Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod

Cover

Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. imperium (lat.) = Befehl, Herrschaft, Kommando, Reich

    imperitia (lat.) = Unwissenheit, Unerfahrenheit

  2. und zwar Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

  3. Im Tschechischen und im Französischen spricht man tatsächlich von »spanischen Dörfern«, wenn man sich mit einer Sache nicht auskennt.

  4. Scheffel = schaufelartiges Gefäß, das als Getreidemaß diente. Eine dahinter gestellte Lampe war abgeschirmt und leuchtete nicht weit.

  5. Krämer, Walter/Sauer, Wolfgang: »Lexikon der populären Sprachirrtümer«. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2001.

  6. Wörter aus Sprachen, die keine lateinische Schrift verwenden, werden in diesem Text in der transkribierten Form wiedergegeben, wie sie auch von der GfdS verwendet wurde.

  7. In der Standardsprache hat sich die weibliche Form durchgesetzt; in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz wird daneben sehr häufig auch die sächliche Form verwendet. Der Duden lässt beides zu.

  8. Holzspan, den der Arzt zum Herunterdrücken der Zunge bei der Untersuchung von Mund und Rachenraum verwendet, während der Patient »Aaaah« sagt.

Meiner Familie gewidmet

 

meiner Mutter Angelika Sick

meiner Großmutter Friedel Onnasch (»Muscha«)

meinen Schwestern Bettina Sick-Folchert und Anja Farries

meiner Tante Dr. Christel Waßmund

meiner Cousine Klaudia Onnasch und meinem

Cousin Dr. Ernst-Otto Onnasch

meinen Schwägern Jens Folchert und Björn Farries

sowie meiner fabelhaften Nichte Anna-Maria Folchert und meinen famosen Neffen Benno Farries, Justus Folchert,

Nils Folchert, Jesper Farries und Hannes Farries – und ganz besonders meinem großartigen Patensohn Joscha Farries

 

»Ohana means family – family means

nobody gets left behind or forgotten.«

(»Lilo and Stitch«)

 

 

Im Gedenken an meinen Vater

 

Bernhard Sick

(1933–1984)

Liebe Leserinnen und Leser

Ring frei für die zweite Runde im Kampf des Genitivs gegen den Dativ! Auch in diesem Buch geht es wieder um die Wunder der Grammatik, vor allem um die blauen Wunder, die man mit ihr erleben kann. Es geht um gefühlte Kommas, um verschwundene Fälle, um den traurigen Konjunktiv und den geschundenen Imperativ. Doch das ist längst nicht alles.

Wie schon die erste Folge des »Dativs«, der »dem Genitiv sein Tod« ist, stellt auch dieses Buch keine systematische Sprachbetrachtung dar. Schließlich handelt es sich um eine Kolumnensammlung, und Kolumnen folgen keinem »großen Plan«; sie entstehen aufgrund von persönlichen Beobachtungen des Alltags, sie können auch aus Wünschen und Anregungen von Freunden, Kollegen oder Lesern hervorgehen und sind nicht selten das Ergebnis einer spontanen Eingebung. Wer ein klassisches Nachschlagewerk erwartet, ist mit den Grammatik- und Stilbüchern aus dem Hause Duden oder Wahrig besser beraten. Mir liegt es eher, kurzweilige Geschichten zu erzählen, die ein helles Streiflicht auf die Vielseitigkeit der deutschen Sprache werfen.

In meinen Texten geht es nicht immer nur um »richtig« oder »falsch«. Manchmal gilt es, eine Erklärung dafür zu finden, warum wir so sprechen, wie wir sprechen. Und manchmal begebe ich mich auch einfach auf die Suche nach einem Begriff für eine alltägliche Sache, für die es kein Wort zu geben scheint, so wie für das Ding an der Supermarktkasse oder für das Jahrzehnt, in dem wir leben. Oder ich sammle Dutzende verschiedener Begriffe für ein und dieselbe Sache, so wie in dem Kapitel »Was vom Apfel übrig blieb«.

Wer der Meinung ist, dass der ständige Einsatz für korrektes Deutsch »die reinste Syphilisarbeit« sei, der wird in dem Kapitel »Sprichwörtlich in die Goldschale gelegt« auf seine Kosten kommen; darin geht es um verdrehte Redewendungen, und die Lektüre führt unweigerlich zu der Erkenntnis: Reden ist Schweigen, Silber ist Gold.

Eine andere Kolumne widmet sich den sogenannten falschen Freunden, denen wir teils lustige, teils lästige Übersetzungsfehler zu verdanken haben. Natürlich ist auch die Rechtschreibreform wieder ein Thema, die die Logik auf dem Gebiet der Zusammen- und Getrenntschreibung »lahm gelegt« hat, weshalb sich immer mehr Menschen wünschen, die Reform möge komplett »stillgelegt« werden.

Da das Medium E-Mail in unserer Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle spielt, fasst ein größeres Kapitel die damit verbundenen Probleme zusammen. Es ist eine Art Leitfaden, der freilich auf ganz persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen beruht und daher nicht als allgemein verbindliche Etikette, sondern nur als Empfehlung anzusehen ist – wie übrigens die meisten meiner Texte auch. Die von mir postulierten Thesen zum elektronischen Briefverkehr muss nicht jeder teilen, schließlich wird das Medium nicht von allen auf dieselbe Weise genutzt, und ich maße mir nicht an, Richtlinien für den privaten Schriftwechsel oder für die schnelle firmeninterne Kommunikation zwischen Kollegen aufzustellen.

Sollte am Ende jemand einwenden, dass die Themen, mit denen sich dieses Buch befasst, nicht neu seien und dass sich vor mir schon viele andere Autoren über guten Stil und korrektes Deutsch Gedanken gemacht hätten, so werde ich ihm nicht widersprechen. Das kann aber kein Grund sein, deswegen nicht mehr über Sprache zu schreiben. Denn wie Goethe schon sagte: »Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird.«

Übrigens hätte ich nie gedacht, wie schwer es ist, ein Buch herzustellen, das tatsächlich fehlerfrei ist. Jedes neu erscheinende Buch enthalte Fehler, hatte meine Lektorin mir gesagt, selbst wenn es noch so gründlich durchgekämmt worden sei. Nimmt man eine Korrektur am Satzanfang vor, schleicht sich am Satzende prompt ein neuer Fehler ein. Ich wollte ihr erst nicht glauben, musste aber erfahren, dass sie Recht behielt (Lektoren behalten immer Recht) – »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod« enthielt tatsächlich Fehler, mehr als einen sogar. Fehler in einem Buch, in dem es um korrektes Deutsch geht, sind natürlich besonders irritierend. Aber ich habe nie den Anspruch erhoben, ein Ritter der Sprache ohne Fehl und Tadel zu sein. Auch ich vertippe mich beim Schreiben, habe nicht immer auf jede Frage gleich eine passende Antwort parat, muss oft in einem Wörterbuch nachschlagen, mich selbst korrigieren, meine Meinung revidieren. Gerade das aber macht meine Arbeit für mich so reizvoll: dass ich selbst ständig Neues erfahre und hinzulerne. Das betrifft vor allem das weite Gebiet der deutschen Dialekte – hier gibt es unendlich viel zu entdecken, hier wird das »Abenteuer deutsche Sprache« erst richtig spannend.

Auch in diesem Buch wird bestimmt der eine oder andere Fehler stecken. Wenn Sie einen entdecken, dann betrachten Sie ihn wie ein Osterei, das mit Absicht versteckt worden ist, damit Sie es finden.

Der große Erfolg des ersten Bandes hat nicht nur den Autor gewaltig überrascht. Auch die Presse registrierte mit Staunen, dass das Thema Sprachkultur in Deutschland immer noch überaus populär ist. Immer noch oder seit neuestem wieder, darüber wird noch debattiert. Einige Feuilletonisten und Gesellschaftskritiker glauben einen neuen Trend auszumachen, eine Art Gegenbewegung zur Unkultur der deutschen Fernsehunterhaltung. Es wäre sehr erfreulich, wenn das zuträfe. »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod« hat zumindest bewiesen, dass es heute nicht nur Bücher, in denen Popstars mit ihren Kollegen und Ex-Geliebten abrechnen, in die Sachbuch-Bestsellerlisten schaffen.

Dass gerade junge Menschen wieder ein starkes Interesse an ihrer Muttersprache haben, erfahre ich aus zahlreichen Zuschriften von Schülern, die mir mitteilen, dass sie meine Texte im Deutschunterricht durchgenommen haben. Im Saarland wird »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod« in diesem Schuljahr sogar als offizielles Lehrbuch eingesetzt.

Eine mir häufig gestellte Frage lautet, wie ich denn zum Kolumnenschreiben gekommen sei. Tatsächlich war dies die Folge einer Reihe glücklicher Fügungen. Eigentlich hatte alles ganz unspektakulär begonnen: Im Rahmen meiner Tätigkeit als Dokumentar und Korrekturleser in der Redaktion von SPIEGEL ONLINE verfasste ich gelegentlich kleine Memos mit Hinweisen auf besonders heiße Fehlerquellen, die ich dann per E-Mail an meine Kollegen verschickte. Damit diese Mails auch gelesen und nicht gleich gelöscht wurden, würzte ich meine Anmerkungen mit einer feinen Prise Humor. Das gefiel meinem Chef so sehr, dass er mich eines Tages fragte, ob ich nicht Lust hätte, eine Kolumne zu schreiben: Wenn die Kollegen über meine Texte schmunzeln könnten, dann könnten es die Leser von SPIEGEL ONLINE auch. Warum nicht, erwiderte ich, lassen wir es auf einen Versuch ankommen. Und so wurde der »Zwiebelfisch« geboren. Aus dem Versuch ist inzwischen eine feste Einrichtung geworden, und seit Februar dieses Jahres erscheint der »Zwiebelfisch« auch in der monatlichen Kulturbeilage des gedruckten »Spiegels«.

Mit E-Mails hatte also alles begonnen. Und mit E-Mails ging es weiter, denn die Leser meiner Kolumne schrieben mir ihre Wünsche, teilten mir ihre Meinung mit, lieferten mir Anregungen für weitere Kolumnen und schickten mir Fundstücke: Screenshots von Internetseiten mit kuriosen Rechtschreib- und Grammatikfehlern, Fotos von lustigen Schildern oder Scans von Werbeprospekten und Zeitungsartikeln. Und sie bombardierten mich mit Fragen: Fragen zur Grammatik, zur Schreibweise bestimmter Wörter, zur Bedeutung von Redewendungen und zur Herkunft von Sprichwörtern. Einige dieser Fragen habe ich für dieses Buch ausgewählt und sie zusammen mit der jeweiligen Antwort zwischen die einzelnen Kolumnen gestellt, um die Struktur des Buches etwas aufzulockern. Mit ihren Fragen, Anregungen und Wünschen haben die Leser dafür gesorgt, dass diese zweite Folge des »Dativs« nicht nur ein Lesebuch, sondern auch ein Leserbuch geworden ist. Und ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich hier bei allen zu bedanken, für die vielen E-Mails, die mich Woche für Woche erreichen, sowie für die zum Teil seitenlangen Briefe, die ich per Post bekommen habe. Einige Leser haben mir selbstverfasste Gedichte geschickt, sogar Bücher und Manuskripte. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle danken, aber genauso auch denjenigen, die mir bei einer persönlichen Begegnung gesagt haben, dass mein Buch sie zum Lachen gebracht habe. Eine schönere Bestätigung meiner Arbeit kann ich mir nicht wünschen.

Ich möchte auch meinen Kollegen von SPIEGEL ONLINE danken, die mich mit Ideen, Ratschlägen und technischen Meisterleistungen unterstützt haben und es immer noch tun. Mein besonderer Dank gilt dem Hause KiWi, das den Mut besaß, eine Internet-Kolumne zwischen Buchdeckel zu pressen, und das dem »Zwiebelfisch« dadurch Flügel verlieh.

Damit genug der einleitenden Worte. Tauchen Sie nun mit mir in die Tiefen unserer Sprache, wo glitzernde Schwärme von Zwiebelfischen und viele andere kuriose Unterwassergeschöpfe schon darauf warten, von uns entdeckt und bestaunt zu werden.

 

Bastian Sick

Hamburg, im August 2005

Wir gedenken dem Genitiv

Der Genitiv gerät zusehends aus der Mode. Viele sind ihn überdrüssig. Dennoch hat er in unserer Sprache seinen Platz und seine Berechtigung. Es kann daher nicht schaden, sich seinem korrekten Gebrauch zu erinnern. Sonst wird man dem Problem irgendwann nicht mehr Herr und kann dem zweiten Fall nur noch wehmütig gedenken.

»Am Sonntag wird in Kampehl dem 354. Geburtstag von Ritter Kahlbutz mit einem Konzert gedacht«, meldete eine Berliner Tageszeitung am 3. März. Ich wusste zwar bis zu diesem Tage nicht, wo Kampehl liegt, und ich hatte auch keinen blassen Schimmer, wer Ritter Kahlbutz war. Immerhin aber wusste ich, dass Ritter Kahlbutz nicht der Ritter von der traurigen Gestalt war. Der nämlich kämpfte einst in Spanien gegen Windmühlen. Unser Ritter Kahlbutz hingegen scheint von der Presse nachträglich zum »Ritter von dem degenerierten Genitiv« stilisiert zu werden. Weswegen »ihm« ja auch gedacht werden muss.

Inzwischen habe ich mich natürlich schlau gemacht: Ritter Christian Friedrich von Kahlbutz lebte von 1651 bis 1702 im brandenburgischen Kampehl. 1690 war er des Totschlags angeklagt, erwirkte jedoch mittels eines Reinigungseides einen Freispruch. Vor Gericht soll er gesagt haben, wenn er »der Mörder dennoch gewesen sein soll, so wolle er nicht verwesen!«. Fast hundert Jahre nach seinem Tod fand man in der Gruft seine Mumie – und damit den Beweis für den Meineid. Die deutsche Sagenwelt ist seitdem um eine schaurig-schöne Geschichte reicher, und das beschauliche Dorf Kampehl hat eine Touristenattraktion ersten Ranges. Die deutsche Grammatik indes hat ein Problem – und zwar immer dann, wenn dem Ritter gedacht wird. Denn »gedenken« ist eines der (wenigen) deutschen Verben, die ein Genitivobjekt nach sich ziehen. Daher muss es richtig heißen: Es wird des Ritters gedacht. Oder wenigstens seines Geburtstages. In Abwandlung einer bekannten Werbekampagne für einen großen deutschen Fernsehsender ließe sich hier feststellen: Mit dem Zweiten klingt es besser!

Schauplatzwechsel: Im Februar 2005 fand in Magdeburg eine Kundgebung von Neonazis statt. Die Demonstranten trugen ein Spruchband vor sich her, auf dem zu lesen stand: »Wir gedenken den Opfern des alliierten Holocaust«. Da wird sich nicht nur mancher Lehrer spontan gedacht haben: »Geht erst mal nach Hause und macht eure Schulaufgaben!« Falsches Deutsch auf einem Spruchband einer von dümmlicher Deutschtümelei besoffenen Splittergruppe wirkt freilich besonders absurd. Doch die Herren Neonazis sind bei weitem nicht die Einzigen, die »dem« Genitiv nicht mehr mächtig sind.

Die Presse trägt nicht unwesentlich zur Verbreitung des Eindrucks bei, dass der Genitiv vom sprachlichen Spielfeld ausgewechselt und auf die Reservebank geschickt werden soll. »Als am Mittwoch der Bundestag seinem früheren Präsidenten Hermann Ehlers gedachte, hielt auch Merkel eine Rede«, konnte man auf einer Internet-Nachrichtenseite lesen. Bleibt nur zu hoffen, dass wenigstens Angela Merkel in ihrer Rede des Verstorbenen im richtigen Fall gedachte.

Auch das »Herr werden« ist eine verbale Konstruktion, in der der Genitiv (noch) herrscht, aber immer häufiger vom Dativ verdrängt wird. Als die Stadt Bern drastische Maßnahmen zur Bekämpfung einer Krähenplage beschloss, schrieb eine Hamburger Boulevardzeitung: »Um dem lauten Gekrächze und all dem Dreck Herr zu werden, setzt die Stadt nun rote Laserstrahlen gegen die schwarzen Vögel ein.« Eine andere große Tageszeitung rätselte nach der Flutkatastrophe in Südostasien darüber, »wie man dem Chaos Herr werden kann«. Und auch der »Spiegel« scheint den Genitiv für altmodisch zu halten. In einem Artikel über Rechtsextremismus war zu lesen: »PDS-Fraktionschef Peter Porsch glaubt nur noch mit einem erneuten Verbot dem Problem Herr zu werden.« Nicht erst seitdem zerbrechen sich Genitiv-Freunde den Kopf darüber, wie man des Problems hinter dem Herrwerden noch Herr werden kann.

»Sich einer Sache annehmen« ist ein weiterer Fall. »Die Stadt braucht einen Stadtbaumeister, der sich dem Thema Baukultur annehmen soll«, forderte eine Kölner Tageszeitung. Immerhin besaß sie die Größe, wenige Tage später einen Leserbrief abzudrucken, in dem ein entrüsteter Leser forderte, die Zeitung solle sich »endlich mal wieder des Genitivs annehmen«.

Übrigens wurde einst sogar das Verb »vergessen« mit dem Genitiv gebildet. Das kann man heute noch an dem schönen Wort »Vergissmeinnicht« erkennen, das eben nicht »Vergissmichnicht« heißt. Aber der Genitiv hinter »vergessen« geriet in Vergessenheit. Nomen est omen. Allein das Blümchen ist geblieben und hält trotzig die Erinnerung an den Genitiv wach. Wenn Sie das nächste Mal einen Strauß Vergissmeinnicht bekommen, dann halten Sie kurz inne und gedenken Sie des Genitivs!

Und während ich hier sitze und mich gedanklich der Sache des zweiten Falles annehme, schaut mein lieber Kollege Gerald zur Tür herein und sagt mit einem breiten Grinsen: »Wenn du meinen Rat hören willst: Genitiv ins Wasser, denn es ist Dativ!« (»Geh nie tief ins Wasser, denn es ist da tief!«) Voll des Dankes ob dieses erbaulichen Spruchs blecke ich die Zähne und grinse zurück.

Statt ins Wasser zu gehen, stelle ich lieber eine Liste mit Verben zusammen, die heute noch ein Genitivobjekt haben. Allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Zwei Kategorien lassen sich dabei unterscheiden: zum einen die vollreflexiven Verben (die ausschließlich mit Reflexivpronomen gebraucht werden können), zum anderen Verben aus der Gerichtssprache (zum Beispiel verdächtigen, anklagen, überführen). Man nennt den Genitiv hier auch Genitivus criminis.

Verben mit Genitivobjekt

anklagen

Er war des Mordes angeklagt.

annehmen

Wir nahmen uns des Themas an.

bedienen

Darf ich mich kurz Ihres Telefons bedienen?

bedürfen

Es bedarf keines Wortes.

bemächtigen

Da bemächtigte sich der Teufel ihrer Seelen.

beschuldigen

Man beschuldigte ihn des Betrugs.

besinnen

Sie besannen sich eines Besseren.

bezichtigen

Er wurde des Meineids bezichtigt.

enthalten

Er enthielt sich jeglichen Kommentars.

entledigen

Rasch entledigte sie sich ihrer Kleider.

erbarmen

Herr, erbarme dich unser!

erfreuen

Sie erfreut sich bester Gesundheit.

erinnern

Ich erinnere mich dessen noch sehr genau.

freuen

Er freut sich seines Lebens.

gedenken

Der Opfer wurde gedacht.

harren

Gespannt harren wir der Fortsetzung.

rühmen

Man rühmte ihn seiner Taten.

schämen

Ich schäme mich dessen.

überführen

Der Angeklagte wurde der Lüge überführt.

verdächtigen

Man verdächtigte sie der Spionage.

vergewissern

Im Spiegel vergewisserte er sich seiner selbst.

versichern

Sie versicherten sich ihrer gegenseitigen Zuneigung.

zeihen

Man zieh ihn des Verrats.

Klopft man an der Tür oder an die Tür?

Frage einer Leserin: Lieber Zwiebelfisch, bald steht ja wieder Weihnachten vor der Tür, und so habe ich denn eine Frage zum Nikolaus. Sie können aber von mir aus auch Knecht Ruprecht nehmen oder den Gerichtsvollzieher oder meinen Nachbarn. Die Person ist nebensächlich. Mir geht’s ums Türklopfen. Klopft der Nikolaus an DER Tür oder an DIE Tür?

 

Antwort des Zwiebelfischs: Beides ist möglich. Der Dativ (»an der Tür«) ist die Antwort auf die Frage »wo klopft es?«, der Akkusativ (»an die Tür«) ist die Antwort auf die Frage »wohin/worauf/wogegen wird geklopft?«.

Geht es mehr ums Klopfen, dann zeigt man dies durch den Dativ an:

Geht es mehr um die Person, die anklopft, oder um die Tür, an die geklopft wird, so wählt man den Akkusativ:

Der Bedeutungsunterschied ist allerdings minimal, oft wird er gar nicht wahrgenommen. Für den Nikolaus selbst spielt es wohl keine Rolle, ob er an die Tür klopft oder an der Tür. Hineingelassen wird er in jedem Fall.

 

Ein ähnliches Phänomen lässt sich übrigens bei Verben der körperlichen Berührung (schlagen, treten, beißen, schneiden u.a.) beobachten: Wenn der Nikolaus mir auf gut Deutsch eine langt, stellt sich die Frage, ob er mich (Akkusativ) ins Gesicht schlägt oder ob er mir (Dativ) ins Gesicht schlägt. Beides ist grammatisch möglich, wenngleich weder das eine noch das andere wünschenswert ist. Der Dativ ist in diesen Fällen allerdings häufiger anzutreffen.

Bei unpersönlichen Subjekten steht fast ausschließlich der Dativ:

Beim Verb »küssen« (das ja ebenfalls eine körperliche Berührung bezeichnet) steht die geküsste Person im Dativ, wenn der geküsste Körperteil im Akkusativ steht, und sie steht im Akkusativ, wenn der Körperteil von einer Präposition begleitet wird: Erst küsste er ihr die Hand, dann küsste er sie auf den Mund. Dasselbe gilt für »lecken«: Erst leckte er ihr die Hand, dann leckte er sie am Hals.

Das Imperfekt der Höflichkeit

Wenn es darum geht, Dinge zu beschreiben, die gerade passieren und für diesen Moment gelten, dann benutzt man normalerweise das Präsens. Normalerweise – aber nicht immer. Es gibt Situationen, in denen die Gegenwartsform gemieden wird, als sei sie unschicklich. Ein schlichtes »Was wollen Sie?« wird plötzlich zu »Was wollten Sie?«.

Mein Freund Henry und ich sitzen im Restaurant und geben gerade unsere Bestellung auf. »Also, Sie wollten den Seeteufel, richtig?«, fragt der Kellner an Henry gewandt. »Das ist korrekt«, erwidert Henry und fügt hinzu: »Und ich will ihn immer noch.« Der Kellner blickt leicht irritiert. Henry erklärt: »Angesichts der Tatsache, dass meine Bestellung gerade mal eine halbe Minute her ist, dürfen Sie gerne davon ausgehen, dass ich den Seeteufel auch jetzt noch will.« Der Kellner scheint zwar nicht ganz zu begreifen, nickt aber höflich und entfernt sich.

»Was sollte das denn nun wieder?«, frage ich meinen Freund, der es auch nach Jahren noch schafft, mich mit immer neuen seltsamen Anwandlungen zu verblüffen. Henry beugt sich vor und raunt: »Ist dir noch nie aufgefallen, dass im Service ständig die Vergangenheitsform benutzt wird, ohne dass es dafür einen zwingenden Grund gibt?« – »Das mag zwar sein, aber ich wüsste nicht, was daran verkehrt sein sollte«, erwidere ich. Henry deutet zur Tür und sagt: »Das ging schon los, als wir hereinkamen. Du warst noch an der Garderobe, ich sage zum Empfangschef: ›Guten Abend, ich habe einen Tisch für zwei Personen reserviert!‹, und er fragt mich: ›Wie war Ihr Name?‹« – »Ich ahne Furchtbares! Du hast doch nicht etwa …?« – »Natürlich habe ich!«, sagt Henry mit einem breiten Grinsen. »Die Frage war doch unmissverständlich. Also erkläre ich ihm: ›Früher war mein Name Kurz, aber vor drei Jahren habe ich geheiratet und den Namen meiner Frau angenommen, deshalb ist mein Name heute nicht mehr Kurz, sondern länger, nämlich Caspari.‹« – »Ein Wunder, dass er uns nicht gleich wieder vor die Tür gesetzt hat!«, seufze ich. Henry zuckt die Schultern: »Ist doch wahr! Eisparfait auf der Karte und Imparfait in der Frage – das sind Wesensmerkmale der Gastronomie. Sag mir nicht, du hättest dir noch nie darüber Gedanken gemacht? Ich jedenfalls finde es höchst bemerkenswert!«

Eine Viertelstunde später kommt eine junge weibliche Servierkraft mit den Speisen. »Wer bekam den Fisch?«, fragt sie. Henry wirft mir einen triumphierenden Blick zu, wendet sich zur Kellnerin und sagt mit einem charmanten Lächeln: »Noch hat ihn keiner bekommen, aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich ihn nun bekommen könnte.« – »Henry«, sage ich tadelnd, »du bringst die junge Dame ja völlig durcheinander!« – »So soll es sein!«, erwidert Henry selbstbewusst. Ich bemühe mich, sachlich zu bleiben: »Wenn dich jemand etwas fragt und dabei das Imperfekt verwendet, dann heißt das nicht, dass er sich für deine Vergangenheit interessiert. Meistens verwendet man es, wenn man sich einer Sache vergewissern will: Wie war das doch gleich?« Henry spritzt, den Seeteufel nur um wenige Meter verfehlend, Zitronensaft auf mein Hemd und entgegnet: »Als Anwalt bin ich es nun mal gewohnt, Sprache wörtlich zu nehmen. Neulich im Reisebüro wurde ich gefragt: ›Wohin wollten Sie?‹ Da habe ich dann ganz gewissenhaft aufgezählt: ›Letztes Jahr wollte ich in die Karibik – Barbados oder Jamaika, das war immer schon mein Traum, war aber leider zu teuer. Im Jahr davor wollte ich zum Tauchen auf die Malediven, dafür hätte ich aber erst zehn Kilo abnehmen müssen. Als Student wollte ich nach Ägypten, doch dann lernte ich meine Freundin kennen und blieb in Deutschland; und als ich ein kleiner Junge war, da wollte ich unbedingt auf den Mond. Jetzt will ich eigentlich nur nach Rügen.‹ Du kannst dir vorstellen, wie die Reisekauffrau geguckt hat. Das hätte sie kürzer haben können!« – »Wenn du das Imperfekt unbedingt auf die Anklagebank setzen willst, dann lass mich etwas zu seiner Verteidigung sagen. Das Imperfekt in der Frage drückt respektvolle Distanz aus, daher ist es im Service so beliebt. Man will dem Kunden schließlich nicht zu nahe treten. ›Wie war Ihr Name?‹ klingt – zumindest in manchen Ohren – weniger direkt und somit höflicher als ›Wie ist Ihr Name?‹. Es ist dasselbe wie mit dem Konjunktiv. ›Ich will ein Glas Prosecco‹ klingt zu direkt, daher verkleidet man den Wunsch mit dem Konjunktiv, versieht ihn womöglich noch mit einem Diminutivum und sagt: ›Ich hätte gerne ein Gläschen Prosecco!‹« Erwartungsgemäß nutzt Henry diese Vorlage zu einem spöttischen Einwurf: »Au ja! Prosecco für alle!« Ich fasse zusammen: »Aus demselben Grund wird in der Frage das Imperfekt verwendet – aus Höflichkeit.« Henry verdreht schwärmerisch die Augen: »Das Imperfekt der Höflichkeit! Ein toller Titel! Klingt wie ›Der Scheineffekt der Wirklichkeit‹ oder ›Der Gipfel der Unsäglichkeit‹. Seine Vollendung findet es übrigens im berühmt-berüchtigten Imbiss-Deutsch: ›Waren Sie das Schaschlik oder die Currywurst?‹«

Wir lassen es uns schmecken, und nachdem auch die zweite Flasche Wein geleert ist, gebe ich dem Kellner mit Handzeichen zu verstehen, dass er uns die Rechnung bringen möge. Einen Augenblick später ist er zur Stelle und fragt: »Die Herren wollten zahlen?« Und ehe ich Luft holen kann, platzt es aus Henry heraus: »Vor fünf Minuten wollten wir zahlen, und redlich, wie wir sind, wollen wir immer noch zahlen, und zwar so lange, bis wir tatsächlich gezahlt haben werden!« Der Kellner verzieht keine Miene: »Zusammen oder getrennt?« – »Zusammen!«, sage ich. »Du lädst mich ein?«, fragt Henry begeistert. »Wie komme ich zu der Ehre?« – »Das war ein Arbeitsessen«, erkläre ich, »daraus mache ich eine Kolumne.« – »Prima«, sagt Henry, »dann weiß ich auch schon was für unser nächstes Arbeitsessen! Da gehen wir zu meinem Koreaner. Der fragt nie: ›Was darf’s sein?‹ oder ›Was wünschen Sie?‹, sondern ›Was soll essen?‹. Darüber lässt sich prächtig philosophieren!«

Imperfekt oder Präteritum?

Frage eines Lesers aus Karlsruhe: Man kennt die Vergangenheit sowohl unter der Bezeichnung Imperfekt als auch unter der Bezeichnung Präteritum. Wieso gibt es zwei Begriffe für ein und dieselbe Zeitform? Ist unsere Grammatik nicht schon kompliziert genug? Oder gibt es da womöglich doch einen Unterschied?

 

Antwort des Zwiebelfischs: Imperfekt und Präteritum sind tatsächlich zwei unterschiedliche Namen für dasselbe Tempus. In den meisten Nachschlagewerken findet man unter dem Stichwort »Imperfekt« einen Hinweis auf den Eintrag »Präteritum«. Letzterer ist heute der üblichere Fachausdruck für das, was man auf Deutsch als »erste Vergangenheit« bezeichnet.

Die deutsche Sprachwissenschaft hat wesentliche Impulse von der französischen Philologie erhalten – und daher stammt auch die Bezeichnung Imperfekt (frz. imparfait), denn im Französischen wird zwischen einfacher Vergangenheit (passé simple) und unvollendeter Vergangenheit (imparfait) unterschieden. Diese Unterscheidung gibt es aber im Deutschen nicht. Wir haben kein »passé simple«, sondern nur eine (erste) Vergangenheitsform. Und eben diese als »unvollendet« zu bezeichnen, ist in den Augen vieler Deutschlehrer und Germanisten irreführend, denn die Vergangenheitsform, um die es hier geht, bezeichnet doch gerade einen Vorgang, der abgeschlossen ist:

Was ist daran »unvollendet«? Als unvollendet kann die Handlung nur gedeutet werden, wenn sie sich zum Beispiel in einem Roman abspielt. Und die meisten Romane sind ja in der Vergangenheitsform geschrieben. Wenn man liest »Harry zog seinen Zauberstab«, dann ist die Handlung noch keinesfalls abgeschlossen, dann wird die Sache ja erst richtig spannend, und jeder will wissen: Was passierte als Nächstes?

Einen inhaltlichen Bezug zur Gegenwart hat die erste Vergangenheit aber nicht. Den wiederum hat das Perfekt, jene mit »haben« und »sein« gebildete Vergangenheitsform. Deshalb nennt man das Perfekt auf Deutsch auch »vollendete Gegenwart«. Wer seine Freunde und Bekannten über seinen Umzug informieren will, der schreibt in der Regel nicht »Wir zogen um«, auch wenn der letzte Karton bereits ausgepackt ist, sondern »Wir sind umgezogen«; denn der Umzug wirkt sich auf die Gegenwart aus, der Wohnortwechsel bleibt bis auf weiteres aktuell.

Weil also die erste Vergangenheit – im Unterschied zum Perfekt – aus Sicht des Erzählers eine abgeschlossene Handlung beschreibt, bevorzugt die deutsche Grammatik dafür den Ausdruck »Präteritum«. Der kommt aus dem Lateinischen und heißt nicht »unvollendet«, sondern schlicht und einfach »vergangen«. Einigen Romanisten (wie zum Beispiel mir) fällt es allerdings schwer, sich vom Begriff »Imperfekt« zu lösen. Ich bitte um Nachsicht und gelobe Besserung.

In der gesprochenen Sprache wird das Präteritum heute nur noch selten gebraucht. Kaum jemand sagt im Gespräch: »Ich ging allein nach Hause«, sondern drückt es mit dem Perfekt aus: »Ich bin allein nach Hause gegangen.« Wenn das Präteritum in der gesprochenen Sprache zum Einsatz kommt, dann meistens in Verbindung mit Modal- und Hilfsverben wie haben, sein, müssen, können, brauchen, dürfen:

Aus einigen süddeutschen Dialekten ist das Präteritum sogar völlig verschwunden, dort bedient man sich allein des Perfekts.