PORTERVILLE

- Folge 6 -

„Vor den Toren“

Simon X. Rost

- Originalausgabe -

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-942261-47-0

Lektorat: Hendrik Buchna

Cover-Gestaltung: Ivar Leon Menger

Fotografie: iStockphoto

Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

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Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen! Ivar Leon Menger

Prolog

„Verstört irrlichtert Martin Preys Blick in der Crenlynn-Kammer umher, streift die erschütterte Madam Secretary und ihren kreidebleichen Mann Randolph, den blondmähnigen Football-Fan, dessen Zahnpasta-Lächeln einer Grimasse des Schreckens gewichen ist, meinen Leibwächter Clark, der jetzt mitten in der Bewegung erstarrt und vom bluttriefenden Attentäter ablässt, und richtet sich schließlich auf mich. Seine bebende Stimme ist von Angst und Fassungslosigkeit verzerrt.

‚Ich verstehe nicht. Wo … wo sind wir?’

Törichter Narr. Nicht das Wo ist es, das alle bis ins Mark erschüttert, sondern das Wann

Auch meine Selbstbeherrschung erlischt wie eine Kerze im Sturmwind, als mir die brachiale Tragweite der vier digitalen Ziffern auf der Datums-Anzeige bewusst wird.“

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Angus Hudson

Bürgermeister von Porterville

-1-

Jahr 0034

Er wird sterben.

Der Mann, der einmal mein Freund war, wird in wenigen Minuten in tausend kleine Teile zerfetzt werden. Ich habe ein Päckchen für ihn. Exodyn steht auf diesem Päckchen. Es liegt auf der Kloschüssel vor mir. Zwei ineinander verschlungene Dreiecke bilden das Logo der Firma BenedictDynamics, das Sprengstoffe für den Bergbau und Abrissunternehmen herstellt.

Exodyn ist ein Plastiksprengstoff, was schlicht bedeutet, dass er formbar ist und wie eine Stange aus Knetmasse wirkt. Meine Finger zittern, als ich die Zünddrähte in das weiße Material mit der Konsistenz einer Spachtelmasse stecke, so wie es Morris Clayburne mir erklärt hat. Morris ist ein Bau- und Abrissunternehmer, der auf unserer Seite steht und das Zeug besorgt hat. Alter Bestand. Verschlossen in einem Stahlschrank, zu dem nur Morris den Schlüssel hat.

Die Drähte sind kurz und führen zum Zünder, der mit einem handelsüblichen Küchenwecker verbunden ist, wie man ihn zum Eierkochen benutzt. Ich umwickle das Päckchen mit Klebeband und hoffe, dass niemand die Toilette betritt. Ich bin schon zu lange hier drin. Man wird mich vermissen.

Mach schneller, verdammt!

Ich habe die Handgriffe drei dutzend Mal geübt, bis ich sie im Schlaf beherrschte. Ich darf keinen Fehler machen. Es darf einfach nicht schiefgehen. Die Musik des kleinen Orchesters dringt selbst durch die Toilettentür zu mir. Sato wird jeden Moment auf die Bühne treten. Er wird von besseren Zeiten reden, einer rosigen Zukunft ohne Mangel, und dann wird er einen kleinen Scherz machen, und die Menge, die gekommen ist, um der Eröffnung des Bedarfscenters beizuwohnen, wird lachen und ihren Bürgermeister beklatschen.

Und dann wird er explodieren.

Aber noch ist er nicht auf der Bühne. Er wartet noch auf seine Rede, die ich in meiner Aktentasche habe.

Die Aktentasche war ein Geschenk von Rhonda, meiner Frau. Ich hoffe, sie verzeiht mir. Ich drehe den Zeiger der Eieruhr auf drei Minuten und stecke das tickende Päckchen zurück in meine Aktentasche, als jemand die Toilette betritt.

„Mister Prey? Sind Sie hier?“

Ich drücke die Spülung, das Wasser rauscht in die Schüssel und dann öffne ich die Tür. Neonröhren tauchen den grün gekachelten Raum in ein diffuses Licht, und die Urinalsteine verströmen einen stechend süßlichen Geruch. Ich stecke mir das Hemd zurück in die Hose, als ich zum Waschbecken trete, und bedenke Treyvon, den hünenhaften Mitarbeiter der IFIS, der sich um Satos Personenschutz kümmert, mit einem dünnen Lächeln.

„Treyvon. Hatten Sie Sehnsucht nach mir?“

Treyvon verzieht keine Miene. „Der Bürgermeister wartet und wir haben uns Sorgen gemacht, Mr. Prey, Sir. Ist Ihnen nicht wohl?“

„Alles in Ordnung, Treyvon. Muss am Fisch gestern Abend gelegen haben. Aber jetzt geht’s mir besser.“

Treyvon nickt, aber täusche ich mich, oder bleibt der Schatten eines Zweifels in seinem Gesicht zurück? Ahnt er etwas? Misstraut er mir? Hört er das Ticken der Eieruhr? Ich gebe mir Mühe, laut zu sein, wasche mir die Hände, und greife dann nach meiner Aktentasche. Sie kommt mir ungewöhnlich schwer vor, als ich sie hochnehme. Zu schwer. Treyvon hält mir die Tür auf.

„Wie geht’s Jamal und Teisha, Treyvon? Alle gesund?“, frage ich ihn.

Auf Treyvons Gesicht erscheint der Anflug eines Lächelns. „Jamal ist ein echter Wildfang und Teishas Aufsässigkeit beschert meiner Frau und mir graue Haare, aber was soll ich sagen, Sir? Wir lieben sie trotzdem.“

„Sicher tun Sie das, Treyvon“, nicke ich lächelnd und hoffe gleichzeitig, dass Treyvon weit genug entfernt von Sato sein wird, wenn der Sprengsatz in meiner Tasche explodiert. Er wird allein auf der Bühne stehen, und Morris hat mir versichert, dass er den Sprengstoff genau bemessen hat und dass niemand außer Sato verletzt werden wird.

Wir laufen durch einen kahlen Gang, an dessen Wänden für Sonderangebote geworben wird, zurück in die Haupthalle des Bedarfscenters. Früher war es die Bibliothek, in der mein Vater gearbeitet hat. Sie haben das Gebäude zu einem Supermarkt umfunktioniert. In den endlosen Regalreihen, in denen einst das Wissen dieser Welt stand, sind jetzt Seife und Konservendosen, Fleischersatz und Mehl gestapelt. Die Menge johlt bereits, Sato ist ans Rednerpult auf der kleinen, improvisierten Bühne getreten. Er reckt die Arme und badet im Applaus der Menge. Sein Blick geht zu mir und er wirkt erleichtert, als er mich sieht. Er wartet auf seine Rede.

Sato wartet nicht gerne.

Ich werde die drei Treppenstufen zur Bühne hochgehen, Sato die Rede aus meiner Aktentasche geben und die Tasche mit dem Sprengsatz einfach neben ihm stehenlassen. Ich schätze mal, mir bleiben noch zwei Minuten, bis der Sprengsatz detoniert. Und das Leid und Elend in dieser Stadt ein Ende hat.

In den Stuhlreihen hinter der Bühne entdecke ich Charlotte, meine Sekretärin. Sie weiß, was ich vorhabe. Ich fange ihren Blick auf. Sie nickt mir zu. Entschlossen. Mit einem grimmigen Lächeln.

„Tu es!“, sagen ihre Augen.

Und ich tue es.

- 2 -

Drei Tage vorher.

Die Laken sind kühl auf unserer Haut. Ich streiche über die Stelle zwischen ihrem Hals und der Schulter, die so unglaublich weich ist, und ihr langes Haar fließt durch meine Finger. Ihre nackte Brust liegt an meiner, ihre Hand fährt über meine Hüfte. Wir sind beide verschwitzt. Ich spüre ihre Lippen auf der Wange und der Stirn. Als sie ihre Fingernägel über meinen Rücken gleiten lässt, durchfährt es mich heiß und kalt, und ich packe ihren Hals, ziehe sie an mich, unsere Lippen finden sich wieder, werden gierig, wollen mehr. Und ich weiß, dass wir uns gleich noch mal lieben werden, als sie plötzlich ihre Augen aufreißt.

„Sie spielt nicht mehr!“, flüstert sie.

Und dann bemerke ich es auch und schrecke herum. Ich höre Emily über den Parkettboden tapsen. Draußen, vor dem Schlafzimmer. Rasch springe ich auf, schlüpfe nackt, wie ich bin, in die Hose und ziehe das T-Shirt darüber, als sich die Klinke bereits bewegt. Zögernd, schwerfällig wird sie nach unten gedrückt, aber da bin ich schon an der Tür. Emily lächelt mich verschämt an und ich muss ganz automatisch zurücklächeln, wenn ich das Strahlen im Gesicht meiner Tochter sehe. Wie schön sie ist. Wie unschuldig.

„Papa Tavier“, sagt sie und zieht an meinem Hosenbein.

Ich gehe in die Knie, streiche ihr über den Kopf. „Ja. Ich komme mit zum Klavier, Schatz. Aber zuerst musst du mir noch etwas vorspielen, in Ordnung?“