SORJ CHALANDON

Die Legende unserer Väter

Roman

Aus dem Französischen
von Brigitte Große

 

 

Deutsche Erstausgabe 2012
© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41135 - 6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 24899 - 0

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Für Alain

Inhalt

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2 NOVEMBER 2002

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24 DIENSTAG, 28. OKTOBER, RUE DE BÉTHUNE

1

Neun Personen und drei Fahnen waren beim Begräbnis meines Vaters. Es fand am 17. November 1983 statt, da war ich siebenundzwanzig Jahre alt. Lupuline war auch da, ich aber sah zu den Fahnen hin. Schlappe Standarten, müde, fast grau. Die erste trug schwer an ihren Medaillen wie ein alter Soldat. Die zweite war eine Trikolore ohne Troddeln und Galonen mit der Aufschrift: Corps franc – Vengeance. Auf der dritten sah man einen schwarzen Stern und einen lauernden roten Panther.

Mamas Hand berührte meine. Mein Bruder Lucas, zehn Jahre älter als ich und blind, stand mit verschränkten Armen am offenen Grab. Ich suchte den Himmel nach Regen ab. Mein Vater hatte Gewitter geliebt. Er sagte immer »Wetter« statt »Regen«. Die Abwesenheit von Wolken stimmte ihn traurig. Sonnenschein machte ihn unruhig. An schönen Tagen erging es ihm wie mir in diesem Moment an seinem Grab: Er blickte zum Himmel und fragte sich, wo das Wetter blieb.

Als mein Vater beerdigt wurde, war er schon acht Jahre so gut wie tot. Lucas’ Unfall hatte ihn aus der Bahn geworfen, geschwächt und schließlich umgebracht. Sein Krebs komme vom Kummer, sagte er. Er ging ins Spital. Kam wieder heraus. Wollte die weißen Kittel nicht mehr sehen, den Geruch des Schweigens nicht mehr in der Nase haben, nichts mehr im Mund, im Hintern, in den Venen. Er war nicht krank, nur erschöpft. Von uns, von seiner Vergangenheit, von seinem Leben. Also kam er im April 1975 nach Hause und legte sich hin.

Er starb an seinem sechsundsechzigsten Geburtstag. Mama hatte das Geschenk im Wohnzimmerschrank versteckt. Eine Meerschaumpfeife mit einem Zuavenkopf, in blaues Papier eingeschlagen. Niemand hat je daran gerührt. Heute liegt sie samt Verpackung und Geschenkbändchen zwischen zwei Büchern in meinem Regal.

 

Zuerst wollte mein Vater seinen Leichnam der Wissenschaft vermachen. Den ganzen Körper, nichts sollte übrig bleiben. Meine Mutter protestierte schwach. Weinte heimlich. Er wusste es. Er ahnte ihre leisesten Regungen. Dann sprach er von Einäscherung, die Asche sollte auf einem Gedächtnisrasen in der Nähe des Friedhofs verstreut werden. Das machte Mama genauso traurig. Eines Tages gab sie es zu. Dass sie sich ein Stückchen Erde wünschte, für ihn, also für sich. Einen Ort der Erinnerung, zu dem man zurückkehren könnte, weggehen, schlafen und wieder hingehen. Da nahm mein Vater meine Mutter in die Arme. Das machte er sonst nie. Ich kam gerade aus der Küche, war noch ein Kind damals. Fand meine Eltern in einer Ecke des Flurs. »Du willst doch auch, dass wir vereint sind?«, fragte mein Vater. Vereint, wiedervereint. Auf ewig. Also doch ein Leichenbegängnis. »Zug der Heuchler«, hatte Papa das immer genannt. Für Mama und uns würde er seinen Platz einnehmen.

 

Mein Vater hieß Pierre, aber die Jungs hatten »Brumaire« in seinen Grabstein gravieren lassen. Der stand verkehrt neben der Grube, dunkel leuchtend vor Neuheit. Da war kein Priester, da würde kein Kreuz sein. Nur ein grauer Granitblock, roh und rau, wie dem Felsen entrissen.

Wir waren nicht viele. Meine Mutter Haut an Haut mit ihren Kindern. Onkel Veurnes. Ein Cousin, eine allzu traurige Freundin und die Jungs von der Résistance. Mein Vater nannte sie immer so, »die Jungs«. Am Loch standen nur drei.

»Lille ist zu weit weg«, sagte meine Mutter entschuldigend. »Außerdem ist eine Beerdigung unter der Woche unpraktisch.«

Aber ich wusste, dass die Entfernung nicht das Problem war. Auch der Wochentag nicht. Es waren nur drei, weil es nur noch drei waren.

Als der Sarg an den Stricken hinabsank, entfuhr meiner Mutter ein animalischer Laut, ein Hauch von Klage, wie ausströmende Luft. Ich nahm sie am Arm. Lucas schluchzte, ohne etwas zu sehen. Die anderen senkten den Kopf. Die Freundin weinte laut. Die Jungs salutierten vor dem Sarg mit hocherhobenem Kopf und der Hand an der Schläfe. Ich sah ihre zitternden Hände, ihr bebendes Kinn und die alten Fahnen, die sich zum Grab hin neigten.

»Wir haben keine außergewöhnlichen Ehrungen erwartet, keinen besonderen Lohn, keine Vorzugsbehandlung. Wir waren nicht darauf vorbereitet, die Rolle von Nationalhelden zu übernehmen …«

Das sagte einer der Jungs am offenen Grab. Der Einzige, den mein Vater »Genosse« nannte. Sie hatten gemeinsam gekämpft, erst in einem Abschnitt des Loiret, dann in der Region Paris. Wurden gemeinsam verhaftet und deportiert. Und als sie aus dem Lager kamen, waren sie müde geworden. »Brumaire« und »Tristan«. Seinen wahren Namen habe ich nie erfahren. Er war Tristan, sonst nichts. Und für immer. Der Krieg hatte ihn so getauft und der Frieden keinen Widerspruch gewagt.

Tristan würdigte Brumaire als Letzter, das Manuskript lag offen vor ihm. Der erste Tropfen fiel auf seine Worte. Dann ein zweiter. Mein Vater hätte nach oben geblickt und gesagt: »Endlich geht das Wetter los.« Vorbei. Wir wussten nicht, wohin mit unserem Schweigen. Ein steif gekleideter Mann bedeutete uns mit ausgestreckten Armen, wir müssten Platz für die Erde machen. Lucas fuhr mit einer knappen Bewegung seinen Stock aus und hängte sich bei Mama ein. Die trauernden Angehörigen gingen. Dann die Veteranen. Nur Tristan rührte sich nicht vom Fleck. Er las seine Rede von dem Manuskript ab, das er sich nun vor die Brille hielt, Regentropfen flossen als Tintentränen über das Blatt.

 

Neun Personen und drei Fahnen. Das war das Begräbnis meines Vaters.

Als wir die Allee entlanggingen, sah ich Lupuline. Sie musste in meinem Alter sein. Blonder Pagenkopf, sehr blasses Gesicht, gerade Nase, feingezeichneter Mund. Später bemerkte ich, dass sie beim Lächeln Grübchen in den Wangen hatte.

Ein Mann stand neben ihr. Knapp sechzig, auf einen Krückstock gestützt, überragte er uns alle. Sie hatten sich abseits gehalten. Nicht bei den Trauernden, nicht bei den Fahnen. Etwas dahinter, zwischen zwei grasbewachsenen Gräbern. Sie hatten kein Wort gesagt. Keine Rose auf den feuchten Sarg geworfen. Die Jungs umarmten meine Mutter, Lucas und mich. Lupuline und dieser Mann gaben uns nicht einmal die Hand. Sie standen nur da. Gingen allein zum Ausgang. Und entfernten sich, während wir den Trauerzug auflösten.

Er hieß Tescelin Beuzaboc. Sie war seine Tochter. Doch ihre Namen sollte ich erst sehr viel später erfahren. Damals waren sie bloß ein seltsames, schweigendes Paar, Gespenster, anwesend und abwesend zugleich.

Es war meine dritte Begegnung mit ihnen.

Das erste Mal hatte ich sie auf einem Bürgersteig in Valenciennes gesehen. Das Mädchen an der Hand seines Vaters. Bei einem Fackelzug zur Feier des Waffenstillstands. Da war ich achtzehn und Papa noch auf den Beinen. Schweigend führte er die Jungs an. Keine Fahne, nur ihre Schritte. Im Licht meiner Fackel sah ich Tescelin. Reglos, das Gesicht verschattet, zerfurcht wie ein Stück Rinde. Weiße Mähne, buschige Brauen, blaue Augen. Schwer auf seinen Stock gestützt, aber hoch aufgerichtet. Wie bereit zum Kampf oder zum Appell. Die Schultern, der Hals, der Kopf. Kinn und Blick erhoben.

Das zweite Mal bei der Beerdigung von »Fournel«, drei Jahre vor dem Tod meines Vaters. Fournel hieß eigentlich Maujean, er war einer von den Vengeance-Jungs, zweimal im Kampf verwundet und in seinem Treppenhaus gestorben. Er hatte unter dem Kommando von Capitaine Duchartre in Loir-et-Cher gekämpft. Bestattet wurde er in Arras, an der Seite seiner Frau. Mein Vater verließ sein Zimmer nicht, um Fournel zu begleiten. Und wir begriffen, dass er nie mehr aufstehen würde. Mama ging für ihn zum Begräbnis. Mit Lucas und mir. Ich hatte Lucas meinen Arm um die Schulter gelegt. Er weigerte sich, die schwarze Brille tragen. Weil die Leute dann den Blick abwandten. Lupuline und Tescelin standen wieder etwas weiter weg, hinter einem Mäuerchen. Und gingen vor der Beisetzung. Grußlos, wortlos. Nur ihre Schritte auf dem Kies. Einmal drehte Lupuline sich kurz um. Betrachtete meinen Bruder und mich, die klägliche Besetzung. Ernst und seltsam. Ihr Blick war schrecklich. Irritierend stählern. Ein helles, fast weißes Blau, wie bei ihrem Vater. Ihre Schuhe aber waren einzigartig. Im Fackelschein auf dem Bürgersteig, beim Begräbnis von Fournel und zur Beerdigung meines Vaters trug Lupuline rote Schuhe. So war sie mir zum ersten Mal aufgefallen. So hatte ich sie beim zweiten Mal wiedererkannt. Und als der Sarg meines Vaters hinabsank und ich den Blick von der Lehmhalde hob, sah ich die roten Schuhe zum dritten Mal.

***

Mein Vater war am 14. November 1907 zur Welt gekommen. Deshalb nannten seine Kameraden ihn »Brumaire«. Er sprach selten vom Krieg. Nie vor einem Mikrofon, nie auf einer Bühne, nur ab und zu in ruhigen Worten für einen Freund, einen Verwandten, einen Veteranen der Corps francs.

»Mein Name ist Pierre Frémaux«, sagte er dann.

Nicht »Brumaire«. Er erzählte keine Geschichte, ließ nicht die Vergangenheit Revue passieren. Er war heimgekehrt. Hatte zwei Söhne. Ich aber war lange davon überzeugt, es gebe für ihn nur einen. Lucas war sein Großer, sein Liebling, sein Sohn. Zehn Jahre lagen zwischen uns, eine Welt. Mit Lucas hat er geredet, mit mir nur gespielt. Lucas lehrte er das Leben. Für mich machte er Schattenspiele an der Wand. Ich hing an seinen Lippen. Lucas las in seinen Augen. Ihm erzählte mein Vater vom Widerstand. Von ungeahnten Gefahren, vom Kampf, von seinem Spaß daran. »Manchmal spielten wir auch Krieg«, sagte er lächelnd. Vengeance war für ihn ein Ort für Freunde. Man ging hin, ging wieder weg, flüsterte, wenn man dort war, und kam nie ganz davon los. Einmal, als er etwas getrunken hatte, erklärte er Lucas, wie das mit dem Töten sei. Er sagte nicht viel, nur das Wesentliche. Dass die, die getötet hätten, einander erkennten. Dass sie den gleichen Eisesblick hätten, den gleichen Schritt auf der Straße, eine besondere Art, Schweigen zu fordern.

Meinem Bruder erzählte er auch von der Deportation am 27. April 1944. Von der sechsstelligen Nummer, die in seinen linken Unterarm tätowiert wurde. Erzählte, wie er allein aus dem Lager zurückkam. Empfangen nur von verblichenen Wimpeln. Keine Ehrung, keine Würdigung seiner Truppe, nichts. Der Krieg war wieder zum Frieden geworden, der verstörte Kriegsgefangene und Soldaten zu Tausenden ins zivile Leben entließ. Deren Leiden erschreckten, deren Heldentaten langweilten, deren Verwirrtheit nervte. Das war seine Heimkehr. Überflüssige Widerständler, überzählige Deportierte, ein Menschengeschlecht hinter Stacheldraht, und niemand wusste, wohin damit.

Das murmelte mein Vater Lucas ins Ohr. Und ich hörte nicht zu. Wenn mein Vater seinem Großen vom Krieg erzählte, begann ich zu trompeten: den Daumen im Mund, den kleinen Finger abgespreizt, die Lippen zusammengekniffen, wie beim Hubertusblasen. Ich machte mich nicht lustig. Ich machte Lärm. Marschierte wie auf einer Parade durchs Zimmer. Zwischen zwei Trompetenstößen hörte ich drei Worte: Krieg, Krieg, Krieg. Warum ich das machte? Darum. Weil ich nicht alles begriff. Weil ich noch klein war. Weil mir angst und bange wurde bei so viel Ernst. Weil mein Vater so traurig klang. Weil mein Bruder dasaß, zu Füßen seines Sessels, und ihm lauschte, das Kinn in die Hand gestützt. Weil meine Mutter sagte, ich solle woanders spielen. Dann stand mein Vater auf und nahm mich lachend in die Arme. Sagte, dass ich recht hätte. Dass das ohne Bedeutung sei. Dass jeder getan habe, was getan werden musste. Dass das Kapitel beendet sei. Dass man am besten darüber lachen könne, indem man den Friedenstrompeter von 1918 spiele. Dann kniff er die Lippen zusammen und trötete das seltsam melancholische Hornsignal »au drapeau«.

An einem verregneten Donnerstag im April gingen mein Vater und ich am Kriegerdenkmal auf der Place Rihour vorbei. Zwei Jungen meines Alters kletterten auf dem steinernen Sockel herum. Einer hatte eine Blechpistole in der Hand. Ein Mann im schwarzen Mantel schrie sie an, sie sollten sofort herunterkommen. So ein Denkmal sei wie ein Grab. Niemand dürfe darauf spielen. Das sei verboten. Ein Frevel. Das eine Kind lief davon. Das andere kriegte Angst. Und rutschte aus. Fiel auf den Rücken, der Kopf ins Nasse. Es heulte ein bisschen. Der Mann ging weg. Ging über die Straße, ohne sich umzusehen. Mein Vater ließ meine Hand los, um dem Jungen aufzuhelfen.

 

Ihm fehlte nichts. Er stand schniefend da mit gesenktem Kopf, Papa hockte vor ihm und hielt ihn an den Schultern. Daran kann ich mich erinnern. Zwar nicht mehr an alles, was mein Vater sagte, aber fast. Er sei im Krieg gewesen. Er habe gehungert, gefroren und Angst gehabt, es sei ihm nicht gut gegangen. Warum er sich das wohl angetan habe? Das fragte er zwei Mal. Der Junge senkte den Blick. Als ob er zur Strafe in die Ecke gestellt worden wäre. Als ob ihn das, was mein Vater sagte, nicht mehr erreichte. Ich stand etwas im Hintergrund. Beobachtete meinen Vater. Hörte ihm zu. Mir war das ein bisschen peinlich. Seinetwegen habe er sich das angetan, sagte er zu dem Jungen, Krieg, Widerstand, Angst, Hoffnung, das alles 

»Wie heißt du denn, kleiner Mann?«

»Freddy.«

»Und weiter?«

»Freddy Delsaut.«

… nur damit er, Freddy Delsaut, und jeder andere, sein Freund, der davongelaufen sei, und all jene, die noch kommen würden, auf Kriegerdenkmälern spielen könnten.

»Ich habe für dein Recht zu spielen gekämpft«, lächelte mein Vater.

Ob er das verstanden habe? Der Junge schüttelte den Kopf. Dann schnappte er seinen Ranzen und rannte davon. Ich weiß noch, dass mein Vater lachte. Und dass es ein heiterer Abend wurde.

 

Das war ein paar Jahre vor dem Unfall meines Bruders.

Lucas hatte eine Missbildung, »ein zu kurzes Auge«, wie meine Mutter sagte. Er klagte über Nebel, grelle Lichtkreise, Blitze und Kopfweh. Im Januar 1975 wachte Lucas eines Nachts brüllend auf. Schrie, seine Augen seien zu groß. Erbrach sich. Mein Vater brachte ihn ins Krankenhaus, im Pyjama, mit einem Waschlappen auf den Augen. Ich sprach Lucas an, als er ging. Er hob den Waschlappen. Seine Augen waren schwarz. Die Pupille hatte die Iris verschluckt. Er könne mich nicht mehr sehen, sagte er, zitternd vor Angst. Er konnte mich nie wieder sehen.

Von diesem Tag an hat mein Vater nicht mehr gesprochen. Nicht mit Mama, nicht mit Lucas, nicht mit mir, mit niemandem, nie mehr. Weil er zu traurig war und alles gesagt war. Dann wurde er krank. Legte sich hin. Das Elternzimmer wurde zu seinem Zimmer. Das Krankenlager zum Totenbett. Bis zum Schluss schlief Mama auf dem Wohnzimmersofa. Tappte mit kleinen Frauenschritten durch die Wohnung. Papa lag im Dunkeln. Lucas tastete sich an den Wänden entlang, atmete schwer und schrie immer wieder leise auf. Ich wusste, dass mein Vater bei jeder Bewegung meines Bruders zitterte. Sein Grab war bereit. Und ich war neunzehn.

***

Man wird damit fertig. Es ist schrecklich, aber man wird damit fertig. Nach der langen Trauer, in der man weit weg war, in einem tiefen Loch, zermürbt vom Fehlen, vom Schweigen des Anderen, ohne Luft, ohne Licht, ohne Atem, wenn einem das Denken, die Träume, die Stimme abhandengekommen sind, man keinen Hunger, keinen Glauben, keine Nächte mehr kennt, nach endlosem Zittern und Frieren, nach all den Tagen, allem Sichplagen ohne den Anderen, nach all den verwünschten Festen, den verhassten Jahreszeiten, den sinnlosen Morgen streicht man das Leichentuch glatt, das einen so lange bedeckte. Befühlt, betrachtet noch einmal den Stoff, legt es sorgfältig zusammen, verstaut es in einer Ecke des Lebens und wartet auf das, was kommt. Mit der Trauer wird man fertig, doch die verpasste Begegnung verwindet man nicht.

Ich habe meinen Vater verpasst. Nicht Papa, den unscheinbaren kleinen Mann hinter der großen Brille, die Eule meiner Kindheit. Der mich Wange an Wange ins Bett trug, der uns mit seinen Augen, seiner Haut liebkoste. Sondern den Anderen, meinen Vater. Den glanzlosen Helden, den tapferen Widerstandskämpfer in seinem dunklen Winkel. Ich habe diesen Unbekannten Soldaten einfach gehen lassen, den Deportierten, der in die Freiheit zurückgekehrt war, wie man ins Schweigen eintritt. Ich habe eine Seite unserer gemeinsamen Geschichte überschlagen. Ich hätte ihm zu Füßen sitzen und seinen Blick suchen sollen. Ich habe es versäumt, ihn zu bestürmen, ihn zu befragen, seine Erinnerungen einzufahren. Ich habe als Sohn versagt. So stand ich mit leeren Händen an seinem Grab, ohne ein Pfand für unser gemeinsames Leben in der Tasche. Ohne es zu wissen, hatte ich meine Kindheit mit einem Helden geteilt, aber herumtrompetet, um seine Stimme zu übertönen.

 

Ich habe meinen Vater verpasst, aber er ist mir auch nicht entgegengekommen. Der Friede hatte ihn zurückversetzt in ein einfaches Leben, wo man um Erinnerungen nicht viele Worte macht. Er ging kaum zu öffentlichen Feiern, besuchte Gedenkveranstaltungen nur widerwillig. Er fand den Krieg schrecklich und die Befreiung ungerecht. Wenn er mit seinen Jungs defilierte, dann ihretwegen. Sie freuten sich, wenn sie Brumaire wiedersahen, sein Lächeln, den kleinen Schatten, den geraden Blick. Seine Handvoll Orden lagerte in einer Bonbonschachtel. Von dem Widerstandskämpfer kannte ich letztlich nur zwei Seiten in einem heute unauffindbaren Buch. Ich hatte darin seinen Namen gefunden und zwei Anekdoten über Gefahr und Mut. Und ein Foto von ihm als jungem Mann, der vor der Kamera kniet, lächelnd, mit einer Maschinenpistole in der Hand.

Wir dachten, wir hätten noch genügend Zeit, um darüber zu reden, mein Vater und ich. Verschoben die Einweihungszeremonie auf später. Das hätten wir uns nie eingestanden. Es wurde sogar zu einer Neckerei zwischen uns. Einer Art, »bis morgen« zu sagen. Dann verlor Lucas sein Augenlicht. Mein Vater legte sich hin. Ich gab auf. Und der Tod hat uns einander entrissen.

An diesem Tag, als ich die Fahnen mit dem roten Panther ansah, der Reihe nach die drei Veteranen betrachtete und Tristan bei seinen Regentränen lauschte, wurde ich Waise. Wirklich. Elternlos. Mein Vater war wie tot gewesen, lange bevor er ins Grab sank. Und meine Mutter starb daran, dass sie ihn begleitet hatte. Sie ließen ein Kind ohne Augenlicht und eins ohne Prägung zurück.

2
NOVEMBER 2002

Die Frau, die mir geschrieben hatte, hieß Lupuline Beuzaboc. Ich las den Namen, der auf der Rückseite des Kuverts stand, noch einmal und sagte ihn vor mich hin. Hübsch, Lupuline. Ich sollte bald erfahren, dass er von einer Luzerne mit gelben Blüten stammte. Bei Beuzaboc musste ich an einen Molière’schen Helden denken, eine Theatermaske, ein literarisches Fundstück. Noch nie hatte ich diesen Namen gehört. Mechanisch schlug ich das Telefonbuch von Nord-Pas-de-Calais auf. Kein Beuzaboc. Ich suchte weiter, gab Beuzaboc in meinen Computer ein. Wegen des schroffen Wechsels von Konsonanten und Vokalen und der harten Aussprache dachte ich als Erstes an die Bretagne. Dehnte die Suche auf Paris und andere Städte, Départements, Regionen, ganz Frankreich aus. Nirgends ein Beuzaboc. Also versah ich den seltsamen Familiennamen mit einem Fragezeichen. Natürlich zog ich da noch keine Verbindung zu dem Mädchen mit den roten Schuhen, das mir vor fast zwanzig Jahren am Rande der Gräber immer wieder über den Weg gelaufen war.

Der Brief kam nicht überraschend. Er war eine Antwort auf die Annoncen, die ich in der Lokalpresse aufgegeben hatte: »Bereiten Sie Ihren Eltern, Freunden oder sich selbst den gebührenden Auftritt! Stürzen Sie sich in ein literarisches Abenteuer der besonderen Art! Sie werden begeistert sein. Und am Ende werden Sie selbst zum Schriftsteller, denn IHR NAME wird auf dem Einband stehen.« Ich bildete mir nicht viel ein auf diese Anzeigen in gelben oder roten Rahmen. Sie waren schnell hingeschrieben, sollten den Stolz der Leute kitzeln, und sie erreichten ihr Ziel.

Ich war Familienbiograph. Nicht Ghostwriter, sondern Biograph. Ich schrieb nicht anstelle der Auftraggeber, sondern verlieh den Worten einfacher Leute eine Ordnung. Jeden Monat bekam ich fünf, sechs Briefe ähnlichen Inhalts und gleichen Zwecks: Die Verfasser wollten von sich erzählen. »Mein Leben verdient Interesse, genauso viel jedenfalls wie das Leben anderer Menschen. Also warum kein Buch daraus machen?«, schrieb mir eine ehemalige Spinnerin aus Haspres. »Wenn man stirbt, vererbt man seinen Kindern meist Möbel oder Geld. Ich will ihnen den Roman meines Lebens hinterlassen«, erklärte ein alter Lehrer aus Béthune.

Das Buch der Spinnerin war in acht Sitzungen fertig. Sie redete schnell. Erinnerte sich an alles. Ihre Sprache war klar und knapp. Keine Wortspiele, kein Ideengestrüpp. Subjekt-Verb-Objekt. So trocken wollte sie auch ihr Buch. Ich brauchte den Text nur noch abzutippen. Als es um den Titel ging, schlug ich vor: »Mein Leben – Wort für Wort«. Das gefiel ihr.

Der Lehrer aus Béthune hatte heimlich verfasste Gedichte in seine Erinnerungen einfließen lassen. Titel: »Kreideverse«? Der Schulmeister nickte.

Die, die nicht von sich selbst erzählten, schilderten das Wagnis eines Familienunternehmens, gedachten ihrer Mutter oder einer Kindheitsliebe, zeichneten einen Lebensweg nach, ein Dorf, ein Exil. Meine Klientel war nicht allzu anspruchsvoll. Ich sollte nur dafür sorgen, dass ihre Geschichten sich Stück für Stück zu einem Buch zusammenfügten: zweihundert Seiten im Durchschnitt, ein Bildteil in der Mitte, ein guter Titel, Broschur. Eine kleine Druckerei in Lille produzierte die Werke. Ein paar Dutzend Exemplare, manchmal nur eine Handvoll für die nächsten Angehörigen. »Éditions de l’Arnommée« stand auf dem Einband. Eine Idee des Druckers. Weil ein Verlag allein ein Manuskript zum richtigen Buch adelt. Jedes Exemplar war mit Zellophan umhüllt. Das erste öffneten meine Kunden stets mit fliegenden Fingern.

 

Lupuline Beuzaboc wollte ihrem Vater den Bericht seines Lebens schenken. Ich würde sie am nächsten Tag oder nächste Woche anrufen. Ich musste noch ein paar andere Texte fertig machen. Ich hatte es nicht eilig.

***

Ich schrieb also die Erinnerungen anderer Leute auf, aber nicht nur. Ich war auch bereit, Texte zu überarbeiten. Manche Kunden brauchten einen Lektor für Selbstverfasstes. Dann korrigierte ich die Syntax, ziselierte Sätze und stellte eine Chronologie her. So redigierte ich etwa das Manuskript einer jungen Mutter, die sich vorstellte, ihr Baby zu erwürgen. Oder das eines Mannes, der seine Frau betrog und die Romanform wählte, um sie in seine Spielchen miteinzubeziehen. Einmal bestellte ein Witwer bei mir ein Buch zum Gedenken an seine Frau, die tot neben ihm gelegen hatte, als er an einem Julimorgen erwachte. Manchmal sollte ich der Wirklichkeit auch ein bisschen Fantasie beimischen. Dann suchte ich nach farbigeren Verben und fügte zwei, drei Märchen hinzu, um die Wirklichkeit ein wenig aufzuhübschen. »Es liest sich besser«, entschuldigte ich meine kleine Schwindelei.

»Und was schreiben Sie eigentlich?«

Oft war das die erste Frage, die meine Kunden stellten. Sie wollten erst etwas von mir lesen, bevor sie mir ihr Leben anvertrauten. Wie man an einem Marktstand im Freien eine Frucht prüft.

Ich war Lehrer und sechs Jahre Journalist gewesen, Lokalreporter für »La Voix du Nord«, die »Stimme des Nordens«. Die Artikel hatte ich über die Jahre gesammelt und präsentierte sie neuen Kunden in farbigen Ordnern mit Klarsichthüllen. Dass ich Journalist war und mein Name unter den Artikeln stand, hatte für sie etwas Beruhigendes. Beim Blättern erläuterte ich, ich hätte in diesen Gemeindesälen, bei ländlichen Essen oder Schultheateraufführungen so viel von den Leuten gehört und gesehen und kleine Alltäglichkeiten notiert, dass ich auf die Idee gekommen sei, Biograph zu werden.