«, ruft die Gerichtsvorsitzende, als sie ihn bemerkt. Sie ist eine große, verwitterte Frau mit einer Stimme, die sich anhört wie die einer ketterauchenden Kanadagans. »Ich habe eine Verhandlung nach der anderen auf dem Zettel, da kann ich keine Verzögerungen gebrauchen, nicht heute.«

Während die beiden nach vorne gehen, wirft Cynthia einen Blick auf die Leute im Publikum. Viele von ihnen – eigentlich die meisten – sehen aus, als würden sie ihre Schuhe betrachten; Cynthia braucht einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie alle verstohlen auf den Bildschirm ihrer glanzvolle Namen tragenden Smartphones starren, und das trotz der im ganzen Gerichtssaal angebrachten Hinweise, dass der Gebrauch von Mobiltelefonen verboten sei. An diesen Ort kommen Bittsteller in allen Schattierungen und Formaten, die eine große Stadt zu bieten hat; sie sitzen auf den Bänken einer Kirche, deren Bibel die Verfassung ist, und warten darauf, ein Testament anzufechten oder eine Adoption voranzutreiben. Irgendwie hat Arthur den Einfluss, den er im Laufe seiner langen Karriere erworben hat, geltend machen können, um Cynthias Sorgerechtsfall an oberste Stelle der Verhandlungsliste zu katapultieren. Das verursacht bei ihr ein ungutes Gefühl. Da, wo sie herkommt, hält man ein solches Vordrängeln für schlechte Manieren. Sie beschließt, es sich leichter zu machen, indem sie jeglichen Blickkontakt meidet. Sie guckt geradeaus, während sie mit Glassman auf die Richterin zugeht, die sich auf ihrem mit einer hohen Rückenlehne versehenen Ledersessel vor und zurück wiegt. Dabei kratzt sie sich genüsslich mit einem langen, hellgelben Bleistift am Kopf.

Und da fällt Cynthias Blick zum ersten Mal seit Jahren auf ihre Nichte und ihren Neffen. Die beiden sitzen vorne links, ihre Knie berühren sich, sie halten sich an den Händen. Obwohl sie weiß, dass die beiden oft die Nahrung verweigern oder sie sogar erbrechen, erschrickt sie einen Moment darüber, wie dünn sie sind. Sie haben kein Gramm zu viel, das nicht zwingend nötig wäre. Ihre Haut sitzt so stramm wie ein Neoprenanzug, wie Farbe an einer Wand. Und dennoch ist da eine gewisse Schönheit, die Schönheit der Jugend, die selbst vom Wahnsinn des absichtlichen Hungerns nicht bezwungen worden ist. Beide sind groß, anmutig und haben eine ruhige, scheue Art. Ätherisch. Sie haben die rotblonden Haare ihrer Mutter, das trotzige Kinn und den leichten Unterbiss ihres Vaters. Bei ihrem Anblick zerbricht etwas, das in Cynthias Innerem eingefroren war. Sie stößt einen kleinen Seufzer aus, hält sich an Arthurs Arm fest, um nicht zu schwanken, und beginnt zu weinen.

 

Arthur hat umsichtig einen Wagen bestellt, der Cynthia und die Zwillinge nach Hause bringen soll, und als die drei aus dem Gerichtsgebäude treten, sehen sie am Straßenrand ein dunkelblaues Lincoln Town Car stehen. Der livrierte Fahrer hält ein von Hand beschriftetes Schild mit Cynthias Familiennamen – Kramer – in die Höhe. Sie blickt sich nach Arthur um, doch der ist nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich hat ihn einer seiner unzähligen Bekannten im Flur aufgehalten. Ich rufe ihn später an, denkt sie, während sie die Zwillinge auf den Rücksitz des Wagens bugsiert und dann selbst einsteigt.

Der Wagen startet ohne zu zögern und entfernt sich schnell vom Bordstein. Gerade als er sich in den nach Norden strömenden Verkehr einreihen will, hämmert eine Hand wütend ans Beifahrerfenster. Das Geräusch erfüllt den Wagen wie Gewehrschüsse. Erschrocken packt Cynthia die Hände der Kinder. Sie sieht, wie ein großer Mann mit einem langen Gesicht und einer Chauffeuruniform drohend die Faust hebt, während der Wagen seine Reise zur Upper East Side antritt. Ein Stück weiter blickt sie sich noch einmal nach dem Mann um – nach seinem höhnisch verzogenen Mund, seinen wutentbrannten Augen. Er holt hastig ein Telefon aus seiner Jacke, als würde er eine Pistole ziehen.

Dennis Keswick, der Mann in der Chauffeuruniform, blickt dem Town Car hinterher, während es mit Cynthia und den Zwillingen davonfährt. Diese Kinder haben ja keine Ahnung, dass sie kurz davor standen, geschnappt zu werden. Nicht erst heute – das, muss Dennis zugeben, war ein Schuss ins Blaue, eine plötzliche Eingebung seinerseits, als er erfuhr, dass die beiden beim Vormundschaftsgericht erscheinen würden –, sondern im ganzen vergangenen Jahr, als die Kinder bei Pflegefamilien waren. Gäbe es jemanden, den es interessieren würde, so könnte Dennis ein Lied davon singen, wie viel Aufwand es tatsächlich ist, ein Kind unter Drogen zu setzen und zu kidnappen; das läuft schlichtweg nicht so einfach, nicht so reibungslos und narrensicher, wie die meisten Leute vielleicht denken. Es ist eine wirklich schwierige Aufgabe. Völlig unterschätzt. Aber gut … die beiden sind nicht die einzigen Fische im Meer. Die Auftraggeber von Dennis (die er im Übrigen hasst) haben zwar ein besonderes Interesse an Adam und Alice, aber daneben gibt es allerhand ähnliche kleine Biester, die Dennis liefern soll.

 

»Geht’s euch da hinten gut?«, erkundigt sich der Fahrer. Sein Gesicht ist schwer zu erkennen. Er trägt einen Vollbart, hat jedoch auch etwas merkwürdig Kindliches an sich. Der Schirm seiner Chauffeurmütze ist tief in die Stirn gezogen, und er trägt einen Schal – im Sommer!

»Ja, alles in Ordnung«, erwidert Cynthia. »Stimmt doch, Kinder? Ist euch kühl genug?« Sie macht sich Sorgen, es könnte ihnen kalt sein, da sie keinerlei Fett am Körper haben, das sie schützen könnte. Neben ihnen fühlt sie sich regelrecht unförmig, gemästet mit unzähligen üppigen Mahlzeiten, mit Massen von Tortellini und Crème Brûlée.

Ein Gedanke drängt sich ihr auf: Was wäre, wenn sie noch trinken würde? Einen Moment stockt ihr der Atem. Sie schließt die Augen und dankt der höheren Macht für ihre Abstinenz.

»Hört mal«, sagt sie zu den Zwillingen. »Ich habe ein kleines Geschenk für euch, nichts Besonderes.« Von Freunden und aus Büchern hat sie den Rat erhalten, dass Kinder zurückschrecken, wenn man etwas an die große Glocke hängt. Sie öffnet ihre Handtasche und zieht zwei Armbanduhren hervor. Sobald sie sie jedoch in der Hand hält, glaubt sie, einen Fehler gemacht zu haben. Die Dinger sind lächerlich geschlechtsspezifisch: eine American-Girl-Uhr für Alice, eine Schweizer Armeeuhr für Adam.

Sie beschließt, die Kinder selbst entscheiden zu lassen – sie haben so schlanke Handgelenke, dass beide Uhren beiden passen würden.

»Lustig«, sagt Adam und wählt die American-Girl-Uhr.

»Alpin«, sagt Alice und nimmt die Armeeuhr.

»Ich weiß schon, dass man in eurem Alter eigentlich keine Armbanduhr mehr trägt«, sagt Cynthia. »Schließlich gibt’s Handys und so was.«

»Nein, die ist geil«, sagt Adam, während er sich die grün-gelbe Uhr anlegt, deren Zifferblatt mit Sternen und Gänseblümchen übersät ist.

Cynthia hat auch gelesen, dass Kids heute geil statt toll sagen. Es läuft also; womöglich wird es doch nicht so schwierig, wie sie befürchtet hat. Befürchtet? Von wegen! Eher hat es sie gelähmt vor Angst. Richtig übel war ihr vor Furcht und Ungewissheit. Ihre Unerfahrenheit ist ihr stündlich immer wieder bewusst geworden. In ihrem Alter die Elternrolle zu übernehmen, ist, als würde man unvermutet mit Sack und Pack in ein neues Land ziehen, von dessen Sprache man nur ein paar rudimentäre Floskeln beherrscht.

»Soll ich die Klimaanlage anders einstellen?«, fragt der Fahrer. Seine Stimme klingt verwaschen, fremdartig, merkwürdig. Cynthia kommt in den Sinn, dass er ein Transgender sein könnte. Welch schöne neue Welt!

»Nein, alles in Ordnung«, sagt sie.

Sie blickt auf ihre Hände und bemerkt, dass sie zittern. Sosehr sie sich darauf gefreut hat, das Sorgerecht für die Kinder ihrer Schwester zu bekommen, sosehr wird ihr nun klar, dass das Ganze eine gewaltige Überraschung für sie ist. So viel sie auch nachgedacht, so viele Wünsche sie gehegt, so viele Pläne sie geschmiedet hat, nichts davon hat sie auf dieses jähe, überwältigende Gefühl vorbereitet, von nun an für zwei hilflose Kinder verantwortlich zu sein. Die beiden sind durch die Hölle gegangen, und nun muss Cynthia sich ins Gedächtnis rufen, dass sie in sich die Kraft besitzt, ihnen so etwas Ähnliches wie die zwei Dinge zurückzugeben, auf die ihrer Meinung nach jedes Kind ein grundlegendes Recht hat: sorgloses Glück und Sicherheit.

Nachdem Adam und Alice Cynthias Geschenke entgegengenommen haben, schenken sie ihr keinerlei Beachtung mehr. Händchen haltend sehen sie sich an. Ihre lautlose, telepathische Kommunikation ist durch die vielen Monate, in denen sie getrennt waren, nicht beeinträchtigt worden. Cynthia spürt ein feines Stechen in der Brust, weil sie ausgeschlossen ist, aber vor allem ist sie glücklich darüber, dass die beiden wieder zusammengefunden haben. Überglücklich sogar. Niemand wird Alice je so verstehen wie Adam, und niemand wird Adam so verstehen wie Alice, und Gott sei Dank sind sie jetzt wieder vereint. Mögen sie nie wieder voneinander getrennt werden!

»Hattest du da, wo du warst, Geschwister?«, fragt Alice ihren Bruder.

»Irgendwie schon. Die hatten zwei Mädchen, zwei Jungs und mich.«

»Und die Eltern, waren die nett?«

»Die letzten? Welche meinst du? Ich war in vier verschiedenen Familien.«

»Ja. Die letzten.«

»Die waren ziemlich alt. Sie haben sich viele Sorgen ums Geld gemacht. Man musste wählen, ob man eines von den beheizten Zimmern oder ein echtes Mittagessen haben wollte.«

»Da hast du bestimmt das beheizte Zimmer genommen«, sagt Alice.

»Logisch!«

»Essen ist komisch.«

»In der Familie auf Staten Island, wo ich war, gab es an Weihnachten Gans«, sagt Adam.

»Igitt. Werden wir Vegetarier!«

»Okay«, sagt Adam. »Wie viele Kalorien isst du?«

Alice runzelt die Stirn und wendet den Blick ab. »Dann bist du jetzt wahrscheinlich ganz reif und so, stimmt’s?«, murmelt sie.

»Auf keinen Fall!«, sagt Adam, als wäre es Ehrensache.

Und dann, nach einigen Momenten des Schweigens, fragt Alice: »Bist du in der Schule zurechtgekommen?«

»Nein.«

»Ich auch nicht.«

Als Klingelton fürs Handy hat Cynthia die Kapellenglocken gewählt, und die läuten jetzt in ihrer Handtasche. Sie wirft einen Blick auf das Display: Arthur Glassman.

»Hallo, Arthur.«

»Wo sind Sie eigentlich?«, fragt er. Er klingt wütend.

»Im Auto. Danke, dass Sie es für uns bestellt haben.« Sie sieht, wie der Fahrer sie im Rückspiegel beäugt.

»Ihr Auto ist hier, Cynthia. Es wartet auf Sie.«

Klack-klack. Der Fahrer betätigt die Zentralverriegelung.

2

In ihrer langen, schmalen Wohnung mit Blick auf den Gramercy Park streiten sich Ezra Blackstone und seine sechste Frau Annabelle Davies wegen der Klimaanlage. Ezra ist einundsiebzig und hat Kreislaufprobleme, weshalb ihm selbst an einem heißen Tag wie diesem klamm und kalt ist. Annabelle ist achtundzwanzig; sie hat die ersten siebenundzwanzig Jahre ihres Lebens in Monroe, Louisiana, verbracht und ist dann, wie sie häufig sagt, »nach Norden gezogen, um der verfluchten Hitze zu entkommen«. Die Zeit, in der sie zueinander gefunden haben, war ziemlich erfrischend, vor allem für Annabelle, die schon begonnen hat, zu glauben, Galanterie, Verführung, Rosen und Romantik gehörten der Vergangenheit an. Für Ezra wiederum war es wie in einer Zeitmaschine, Annabelles junge Haut zu berühren und das scharfe, mit Limonen und Pfefferminz gewürzte Aroma ihrer Küsse zu schmecken. Es hat ihm jugendliche Kraft zurückgegeben. Leider wurden die Rituale der jungen Liebe bald zur Alltäglichkeit, und die Erregung, die Annabelles junger Körper bei Ezra ausgelöst hatte, verlor ihre die Jahrzehnte auflösende Magie. Seit die beiden vor fünf Monaten geheiratet haben, zanken sie sich wegen allem und jedem, unter anderem darum, wo sie essen gehen, welche Kerzenhalter sie verwenden, wie sie nach Amagansett fahren und wie viel sie ihrer Haushälterin bezahlen sollen. Und darum, wer gerade an der Reihe ist, die Piranhas zu füttern. Doch die heutige Auseinandersetzung, ob sie die Klimaanlage ihrer Wohnung einschalten sollen oder nicht, ist einer der erbittertsten Kämpfe seit Wochen – na ja, wenn nicht seit Wochen, dann zumindest seit Tagen. Oder wenigstens der schlimmste Streit, den sie heute gehabt haben. Bisher.

Für den Moment ist der Frieden wiederhergestellt. Die Klimaanlage bleibt aus, doch die auf den Park hinausgehenden Fenster stehen weit offen und lassen den sanften Sommerwind herein, der kaum stark genug ist, um die dünnen weißen Vorhänge in Bewegung zu versetzen.

Die Nerven des Paares sind ungewöhnlich angespannt, denn sie erwarten jede Minute, dass der Portier anruft, um einen Besucher anzukündigen, einen Jungen namens Boy-Boy. Seinen Nachnamen hat Boy-Boy nicht genannt – womöglich hat er nicht einmal einen! So eine Art von Besucher ist er. Den Kontakt zwischen Ezra und Boy-Boy hat Bill Parkhurst hergestellt, der für Ezra gearbeitet hat, als dieser drei im Nachmittagsprogramm laufende Spielshows produziert hat, jeweils eine bei jedem der großen Netzwerke. Bill war ein loyaler Mitarbeiter, hatte nach Ezras Meinung jedoch eine Charakterschwäche, weil er immer der neuesten revolutionären Therapie hinterherjagte, dem am meisten erleuchteten Guru und der nächsten unfehlbaren Selbsthilfemethode. Außerdem hat er schon als junger Mann zu jeder Mahlzeit eine Handvoll Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel geschluckt. Drogen natürlich ebenfalls; er hatte eine verachtenswerte Schwäche für Drogen und die damit verbundenen hirnrissigen Ideen – Friede durch Pot, Erleuchtung durch LSD, Ekstase durch Ecstasy. Bills neueste Passion ist etwas namens Zoom, eine so frisch im New Yorker Underground kursierende Droge, dass sie noch nicht einmal illegal ist.

»Vor einigen Jahren«, hat Bill Ezra beim Mittagessen im Carnegie Deli erklärt, vor sich ein Pastrami-Sandwich, das beinahe so groß war wie er selbst, »sind einige sehr verzweifelte Leute zu Fruchtbarkeitsbehandlungen an irgendeinen bekloppten Ort in Europa gereist.«

»Daran erinnere ich mich«, sagte Ezra. »An die Geschichte erinnere ich mich gut. Sag mir bloß nicht, dass du dieses Zeug schluckst!«

»Nein, nein. Manche von diesen Leuten sind wahnsinnig geworden, und ich glaube, ein paar sind sogar gestorben. Ich hab gern mal ein kleines Techtelmechtel, aber meschugge bin ich nicht.« Als Sohn eines Kongregationalistenpastors und einer Nachfahrin von Betsy Ross ist Bill in einem öden, trostlosen Dorf in New Hampshire aufgewachsen, aber als er seine Karriere im Entertainmentgeschäft gestartet hat, hat ihm jemand gesagt, es sei nützlich, ab und zu ein paar jiddische Ausdrücke in seine Unterhaltungen einzustreuen. Und obgleich es keinerlei Grund zu der Annahme gab, dass dieser Rat irgendeinen Wert haben würde, hat er ihn sich zu Herzen genommen, und jetzt ist dieser Jargon ein fester Bestandteil dessen, was er ist.

Bill biss ein bescheidenes Stück von seinem Sandwich ab und kaute schweigend sechsundzwanzig Mal, bevor er es hinunterschluckte.

»Es geht um ihre Kinder, die haben genau die richtige Menge von dem in sich, was dieser Doktor den armen Schmocks verabreicht hat. Es ist in ihrem Blut, weißt du? Nur ein bisschen angeschickert sind die damit, aber trotzdem ständig unter Strom. Und ein paar Tröpfchen von ihrem Blut? Puh. Das ist, als würde man ›Hava Nagila‹ schmettern, und zwar aus voller Kehle.«

»Wovon zur Hölle redest du da eigentlich, Bill? Von Kinderblut?«

»He, richtige Kinder sind das ja gar nicht. Die sind wesentlich größer als ich. Manche von ihnen haben Bärte. Ich meine: Ich bitte dich! Und glaub mir, die Mischpoke sorgt ganz gut für sich. Auch wenn sie in irgendwelchen Bruchbuden haust, hat sie ganz schön Chuzpe.«

Ezra spürte, wie Bills eifrige kleine Hand unter dem Tisch sein Bein berührte. Da er wusste, was das bedeutete, streckte er ebenfalls die Hand unter dem Tisch aus, um entgegenzunehmen, was Bill mitgebracht hatte – es fühlte sich glatt und kühl an, als er die Finger darum schloss.

»Was hast du mir da gerade gegeben?«, murmelte Ezra.

»Eine Ampulle Blut. Das trinkst du einfach.«

»Ach ja? Um Aids zu kriegen? Was soll der Scheiß, Bill? Ehrlich, Mann. Was soll der Scheiß.«

»So ein toftes Gerammel hab ich seit Haifa nicht mehr erlebt«, sagte Bill, womit er sich wie so oft auf eine Reise nach Israel bezog, die er 1973 unternommen hatte.

Der nicht mehr ganz junge koreanische Kellner kam an den Tisch. Er hinkte auffällig. »Soll ich Ihnen das einpacken?«, fragte er und zeigte auf die halb verzehrten Portionen der beiden ebenfalls nicht mehr ganz jungen Gäste. »Vielleicht brauchen Sie nachher einen Snack.«

Einige Tage später war Ezra so bekümmert und gelangweilt, dass er das Elixier ausprobierte, das Bill ihm gegeben hatte, und wie versprochen schlief er in dieser Nacht zum ersten Mal seit Wochen wieder mit seiner Frau. Es war zwar nicht der beste Sex, den er je gehabt hatte, aber es war ohne Frage das größte Vergnügen seit Monaten. Und es war etwas wunderbar … Wildes daran gewesen. Er hatte keine Bedenken, Annabelle zu verraten, welche Quelle seine Manneskraft hatte, und sie war wie er der Meinung, es könnte noch mehr Spaß machen, wenn sie ebenfalls etwas von dem Zeug einnahm. (Sie wollte zwar kein Theater machen und hatte absolut vor, mit Ezra verheiratet zu bleiben, bis er starb, doch ihr Körper fühlte sich vor sexueller Langeweile dumpf und träge an. Wenn es etwas gab, was ihren erlahmten Göttergatten dazu brachte, zu rammeln wie ein Seemann auf Landgang, war sie fest entschlossen, daran teilzuhaben.)

 

Die Lieferung ist für zehn Uhr angekündigt, und pünktlich auf die Minute ruft der Portier an. »Hier ist ein Mr. Boy-Boy, der zu Ihnen will, Mr. Blackstone.«

Einige Minuten später – Ezra und Annabelle wohnen im neunzehnten Stockwerk – klopft es lautstark an der Tür. Bumm-bumm-bumm, als stünde die Polizei draußen. Ezra macht sich auf den Weg. Er hat einen Umschlag mit dreihundert Dollar in Zwanzigerscheinen dabei. Man hat ihm zwar gesagt, die Kosten betrügen zweihundertfünfzig Dollar, doch er hat vor, den jungen Mann großzügig zu behandeln, um eventuell einer von seinen Lieblingskunden zu werden, so wie er dem Oberkellner im Russian Tea Room immer einen Zwanziger in den Kasack gesteckt hatte. Damals, in der guten alten Zeit.

Ezra öffnet die Tür, und da steht Boy-Boy. Er ist jünger als erwartet. Fünfzehn? Sechzehn, wenn’s hoch kommt. Dunkle, üppige Augenbrauen, über denen ein weiteres Paar Augenbrauen eintätowiert ist. Die Haare hängen Boy-Boy bis auf die Schultern, er hat einen breiten Mund, eine kleine Nase, grüne Augen und die Miene eines wilden Jungen, der ohne Beschützer und Regeln lebt. Er trägt Bluejeans, ein schmutziges T-Shirt und einen Rucksack, auf dem Etiketten mit den Flaggen aller möglichen Nationen angebracht sind.

»Ah, du musst Boy-Boy sein«, sagt Ezra. Er winkt den Jungen herein und schließt hinter ihm die Tür.

Boy-Boy geht durch den langen Flur der Wohnung, und Ezra muss sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Sie sind jetzt im Wohnzimmer, wo Annabelle auf dem Sofa sitzt und sich mit einem Exemplar der Vogue Kühlung zufächelt. Boy-Boy taxiert Annabelle, dann sieht er Ezra an. »Keine Sorgen, ihr zwei. Alles is’ knete. Dr. Boy-Boy is’ da.«

Er setzt sich und schlüpft aus seinem Rucksack, den er auf seinem knochigen Schoß platziert. Dann öffnet er ihn und holt eine Ampulle Blut heraus, das so dunkel ist, dass es fast schwarz aussieht.

»Merkwürdige Farbe«, sagt Ezra.

»Willst du’s oder willst du’s nich’?« In Erwartung des Umschlags streckt Boy-Boy die Hand aus.

»Ich will es, aber es soll wirken.«

»Das wird es. Alle Kunden von mir kommen über andere Kunden. Wenn irgendwas nich’ knete is’, dann bin ich am Arsch.« Er hält die Ampulle in die Höhe und legt den Kopf schief. »Wenn du nich’ magst, wie’s schmeckt, tust du’s einfach in ’ne Suppe oder so was. Bisschen Knoblauch, vielleicht paar rote Pfefferflocken. Manche Kunden nehmen auch Koriander. Trink bisschen Wasser hinterher. Is’ sowieso gesund. Die Leute trinken nich’ genug davon. Dann wartest du ’ne Viertelstunde oder so, und du bist knete.«

Ezra tut so, als wollte er dem Jungen den Umschlag zuwerfen, hält diesen jedoch fest. »Ich habe eine Frage.«

Boy-Boy sieht Annabelle an. »Is’ dein Alter immer so?«

»Immer.«

»Wie funktioniert das überhaupt?«, fragt Ezra. »Und weshalb?«

»Erst mal geht dich das ’n Scheißdreck an«, sagt Boy-Boy mit seltsam vernünftiger Stimme. Sein Lächeln ist scharf, ein grellweißes Messer. »Du willst es, hier is’ es. Willst du’s nicht, greif ich mir deinen kleinen Umschlag trotzdem, weil ich den ganzen Weg hierher gekommen bin, und für nix tut Boy-Boy nix.«

Annabelle hat in ihrem Leben mehr Gewalt miterlebt als Ezra, und sie hält ihn trotz seines Alters für naiv. Daher warnt sie ihn mit einem seiner Lieblingssprüche. »Immer im Takt bleiben, Ezra. Immer im Takt bleiben.«

»Ich hab gehört, es ist wesentlich besser, wenn es frisch ist«, sagt Ezra in höhnischem Tonfall. »Was meinst du, kannst du dir das Blut nicht hier abnehmen, direkt vor uns? Die Leute auf der Straße sagen, so läuft das normalerweise.«

Boy-Boy schüttelt den Kopf. »Die Leute auf der Straße? Hör mal, Alter, du hast keine blasse Ahnung, was auf den Straßen dieser Stadt läuft. Die Leute auf der Straße. Du bist wohl nich’ ganz dicht.« Er steht auf und schultert wieder seinen Rucksack. »Willst du, was ich hab? Willst du den geilen Tanz erleben? Willst du die Lady da vergessen lassen, dass sie mit dem Typ verheiratet is’, der wo mit einem Fuß im Grab steht?«

»Hör mal, du kleiner Scheißer –«

Boy-Boy starrt Ezra mit dem jähen Blick eines Tieres in der Wildnis an. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck purer Konzentration. Seine Augen sind emotionslos. Sie sind nur zum Sehen da. Und sie sehen und sehen.

Wie der Blitz stürzt er sich plötzlich auf Ezra und schiebt ihn rückwärts auf die offenen Fenster zu.

Tu es, denkt Annabelle, obwohl sie zugleich noch nie im Leben ein derartiges Entsetzen verspürt hat. Sie hört ihre eigenen Schreie, als kämen sie aus einem anderen Zimmer.

Ezra ist kein kleiner Mann, doch Boy-Boy kann er keinerlei Widerstand bieten. Rennend schiebt Boy-Boy ihn durchs Wohnzimmer, als würde der alte Mann nicht mehr als ein Kissen wiegen. Das Nächste, was Ezra wahrnimmt, ist, dass er halb aus dem Fenster hängt. Die auf den Kopf gestellte Welt mit ihren hupenden Taxis, ihren Kinderwagen schiebenden Nannys und einem Hundesitter mit acht an den Leinen zerrenden Tieren sieht so fern und so traurig aus …

Wenige Momente später zieht der verrückt gewordene Junge ihn wieder in die Wohnung, stellt ihn auf die Beine, rückt ihm die Kleider zurecht und staubt ihn ab wie ein Kammerdiener aus der Hölle.

»Geht’s uns gut?«, fragt Boy-Boy.

»Ja, ja, geht uns gut.« Ezra hat immer noch den Umschlag in der Hand, den er Boy-Boy aushändigt. Dabei wünscht er sich, es wären keine fünfzig Dollar extra darin.

Boy-Boy zwinkert Annabelle zu. »Viel Spaß«, sagt er und wirft ihr die Ampulle mit Blut zu.

Genau wie damals zu Hause, wo nichts einfach übergeben wurde. Ihre Brüder hatten die Angewohnheit, ihr so ziemlich alles zuzuwerfen, egal ob Salzstreuer, Autoschlüssel oder Hammer. Sie fängt die Ampulle auf und schließt ihre heiße kleine Hand darum.

3

Der Fahrer hält mitten auf der Center Street, ohne auf das Hupen und das wütende Gebrüll zu achten, das er auslöst, weil er den Verkehr blockiert. Er greift nach hinten und entreißt Cynthia ihr Handy. Sein Bart glänzt feucht. Ein intensiver Geruch von Schweiß und Angst steigt von ihm auf wie Hitze von einer Landstraße.

Cynthia zieht die Zwillinge zu sich heran. Die wehren sich nicht gegen die Berührung, nehmen sie aber auch nicht gerade freudig an.

»Wer sind Sie?«

»Freunde von Alice und Adam haben mich geschickt. Ich tu niemand weh, und wir tun nix, was nich’ richtig is’.« Jetzt ist es klar: Er ist nicht älter als sechzehn.

»Wie heißt du denn?«, fragt Alice. Ihre Stimme klingt ruhig und besänftigend.

»Toby«, sagt der Junge. »Toby is’ ’n knete Name, was? Magst du ihn?« Er fährt wieder los. New York ist voller Menschen, die nicht da hinwollen, wohin sie fahren, sich aber trotzdem irrsinnig Mühe geben, ihr Ziel zu erreichen. Dass Toby den Lincoln endlich in Bewegung setzt und damit den Verkehrsstau auflöst, besänftigt die wütenden Fahrer ringsum keineswegs. Das Hupen und Schimpfen geht weiter. »Ich bring’ euch zu unsrer Bude. Man wartet auf euch.«

Die Zwillinge tauschen einen besorgten Blick.

»Du wirst uns jetzt nach Hause bringen, Toby«, sagt Cynthia. »Falls du das nicht tust, bekommst du wesentlich mehr Probleme, als dir lieb ist.«

»Leck mich, Lady. Okay? Du bist in Tobys Wagen, und du tickst so, wie Toby will. Sonst macht dieser arme Balg, der wo ich bin, dich fertig.« Er lenkt den Wagen unverhofft in eine Bushaltestelle, stoppt und dreht sich mit finsterem Blick um. »Misch dich bloß nicht ein«, sagt er.

»Wo bringst du uns denn hin, Toby?«, fragt Alice in ruhigem, freundlichem Ton.

»Rodolfo wartet auf dich«, sagt Toby. »Du und du, ihr könnt bei uns leben. Wir haben ’ne echt kranke Bude oben am Riverside, du wirst’s nicht glauben. Massenhaft Schlafzimmer und Badewannen und so viel Futter, wie wir wollen. Wir sind jetzt reich, wir sind groß im Geschäft.«

»Klingt super«, sagt Alice. »Was meinst du, Adam?«

»Rodolfo«, sagt Adam. »Der hat dich immer schon gemocht.«

»O ja«, sagt Toby und lacht. »Aber hallo.«

»Was ist mit der Lady?«, fragt Alice. »Die kennen wir eigentlich gar nicht.« Sie berührt Toby mit der Fingerspitze an der Schulter. »Sie ist unsere Tante oder so.«

»Ja, schmeißen wir sie raus«, sagt Adam. »Am besten gleich hier.«

»Wie geht’s dem guten alten Rodolfo eigentlich?«, fragt Alice. Schon seinen Namen auszusprechen, vermittelt ihr ein merkwürdiges Gefühl. Von allen wilden Kindern, die sie auf der Flucht vor ihren Eltern kennengelernt hat, hat sie Rodolfo am liebsten gemocht. Als sie ihn das letzte Mal sah, lehnte er aus einem Fenster und rief: »Ich liebe dich!« Ihr hat er das zugerufen. Ihr!

»Rodolfo is’ der König«, sagt Toby. »Er managt die ganze Chose, kapiert? Früher haben wir mal da, mal da gepennt, im Park und so Scheiß, aber jetzt haben wir alle ’nen Packen Fünfziger und Hunnies in der Tasche und wohnen in ’nem su-per-gei-len Haus, wart nur, bis du es siehst. Wir machen irre Knete.« Er lenkt den Wagen aus der Bushaltestelle in den Verkehrsstrom.

»Schmeißen wir sie raus, dann sind wir sie los«, sagt Adam, diesmal ein wenig dringlicher.

»Adam!«, sagt Cynthia. »Ich bin jetzt deine Mutter.«

»Meine Mutter ist tot«, sagt Adam und schlägt sich auf die Brust. »Du bist von niemandem die Mutter.«

»Sie hat uns aus der Pflege geholt«, sagt Alice mit besänftigender Stimme, als wollte sie eine Katze vom Baum locken. »Und jetzt sind wir frei.« Dann fügt sie, beinahe nebenbei, hinzu: »Aber sie ist in Ordnung. Tun wir ihr nicht weh! Okay?« Sie berührt Toby wieder an der Schulter.

Adam betätigt vergeblich den Türgriff. »Mach auf, damit wir sie rausschmeißen können. Dann hauen wir ab.«

Toby drückt auf die Zentralverriegelung, und die Schlösser schnappen auf.

»Halt hier an«, sagt Adam.

»Oder irgendwo anders«, sagt Alice.

Sie sind jetzt in der Canal Street. Die Eigentümer der Läden, in denen Kopfhörer, alte DVDs, Crocs, Topflappen, Sanitärzubehör, Haushaltsreiniger, Kunststoffblumen und merkwürdig gestört aussehende Babypuppen mit roten Haaren und irren Augen angeboten werden, haben ihre Waren auf den Bürgersteig gezerrt und bewachen sie nun ängstlich, während Tausende Passanten vorüberströmen. Toby hält in einer Ladezone hinter einem kümmerlichen kleinen Lieferwagen, aus dem zwei traurig dreinblickende, überarbeitete Chinesinnen offene Kartons mit Badeschlappen ausladen.

»Okay, schafft sie hier raus«, sagt Toby.

»Kommt nicht infrage«, sagt Cynthia. Sie stemmt die Füße an die Lehne des Vordersitzes, um sich festzuklemmen.

»Wahrscheinlich will sie ihr Handy wiederhaben«, sagt Alice.

Toby wirft einen Blick auf das Telefon, das auf dem leeren Sitz neben ihm liegt. »Scheiß drauf«, sagt er und wirft es nach hinten.

Alice fängt es auf und steckt es in Cynthias Handtasche.

»Los!«, flüstert Alice.

»Auf gar keinen Fall«, sagt Cynthia. So ist es also, Kinder zu erziehen. Du lieber Himmel, es ist ein Alptraum …

»Raus mit ihr«, knurrt Toby. »Macht schon, wir müssen weiter.«

Die Zwillinge schließen ihre kleinen, aber unerhört kräftigen Hände um Cynthias Arme und ziehen sie trotz ihrer Anstrengungen, Schreie und Drohungen aus dem Wagen. Ob sie die beiden wohl je wiedersehen wird? In ihrem Kopf herrscht Chaos, eine Explosion aus Worten, Ängsten und Impulsen. Man hat sie überwältigt, und alles um sie herum pocht und dreht sich.

Ehe sie sich versieht, steht sie auf der Straße, neben sich die Zwillinge.

»Los, rein und ab die Post«, ruft Toby Alice und Adam zu.

Doch die Kinder nehmen Cynthia bei den Händen, Adam auf der rechten, Alice auf der linken Seite. Sie halten sich an ihr fest, während sie mit raschen Schritten losgehen, traben und schließlich rennen.

Sie hören Tobys wutentbranntes Gebrüll.

Reifen quietschen, als er den Wagen zurücksetzt.

»U-Bahn«, sagt Alice.

»An der Ecke«, sagt Adam.

»Ach, Kinder, Kinder«, bringt Cynthia heraus. Ihre Gefühle sind symphonisch – Streicher, Bläser, dröhnende Pauken –, und sie empfindet eine unermessliche Liebe.

Während sie auf den Eingang der U-Bahn zurennen, heben die Kinder Cynthias Hände, führen sie an ihre Lippen und küssen die Handrücken. Einer von beiden – Cynthia ist zu aufgerüttelt, zu verwirrt, um wahrzunehmen, wer – leckt ihr sogar die Hand.

 

Rodolfo sitzt auf der Fensterbank der weitläufigen alten Wohnung am Riverside Drive. Er versucht sich mit irgendetwas abzulenken – es gibt so viel, worum er sich kümmern muss; Bestellungen müssen erledigt, Geld muss versteckt werden, sein Geschäft besteht aus hundert beweglichen Teilen –, doch er blickt unwillkürlich immer wieder hinunter auf die Straße, ob Toby und die Zwillinge dort auftauchen. Schließlich überlässt er sich seinen Gedanken und sitzt einfach wartend da.

Alice.

Ach, Alice …

In der Zeit, in der Alice nicht in der Stadt war, hat er oft an sie gedacht. Und als er von ihrer Rückkehr erfuhr, ist sein Verlangen, sie zu sehen, zu einer Art Manie geworden. Ihre Stimme zu hören. Sie zu berühren. Er hat geduldig auf diesen Tag gewartet. Und jetzt ist der Tag gekommen, und er hat keine Geduld mehr. Seine Gedanken jagen. Er muss ihr so viel zeigen. Die Wohnung. Das Geld. Den Kühlschrank Marke Sub-Zero Pro 48, perfekt dazu geeignet, das Blut marktfrisch zu halten.

Hinter sich hört Rodolfo Schritte, klack-klack auf dem nackten Parkettboden. Er will nicht gestört werden, weshalb er sich nicht umdreht. In der Spiegelung der Fensterscheibe sieht er, dass es Polly ist, wohl die Klügste und Ruhigste unter den ausgestoßenen Jungen und Mädchen aus Rodolfos Bande – einer Bande, zu der nicht nur die neun gehören, die hier am Riverside Drive wohnen, sondern noch etwa hundert weitere, über die Stadt verteilt in besetzten Häusern, irgendwelchen Schuppen und Parks.

Polly wartet darauf, dass Rodolfo ihre Anwesenheit zur Kenntnis nimmt. Eine Minute vergeht. Schweigend. Schließlich erhebt sie die Stimme.

»Vielleicht ist viel Verkehr.«

»Vielleicht«, flüstert Rodolfo.

Sie wartet darauf, dass er sich umdreht. Sie wusste schon immer, dass sie nicht hübsch genug für ihn ist.

»Du darfst es nicht mit ihr tun«, sagt Polly. Sie ist sich ihres höhnischen Tonfalls bewusst und bedauert ihn.

Rodolfo erwidert nichts und lässt nicht erkennen, dass er Pollys Anwesenheit überhaupt bemerkt hat.

»Ich sag ja nur …« Sie macht Anstalten zu gehen, aber sie kann nicht. Sie glaubt immer noch, dass Missverständnisse mit ein oder zwei Sätzen geklärt werden können. »Ich hab gehört, sie ist wirklich süß«, sagt Polly. »Alice, meine ich. Aber weißt du, ich sag nur, wenn was passiert, ist das Baby womöglich wirklich … du weißt schon. Sonderbar.«

 

»Tja, da sind wir, Kinder«, sagt Cynthia und steckt den langen, glänzenden Schlüssel in das Schloss des Elternhauses der Zwillinge in der East 69th Street.

Weil sie die Restaurierung des Hauses organisiert hat, kann sie es nun vor sich sehen, ohne von Erinnerungen an Leslie, Alex und das Leben überflutet zu werden, das diese einmal in diesen prächtigen Räumen geführt haben. Sie kann es sehen, ohne an die museumsreifen Antiquitäten, die Fülle an Erbstücken, die düsteren alten Ölporträts vor langem verstorbener Twisdens zu denken. Und kann es endlich ohne ekelerregende Erinnerungen an die Abgründe sehen, in die es hinabgesunken war – die zerkratzen Wände, die schimmligen Polstermöbel, die verschlossenen Türen, der mit Käfigen ausgestattete Keller, der zudem ein Schlachthaus war.

Cynthia fragt sich, wie Adam und Alice das Haus wohl empfinden. Es ist deren Heim. Aber es ist auch der Ort, an dem sie nachts eingesperrt waren, der Ort, von dem sie unter Lebensgefahr geflohen sind. Während sie die Tür öffnet und die beiden hineinführt, ist sie sehr dankbar, dass die Luft im Innern kühl ist und dass sie als Erstes eine Vase voll weißer Rosen sehen.

Und doch ist irgendwas nicht in Ordnung. Sie spürt die Anwesenheit von etwas Unsichtbarem in diesem Haus. Aber sie hält nicht inne, um darüber nachzudenken. Sie drängt sich daran vorbei, doch der Gedanke bleibt an ihr haften wie der Geruch von Tabak, nachdem man durch ein verrauchtes Zimmer gegangen ist.