Sturm auf die Bastille

 

 

 

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Band 80

 

Sturm auf die Bastille

 

von Uwe Voehl und Christian Schwarz

 

 

© Zaubermond Verlag 2015

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Ihn kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Der in ihr schlummernde Asmodi übernimmt die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Und die Umstände wollen es, dass ausgerechnet Coco Zamis die neue Schiedsrichterin wird. Das Dämonenkiller-Team droht zu zerfallen, Dorian stirbt. Die Dämonen scheinen gesiegt zu haben.

Aber mit vereinten Kräften gelingt es Dorians Freunden, ihn ins Leben zurückzuholen. Das Team formiert sich neu. Dummerweise sind einige von ihnen während Dorians Abwesenheit auf Abwege geraten. So hat der ehemalige KGB-Agent Kiwibin eine mächtige Dämonin namens Mainica aus ihrem steinzeitlichen Gefängnis befreit.

 

 

 

 

Erstes Buch: Tirso

 

 

Tirso

 

von Christian Schwarz

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm

 

1. Kapitel

 

Paris

Catherine d'Arcy ging über Kopfsteinpflaster. Die Gebäude links und rechts der schmalen, leicht abschüssigen Gasse standen dicht an dicht. Sie erinnerten die Hexe an die typischen Reihenhäuser irgendwelcher Arbeitersiedlungen irgendwo in Europa, aber das waren sie nicht.

Sie waren etwas viel Besseres.

Bei den Gebäuden, die im Licht des fahlen Halbmondes teilweise gespenstisch weiß leuchteten, handelte es sich um Gruften. Die meisten der steinernen Monumente besaßen reich verzierte Bögen und Kapitelle, kleine Satteldächer und verzierte Wappenschilde über den Eingängen, in die die Familiennamen eingemeißelt waren. Aus den Schatten zwischen den Gruften schien es leise zu wispern, irgendetwas huschte durch die Dunkelheit und wollte nicht gesehen werden. Catherine interessierte es nicht, denn es bedeutete keine Gefahr für sie.

Es roch überall nach Vergänglichkeit, nach Tod und Verwesung, und in einer anderen Nacht als dieser hätte Catherine den Geruch sicher eingesaugt und genossen. Nicht aber in diesen magischen Momenten. Ihre Gedanken waren auf etwas anderes fokussiert, sie spürte das Fieber der Aufregung in jeder Faser ihres Körpers. Catherine war ihrem Ziel nun ganz nah. Hinter einer der Fassaden ruhte die ultimative Waffe gegen Dorian Hunter, mit der sie den verfluchten Dämonenkiller endgültig abservieren würde. Diese Waffe musste allerdings scharf gemacht werden. Kein leichtes Unterfangen.

Mit Guillaume Apollinaire hatte die Hexe den richtigen Mann dafür gewonnen, so hoffte sie. Wenn es einer schaffen konnte, dann er.

Catherine verlangsamte ihre Schritte und ließ den Blick suchend über die Fassaden vor und neben sich gleiten. Als er auf ein Kreuzzeichen traf, wandte sie ihn schnell ab. Nicht mehr als ein Reflex, denn dieser Teil des Friedhofs war seit vielen Jahrzehnten entweiht, die Relikte des Guten hier strahlten keinerlei Kraft mehr aus, sie waren so tot wie das, was in den Gruften ruhte.

Da hat Apollinaire wirklich ganze Arbeit geleistet …

Die Hexe blieb nun endgültig stehen. Das emaillierte Straßenschild auf dem kunstvoll verzierten Pfahl war mit dem Namen Avenue Feuillant versehen, zudem erblickte Catherine zwischen Bäumen das mächtige Columbarium mit dem angrenzenden Krematorium. Der Lichterschein der Stadt verpasste dem Gebäudekomplex so etwas wie einen Heiligenschein. Schnell verdrängte sie diesen Gedanken und betrachtete auch dieses Szenario nicht länger.

Hier bin ich schon richtig. Da vorne steht ja auch die Gruft mit dem knienden Engel. Ganz wie beschrieben. Verflucht, warum meldet sich der Kerl nicht?

Catherine schaffte es mit ihren magischen Kräften nicht, ihr Ziel zu erkennen. Zu perfekt hatte Apollinaire es abgeschirmt.

Sie strich sich mit den flachen Händen den schwarzen Pullover glatt und ging dann weiter. Gerade drei Schritte machte sie, als hinter ihr ein Geräusch ertönte. Die Hexe fuhr herum und kniff die Augen zusammen. Ein Mann, der innerhalb des rötlichen Glosens um ihn herum als tiefschwarzer Schattenriss erschien, hatte sich vor eine Gruft geschoben. Er wedelte wild mit den Armen, gleichzeitig löste sich ein meckerndes Kichern aus seiner Kehle.

»Wo wollen Sie hin, Mademoiselle d'Arcy? Hier spielt die Musik.«

Das musste er sein. Guillaume Apollinaire, der absolute Herr über Père Lachaise, den größten Pariser Friedhof. Bisher kannte sie den Hexer nur aus Erzählungen ihrer Familie, persönlich begegnet war sie ihm noch nie.

Catherine entspannte sich und ging zurück. Das rote Licht drang aus der Gruft, die Apollinaire zuvor tatsächlich perfekt abgeschirmt hatte. Der Schatten gewann mit jedem ihrer Schritte an Kontur, verfestigte sich schließlich zum Bild eines großen schlanken Mannes mit einem kantigen, faltigen Gesicht, das von schulterlangen grauen Locken gerahmt wurde. Wasserblaue Augen taxierten sie durch eine Brille mit dickem, schwarzem Rand. Apollinaire wies starken Bartwuchs auf, hatte sich aber sorgfältig rasiert. Der Kerl trug teure Jeans und ein schwarzes Shirt samt marineblauem Jackett, das leger offen stand. Die Hände hatte er demonstrativ in den Hosentaschen vergraben.

Guillaume Apollinaire wirkte auf Catherine wie ein Mittfünfziger, der zwanghaft jugendlich erscheinen wollte. Sie konnte ihn schon auf den ersten Blick nicht ausstehen, auch wenn sie sich eingestehen musste, dass er Charisma besaß.

»Vergessen Sie diese Versteckspielchen ganz schnell wieder, Apollinaire«, zischte die Hexe ihn an. »Auf so was stehe ich nicht.«

»Nein? Das ist aber schade. Ich hingegen liebe Spielchen aller Art.« Ein spöttischer Ausdruck lag plötzlich in seinen Augen.

Catherine ignorierte ihn. »Ich weiß. Vor allem ganz gewisse Spielchen.« Sie lächelte höhnisch. »Haben Sie diese gewissen Spielchen auch mit der Leiche getrieben, die ich Ihnen vor drei Tagen überlassen habe, Apollinaire? Wahrscheinlich schon, oder? Mein Vater hat mir erzählt, was Sie so alles mit Leichen anstellen.«

Apollinaire nahm die Brille ab und taxierte sie von oben bis unten. »So, hat er das, der gute René? Von mir aus. Es macht in der Tat viel mehr Spaß, sich mit den Toten zu vergnügen als mit den Lebenden.«

Catherine runzelte die Stirn. »Ja? Das kann ich nicht nachvollziehen. Sie mögen es also nicht, wenn Ihre Opfer in Todesqual schreien? Die Todesangst in ihren Augen schimmern zu sehen, die kreatürlichen Ausdünstungen zu riechen? Was gäbe es Schöneres?«

Apollinaire setzte die Brille wieder auf. Er kicherte wiederum und hob in einer leicht entschuldigenden Geste die Hände. »So hat eben jeder seine persönlichen Vorlieben, Mademoiselle. Haben Sie schon mal kaltes, bereits ein wenig seifiges Menschenfleisch angefasst und geknetet? Vielleicht sogar Ihre Zunge darüber gleiten lassen und dann ein Stückchen herausgebissen?« Seine Augen schimmerten plötzlich lüstern-verklärt. »Soll ich Ihnen mal ein Geheimnis verraten? Nach sieben Tagen des Verfalls schmeckt die Leber am besten, das Hirn dagegen erst nach neun Tagen. Nach elf Tagen hat das Bauchgewebe die schmackhafteste Konsistenz erreicht, nach genau drei Wochen die Zunge. Und dazu jeweils einen 99er Chablis. Traumhaft. Und wissen Sie, was für ein unglaubliches Gefühl es ist, in so einen seifigen Leichnam einzudrin…«

»Halt, stopp, das will ich gar nicht wissen«, fuhr ihm die Hexe energisch über den Mund. »Ersparen Sie mir diese Art von Details, mein Lieber. In diesen Dingen ziehe ich das Warme, Lebendige vor. Sie sind ein Ghoul, nicht wahr?«

»Hat Ihnen das Ihr Vater erzählt?«

»Nein. Ich frage nur.«

»Und ich antworte Ihnen nicht darauf. Es ist nicht wichtig.«

Catherine fragte nicht weiter nach, es interessierte sie nicht wirklich. »Einen Moment lang dachte ich doch tatsächlich, Sie würden mich über den Tisch ziehen«, wechselte sie das Thema.

Er grinste breit. »Weil ich mich nicht gleich gemeldet habe, Mademoiselle? Nein, Sie wissen doch, dass ich Sie nicht betrügen würde.« Sein Kichern nervte sie langsam. »Nicht zu diesem Zeitpunkt jedenfalls. Denn jeder Gefallen, den ich einem d'Arcy tue, befreit mich ein wenig mehr aus der Schuld, die ich Ihrem Vater gegenüber abzutragen habe, das wissen Sie doch genau.« Der Spott in seinen Augen verschwand und machte etwas Lauerndem, Gefährlichem Platz. Wehe euch, wenn ich damit fertig bin, interpretierte Catherine diesen Ausdruck. Dann wird euch meine Rache treffen …

»Was für eine Art von Schuld ist das eigentlich?«, fragte sie.

»Wenn René d'Arcy nicht darüber spricht, werde ich es auch nicht tun«, erwiderte Apollinaire, und seine Stimme klang plötzlich kalt und abweisend. »Es ist ebenfalls nicht wichtig für das, was wir beide hier gleich anstellen werden, meinen Sie nicht?« Er trat ein wenig zur Seite und machte damit den Eingang frei. »Ich denke, wir sollten uns drinnen weiter unterhalten, hier draußen wird es allmählich kühl. Treten Sie ein in mein bescheidenes Heim, Mademoiselle.«

Catherine nickte und betrat die steinerne Gruft. Sie wirkte in dem rötlich-flackernden Licht sehr geräumig. Die Wandnischen, in denen die Toten ruhten, wurden von großen Steinplatten verschlossen; den eingemeißelten Namen nach waren hier sieben Menschen beigesetzt.

Ich möchte lieber nicht wissen, wie die Leichname jetzt aussehen und was Apollinaire mit ihnen gemacht hat, dachte sie schaudernd.

Oberhalb der Grabnischen zog sich ein Band aus wesentlich kleineren viereckigen Nischen, in denen die Finsternis nistete, rund um die Gruft. In jeder einzelnen stand eine schwarze Kerze. Keine davon brannte.

Mehr an magischen Utensilien nahm die Hexe nicht wahr. Sie wusste nicht genau, was sie hier in Apollinaires Beschwörungsgruft erwartet hatte, aber ein wenig mehr Brimborium ganz sicher. War Apollinaire wirklich so stark, dass er weitgehend ohne magische Hilfsmittel auskam? Dann musste sie aufpassen, dass sie den Bogen nicht überspannte. Wenn es um Apollinaire ging, wurde ihr Vater schlagartig sehr einsilbig. Viel hatte sie ihm über den Hexer von Père Lachaise nicht entlocken können.

Catherines Blicke schweiften kurz über die Kerzen-Nischen. Dann wandte sie sich dem steinernen Katafalk zu, der die Mitte des Raumes einnahm. Eine nackte Leiche ruhte darauf. Die Hexe ließ ihre Blicke prüfend über den hünenhaften muskulösen Körper mit den überbreiten Schultern schweifen. Die stark behaarte Brust war eingefallen, wirkte aber immer noch unglaublich voluminös. Die Hexe fixierte das mächtige Geschlecht des Toten, das größte, das ihr je untergekommen war.

Gut, so viel Erfahrung habe ich mit diesen Dingen ja nicht, dachte sie. Kurz entflammte der Gedanke an ihre tote Schwester Janique, bei der das ganz anders gewesen war. Die Kleine war so anders als sie selbst gewesen, sie hatte einen unersättlichen Appetit auf Sex gehabt und Männer gleich zu Dutzenden verschlungen. In Tibet war sie dem Dämonenkiller-Team zum Opfer gefallen, Don Chapman hatte den entscheidenden Schuss gesetzt.

Schon aus diesem Grund muss das hier sein …

Das tote Geschlecht lag quer über dem Oberschenkel des Riesen, es wirkte allerdings nicht so, als habe sich Apollinaire damit beschäftigt. Auch sonst schien der Leichnam intakt, nirgendwo war etwas herausgebissen worden.

Apollinaire tauchte dicht hinter ihr auf. Fast schien es, als wolle er sich an sie drücken. Catherine versteifte etwas, wich aber nicht aus. Sie roch seinen stinkenden Atem, spürte den Luftzug an ihrem Ohr. »Ich weiß, was Sie jetzt denken, Mademoiselle d'Arcy«, flüsterte er heiser. »Treibt's der Kerl nur mit weiblichen Leichen? Oder auch mit männlichen? Wollte er die Leiche deswegen drei Tage vorher haben, um sie mal richtig durchzuficken? Das denken Sie doch, nicht wahr?«

Nun drehte sich Catherine doch und ging zwei Schritte auf Abstand. Sie lächelte. »Und? Tun Sie's, Apollinaire? Treiben Sie es auch mit männlichen Leichen?«

Er kicherte glucksend. »Nein, tue ich nicht. Ich bin so was von hetero, mehr geht gar nicht.« Sein Gesicht wurde schlagartig ernst. »Ich habe den Leichnam deswegen so früh von meinen Männern abholen lassen, weil ich die drei Tage zur Vorbereitung der Zeremonie brauchte. Heute Nacht ist der ideale Zeitpunkt für die Beschwörung, aber zuvor müssen verschiedene magische Rituale durchgeführt werden. Ohne den entsprechenden Leichnam funktioniert das leider nicht.«

Catherine nickte. »Ich verstehe«, murmelte sie wenig überzeugt, aber im Endeffekt war es ihr egal, was Apollinaire wirklich machte. Wenn nur das Ergebnis stimmte. Wieder fraßen sich ihre Blicke auf der Leiche fest. Die Haut schimmerte nun schneeweiß, das rote Licht gab dem Toten aber etwas vom einstigen südländischen Teint zurück. Das große, unglaublich gut aussehende Gesicht mit den geschlossenen Augen wirkte friedlich, nach Eintritt des Todes waren die Bartstoppeln auf den glatt rasierten Wangen noch ein wenig gesprossen. Noch im Tod wirkte das volle schwarze Haar seidig und gepflegt.

Apollinaires Zeigefinger strich über das Geschlecht des Toten. Er fixierte Catherine. »Eine ganz andere Art von Pferdeschwanz, als Sie ihn tragen, finden Sie nicht?«

Der Kerl widerte Catherine an, aber sie musste seine Spielchen notgedrungen mitmachen. Schließlich wollte sie etwas von ihm. »Ja, unglaublich.« Sie lächelte. »Ich bin mir sicher, dass Sie noch weitaus besser ausgestattet sind, Apollinaire.«

Der Hexer ließ sich nicht aus der Reserve locken. »Bin ich nicht«, gab er überraschend ehrlich zu. »Deswegen spiele ich mit dem Gedanken, ihm das Ding da abzuschneiden und mir anzuhexen, wenn die Beschwörung gelaufen ist. Sie schenken mir doch den Leichnam, wie es abgemacht war. Oder?« Wieder trat dieser lauernde Ausdruck in seine Augen, Catherine glaubte für einen Moment sogar, ein Geflecht aus zuckenden Blitzen im Rahmen seiner Brille zu sehen.

»Sie bekommen ihn, ja. Aber nur, wenn die Beschwörung erfolgreich verläuft. Ich halte mich an unsere Abmachung.«

»Gut.« Er rieb sich die Hände wie ein Levantiner, während das Blitzgewitter im Brillengestell erlosch. »Ein wirklich schöner Mann. Zugegeben, ich hatte durchaus den Gedanken, Leber und Hirn des Kerls zu genießen, was ja mit meiner heterosexuellen Ausrichtung nichts zu tun hat. Ich habe ihn nur deswegen nicht angeknabbert, weil er für die Beschwörung komplett sein muss.«

»Dann bin ich ja froh.«

»Und das da ist wirklich Unga?«

 

 

2. Kapitel

 

London

Ich stand im Garten der Jugendstilvilla und zog gierig an einer Players. Die beißende Kälte des trüben Dezembertages machte mir nichts aus, im Gegenteil. Seit ich wieder meinen eigenen Körper bewohnte, war meine Lust zu existieren größer als je zuvor. Ich lebte nicht nur wesentlich intensiver, sondern auch bewusster, würde ich mal sagen. Obwohl es bereits mein x-tes Leben war.

Aber selbst einem wie mir lag wohl jedes Leben gleich stark am Herzen.

Ich grinste vor mich hin, während ich einen Rauchkringel ausstieß und ihm beim Zerfasern im leichten Wind zusah. Der harsche Schnee knirschte unter meinen Schuhen, als ich versuchte, wieder ein wenig Blut in die klammer werdenden Füße zu bekommen. Dann beobachtete ich zwei Kohlmeisen, die sich um das Körnerfutter im Vogelhäuschen stritten. Der gute alte Hermann Falk hatte es aufgehängt und verlieh damit unserer Existenz etwas Bodenständiges, Alltägliches, Normales.

Wenigstens ein bisschen was von allem. Denn mein Leben und das meines zwischenzeitlich doch arg dezimierten Teams war alles andere als normal. Das konnte man schon daraus ersehen, dass das Vogelhäuschen an einem Dämonenbanner aufgehängt war – an einem menschengroßen geweihten Silberkreuz, das unser Hauptquartier zusammen mit den anderen Bannern zu einer für Dämonen uneinnehmbaren Festung machte.

Die Players ging zur Neige. Ich schnippte den Stummel in den Schnee, trat ihn mit der Schuhsohle aus und zündete mir gleich die nächste an. Die Kohlmeisen flogen zeternd weg. Meine Blicke wanderten stattdessen über die mit Medusenhäuptern und Masken verschnörkelten Fensterrahmen und dann durch das schmiedeeiserne Eingangstor auf die Baring Road hinaus. Ein Bentley überholte hupend einen roten Doppeldeckerbus, ein paar Fußgänger hasteten mit gesenkten und bemützten Häuptern vorbei.

Die Eingangstür öffnete sich leicht knarrend, ich drehte mich. George Morales kam grinsend die drei Treppenstufen herunter. Es kam nicht so oft vor, dass dieser Mistkerl grinste, deswegen würde mir dieser Moment sicher in dauerhafter Erinnerung bleiben. Vielleicht auch deswegen, weil er eine Flasche Bourbon in der Manteltasche stecken hatte und zwei leere Whiskeygläser in der Linken hielt.

»Darf ich mich zu Ihnen gesellen, Hunter?«

»Was sind denn das plötzlich für Anwandlungen, Morales? Wollen Sie mich besoffen machen?«

»Einer geht doch immer.«

Ich nickte zögernd. »Also gut, lassen Sie rüberwachsen.«

Morales gab mir ein Glas, behielt das zweite und schenkte ein. Dann stießen wir an. Der Bourbon schmeckte köstlich und hinterließ ein angenehmes Brennen. Ich nickte zufrieden, lehnte aber ab, als er mir nachschenken wollte.

»Chapman und ich sind uns einig, dass wir uns mal näher um den Mallaig-Fall kümmern sollten.«

Ich nahm einen Zug von der Players. »Mallaig, das ist doch die Sache mit dem Geisterzug, oder nicht?«

»Genau. Bei dem elenden schottischen Kaff soll jetzt schon viermal ein Geisterzug tödliche Unfälle verursacht haben. Die Zeugenaussagen sind ziemlich identisch, wir denken, dass diese Sache mehr ist als nur eine hysterische Spinnerei. Archer recherchiert bereits wie ein Verrückter zu dem Fall und ähnlichen Vorkommnissen.« Er unterbrach sich kurz und fuhr dann fort: »Wir sehen das auch unter der Prämisse, dass die dämonischen Aktivitäten in letzter Zeit wieder deutlich zuzunehmen scheinen.«

»Warum auch immer«, murmelte ich. »Ja, klar, Mann, dann fahren Sie mit Don nach Mallaig und reißen dem Dämon dort den Arsch auf, falls tatsächlich einer für die Geisterzugscheiße verantwortlich sein sollte. Ich denke nicht, dass ich zum Händchenhalten mit muss, oder?«

»So weit käm's noch«, knurrte Morales und schaute an mir vorbei. »Vorher schieße ich Ihnen eine Kugel in den Kopf. Was zum Teufel will denn die hier?«

Ich drehte mich um. Am Eingangstor stand Salamanda Setis und winkte. Sie verbarg ihre orientalische Schönheit unter einer dicken Fellkapuze. Kälte konnte sie nicht ausstehen.

»Komm doch einfach rein!«, rief ich durch den Park, wohl wissend, dass sie eben das nicht konnte.

»Vielleicht versucht sie's ja tatsächlich. Dann hätten wir ein Problem weniger«, kommentierte Morales böse.

Die Rabisu versuchte es natürlich nicht. »Komm doch bitte mal zum Tor, Dorian!«, rief sie zurück. »Es ist so mühsam, sich auf diese Distanz zu unterhalten.«

Ich stellte mein Glas ab und ging zu ihr. Morales folgte mir nicht, beobachtete uns aber. Ich spürte seine Blicke förmlich auf meinem Rücken brennen. »Hallo Salamanda«, sagte ich. »Schön, dich zu sehen. Was führt dich her?«

»Du könntest die Dämonenbanner entfernen, mein Lieber, damit ich hier ebenfalls ungehindert aus- und eingehen kann«, erwiderte die Rabisu mit einem Blick, der ein Kribbeln zwischen meinen Schulterblättern verursachte.

Ich grinste. »Keine Chance. Das wäre ja quasi wie eine Einladung für unsere dämonischen Feinde. Und ein paar menschliche kämen gleich noch dazu, wenn ich das machen würde – mein Team nämlich. Keiner von denen wäre auch nur annähernd damit einverstanden.«

Salamanda zog einen Schmollmund. »Hallo? Ich gehöre auch zum Team. Und ich wäre einverstanden. Lass die anderen sausen und nimm stattdessen lieber mich. Wir beide wären ein unschlagbares Team. Und ich könnte dir auch weiterhin den … nun ja … Himmel auf Erden bereiten. Du weißt ja nun, dass das keine besser kann als ich.«

Ich winkte ab. »Müßig. Du weißt genau, dass das nicht geht. Außerdem hast du dir ja in meiner ehemaligen Wohnung ein hübsches Nest eingerichtet. Mehr Dorian gibt's im Moment nicht für dich. Also, was ist los? Ist irgendwas mit Kiwibin?«

»Nichts Schlimmes auf jeden Fall. Er ist bleich, abgemagert und schweigsam. Aber ihm geht's den Umständen entsprechend gut, ich hege und pflege ihn.«

Ich nickte. Der ehemalige russische Geheimdienstagent hatte zuletzt in Nordsibirien schweren Ärger mit einer lokalen Sagengestalt namens Mainica gehabt. Wir hatten die dämonische Mainica in ihrem eigenen Hügelgrab eingesperrt und Kiwibin aus ihrem Bann befreit. Seit unserer Rückkehr nach London lebte er nun eng mit Salamanda zusammen. Seltsam, wenn man bedachte, dass er in Sibirien Visionen vom Leben eines Mannes gehabt hatte, den Salamanda lange als wandelnde Speisekammer verwendet hatte.

Nun, sollte er.

»Was führt dich dann her?«

»Ich wollte nur mal hören, was so läuft, Dorian.« Sie schenkte mir einen vorwurfsvollen Blick. »Mir erzählt ja niemand was.«

»Du hättest anrufen können.«

»Vielleicht wollte ich dich ja sehen.«

»Stell ein Bild von mir auf.«

»Ein bisschen netter könntest du schon zu mir sein.«

»Warum?«

»Weil mir das gefallen würde.«

Wir besprachen kurz, was es Neues gab, dann zog Salamanda wieder ab. Ich sah ihr hinterher, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden war, dann drehte ich mich um und ging zurück.

Morales stand noch immer da. Erwartungsvoll sah er mir entgegen. »Was wollte die hier noch?«

»Wie meinen Sie das?«

Morales schnaubte verächtlich. »Wie werde ich das wohl meinen, Hunter? Die ganze Zeit ist das Biest um Sie herumscharwenzelt und hat Ihnen schöne Augen gemacht. Seit Kiwibin wieder da ist, schwenkt sie nun plötzlich um. Tja, Hunter, so schnell vergessen einen die Weiber, wenn ein anderer des Weges kommt, der ihnen besser gefällt. Bei Ihnen ist das immerhin noch nachvollziehbar …«

Sein Grinsen hatte etwas von einem Hai. »Die ist doch den Blick nicht wert, den man an sie verschwendet. Aber das habe ich Ihnen ja schon öfters gesagt. Jetzt sehen Sie mal, wie recht ich damit hatte.« Er sah mich herausfordernd an.

»Trinken wir noch einen?«, gab ich zur Antwort. Den brauchte ich jetzt doch noch.

»Wenn Sie es sich leisten können, gern.«

Morales spielte auf mein vorübergehendes Alkoholproblem an, das ich aber glücklicherweise wieder in den Griff bekommen hatte. Die Erinnerung an meinen und Cocos Sohn Martin, der zum Dämon Isbrant geworden und durch meine Hand getötet worden war, würde niemals sterben, wohl aber verblassten die Gedanken an ihn mit der Zeit ein wenig. Nach diesen furchtbaren Ereignissen hatte ich mich eine Zeit lang nicht mehr im Griff gehabt und mich vollkommen gehen lassen. Ich hatte nur noch einen Vertrauten gehabt – den Bourbon. Aber ich glaubte, dass meine Freunde das heute verstanden. Auch wenn darüber die Beziehung zu Coco in die Brüche gegangen war.

Deswegen ärgerte mich diese Anspielung ein wenig. Ich beschloss aber, souverän zu bleiben, und nahm mein Glas wieder hoch. »Ja, ich kann's mir leisten.«

»Wie schön.« Er schenkte mir nach.

»Die Rabisu kann machen, was sie will«, murmelte ich. »Trotzdem glaube ich nicht, dass sie sich Kiwibin als Liebhaber erwählt hat …«

»Nein? Sieht aber ganz danach aus.«

»Die Dinge sind meistens nie so, wie sie aussehen, das müssten Sie doch eigentlich wissen, Morales.« Ich zündete mir eine neue Players an und inhalierte tief. »Hm, mir kommt es eher so vor, als würde sich Kiwibin nach den traumatischen Ereignissen in Russland einfach besonders sicher bei Salamanda fühlen.«

Morales' Grunzen klang noch verächtlicher als das erste. »Sicher? Bei der? Da könnten Sie genauso gut ein Schaf in eine Wolfsherde geben.«

»Machen Sie Salamanda nicht schlechter, als sie ist. Obwohl ich sie auch nicht richtig durchschaue, traue ich ihr durchaus ein Stück weit.«

»Bloß weil Sie mit ihr gepennt haben? Lassen Sie sich so leicht um den Finger wickeln?«

Ich sah ihn mit eiskaltem Blick an. »Jetzt reicht's so langsam, Mann. Behalten Sie Ihre Unverschämtheiten für sich, okay? Sonst ist jedes weitere Wort überflüssig.«

Er hob die Arme und streckte mir die Handflächen entgegen. Das Zeichen, dass er einlenkte.

Ich nickte. »Vielleicht hängt Kiwibins Anhänglichkeit an Salamanda ebenfalls mit Sibirien zusammen.«

Morales nickte. »Ich verstehe schon«, meinte er sarkastisch. »Immerhin hatte der Russe dort Visionen an das Leben von Anatolij Sokolow, den Salamanda lange unter ihrer geistigen Kontrolle hielt, als wandelnde Speisekammer missbrauchte und am Ende opferte. Möglicherweise kommt's genauso wieder.«

Erneut öffnete sich die schwere Eingangstür. Don, auch heute wieder wie aus dem Ei gepellt, trat heraus. Er hielt den Telefonhörer in der Linken und bedeckte die Sprechmuschel mit der anderen Hand. »Na, kommt ihr zurecht?«, fragte er süffisant. Und dann: »Ein Anruf für dich, Dorian. Direkt aus Island.«

Ich runzelte die Stirn. Plötzlich war mir etwas mulmig zumute. »Island?«, fragte ich nach. »Etwa vom Elfenhof?« Ich hatte Reena, Tirso und Virgil Fenton immer noch nicht beigebracht, dass Unga tot war. Zugegeben, ein schweres Versäumnis meinerseits.

»Nein. Es ist eine Anwaltskanzlei. Hast du alle deine Strafzettel aus jüngerer Zeit bezahlt?«

Ich ging die Treppe hoch und nahm den Hörer. »Dorian Hunter.«

»Ich freue mich, dass ich Sie erreiche, Mister Hunter«, erklang eine sonore Stimme, die deutliches Englisch mit einem ausgeprägten Akzent sprach. »Mein Name ist Andri Snaer Magnason. Ich bin Rechtsanwalt und gleichzeitig Notar der Kanzlei Magnason, Grettir & Grimsson in Reykjavik. Mister Unga Trihaer hat mich mit der Regelung seines Nachlasses beauftragt.«

Ich war nicht nur vollkommen überrascht, sondern auch ein wenig vor den Kopf gestoßen. »Unga, ich meine Mister Trihaer, hat tatsächlich einen Nachlass?«

»So ist es, Mister Hunter. Und Mister Trihaer wollte, dass ich Ihnen im Falle seines Todes etwas übergebe, von dem er meinte, dass Sie es unbedingt haben sollten.«

Das wurde ja immer besser. Warum zur Hölle hatte Unga für den Fall seines Todes vorgesorgt?

Hatte er etwa Vorahnungen?

Mir war jetzt schon klar, dass ich Ungas letztes Geschenk nicht ausschlagen würde. Nie und nimmer. »Um was handelt es sich? Können Sie's schicken, Mister Magnason?«

»Unmöglich. Ich bin gehalten, Ihnen Mister Trihaers Nachlass persönlich zu überreichen. Oder doch zumindest den Teil, der für Sie bestimmt ist. Um was genau es sich handelt, weiß ich übrigens selbst nicht. Der Inhalt befindet sich in einem von mir höchstpersönlich versiegelten Umschlag.«

»Papiere?«

»Ich möchte nicht mehr dazu sagen, Mister Hunter. Da ich im Moment terminlich sehr eingespannt bin, geht meine Frage an Sie: Darf ich Sie demnächst hier in Reykjavik erwarten?«

»Natürlich«, erwiderte ich, denn die Neugierde zerriss mich fast. Außerdem konnte ich den Island-Trip ausgezeichnet mit dem Besuch des Elfenhofes verbinden. »Noch etwas anderes, Mister Magnason. Haben Sie Mister Trihaers Angehörige bereits über sein Ableben informiert?«

»Ich weiß nicht mal, dass er welche hat.«

»Gut. Ich komme mit der nächstmöglichen Maschine.«

 

Paris

Catherine d'Arcy lehnte sich an den Katafalk und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, das ist Unga, der Cro Magnon. Einst eine wichtige Stütze des Dämonenkiller-Teams.«

Guillaume Apollinaire nickte. »Ich weiß, ja. Man munkelt, dass Unga in einem Amsterdamer Krankenhaus verstorben ist und nach London überführt wurde, wo ihm dieser verfluchte Hunter ein angemessenes Begräbnis verpasst hat.«

Die Hexe lächelte triumphierend. »Das entspricht nicht ganz den Tatsachen. Was da nach London überführt wurde, war mitnichten Ungas Leiche, sondern lediglich eine magische Kopie. Da hatte ich mir die echte Leiche bereits unter den Nagel gerissen.«

»Tztztztz.« Apollinaire schüttelte den Kopf. »Nun sieh mal einer an, eine kleine Leichendiebin. Das macht Sie mir noch viel sympathischer, Mademoiselle. Komisch, ich hätte nicht gedacht, dass mir jemals jemand aus der d'Arcy-Sippe sympathisch sein würde.« Er sah sie nun an wie die Schlange das Kaninchen.

Asmodi hilf, der wird mich doch nicht etwa vernaschen wollen? Schuster bleib bei deinen Leichen, verballhornte sie ein deutsches Sprichwort. Leichte Panik stieg in Catherine hoch. Aber daran dachte Apollinaire dann doch nicht.

»Warum wollen Sie Ungas Geist ausgerechnet von mir beschwören lassen, Mademoiselle Leichendiebin?«, fuhr er fort, als sie sprachlos blieb. »Es gibt so viele andere Nekromanten innerhalb der Schwarzen Familie. Und auch unter den Menschen, wie ich zugeben muss.«

»Ich wollte Sie, weil Sie einer der allerbesten Totenbeschwörer sind, mein Lieber. Eigentlich sogar der Beste.«

»Wie gerne ich das höre. Das geht runter wie Öl.« Er schüttelte die grauen Haare und schaute verträumt an die Gruftdecke. »Ich bin der Beste meiner Zunft. Ja, es stimmt, ich bin der Beste. Ich würde sogar behaupten, dass es außer mir niemand schafft, einen so starken Geist wie den von Unga zu beschwören. Es heißt, dass er im Leben einen ungeheuren Willen hatte.«

»Ich bin ihm nie persönlich begegnet. Zu Lebzeiten, meine ich.«

»Ja, ja. Was wollen Sie eigentlich mit seinem Geist bereden?«

»Wenn jemand die Schwachstellen Hunters kennt, dann einer seiner engsten Vertrauten, finden Sie nicht auch?«

»Durchaus. Ich habe mir so was Ähnliches schon gedacht.« Apollinaire nickte. »Wir alle haben mitbekommen, dass Hunter noch lebt. Man müsste schon blind und taub sein, um sich dieser Nachricht zu verschließen. Der Dämonenkiller wurde in Russland gesehen und hat dort auch ein wenig für Aufruhr gesorgt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Warum haben Sie so ein enormes Interesse daran, den Dämonenkiller zu erledigen? Nicht, dass ich neugierig sein will …«

Catherine schäumte innerlich. Der Nekromant hatte ihre schwache Stelle zielgenau erwischt. Schon vor längerer Zeit hatte die Familie d'Arcy von Asmodi den Auftrag erhalten, Hunter und sein Team zur Strecke zu bringen. Weil diese Jagderlaubnis vom Fürsten der Finsternis auf ihre Initiative hin erteilt worden war, fühlte sich Catherine für die Erledigung des Auftrags höchstpersönlich verantwortlich, hatte bisher aber kläglich versagt und dabei Janique an den Gegner verloren. Ungas Geist sollte ihr nun zum Durchbruch verhelfen. Eine wahrhaft geniale Idee, wie sie fand. Und die war auch dringend nötig. Denn es ging um Macht und Einfluss innerhalb der Schwarzen Familie für ihre Sippe – oder eben um völlige Bedeutungslosigkeit, wenn sie nicht bald Vollzug melden konnte. Lange ließ sich Asmodi sicher nicht mehr hinhalten.

»Können Sie es sich nicht denken?«, antwortete sie ausweichend.

»Doch. Und ich würde mit Ihnen unser kleines Gespräch gerne noch fortsetzen, Mademoiselle Pferdeschwanz. Allerdings ist es nun an der Zeit, das Ritual zu beginnen, der richtige Zeitpunkt naht.«

»Was soll ich dabei tun? Habe ich ebenfalls eine Aufgabe?«

Der Nekromant erklärte es ihr.

»Wenn's weiter nichts ist.«

Guillaume Apollinaire trat an den Katafalk, streckte beide Arme aus, legte die Hände übereinander und drückte sie auf Ungas breite Stirn. Schlagartig erlosch das rote Licht und machte tiefster Finsternis Platz. Schon im nächsten Augenblick flammten die schwarzen Kerzen in den Nischen auf. Sie verbreiteten geheimnisvolles infrarotähnliches Licht und sorgten dafür, dass an den Wänden rundum magische Zeichen sichtbar wurden. Zeichen und Symbole, die Catherine noch nie zuvor gesehen hatte und denen eine enorm starke magische Kraft innewohnte. Abrupt spürte sie einen leichten Druck im Schädel. Es war, als hätte sich irgendwo ein Tor geöffnet, hinter dem leise wispernde Stimmen hörbar wurden. Lockende Stimmen, die versuchten, sie zum Selbstmord zu bewegen und auf die andere Seite hinüberzuziehen.

Die gutturalen Beschwörungen, die der Nekromant nun anstimmte, trieben Catherine eisige Schauer über den Rücken. Die abgehackten an- und abschwellenden Laute, die aus tiefster Vergangenheit stammen mussten, rührten an ihr Innerstes und ließen Angst in ihr hochsteigen. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.

Apollinaire stand längst mit hochgereckten Armen da. Seine Stimme steigerte sich zu einem schrillen Höhepunkt, den er zwei, drei Sekunden hielt. In diesem Augenblick leuchtete Apollinaires Brillenrahmen auf. Catherine sah, dass die magischen Wandzeichen hier ein entsprechendes Pendant fanden, wenn auch winzig klein. Sie spürte Kraftfluss zwischen großen und kleinen Zeichen, der magische Pegel im Raum verstärkte sich nochmals. Gleichzeitig schien das Licht der schwarzen Kerzen zu explodieren. Es leuchtete nun die Nischen, in denen sie standen, vollkommen aus. Mit Erstaunen sah Catherine, die das Wispern für einen Moment verdrängte, dass hinter jeder Kerze ein abgeschlagener Menschenkopf stand. Verzerrte Gesichter mit verdrehten Augen starrten ihr entgegen. Sie erkannte Frauen mit Kopftüchern, aber hauptsächlich Männer mit verfilzten Vollbärten, zum Teil mit Turbanen auf dem Kopf. Es sah aus, als würde Apollinaire diese makabren Artefakte aus den nahöstlichen Krisengebieten beziehen. Dort gab es ja Fanatiker, die besonders gerne Köpfe abschlugen. Catherine wusste, dass sich zahlreiche Dämonen unter die Fanatiker gemischt hatten und sie zu immer grausameren Dingen antrieben.

Ihre Gedanken zerfaserten im stärker werdenden Wispern und der extremen Kälte, die die Gruft plötzlich erfüllte. Es war eine jenseitige Kälte, der Hauch des Todes, in dem sich nur die wispernden Seelen der Toten wohlfühlen konnten. Catherine musste sich mit einem magischen Spruch schützen, sonst wäre sie gestorben.

Der Nekromant brach abrupt ab. Nach einem Moment der Stille setzte er die Beschwörung mit leiserer Stimme fort. Die fremden Laute kamen nun fließender, glichen eher als zuvor einer Sprache. Catherine glaubte, darin immer wieder den Namen Unga zu vernehmen. Es kam ihr zudem so vor, als würden die wispernden Seelen unruhiger, nachgerade panisch, als würden sie sich gegen die Beschwörung stemmen – im gleichen Maß, wie die magischen Zeichen an den Wänden zu pulsieren begannen.