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Nr. 2633

 

Der tellurische Krieg

 

Nach dem Angriff der Sternengaleonen – der Beginn einer gefährlichen Mission

 

Hubert Haensel

 

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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Seit dem dramatischen Verschwinden des Solsystems mit all seinen Bewohnern hat sich die Situation in der Milchstraße grundsätzlich verändert.

Die Region um das verschwundene Sonnensystem wurde zum Sektor Null erklärt und von Raumschiffen des Galaktikums abgeriegelt. Fieberhaft versuchen die Verantwortlichen der galaktischen Völker herauszufinden, was geschehen ist. Dass derzeit auch Perry Rhodan mitsamt der BASIS auf bislang unbekannte Weise »entführt« worden ist, verkompliziert die Sachlage zusätzlich. Um die LFT nicht kopflos zu lassen, wurde eine neue provisorische Führung gewählt, die ihren Sitz auf dem Planeten Maharani hat.

Doch wo befindet sich das Solsystem? Allem Anschein nach wurde es in ein eigenes Miniaturuniversum versetzt, eine »Anomalie«. Dort sind die Menschen aber nicht allein: Auch Sayporaner und Spenta bewohnen dieses Gebiet, und sie sind es, die allem Anschein nach dort den Ton angeben. Sie bringen den Fimbul-Winter über Sol und ihre Planeten und schicken ihre Sternengaleonen. Ihr Angriff kann zwar zurückgeschlagen und drei ihrer Einheiten über Terra abgeschossen werden, aber damit beginnt DER TELLURISCHE KRIEG ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Bentelly Farro – Der Lithosphärentechniker wird gegen seinen Willen zum Einsatz gerufen.

DayScha – Die Cheborparnerin versucht Leben zu retten.

Geronimo Abb – Der junge Terraner trifft einen Regenriesen.

Homer G. Adams – Er setzt seine Hoffnung auf die »Society of Absent Friends«.

Nachtaugs Beisohn – Der Utrofar sieht sein Ende gekommen.

1.

 

Ich bin tot!

Das zu akzeptieren, fiel Nachtaugs Beisohn unglaublich schwer. Der Gedanke an sich erschien ihm schrecklich irreal.

Tot!

Und dann?

Er entsann sich nicht, jemals über die Folgen eines derartigen Vorfalls nachgedacht zu haben.

Wie würde es sein – danach? Als hätte es ihn nie gegeben? Oder als hätte das Universum nie existiert?

Sein Leben lag in Trümmern. Die Überreste des Schiffes waren weit verstreut niedergegangen, das Gros der Wrackteile im Meer versunken.

Stets bin ich mit solchen Überlegungen an eine Grenze gestoßen. Sie war unüberwindlich.

Und nun?

Die Grenze gibt es nicht mehr, ich kann über meinen Tod spekulieren. Allerdings ist es zu spät: Nichts lässt sich ungeschehen machen ...

 

*

 

Geronimo Abb drehte die Hand so, dass das Streulicht der Photonencracker DaySchas Gesicht traf.

Er gab sich hart, dabei war ihm miserabel zumute. Nichts hätte er lieber getan, als sich herumzuwerfen und davonzuhasten. Keineswegs nur zurück bis zum Geodät, sondern weiter, sehr viel weiter. Die regennasse Nacht allein bot kaum Schutz vor dem Unheimlichen, das auf Terra herabgestürzt war.

Warum rannte er nicht einfach los?

Weil DayScha noch mehr Angst hatte als er. Ihr eigentlich dunkles Fell schimmerte bleich wie verfilzter grauer Draht. Ihre Augen, sonst groß und leuchtend rot, waren zu schmalen Schlitzen verengt. Dayszaraszay Schazcepoutrusz hatte einen Arm gehoben und den Ellenbogen so angewinkelt, als müsse sie sich gegen blendendes Sonnenlicht schützen.

Dabei gab es die Sonne seit Tagen nicht mehr. Außerdem hielt die Cheborparnerin den Kopf gesenkt, eine Abwehrhaltung, die ihre beiden spitzen Hörner zur Verteidigungswaffe werden ließ.

Geronimo biss die Zähne zusammen. DayScha war als Au-pair-Mädchen gekommen. Ihr Anblick hatte ihn an jene Legenden erinnert, die von einem Himmel mit Engeln und von Teufeln in der Feuerhitze der Hölle erzählten. Mittlerweile wusste er, dass Cheborparner trotz ihres Aussehens, das an einen aufrecht gehenden Ziegenbock erinnerte, von liebenswertem Wesen waren. Wenngleich er das mit dem liebenswert DayScha keinesfalls verraten würde. Sie war älter und größer als er und fühlte sich ihm schon deshalb überlegen. Ein dritter Grund wäre mit Sicherheit einer zu viel geworden.

Dayszaraszay Schazcepoutrusz war also eine Art gute Teufelin. Was es mit Engelsgestalten auf sich hatte, verrieten die jüngeren Geschichtsdateien. Wesen, die ätherisch schön wie Engel beschrieben wurden, waren mit der Terminalen Kolonne TRAITOR in die Milchstraße eingefallen – und sie waren das Böse an sich gewesen.

Die ganze Welt ist irgendwie verdreht.

Der Regen lief ihm durchs Haar und übers Gesicht. Fahrig wischte Geronimo sich mit der linken Hand über die Stirn. Seine Rechte mit den Crackern zitterte leicht.

Lauf weg!, dröhnte es in ihm. Wir haben genug gesehen. Sobald dieser Gigant auf die Beine kommt ...

»Weißt du überhaupt, wovon du redest?«, fragte DayScha.

»Phassafulbuli! Dein Regenriese.«

»Das ist nur ein Name für dich.« Ihr Flüstern war fester geworden. Trotzdem klang sie eher ablehnend. »Sprich nicht über Dinge, die du nicht verstehst«, glaubte Geronimo herauszuhören. »Auf Terra gibt es keine Regenriesen.«

... und sie fallen schon gar nicht vom Himmel! Er schloss die Hand zur Faust. Die Lichtflut verblasste und drang nur mehr fahl zwischen den Fingern hindurch.

Aus der Ferne erklangen die Schreie von Brüllaffen. Andere Tierstimmen fielen ein. Dazu das Trommeln des Regens im Blätterdach. Das war nach dem grellen Blitz des in großer Höhe explodierenden Raumschiffs, nach dem tosenden Lärm und den Erschütterungen schon wieder mehr Normalität, als er eigentlich erwarten durfte.

»Der Schazce' Phassafulbuli, der Regenriese ...«, wiederholte DayScha beinahe meckernd. Sein Schweigen dauerte ihr offenbar zu lange. »Wir sind hier nicht auf Pspopta ...«

Zum Glück nicht!, ging es ihm durch den Sinn. DaySchas Heimat mochte wie die Hölle sein: ein Planet der Vulkane, des Feuers, unerträglicher Hitze.

»... sondern auf Terra. Das ist deine Welt, Geronimo.«

Eben! Und auf Terra gab es keine Riesen. Abgesehen von Halutern, die hin und wieder zu Besuch kamen. Die größten lebenden Tiere waren Wale – Giganten mit mehr als dreißig Metern Länge, die gemächlich die Ozeane durchpflügten.

Tief atmete Geronimo ein. In Gedanken zählte er bis drei – bis fünf, weil es ihm sinnvoller erschien, seine aufgewühlten Gedanken erst einmal zu beruhigen. Der Lärm und das grelle Licht hatten ihn aus ohnehin unruhigem Schlaf aufgeschreckt. DaySchas bizarre Erzählungen schienen jäh Realität geworden zu sein.

Das kann kein Lebewesen sein. Viel zu gigantisch ...

Ein splitterndes Geräusch fraß sich in seine Überlegungen. Er sah einige halb entwurzelte Bäume vollends stürzen. Ihr dumpfer Aufprall vermischte sich mit einem unheimlichen Laut. Ein Wimmern? Stöhnen?

Geronimo Abb riss die Faust hoch, öffnete die Finger. Gleißend stach die Helligkeit der Photonencracker durch den Regen. Ganz in der Nähe, mit schwerfälligem Flügelschlag, stiegen mehrere dunkle Schemen auf. Königsgeier, die Beute gewittert hatten?

Das Kunstlicht machte die Spur der Verwüstung sichtbar. Wenige Bäume waren im Wipfelbereich abrasiert worden. Was da abgestürzt war, schien beinahe wie ein Stein gefallen zu sein, nur im unmittelbaren Aufschlagbereich hatte es Bäume und Unterholz zur Seite gedrückt.

»Ein Nest!«

DaySchas Ausruf ließ Geronimo zustimmend nicken. Nest war ein treffender Vergleich. Der Riese hatte sich, halb nach vorn gekrümmt, eine Ruhestätte geschaffen.

Ein Grab?

Geronimos Neugierde verdrängte seine Furcht. Das Licht zeigte ihm zerfetzte Maschinenteile. Seltsam transparente Fragmente lagen weit verstreut und hingen sogar in den Bäumen; sie verrieten sich nur durch ihr metallisches Glitzern.

Wenige Meter vor ihm hatte sich ein ausgezacktes Bruchstück in den Boden gebohrt. Es steckte fast senkrecht drin, von Rissen und Sprüngen durchzogen, und seine leichte Wölbung war deutlich zu erkennen.

Metall?

Glas?

Keine Ahnung. Auf Geronimo wirkte es ohnehin eher wie der Splitter einer gigantischen Eierschale.

Unwichtig, entschied er. Für ihn zählte allein die gewaltige Gestalt im Zentrum der Verwüstung. Woher war der Riese gekommen? Gehörte er zu den Angreifern oder brauchte er einfach nur Hilfe?

Geronimo merkte, dass er gerade davor zurückschreckte. Was konnte er schon ausrichten? Nicht einmal drei Monate lag sein fünfzehnter Geburtstag zurück. Was seit Kurzem auf Terra geschah, hatte ohnehin eher die Anmutung einer virtuellen Holoexistenz. Realität wirkte anders. Und selbst wenn: Die einzige außerirdische Intelligenz, zu der Geronimo bislang näheren Kontakt gehabt hatte, war DayScha. Vor einigen Jahren waren zwar Topsider und später sogar eine Gruppe von Blues auf der Hazienda erschienen und hatten mit seinen Eltern über Antiquitäten verhandelt, doch er hatte sie nur auf den Monitoren der Hausüberwachung gesehen.

Aus gut achtzig Metern Entfernung musterte Geronimo Abb den Riesen. Bedeckt von abgerissenen Ästen und Schlingpflanzen lag der Koloss zwischen zersplittertem Turbobambus und entwurzelten Bäumen. Die Wucht des Aufpralls hatte den Boden aufgewühlt.

Wieder erklang dieses dumpfe Stöhnen. Zwei der vier Arme – Geronimo fehlte ein richtiger Vergleich für ihre Größe – wischten fahrig über den Leib.

DayScha stand plötzlich neben ihm. »Er ist nicht vollständig ... Er wächst aus dieser Maschine hervor.« Was sie sagte, machte ihn erst aufmerksam. Der Riese hatte keinen Unterleib, ab der Hüfte steckte er in einem gewaltigen Aggregatblock.

»Was ist das?«, fragte Geronimo.

»Keine Ahnung«, antwortete DayScha.

»Das ist dein Regenriese.«

»Nein. Vielleicht ... Ich weiß nicht ... Aber er ist verletzt.«

»Das sehe ich auch.«

»Wir können ihn nicht einfach so liegen lassen.«

Ruckartig fuhr Geronimo Abb herum. Er starrte die Cheborparnerin an. »Natürlich können wir ihn nicht liegen lassen«, sagte er spöttisch. »Fass mit an, wir tragen ihn ins Zelt!«

»Terranischer Besserwisser!«, rief DayScha.

Geronimo ging weiter. Er dachte nicht daran, der Cheborparnerin die Initiative zu überlassen.

 

*

 

Stille herrschte. Für Nachtaugs Beisohn war sie wie die schmeichelnde Ruhe zwischen den Sternen. Ihm fehlten schon jetzt das lautlose Dahingleiten an der Spitze des Utrofarischen Ovoids, der Geschmack des endlosen Nichts und der brodelnde Sonnenduft.

Aus geringer Höhe fiel etwas auf seinen Leib. Halb in Trance, versuchte er, es mit einer hastigen Bewegung wegzuwischen, doch ein stechender Schmerz jagte bis zu seiner Schulter hoch.

Nachtaugs Beisohn schrie ...

... zugleich wurde ihm bewusst, dass sein Schrei nicht mehr war als ein kaum hörbares Gurgeln.

Der Tod kam auf Raten. Erst war das Schiff nach den gegnerischen Treffern auseinandergebrochen, nun tobte der Schmerz immer heißer durch seinen eigentlichen Leib.

Mit beiden rechten Armen tastete er um sich. Ein dünnes Geflecht brach unter seinem Griff auseinander. Er wischte die Überreste zur Seite – wahrscheinlich Pflanzen, die seinen Absturz aufgefangen hatten. Ein Handstummel schlug gegen den Aggregatblock. Er spürte, wie messerscharfe Metallsplitter sein Fleisch aufrissen. Blut quoll aus der Wunde und rann klebrig über den Arm.

Keuchend atmete Nachtaugs Beisohn ein.

Die Luft des Planeten brannte in seinem Rachen, zugleich war ihm, als legten sich schwere Stahlbänder um seinen Brustkorb. Hustend kämpfte er dagegen an und versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, sank aber kraftlos wieder zurück.

Für einige Momente glaubte er, eine dünne Stimme zu hören. Hatten sich nicht alle Besatzungsmitglieder über den Transmitter in Sicherheit gebracht?

Es fiel ihm schwer, den Schädel zur Seite zu drehen. Ein Schwall Nässe ergoss sich auf sein Gesicht – kondensierter Wasserdampf, wie er ihn schon während des Absturzes wahrgenommen hatte.

Ich werde die Sterne nie wieder spüren.

Wehmut erfasste ihn. Außerdem Unverständnis, dass der Tresor versucht hatte, ihn zu töten. Ausgerechnet jene Maschine, die sein Leben erhalten sollte!

Die Gegner hatten das Schiff zerstört und den Tresor schwer beschädigt. So verwirrend dieser Gedanke auch sein mochte, wahrscheinlich lebte er nur deshalb noch.

Eine Gnadenfrist, erkannte Nachtaugs Beisohn. Mehr war es nicht.

 

*

 

»Hilf mir hoch!«, drängte DayScha.

Der Junge achtete nicht darauf. Vorsichtig balancierte er über den nassen Stamm, dessen Holz rutschig war. Nur die wenigen Stellen, an denen noch Rinde haftete, boten ihm einen einigermaßen guten Halt.

»Geronimo, das schaffst du nicht allein! Deine Eltern werden sich maßlos aufregen und ...«

Er blieb stehen, mit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht bewahrend.

»Meine Eltern sind nicht auf der Erde«, erwiderte er, ohne sich nach der Cheborparnerin umzusehen. »Also lass mich tun, was ich für richtig halte.«

»Sobald sie zurückkommen ...«

»Was glaubst du eigentlich? Basil und Nishaly sind unerreichbar weit weg. Genauso wie deine Höllenwelt.«

»Feuerwelt!«, protestierte DayScha. »Ich weiß inzwischen, was die Menschen als Hölle bezeichnen – das zu unterstellen ist infam.«

»Dann ist es ja gut, alte Frau.«

Alt. Dayszaraszay Schazcepoutrusz war acht Jahre älter als er. Es reizte ihn, ihre roten Augen blitzen zu sehen, wenn sie sich deshalb ärgerte. Ihre Nasententakel zuckten dann heftig, als wollten sie sich verknoten.

Geronimo schaute zu dem Regenriesen auf. Bis auf fast zwanzig Meter war er dem Monstrum schon nahe. Eben hatte der Koloss vergeblich versucht, sich vom Boden hochzustemmen. Die massigen Arme, die keine erkennbaren Finger aufwiesen, waren zu schwach dafür.

»Geronimo Abb!«, keifte DayScha. »Ich bin für dich verantwortlich.«

»Ach«, sagte er und dachte gar nicht daran, sich von ihr ablenken zu lassen. »Ich bin alt genug; ich weiß, was ich tue.«

»Offenbar nicht. Du wirst dir das Genick brechen. Hilf mir rauf, und wir reden nicht mehr darüber. Oki?«

»Wennschon, dann: okay.«

»Oki?«, drängte sie.

Geronimo schüttelte den Kopf. Das galt allerdings nicht seiner Begleiterin, sondern dem mühsamen Vorankommen. Am Rand der Lichtung hatte es leichter ausgesehen. Schweres Gerät wäre sinnvoll gewesen, zumindest ein Desintegrator, um dem verfilzten Dickicht beizukommen.

»Pass auf!«, rief DayScha.

Nur für eine Sekunde hatte er sich ablenken lassen – einen Moment zu viel, erkannte er, als der Schatten heranzuckte.

Es hatte den Anschein, als wolle der Koloss sich mit aller Gewalt Platz verschaffen. Seine Arme wirbelten Bambus auf wie Bausteine, die ein Kind zur Seite wischten.

Vielleicht zehn Meter vor Geronimo splitterte eine Baumkrone. Er sah knorrige Äste abbrechen und wie Geschosse heranfliegen. Statt ihnen auszuweichen, kämpfte er um sein Gleichgewicht ...

... und stürzte wohl nur einen Sekundenbruchteil, bevor einer der Äste ihn getroffen und schwer verletzt hätte.

 

*

 

»Komm schon, Junge, du darfst nicht sterben! Ich weiß, dass diese Welt schrecklich ist. Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht, wieso viele in der Galaxis von Terra schwärmen ...«

Er kannte die helle, beinahe meckernde Stimme. Allerdings entsann er sich nicht, woher. Ihm war nicht einmal klar, wo er sich befand. Keinesfalls im Geodät, denn die Geräuschkulisse sprach dagegen.

Ein fürchterlicher Brummschädel machte ihm zu schaffen. Nur deshalb reagierte er so langsam, als etwas Raues über sein Gesicht tastete. Der Versuch, sich dagegen zur Wehr zu setzen, wurde von einem geschmeidigen Körper verhindert, der sich über ihn beugte. DayScha?

»Wir haben die Medoeinheit in der Hazienda gelassen«, sagte sie. »Allerdings erinnere ich mich an Informationen über Notfallhilfe ...«

Dazu gehörte bestimmt nicht, ihm die Nase zuzudrücken. Außerdem umfasste sie sein Kinn und zwang ihn, den Mund zu öffnen.

Schlagartig war seine Erinnerung wieder da. Der Baumstamm, auf dem er balancierte ... Die heranwirbelnden Äste ... Er stürzte. Versuchte sich abzufangen ...

Drahtwolle kratzte über sein Gesicht, und das war ein Gefühl, als würde ihm die Haut vom Fleisch geschabt. In der nächsten Sekunde drückte etwas auf seine Lippen. Es war hart und trocken und irgendwie hitzig. Ein heißer Luftschwall drang in seinen Rachen, als hänge er an einem Blasebalg.

Geronimo riss beide Arme hoch. Seine Hände stießen auf Widerstand und verkrallten sich darin, doch ein heftiger Biss ins Handgelenk ließ ihn zurückzucken.

»Du hast genug Lebensfeuer!«, stellte DayScha fest. »Ich bin erleichtert.«

Geronimo ließ sich auf den Rücken sinken. Er sah die Cheborparnerin, vor Nässe triefend, neben ihm knien und tastete mit einer Hand über seinen Mund. Wenigstens blutete er nicht.

»Ich habe dir das Leben gerettet.«

Er schwieg. Sollte er sich bedanken? Dafür, dass DayScha ihn beinahe erstickt hätte?

»In dem Notfallhilfe-Vid habe ich gesehen, wie wichtig das mit der Mund-zu-Mund-Beatmung ist.«

Sag das nie jemandem!, ging es Geronimo durch den Kopf. Nie!

Sicher, DayScha war eine Frau. Aber was für eine. Weit mehr als einen Kopf größer als er und schlank. Ihr Drahtfell raubte ihrem unverkennbar weiblichen Körper allerdings einen Teil seiner Anziehungskraft, auch wenn das meiste davon unter der eng anliegenden Kombination verborgen blieb. Die beiden Hörner auf der Stirn, die spitzen Ohren, das kräftige Kinn und vor allem die drei breiten Nasenlöcher mit den Greifzungen: Dayszaraszay Schazcepoutrusz war und blieb ein Exot – gleichermaßen anziehend wie abstoßend. Das Faszinierendste an ihr waren die großen, runden roten Augen. Vor allem wenn sie wie jetzt ihr Restlichtmonokel trug.

Warum hatten seine Eltern ihm das angetan? Weshalb hatten sie nicht eine schnuckelige heimatlose Akonin in die Familie aufgenommen?

Er schaute den mehrfach zersplitterten Stamm entlang. »Bin ich etwa von dort oben ...?«

»... heruntergefallen – ja. Du hättest tot sein können.«

»Trotzdem bin ich es nicht.«

»Weil ich dich aufgefangen habe. Dass du dir den Kopf angeschlagen hast, konnte ich leider nicht verhindern.«

»Na gut«, sagte Geronimo. »Unser Problem bleibt unverändert. Ich muss wissen, was es mit dem Riesen auf sich hat.«

»Ist das alles?«, fragte DayScha.

»Was willst du außerdem?«

Sie streckte sich ein wenig, griff mit beiden Händen nach einigen Aststummeln, die aus dem Stamm ragten, und zog sich geschmeidig in die Höhe. Ihre Huffüße fanden leidlich Halt. Mit einer Hand versetzte sie das Restlichtmonokel zum anderen Auge.

»Der Phassafulbuli ist verletzt!«, rief sie. »Ziemlich schwer sogar, wenn ich das von hier aus richtig erkenne. Wir müssen ihm helfen!«

 

*

 

Nachtaugs Beisohn schaffte es nicht, sich aufzurichten. Er war zu schwach, und die Bedingungen des Planeten machten es ihm nicht leichter. Ohnehin war er höchst selten einer natürlichen Atmosphäre ausgesetzt gewesen. Mit jedem Atemzug nahm er Myriaden schädlicher Organismen auf. Schon der kondensierende Wasserdampf brannte wie Feuer in den Wunden.

Er horchte in sich hinein. Sein Leben war zu Ende. Ihm blieb nur wenig Zeit, denn die anderen Sternenschiffe hatten sich zurückgezogen. Sie würden nicht wiederkommen, und wenn, dann auf jeden Fall zu spät. Falls die Bewohner dieses Systems zu den Streitkräften des Metanats gehörten, würden sie ihn bald aufspüren und töten.

Genau das hatte schon der Tresor versucht, der eigentlich dafür geschaffen worden war, ihn am Leben zu erhalten.

Nachtaugs Beisohn verstand nicht, wie das hatte geschehen können. Der Tresor sollte ihn behüten, ihn schützen.

Es sei denn ...

... der Tresor hatte die Wahrheit über diese Welt erkannt. Sie gehörte dem Metanat. Dann war es in der Tat besser, ihn gleich zu töten.

Seine Sinne griffen in die Weite hinaus. Er glaubte, fremde Schiffe zu spüren, doch er war sich dessen nicht sicher. Auch das Bild des eingekapselten Sterns entsprang eher seiner frischen Erinnerung, denn von der Planetenoberfläche aus spürte er wenig.

Er konnte nicht einmal Einfluss auf die Aggregate nehmen, mit deren Hilfe ihm ein Entkommen möglich gewesen wäre. Die schützende Hülle des Tresors war ohnehin zerborsten, der Raum zwischen den Sternen blieb ihm verwehrt.

 

*

 

»Der Riese hat sich beruhigt.«