Buchcover

Anne Marie Løn


Tanz der Zwerge


 

Ins Deutsche übertragen
von Knut Krüger

 

Lindhardt & Ringhof

Ich sehe die Welt,

mit Blumen geschmückt,

weiß, eine Unwetternacht

ist der Preis für das Glück

Viggo Stuckenberg

ERSTER TEIL

1

Verfluchter Kerl ...»

Der Kutscher hatte sich von seinem Bock erhoben und brüllte mich über das Pferd hinweg an, das sich gerade aufbäumen wollte.

«Hat so ein blöder Gnom nichts anderes zu tun ... Läuft hier auf offener Straße herum und verschreckt die Pferde anständiger Leute.»

Meine Beine wirbelten wie Trommelstöcke über das Pflaster. Das Pferd begnügte sich mit einem Wiehern, das gemeinsam mit dem klappernden Geräusch der Schuhe von der Mauer des Wohnhauses widerhallte und über den Bürgersteig auf die Straße zurückgeworfen wurde.

Die Luft war von Aufruhr erfüllt – der Wutausbruch des Kutschers, das Läuten der Fahrradglocken und das vereinzelte Hupen eines Automobils ließen die Leute innehalten. Meine Schuhspitze stieß hart gegen die Kante des Bürgersteigs. Nachdem ich um ein Haar gestrauchelt wäre und erst im letzten Moment das rettende Ufer erreichte, hatte meine Person, wie man sich denken kann, alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

«Winziges Biest!», fauchte eine Frau so dicht neben mir, dass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte.

«Knotige Missgeburt!», übertrumpfte sie ein Laufbursche mit einem Handkarren.

Ich hätte aus Höflichkeit meinen Hut gelüftet, wenn ich einen aufgehabt hätte. Doch ich trage keine Hüte, weil sie den überdimensionalen Umfang meines Kopfes hervorheben – bei großer Kälte allenfalls eine Baskenmütze und manchmal zu Hause, im Sommer, eine Schiffermütze.

Nachdem ich unbeschadet zur Haustür hineingekommen bin, stehe ich keuchend auf dem Treppenabsatz zum ersten Stock, halte mich am Mauervorsprung fest, über dem sich das Fenster zum Hof befindet. Das Rankenmuster der großen Scheibe tanzt vor meinen Augen. Eine Amsel sucht Resonanz im Schacht des Hinterhofs, und ich spüre, wie reizbar ich bin.

Mit einem Finger schiebe ich die Brille näher an meine Augen heran, während ich versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Ich habe keinen Nasenrücken, was sehr unpraktisch ist, weil ich schlecht sehe.

Der regnerische Maitag und meine heftigen Atemstöße haben meine Brillengläser beschlagen lassen. Ich beuge meinen Kopf zur Seite, sodass ich die Gläser notdürftig mit dem Jackenärmel polieren kann, während das Herz langsam an seinen angestammten Platz zurücksinkt, der aber auf einmal viel zu klein wirkt.

Die Atemnot, die mich oft auch dann überfällt, wenn ich gar nicht laufe, ist mir längst vertraut. Ständig machen sich meine Lungen und mein Hohlkreuz den Platz streitig. Die Krümmung meines Rückgrats nach links, die ich durch ein permanentes Beugen nach rechts auszugleichen versuche, verstärkt den unvorteilhaften Druck in meinem Körper.

Alles beruhigt sich einigermaßen, aber der Schrecken macht sich als Zittern in den schlappen Gelenkbändern des Knies bemerkbar, als ich die Fensterbrüstung loslasse und mich die letzten neun Stufen zu meiner Wohnungstür am Treppengeländer hinaufziehe.

Natürlich habe ich anderes zu tun, als die Pferde anständiger Leute aufzuschrecken. Heute habe ich auf vier Begräbnissen gespielt; gestern begleitete ich drei geschmückte Särge samt Trauergesellschaft aus der Kapelle des Westfriedhofs hinaus, und morgen werde ich wieder unbemerkt hinter der Balustrade der Empore sitzen, und die motorische Sicherheit meines Orgelspiels wird die meiner Atmung bei weitem übertreffen.

Eines Tages wird vielleicht der Kutscher, der mir nachrief, mit der Mütze in der Hand in der Kapelle stehen und dem Herrgott oder dem Unbekannten hinter der Balustrade einen Dank für die schöne Zeremonie hinaufschicken.

So gesehen bin ich eine genauso ehrbare Person wie der aufgebrachte Kutscher oder sonstwer, abgesehen von der Tatsache, dass ich ein Zwerg bin. Mit meinen 52 Zoll und meinem auffälligen Äußeren kann ich Menschen, die mich nicht täglich sehen, leicht in Verwirrung stürzen.

Wenn ich die unzweideutige Reaktion der Tiere – der Pferde (das ist mir schon öfter passiert) sowie der Hunde – bedenke und sie auf die Menschen übertrage, glaube ich, dass ihr Zorn eine Folge der Angst sein muss. Die Tiere erschrecken einfach vor meinem Äußeren, verhalten sich aber im Übrigen genauso wie meine Mitmenschen: Wenn sie sich erst einmal an mein Aussehen gewöhnt haben, fürchten sie sich nicht mehr.

Während ich mit dem Schlüssel herumfummle, wird mir schlagartig klar, wo ich mich eigentlich befand, als ich vorhin so geistesabwesend die Straße überquerte. Das Profil einer Frau, das ich im schräg über der Orgel angebrachten Spiegel erblickte, traf mich wie der Anblick einer Sternschnuppe, als sich die vorletzte Trauergemeinde während der Zeremonie erhob. Wie gelähmt saß ich vor dem Manual und sah das Profil aus dem Spiegel verschwinden, als die Gemeinde sich wieder setzte, um «Der gesegnete Tag» zu singen. An das Postludium kann ich mich nicht erinnern.

Den gesamten Heimweg über versuchte ich mir die Sekunden in Erinnerung zu rufen, in denen ich versäumt hatte, mich lautlos an die Balustrade zu stellen und hinunterzublicken. Außerdem warf ich mir vor, nicht schnell genug wieder in den Spiegel geschaut zu haben, als sich die Gesellschaft bei der letzten Strophe «So kehren wir heim ins Vaterland» erneut erhob, während der Sarg hinausgetragen wurde.

Der Tumult auf der Straße war vollkommen selbstverschuldet; ich hatte nichts anderes im Kopf gehabt, als die Gelegenheit, die ich innerhalb weniger Sekunden verspielt hatte. Wer würde sich nicht über einen Fußgänger aufregen, der weder nach links noch nach rechts schaut?

Das reale Bild des Profils ist verblasst, doch ich spüre immer noch, wie die Verzückung, welche die Erscheinung hervorrief, wiederkehrt, aus allen Teilen des Körpers warm zusammenströmt und sich wie ein Bündel aus Samt und Gold um mein Herz schließt, als ich den Schlüssel ins Schloss stecke.

Organist – eine ehrenwerte Tätigkeit, in aller Bescheidenheit gesagt. Was wäre eine Trauerfeier ohne Orgelmusik ... ein Käfer ohne Panzer. Was wäre das Leben ohne Musik ... Mühsal ohne Erbauung ... ich weiß es wirklich nicht.

Als ich noch in der Wiege lag, spielte mein Vater mir zu Hause auf unserem Flügel bereits Chopin, Schubert und dänische Kinderlieder vor.

Meine Geschwister, von denen zumindest einige zu Übertreibungen neigen, behaupten, wenn Vater Rubinsteins a-Moll-Sonate für Klavier und Violine spielte, hätte ich bei bestimmten Sätzen vor Vergnügen gejauchzt und so heftig gestrampelt, dass die Verstrebungen der Wiege ächzten.

Die Ambitionen meines Vaters erwachten auf der Stelle. So wie Dädalos ein Labyrinth für König Minos schuf, errichtete er um mich herum ein solides Bauwerk des Ehrgeizes, das mich für viele Jahre gefangen hielt. Ich habe mich aus dem Labyrinth befreit und bin mit den Flügeln emporgestiegen, die er mir aus Wachs und Federn gefertigt hatte, doch ich war klüger als Ikarus. Ich habe vermieden, der Sonne so nahe zu kommen, dass deren Wärme das Wachs hätte schmelzen können.

Mein Verhältnis zur Wirklichkeit war nie versöhnlicher als jetzt, doch mein Weg von der Wiege zur Friedhofskapelle war lang. Der Ehrgeiz, den mein Vater in meine Entwicklung setzte, pflasterte diesen Weg mit kleinen, scharfen Steinen, die durch die Sohlen meiner spezialangefertigten Schuhe schnitten. Ich beklage mich nicht. Das Kitzeln und Stechen hat mich dazu gebracht, die Füße zu heben und Schritt für Schritt voranzukommen.

2

Mein Leben lang habe ich mich mit Musik beschäftigt. Als ich mit drei Jahren meine ersten Schritte machte, führten sie mich auf direktem Wege zum Flügel des Hauses. Dies geschah mit demselben Instinkt, mit dem ein Kängurujunges nach der Geburt in den Beutel mit der Leben spendenden Zitze emporkrabbelt, um sich dort die Nahrung für sein weiteres Wachstum zu sichern, bis es voll entwickelt ist.

Als ich, auf einem Schemel stehend, die mittlere Oktave der Klaviatur in Beschlag nahm, ahnte die Familie sogleich, dass ich im Laufe der Zeit der Geschichte des Flügels ein neues, wesentliches Kapitel hinzufügen würde. Mit den Enden meiner Stummelfinger erreichte ich die Tasten, hielt mein Ohr daran und ließ von Beginn an Tonfolgen erklingen, die gewissen mathematischen Gesetzmäßigkeiten gehorchten, sodass selbst die pragmatischsten Zuhörer diese Klänge als Musik bezeichnen mussten.

Der Flügel auf Willhofsgave ist ein legendäres Instrument und Bestandteil des Kulturerbes. Eines der klassischen dänischen Lieder, das heute alle auf den Lippen haben, wurde von einem meiner Verwandten darauf komponiert, bevor ich zur Welt kam. Als ich begann, mir Dreiklänge zusammenzusuchen, und linke und rechte Hand sich unmerklich vereinten, um Akkorde mit Grundton, Terz und Quinte hervorzubringen, entschied meine begeisterte Familie, dass ich von Erbanlagen begünstigt sein müsse, die sich durch die Komponisten der mütterlichen Linie im Laufe von Generationen emporgearbeitet hätten, um sich als neue musikalische Genialität zu offenbaren.

Dieser Entschluss wurde mit so unerschütterlicher Selbstsicherheit gefasst, dass selbst heute – mit Ausnahme meines einzigen Bruders Helmuth – niemand wahrhaben will, dass ich nicht in der Königlichen Kapelle am Kongens Nytorv, sondern in der Friedhofskapelle spiele.

Für mein damaliges Problem, die benachbarten Oktaven zu erreichen, fand mein Vater eine Lösung. Resolut nahm er Maß, setzte sich in die Bibliothek und fertigte eine Zeichnung für einen niedrigen und extrem langen Schemel an. Die Skizze ließ man der Tischlerwerkstatt des Gutshofs als Eilauftrag des Hauptgebäudes zukommen.

Ich erinnere mich immer noch an das phantastische Gefühl, als meine Reichweite mit meinem Bedürfnis zur Deckung kam, auch die hohen und tiefen Töne zu erreichen. Die Hände gewöhnten sich fast augenblicklich daran, den Füßen zu signalisieren, wohin sie sich bewegen sollten. Bald steppte ich auf dem Schemel unbeschwert hin und her. Die Familie lachte und sagte, dass so zur Musik noch eine regelrechte Tanzvorführung hinzukäme.

Wenn ich von dem Klavierschemel heruntersprang, war mein Gang natürlich genauso unbeholfen und watschelnd wie zuvor, doch mein Vater erklärte, an dem Tag, an dem die Musik mir erst als Teil meiner Persönlichkeit in Fleisch und Blut übergegangen wäre, würde ich mich überall mit derselben Anmut und Leichtigkeit bewegen wie meine Finger auf dem Manual, und die Welt würde einen Gang von solcher Eleganz kennen lernen, wie er niemals zuvor bei einem Menschen meiner Physiognomie zu sehen war.

Zu diesem Zeitpunkt war das Phänomen von französischen Professoren als Achondroplasie diagnostiziert und von deutschen Forschern als Chondrodystrophia fetalis bezeichnet worden, wohingegen die Dänen sich mit einer Diagnose noch zurückhielten, weil man auf dem Feld des Nanismus nicht mit differenzierenden Begriffen arbeitete, sondern alle Arten des Zwergwuchses als fetale Rachitis bezeichnete.

Wie ich so auf dem Schemel stand und mir die Saiten im Innern des Flügels die Fragen, die ich an die Tasten stellte, beantworteten, versank ich völlig in meinem Spiel. Schon bald lehrten mich die Tasten, ihren Willen zu begreifen, und wenn sie mich spüren ließen, dass alles seine Richtigkeit hatte, verwandelte sich der Raum in ein mächtiges Tongebilde, das alles andere verdrängte.

Das ist womöglich das Gefühl, das man göttlich nennt.

Aber mein Verhältnis zur Musik ist kein göttliches, abgesehen von der selbstvergessenen, überirdischen Freude, die einen – im Bewusstsein, ein Handwerk auszuüben – in gewissen Momenten ergreifen kann.

Während ich auf diese Weise heimlich zwischen Himmel und Erde verschwand, brachen ein oder mehrere Familienmitglieder den Zauber, indem sie betonten, mich auf dem Schemel zwischen Boden und Decke sowohl hören als auch sehen zu können.

In den vielen Jahren, in denen ich, wie von meinem Vater vorgegeben, nach Höherem strebte, hatte ich nur noch selten das Gefühl zu verschwinden. Mit der Zeit begriff ich, dass ich nicht zu Außerordentlichem geboren war, und mein Gang unterscheidet sich wohl auch nicht wesentlich von dem anderer Zwerge.

Meine Orgel hat zwei Manuale und ein Pedal. Das tiefste Register des ersten Manuals ist Bordun 16' aus gut gelagertem Kiefernholz. Prinzipal 8' ist mit seinem 15-lötigen Zinn und dem schön einsetzenden, kräftigen Klang wahrhaftig der Prinzipal aller anderen Pfeifen. Er klingt sehr hübsch mit Flute harmonique 8' und Ottava 4'. Das erste Manual hat außerdem Tromba 8', es klingt wie die Posaune des Jüngsten Gerichts.

Das zweite Manual verfügt über Gamba 8', Aeoline 8', Vox Celeste 8', Bordone 8' und Flute travers 4'. Im Pedalwerk habe ich Subbass 16' und Cello 8'.

Das erste Manual zeichnet sich durch Kraft und Schönheit, das zweite durch einen edlen, romantischen Klang aus. Ich kann sie dazu bringen, so zu klingen wie die Cavaillé-Colls-Orgel der Jesuskirche ganz in der Nähe, obwohl diese sehr viel größer ist.

Das Gehäuse, die gesamte Mechanik und die Windladen bestehen aus Mahagoni, Eichen- und Kiefernholz. Die weißen Tasten sind aus Elfenbein, die schwarzen aus Ebenholz. Die Registerknöpfe wurden aus Ebenholz gedrechselt und tragen eingelegte Porzellanschildchen mit den Namen der Register.

Die Orgel wurde nach den neuesten pneumatischen Prinzipien gebaut, was ein sehr effektvolles Spiel der zwölf Register ermöglicht, die man auf unendlich viele Weisen miteinander verbinden und mischen kann. Sie sind nach dem Kammerton gestimmt, und das erste und zweite Manual sind so eingerichtet, dass sie sich sogar während des Spiel miteinander kombinieren lassen.

Ich nenne die Orgel mein Eigen, und es erfüllt mich mit Freude, sie zu beschreiben. Mein so genanntes Verschwinden war ein kindliches Spiel; die Muschel existiert, aber die Schale hat sich um den beschädigenden Fremdkörper herum geschlossen, sodass die Wogen des Meeres sie frei umspülen können. Über dem eingeschlossenen Sandkorn bildet sie Schicht für Schicht Perlmutt, und so spürt die Muschel fortwährend, dass sie am Leben ist.

3

In der Willhof-Holm-Familie war die Begeisterung ganz auf meiner Seite, als ich den bürgerlichen Beruf des Organisten ergriff und dieses halb geistliche Amt für ein festes Gehalt von 1800 Kronen jährlich zuzüglich 4 Kronen und 82 Öre für jeden Gottesdienst antrat.

Wir Mitglieder der hauptstädtischen Friedhofsverwaltung sind die am besten bezahlten Organisten des Landes, gleich nach den Domorganisten. Ich bin – im Gegensatz zu meinem früheren Lehrer Thorvald Nielsen, Organist und Kantor der Frederiksberg Kirche – nicht mehr darauf angewiesen zu unterrichten, Klaviere zu stimmen und Vertretungen zu übernehmen. Über die finanzielle Seite dieser Angelegenheit habe ich meiner Familie wohlweislich nicht allzu detailliert Rechenschaft abgelegt.

«Friedhofsverwaltung!»

Das Gesicht meines Vaters wurde weißer als sein Haar. Hinter dem faltigen Pergament seiner Haut wurden seine beschwörenden Prognosen über meine glänzenden Zukunftsaussichten als Künstler unkenntlich und sein unerschütterlicher Glaube an meine besondere musikalische Begabung und meine offenkundige Fähigkeit, die Wirklichkeit zur Kulisse zu degradieren, völlig sinnlos. Der Wirklichkeit und dem Leben am nächsten ist – gleich nach der Geburt – der Tod.

Mit meiner Anstellung hatte ich ihm den letzten Rest seiner immer realitätsferneren Träumereien bezüglich meiner Solistenlaufbahn ausgetrieben und seine vage Hoffnung begraben, mein Talent könne ein Gebrechen in eine unbedeutende Beeinträchtigung künstlerischer Hochleistung verwandeln. Außerdem hatte ich seinen Status als mein Mäzen untergraben.

Gewisse pekuniäre Umstände, die mit heute weniger denn je überschaubaren finanziellen Schwierigkeiten meiner Familie zusammenhängen, zwangen mich vor zwei Jahren, die Organistenprüfung abzulegen und eine Stelle anzutreten. Ein Beleg meines Savoir-faire.

Bis zu meinem neunundzwanzigsten Lebensjahr hatte ich dazu beigetragen, die Illusion meines Vaters über seinen konzertierenden Sohn zu nähren. Doch mein Leben ist keine Illusion. Ich lebe, und es ist eine Tatsache, dass heute ein Frauenprofil in den Spiegel über der Orgel hineinglitt und dass dessen Anblick eine Wärme erzeugt, die aus allen Körperteilen zusammenfließt und mein Herz umschließt.

Die Gesichtshaut meines Vaters hat wieder Farbe angenommen. Er weiß nur zu gut, dass Erkenntnis Erfahrung voraussetzt und Einsicht nach der Erkenntnis kommt. Was für Erkenntnisse er nach seiner unmittelbaren Reaktion gewann, als ich meinen Rückzug aus den Reihen potenzieller Schöngeister kundtat, weiß ich nicht.

Doch ich freute mich – gemeinsam mit meiner Mutter und meinen zu Hause wohnenden Schwestern – während der gesamten, über das Wasser führenden Fahrt nach Willhofsgave darüber, dass mein Vater in seinem hohen Alter mit verblüffender Vitalität seine philosophischen Studien wieder aufnahm. Die Werke seines Jugendfreunds Harald Høffding über die Einheit und Kontinuität des Bewusstseins wurden im Lichte der neuen Situation repetiert und bearbeitet. Besonderes Gewicht lag auf dem psychophysischen Parallelismus, den er schon in ganz jungen Jahren mit Høffding zusammen bei Spinoza studiert hatte und der ihn zu Beginn der neunziger Jahre, als ich ein Säugling war, erneut beschäftigte. Aus den heimischen Bulletins lernte ich, dass der alte Mann immer noch nicht immun war gegen das Allheilmittel, sich in philosophische oder literarische Dinge zu vertiefen, um Licht in das Dunkel zu bringen.

Obwohl ich meinem Vater immer wieder beteuert habe, mein Talent ganz und gar ausgeschöpft zu haben, wird er insgeheim bis ans Ende seines Lebens über die Kollision meiner Behinderung mit meinen Karrierechancen nachgrübeln und zu der Ansicht neigen, die Behinderung hätte diese beeinträchtigt. Natürlich hat es eine Kollision gegeben, doch ich finde es sinnlos, mich mit Mutmaßungen abzuplagen, welche Teile meiner Persönlichkeit anderen Teilen eventuell im Weg gestanden haben könnten.

Ich halte mich an einen interessanten Gedanken von Grundtvig über Körper und Geist, der mir manchmal in den Sinn kommt, obwohl mein Vater alles, was von diesem Mann stammt, als «unwissenschaftliches Geschwätz» bezeichnet: «Vielleicht war er ein Dichter; ein Denker war er jedenfalls nicht. In diesem Herrn steckte zu viel Materie und zu wenig Geist.»

Betreten habe ich gehört, wie er viele von Grundtvigs Kirchenliedern ohne den Respekt und die Großherzigkeit zerpflückt hat, die ihn sonst auszeichnen und die er seinen Kindern so erfolgreich vermittelt hat. So einen Quatsch, sagt er, hat man in Dänemark nie zuvor gehört, zum Beispiel, dass der Bauer vom Licht der Aufklärung durchdrungen sei, weil er gemeinsam mit der Sonne aufstehe, und dass der Bauerntrampel im Gegensatz zum Gelehrten einen Geist wie das Nordlicht habe.

Ich finde, Estrups phantasielose Kabinettspolitik passt einfach nicht zu meinem Vater. Dennoch war er über viele Jahre ein eingefleischter Estrup-Anhänger und teilte dessen Standpunkt, das allgemeine Wahlrecht sei eine Torheit. Von meinem Urgroßvater weiß ich genug, um mir vorstellen zu können, dass er sich im Grab herumdrehen würde, wenn ihm diese Anschauung des dritten Erbhofbesitzers zu Ohren käme. Auch mein Großvater wäre nicht gerade stolz auf den politischen Sinneswandel seines Sohnes.

Ich sehe meinen Vater das Gesangbuch mit allen Zeichen der Missbilligung zuschlagen und den Vorgängen um ihn herum den Rücken zukehren, wenn in der heimischen Kirche Grundtvig gesungen wird. Er wendet sich also, um es einmal so auszudrücken, ziemlich oft ab.

Dass mein Geschlecht sich über vier Generationen auf Willhofsgave halten konnte, beruht auf einer ausgewogenen Mischung von Geist und Materie. In meiner Generation hat, wie ich finde, der Geist überhand genommen. So wie ich meine Ahnen durch Studien und die Privatdokumente des Gutshofs kennen gelernt habe, wären sie darin völlig einer Meinung mit mir.

Für meinen Vater spricht, dass er sich sein ganzes Leben lang, zuerst als junger Hoferbe und später als Erbhofbesitzer, in die Enge getrieben fühlte und stellvertretend für die Familie um den Besitz des Gutes fürchten musste. Das ist keine Vermutung, sondern eine Tatsache.

4

«Hättest du dir nicht eine schöne Pfarrkirche in Kopenhagen aussuchen können, Tyge?»

Das fragte meine Mutter zu Hause während der Weihnachtsferien. Ich hatte soeben eine schriftliche Zusage der Kopenhagener Friedhofsverwaltung erhalten, die ab dem 1. Januar 1921 unabhängige Organisten- und Kantoratsstellen eingerichtet und auf einen Schlag zehn Organisten eingestellt hatte. Constance hatte mich auf ihr Zimmer gerufen – das war, bevor das Gesicht meines Vaters wieder Farbe angenommen hatte.

«Ich habe das Amt mit dem größten Arbeitspensum und der besten Bezahlung gewählt, liebe Mutter.»

Das war die schonendste Antwort gewesen, die ich ihr hatte geben können. Dennoch rang sie nach Atem und griff sich an den Hals. Über Geld oder über Arbeit um der Arbeit willen zu sprechen, stellt in meiner Familie eine gewaltige Provokation dar; alles soll einem höheren Ziel dienen und sich über das materielle Gewinnstreben erheben.

Ich ersparte ihr den Hinweis, dass ein Kirchenvorstand kaum einen Zwerg anstellen würde, wenn es sich vermeiden ließe. In Kirchenkreisen ist man überhaupt empfindlich gegenüber Abweichungen jeder Art. Selbst ein unbestreitbares musikalisches Talent wie Rued Langgaard, Sohn des Königlichen Kammermusikus und Komponisten Siegfried Langgaard und der Pianistin Emma Langgaard, den ich von verschiedensten Anlässen her kenne, scheitert jedes Mal, wenn er sich um eine freie Organistenstelle bewirbt.

Er ist ein ungehobelter Kerl – obwohl dies doch nichts im Vergleich zum Auftreten eines Zwergs ist – und kann einen regelrecht uncharmanten, geradezu abstoßenden Eindruck machen, sofern man ihn nicht näher kennt. Ich habe sogar gehört, dass ihm erst kürzlich eine Stellvertretung verweigert worden ist – eine Form der Berufsausübung, an der ich immer viel Freude gehabt habe. Er schlägt sich so durch, obwohl seine Eltern zu den führenden Persönlichkeiten der musikalischen Welt zählen. Er war so unvorsichtig, die Musik Carl Nielsens als «ordinären Humbug» zu bezeichnen; so etwas tut man nicht ungestraft. Außerdem wird ihm nachgesagt, er habe Beethoven einen Rüpel am Klavier genannt und zu Brahms’ Musik geäußert, sie stinke nach Bier und Zigarren. Auf eigene Rechnung möchte ich hinzufügen: und nach Frauen; ich halte sehr viel von Brahms.

Hätte ich eine Wahl gehabt, will ich nicht ausschließen, dass ich meine jetzige Stelle möglicherweise aus genau den Gründen angetreten hätte, die ich meiner Mutter angab: Zeit und Geld. Ledige haben mehr Zeit als Verheiratete. Und ein lediger Zwerg hat unvergleichlich mehr Zeit als ein lediger Nicht-Zwerg.

Außerdem – wie ich es auch drehe und wende – gehören Geld und Freizeit in meinen Augen zusammen. Ich kann nicht von der Tatsache absehen, dass mein Unterhalt, der Spezialanfertigungen von Kopf bis Fuß erfordert, ziemlich kostspielig ist. Auf diesem einen Gebiet bin ich meiner guten Erziehung treu und achte sorgsam auf meine Gesundheit. Meine Eltern haben sich in dieser Hinsicht nicht lumpen lassen, obwohl sie dafür andere Entbehrungen in Kauf nehmen mussten, und auch ich lasse es an nichts fehlen: Massagen, Korsetts, Beinschienen, Zahnregulierung ... Alles in meinem Körper rumort und arbeitet, sodass die Hilfsmittel von Zeit zu Zeit gewartet und erneuert werden müssen. Es ist auch nicht unwesentlich, dass mir das Geld Gelegenheit gab, eine gewisse Eitelkeit hinsichtlich meiner Kleidung zu befriedigen. Gut gekleidet zu sein, ist eine wahre Wohltat für mich, und weil ich es genieße, kann auch, so glaube ich, mein äußeres Erscheinungsbild davon nur profitieren.

Mehr Worte haben wir bei dieser Gelegenheit nicht gewechselt. Während meine Mutter sich wieder fasste, fiel mein Blick auf ihre Fotografien meiner Schwestern und meines ungewöhnlich hübschen Bruders, der ihr so ähnlich sieht, dass man ihn glatt für eine jüngere Ausgabe ihrer selbst halten könnte, wenn er sich den Schnurrbart abrasieren und eine Perücke aufsetzen würde. In den Schreibtischschubladen bewahrt sie auch viele Bilder von mir auf, doch an der Wand bin ich nur auf einem Familienfoto vertreten, das von ihrer silbernen Hochzeit stammt. In einem weißen Kleidchen mit zungenförmigem Kragen stehe ich, sechs Jahre alt, ganz dicht bei ihr. Mein Haarschopf reicht ihr gerade bis an die Hüfte.

Meine Eitelkeit beschränkt sich für gewöhnlich auf Äußerlichkeiten; von der Eitelkeit des Herzens werde ich selten geplagt, obwohl ich in gewissen Momenten auch dafür empfänglich bin, so wie in diesem Fall. Deshalb ging ich vom Zimmer meiner Mutter sofort hinunter zu unserem alten Kindermädchen Vidde, um einmal mehr zu hören, wie sie ihre Freude und ihren Stolz über mich zum Ausdruck brachte.

«Du wirst noch Domorganist, so wie Weyse», sagte sie mit strahlendem Gesicht, nachdem sie weit genug über ihre erste Begeisterung hinweggekommen war, um zu erkennen, dass es, offen gesagt, bedeutendere Organistenstellen gab als die bei der Friedhofsverwaltung.

5

Gibt es ein Paradies auf Erden, dann ist es Willhofsgave, mein Geburtsort. Einen so intensiven Vogelgesang im Mai, wie ich ihn auf dem Westfriedhof erlebe, kenne ich sonst nur von zu Hause. Zur Zeit denke ich täglich daran. Unabhängig davon, ob es feucht oder kalt ist, wie im Moment, singen die Vögel zuverlässig, sobald die entsprechenden Lichtverhältnisse eingetreten sind.

Nachdem der letzte blumengeschmückte Sarg hinausgetragen worden war, zog ich mich so weit auf die Orgelbank zurück, bis die Füße das Pedal nicht mehr erreichten, und starrte gedankenverloren in den leeren Spiegel.

Plötzlich stieg der Gesang der Vögel, der durch das offene Portal drang, zu mir herauf und erreichte mich mit einem Duft nach grüner Kühle und süßen Lilien, erweckte meine Sinne und meine Entschlusskraft.

Rasch zog ich meine Musizierschuhe aus – eine Sonderanfertigung meines orthopädischen Schusters mit einem eingebauten, fünf Zentimeter hohen Absatz und glatten Ledersohlen, die über das Pedal gleiten können –, sprang in meine Straßenschuhe und holte am Eingang den Küster ein, um mich nach dem Namen des Verstorbenen vom vorletzten Begräbnis zu erkundigen.

Das Verwaltungsbüro des Friedhofs suche ich nur auf, wenn ich meinen Lohn abhole. Alle praktischen Dinge werden von Angestellten in den kleinen Büros der einzelnen Kapellen erledigt. Für gewöhnlich erhalten die Organisten einen Zettel mit der Uhrzeit und den Nummern der Lieder, womit sich die Begräbnisse für mich auf eine Zahlenreihe und eine unendliche Wiederholung derselben zwanzig bis dreißig Lieder reduzieren. Eine äußerst bescheidene Aufgabe, könnte man meinen, sofern man nicht die Herausforderung annimmt, das Arrangement zu verändern, Variationen einzuflechten und so aus dem musikalischen Vortrag etwas Besonderes zu machen. Raum dafür gibt es reichlich, die meisten Begräbnislieder kennt man auswendig.

Als ich den Namen des Küsters ein zweites Mal rief, blieb er stehen. Ich stand so dicht vor ihm, dass er einen Schritt zurücktreten musste, um mich besser sehen zu können. Für einen Augenblick begegneten sich sein träger und mein strahlender Blick. Die Leute haben oft von vornherein keine Lust, mit mir zu sprechen. Sie müssen sich ausschließlich an meine Worte halten, weil sie meinem Gesicht, dessen Züge ihnen fremd sind, nichts entnehmen können.

«Daran erinnere ich mich nicht. Die Unterlagen habe ich im Büro abgeliefert.»

Ich konnte unschwer erkennen, dass ich durch meinen Eifer seine Neugierde geweckt hatte, also verhielt ich mich abwartend, bis er nachfragte:

«Ist irgendwas Besonderes, Herr Willhof-Holm?»

Ich wurde von einer plötzlichen Verlegenheit überrumpelt, die es mir unmöglich machte, auch nur ein Wort hervorzubringen, bevor er bereitwillig fortfuhr:

«Ich kann mich bis morgen danach erkundigen.»

«Das wäre sehr freundlich von Ihnen. Unter den Trauergästen befand sich ein Bekannter von mir, womöglich ein entfernter Verwandter, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

Mit einer leichten Verbeugung und nochmaligem Dank verließ ich ihn.

Ich spürte, dass seine Augen mir folgten, während ich mich entfernte. Er blieb lange am Portal stehen. Meinen leicht watschelnden Gang sind sie gewohnt, und besonders o-beinig bin ich für einen Zwerg auch nicht – er machte sich wohl eher Gedanken darüber, dass ich offensichtlich so weit verzweigte Bekanntschaften und entfernte Verwandte besaß, dass ich nicht einmal mit Sicherheit wusste, ob sie an einem Begräbnis in meiner Kapelle teilnahmen.

Ich frage mich, ob mein heutiges Erlebnis stark genug ist, um eine Reise nach Jütland zu überstehen. Ich hoffe, der Küster nimmt meine Worte ernst und wird mir morgen den Namen mitteilen.

In der nächsten Woche, vielleicht schon am Sonntag, werde ich zur goldenen Hochzeit meiner Eltern nach Hause fahren. Im Moment bin ich über den Anblick im Spiegel noch so aus dem Häuschen, dass mich nichts davon abhalten könnte, die Frau, deren Profil sich mir so tief eingeprägt hat, zu besuchen. Hätte ich nur den geringsten Fingerzeig, würde ich ihm unverzüglich folgen.

Wie lange wird das Feuer brennen? Ich bin selten so empfänglich für Gefühlserschütterungen, weiß aber, dass die Dinge, die mit der größten Leichtigkeit zu einem kommen, auch mit der größten Leichtigkeit wieder verschwinden.

6

Ein Meter und sechsunddreißig Zentimeter sind keine Kleinigkeit für einen Zwerg. Um korrekt zu sein, messe ich – von Zoll umgerechnet – 1,35980 Meter.

Das metrische System bescherte mir eine neue Zahl für meine Größe. Ich hatte es offen gestanden schon aufgegeben, als ich 18 Jahre alt war und die zweite Klasse eines Kopenhagener Gymnasiums besuchte. Natürlich war es lächerlich, und so sprach ich mit niemandem darüber.

Der kleinste Mensch, der je gemessen wurde, war die Holländerin Paulina Muster. Sie war 61 Zentimeter groß, also keineswegs von meinem Schlag. Sie war eine so genannte Liliputanerin, das heißt, die Proportionen stimmten, außerdem muss sie ziemlich hübsch gewesen sein.

Hierzulande war Fräulein Catarina Stöber die Kleinste, die sich je hat blicken lassen. Sie maß fünf Quarter, also 78 Zentimeter, und wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegen Bezahlung zur Schau gestellt. Sie war aber kein richtiger Zwerg. Ich habe einen Kupferstich von ihr gesehen – den harmonischen Größenverhältnissen zum Trotz eine wirklich unschöne Abnormität. Für deren Anblick hätte ich kein Geld bezahlt.

Ein drolliger Herr, der sich mit dem Namen Labri vorstellte und als Gauklerkönig bezeichnete, hat mich einmal auf der Fähre über den Kleinen Belt angesprochen und gefragt, ob ich an einer Zusammenarbeit interessiert wäre.

«Ich studiere Musikwissenschaft», erwiderte ich und stellte mich vor: «Tyge Willhof-Holm.»

«Musikwissenschaft, intelligent ... umso besser», triumphierte der zufriedene Schausteller.

Meine Hand legte sich automatisch auf die mitgebrachte Reiselektüre, die vor mir auf dem Tisch lag: die Partitur zu Ludolf Nielsens Orchesterphantasie Echo und Narzissos, die gerade herausgekommen war. Der Komponist hatte mir früher Violinunterricht erteilt und mir soeben ein Exemplar seines Opus 40 zugeschickt.

Das sonderbare Individuum studierte dreist meine Hand auf der Partitur und fixierte meine kurzen Finger, während es sich unaufgefordert auf die Bank mir direkt gegenüber setzte. Ich spürte, dass er sich förmlich den Kopf zerbrach. Irgendwas schien für ihn nicht zusammenzupassen. Dann ging ihm offenbar ein Licht auf, und er begann unmittelbar, die Verkäuflichkeit des Objekts zu testen, das er soeben entdeckt hatte.

Den umstehenden Mitreisenden erklärte er lautstark, ich könne der Partitur lesend entnehmen, was ich nicht in der Lage sei zu spielen. «Denn mit diesen Fingern da ...» Er deutete auf mich, und die Leute glotzten.

Ich erklärte ihm, dass ich die Musikstücke, die meine Finger trotz ihrer Geschmeidigkeit nicht bewältigten, einfach umschreiben würde.

«Umschreiben!»

Siegesgewiss ließ er seinen Blick schweifen.

«Hat man so was schon gehört. Er schreibt sie um!»

Vor lauter Begeisterung schaute er mir nicht in die Augen, sondern durch mich hindurch, vermutlich bereits die Zukunft vor Augen, in der ich als musikalischer Clown sein Zugpferd sein würde.

Während ich ihn in Augenschein nahm, wurde mir leichter ums Herz. Ich bemerkte sein unschönes, mageres Gesicht mit der fliehenden unteren Hälfte, die schiefen, imbezilen Augen über den grotesk hervorspringenden Wangenknochen und die niedrige Schimpansenstirn. Ich wurde richtig glücklich über mein eigenes Aussehen.

«Was für Instrumente spielen Sie, Herr Tyge?», fragte er, während ihm der Speichel aus den Mundwinkeln quoll.

«Klavier und Violine», antwortete ich bereitwillig.

«Eine doppelte Merkwürdigkeit der Natur», klang es aus seinem Mund, während er spontan die Schlagzeile für das Werbeplakat verfasste:

«Zwerg und Musikgenie – ein Vergnügen für alle.»

«Ich besitze nicht das geringste komische Talent, Herr Labri», verteidigte ich mich.

Seine niedrige Stirn verschwand vollständig unter Haaren und Brauen, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. Dies nahm seinen Mund dermaßen in Anspruch, dass es eine Weile dauerte, bis er die pfiffige Frage hervorbringen konnte, die ihn so sehr amüsierte: Ob ich mich denn noch nie im Spiegel betrachtet hätte.

Das habe ich sehr wohl, und ich wiederhole diese Prozedur täglich beim Friseur. Der Anblick betrübt mich nicht. An die breite Stirn habe ich mich längst gewöhnt, ebenso an die eingefallene Stelle zwischen den Augen, die kurze, runde Nase, die man als Sattelnase bezeichnet, meinen riesigen Kiefer und das große Kinn. Meine aschblonden Haare sind kurz geschnitten, damit der Umfang meines Kopfes weniger auffällt. Meine Männlichkeit unterstreiche ich durch einen mit der Zeit ziemlich dicht gewordenen Spitzbart, der mein Kinn schmaler wirken lässt.

Nicht einmal der Anblick meines gesamten Körpers erschreckt mich. Als Kind stand ich oft neben den Pfauen, wenn sie durch die geöffnete Tür direkt aus dem Garten hereinspazierten, und betrachtete mich in den Empirespiegeln.

Zwar bemerkte ich, dass Oberarme und Schenkel im Verhältnis zum Körper zu kurz waren. Aber deswegen fühlte ich mich in meinem Körper nicht weniger wohl. Mein Körperbau war schon damals muskulös. Ich hatte viel Kraft, und wenn mich jemand belästigte, machte ich auch davon Gebrauch. Einen Ansatz von Dickleibigkeit habe ich mir nie gestattet. Überhaupt ist mein Körper von frühester Kindheit an von Europas führenden Experten auf diesem Gebiet mit der größten Sorgfalt untersucht und behandelt worden. Daher bin ich, objektiv betrachtet, ein ungewöhnlich gut aussehendes Exemplar eines Achondroplasie heimgesuchten Menschen. Meine Augen sind braun und strahlen eine wache Intelligenz aus. Auch die Geschlechtsorgane sind von normaler Größe und voll funktionsfähig.

In den späteren Jahren meines Heranwachsens oder besser gesagt der Zeit der allgemeinen Persönlichkeitsbildung – als Vierzehnjähriger wurde ich in einem Kopenhagener Pensionat einquartiert, und es war mir, vom Schulbesuch abgesehen, freigestellt, womit ich meine Zeit verbrachte –, beschäftigte ich mich intensiv mit dem Begriff des Nanismus und nutzte jede Gelegenheit, meine wenigen gleich gearteten Mitmenschen unter die Lupe zu nehmen.

Damals stand ich oft im staatlichen Kunstmuseum vor Karel van Manders Gemälde von Giacomo Favorchi, dem italienischen Zwerg des sächsischen Kurfürsten, das ich grenzenlos bewunderte. Der Maler hat den Zwerg neben eine große dänische Dogge gestellt, deren leicht vorgebeugter Kopf ihm bis zur Mitte der Stirn reicht, aber das macht nichts, seine Ausstrahlung ist imposant. Die rechte Hand hat er in die Seite gestemmt, während die linke das Hundehalsband hält.

Giacomo oder Jacob, wie ich ihn nannte, ist ein attraktiver und selbstbewusster Herr mit schulterlangen Haaren, einem langen Bart und entblößten Armen. Ihm fühle ich mich verbunden, und ich bewundere seinen Geschmack, was die Kleidung betrifft: Puffärmel verdecken die extrem kurzen Oberarme, und weiße Pluderhosen aus kräftigem Velours überspielen seine besonders stark ausgeprägte O-Beinigkeit.

Alle Züge, die für meine Form der Zwergwüchsigkeit charakteristisch sind, besitze ich in Reinkultur. Sie ist primordial und die Folge eines nicht näher bekannten Defekts der Erbanlagen. Die Bekanntschaft mit dem durch und durch eitlen Zwerg des Kurfürsten war für mich von immenser Bedeutung.

Alle Menschen und Pfauen sind eitel. Ich bin da ebenso wenig eine Ausnahme wie Favorchi. Im gegebenen Rahmen achte ich auf mein Äußeres. Es gibt Tage, an denen ich dem Spiegel des Friseursalons zürne, so wie andere Menschen und die Pfauen auch. Manchmal machten die Tiere aus Verärgerung darüber, was sie sahen, bei uns auf den Teppich. Es waren die Männchen, die sich mit erhobener Schwanzfeder besonders in Positur stellten, weil sie glaubten, einen Rivalen vor sich zu haben.

Man gewöhnt sich daran, nicht den übrigen Mitgliedern seiner Familie zu gleichen, wohl aber frappierende Ähnlichkeit mit einem Clan in der Welt verstreuter Gnome aufzuweisen: plattfüßig, leicht o-beinig, mit fleischigen Gesäßbacken, einem Hohlrücken und der so genannten Dreizackhand, was bedeutet, dass die drei mittleren Finger gleich lang sind. Eine Familie, als deren Mitglied mich Herr Labri offensichtlich betrachtete.

Mein Vater, der mich auf dieser Reise begleitete, war für einen Augenblick draußen gewesen und kehrte in dem Moment zurück in den Salon, als das Lachen des Gauklerkönigs verebbte.

Er ist eine imposante Erscheinung und sieht aus, als habe er gerade noch rechtzeitig die Säulenhalle der stoischen Schule verlassen, bevor er selbst zu einer tragenden Säule wurde.

Der Gauklerkönig blickte ungläubig zu dem stattlichen Herrn auf, der ihn mit einem liebenswürdigen Nicken begrüßte und sich nicht darum scherte, ob er ein König oder Bettler war. Labris Blick wanderte zu mir. Das amüsierte Glühen seines Gesichts verwandelte sich in Schamesröte. Grußlos sprang er auf und verschwand in eine Richtung, die ihn sofort aus dem Gesichtsfeld meines Vaters entfernte.

Ich blickte ihm nach und erkannte, dass dieser Pfiffikus nichts als ein kleiner Dreckskerl war.

«Wo waren wir stehen geblieben?», fragte mein Vater voller Elan und setzte sich, als hätte es keine andere Unterbrechung als die seiner Abwesenheit gegeben.

Wir sprachen über Tschaikowski. Mein Vater hatte Kopenhagen besucht, um sich am Königlichen Theater Eugene Onegin anzusehen – eine bessere Inszenierung, da waren wir uns einig, als die, welche wir im Jahr meines Studienbeginns in Berlin erlebt hatten. Die Aufführung fand zu einem günstigen Zeitpunkt statt, sodass wir gemeinsam nach Hause fahren konnten. Ich hatte meine verschiedenen Verpflichtungen erledigt und sah einem langen Sommerurlaub entgegen.

«Als deine Mutter und ich dreiundneunzig Jolanthe am Königlichen Theater gesehen haben ... Tschaikowskis Todesjahr übrigens, wusstest du das? Er wurde nur dreiundfünfzig Jahre alt ...»

Er beugte sich geschäftig über den Tisch, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich nickte zerstreut, aber es ging mir wie so oft, wenn er doziert – ich vergesse zuzuhören. Die Jahreszahl lenkte mich ab. Ich war damals drei Jahre alt, es war Winter, ich konnte vermutlich noch nicht laufen.

Wir hatten begonnen, die Winter in Kopenhagen zu verbringen, eine Gewohnheit, die wir aus verschiedenen Gründen noch jahrelang fortsetzten, was zur Folge hatte, dass meine Eltern, abgesehen von vereinzelten Jagdgesellschaften, die der Abreise vorausgingen, keinen lokalen gesellschaftlichen Umgang mehr pflegten und sich dadurch absonderten. Allerdings beklagten sie sich niemals über diese Entwicklung.

Einige meiner Schwestern besuchten die Wilhelmine-Bang-Schule für Bildende Kunst, eine Ausbildung, der es zwei von ihnen zu verdanken hatten, mit 18 Jahren auf die Kunstakademie aufgenommen zu werden. Meine Eltern und die älteren Schwestern besuchten Theateraufführungen und Konzerte. Außerdem befand man sich in der Nähe des Frederiks Hospitals, wo das Gesicht meines Vaters in diesen Jahren allgemein bekannt war. Seinen Sohn auf den Armen, suchte er die Ärzte auf, um sich mit ihnen über die verschiedenen Aspekte meines komplizierten Körperbaus zu beratschlagen. Über die Zusammenhänge wusste er besser Bescheid als sie. Ich müsste mich sehr täuschen, wenn er die Gelegenheit nicht dazu genutzt hätte, sein Wissen darüber zu verbreiten, wie weit man im Ausland bereits in der Erforschung des Nanismus gekommen war.

Mein Vater redete und redete; die Möwen schwirrten laut schreiend um das Fenster. Erst als das Tuten des Schiffs den Salon wie das Knurren eines Magens erfüllte, schauten wir uns geistesabwesend an. Die Türen öffneten sich, und wir hörten, wie die Geräusche von der Hafenmole zurückgeworfen wurden, und erhoben uns – jeder aus seiner eigenen Welt.

Das war, bevor sich mein Bruder Helmuth mit seinem langjährigen Freund – einem Freund der ganzen Familie – entzweite, dem Opernsänger Olaf André Halle, der uns immer gute Theaterkarten zu günstigen Preisen besorgt hatte. Seitdem hat meine Familie es vermieden, die Oper zu besuchen, wenn er zur Besetzung gehörte. Ich nicht. Olaf besucht mich hin und wieder oder schickt mir einfach eine Karte. Die nehme ich dankend an.

7

So wie Zeus die sieben Töchter des Titanen Atlas, die Plejaden, als Sternbild aufs Himmelsgewölbe setzte, so haben meine Eltern mit Hilfe des Herrn oder Jupiters sieben Schwestern an meinen Himmel gesetzt, als ich am 19. Februar 1890 auf dem Erbhof Willhofsgave am Horsens Fjord geboren wurde.

Wie eine leuchtende Sternenschar standen meine Schwestern von dem Augenblick an über mir, in dem ich das Licht der Welt erblickte.

Meine Mutter hatte unter großen Schwierigkeiten entbunden, was zweifelsohne an der Deformierung des Kindes lag, eine Laune der Natur, die meinen Vater während meiner ersten Lebensjahre veranlasste, mit unserem Herrgott hart ins Gericht zu gehen. Seine ausbalancierte dreieinige Lebenseinstellung, bestehend aus Lebenserfahrung, Wissenschaft und Christentum, geriet für eine gewisse Zeit gehörig ins Wanken.

Während er – mit oder ohne Kind – hierhin und dorthin reiste, um Hilfe im Ausland zu suchen, zwang ihn die Realität, sich mit jenem Teil der Philosophie zu befassen, der außerhalb der Erfahrung und Prinzipien steht, auf denen alle Erkenntnis beruht. Nach ein paar Jahren war sein Schiff wieder flottgemacht, und dessen drei Masten hatten erneut dieselbe Höhe und Beschaffenheit. Mit Klugheit, Fleiß und Tatkraft gelang es ihm, die Harmonie wieder herzustellen, noch bevor ich drei Jahre alt war.

Durch meinen Bruder war die Erbfolge bereits 18 Jahre vor meiner Geburt gesichert worden, was meinen Vater nicht davon abhielt, auch mich als jungen Hoferben zu bezeichnen.

Helmuth wohnte nicht auf Willhofsgave und hat es nie getan. Als meine Familie von Kopenhagen nach Jütland zog, wurde der knapp Vierzehnjährige beim Vater meiner Mutter untergebracht, dem pensionierten Museumsleiter und Numismatiker Sophus Mühlenhausen. Er hatte gerade seine Frau verloren, und so hielt man es für eine gute Lösung, dass Helmuth in der Stadt blieb, dort weiter zur Schule ging und dem Alten Gesellschaft leistete.

Unser altes Kindermädchen hat mir einmal unfreiwillig zu verstehen gegeben, sich sehr um meinen großen Bruder gesorgt zu haben. Sie erzählte mir, es hätte ihr damals wehgetan, einen so jungen Kerl auf diese Weise zurückzulassen. Wenn sie seinerzeit schon über den großen Einfluss verfügt hätte, den sie später ausübte, hätte sie sich gewiss gegen die Entscheidung aufgelehnt.

Von seinen Schwestern und Eltern gehätschelt und umsorgt, bildete er den Mittelpunkt, wenn er in den Ferien nach Hause kam, und auch ich entwickelte eine große Zuneigung zu ihm und besonders zu seinem Freund Olaf. Ich erinnere mich an nichts anderes, als dass Olaf beinahe ständig bei uns war. Im Gegensatz zu Helmuth beschäftigte er sich ganz ohne Vorbehalte mit mir. Als ich mit sieben Jahren schon richtig gut Klavier spielen konnte, stellte er sich am Flügel in Positur und ließ zu meiner Begleitung und der ungeteilten Begeisterung meiner Familie seinen Tenor erklingen.

Die Plejaden – von Astronomen als M 45, von Laien als Siebengestirn bezeichnet – bilden den schönsten so genannten offenen Sternenhaufen des Himmels. Meine leuchtenden Schwestern waren allgegenwärtig. Wie Sterne umstrahlten mich ihre Gesichter, als sie sich von drei Seiten über den Tisch beugten, auf den man mich Neuankömmling gelegt hatte, um zu sehen, was ich denn für einer war.

Meine gut entwickelten Geschlechtsorgane ließen keinen Zweifel aufkommen, dass hier ein Mann in spe lag. Doch davon abgesehen, hatte die Hebamme – noch bevor das Kind gewogen und für zu leicht befunden worden war – in Anbetracht der Mühe, die sie gehabt hatte, mich durch das letzte Hindernis hindurch ans Licht zu zerren, flüsternd ihre Bedenken hinsichtlich meiner Konstitution zum Ausdruck gebracht.

Nichts konnte zu diesem frühen Zeitpunkt die kleinen und großen Damen verunsichern, die je nach Alter und Temperament vor Freude jauchzten und seufzten. Ihre Gesichter leuchteten vor Freude über das Kind auf dem Tisch, als wäre es vom Himmel gefallener Sternenstaub.

Madame Johannesen sollte die Hofjägermeisterin zum ersten Mal entbinden, und das erfahrene Kindermädchen Melvida Valentin, genannt Vidde – das sich im Übrigen den Rang einer Mamsell erworben hatte, da die meisten Kinder schon aus den Kinderschuhen heraus und halbwegs selbständig geworden waren –, versicherte der Hebamme, acht leibhaftige Exemplare bewiesen hinreichend, dass dieser Schoß in der Lage sei, ein Kind freizugeben, wenn die Zeit gekommen sei.

Vidde, die sich im Laufe der Jahre eine gewisse Autorität im Haus erkämpft hatte, hielt ihren Hinweis für ausreichend und musste einen nahenden Kompetenzenwettstreit mit dem Hofjägermeister verloren geben, als dieser während der einleitenden Phase der Geburt Madame Johannesen auf einen Kaffee in seine Bibliothek einlud.

Hier wurde die erfahrene Hebamme so gründlich über den Verlauf der früheren Geburten informiert, dass sie glauben musste, der Hausherr sei Arzt und Geburtshelfer in einer Person, obgleich sie aus der Zeitung wusste, dass er in der Schweiz das Bankwesen studiert hatte.