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Alessandra Storm

Schwarzes Fell

Vertraute des Vargs





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vertraute des Vargs: Schwarzes Fell

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus der Reihe

Vertraute des Vargs

 

 

 

 

 

 

 

 

Alessandra Storm

Schwarzes Fell

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Kapitel 1

Ihr Herz raste und sie presste sich mit dem Rücken gegen die steinerne Hauswand, als würde sie versuchen, mit ihr eins zu werden. Vermutlich war das auch die einzige Möglichkeit, die mich retten könnte, dachte sie düster. Sie hielt die Augen geschlossen und versuchte nicht zu atmen, um sich möglichst schnell aufzulösen.

Vielleicht lief es ja einfach wieder weg.

Doch irgendwie klang es eher so, als würde es sich gar nicht mehr bewegen. Sie öffnete die Augen einen Spalt und wimmerte beinah, als sie das Wesen sah, was keine zehn Meter von ihr weg auf dem Hof stand. Es war ein Werwolf, denn anders konnte sie das Wesen nicht beschreiben... Auch, wenn der Begriff ihr absolut unpassend für ein reales Wesen vorkam. Aber es sah eben wie ein riesiger Mann mit schwarzem Fell, Klauen, Schwanz und Wolfskopf aus. Und es stand absolut regungslos auf zwei Beinen da und wartete offenbar auf etwas.

Das Vieh war knurrend aus dem Nichts aufgetaucht, als sie das geerbte, riesige Anwesen von außen hatte erkunden wollen. Gelbe, in der Dunkelheit leuchtende Augen hatten sie kurz gestreift und nun stand es mit dem Rücken zu ihr auf zwei Beinen sprungbereit da. Die schwarzen spitzen Ohren zuckten hin und wieder, aber sie selbst konnte nichts außer dem Wind hören.

Als sie nach gefühlten tausend Jahren keine Veränderung des Wesens feststellen konnte, wagte sie es, einen zaghaften Schritt nach rechts zu tun. Versteinerte aber sofort wieder, als ihr Fuß zu laut über den Boden kratze.

Sehr gut, dachte sie bitter. In dem Tempo würde sie definitiv gefressen werden…

Als hätte das Monster ihre Gedanken über das Gefressen-Werden gehört, bewegte es sich nun. Sie vernahm das leise, bedrohliche Knurren bis ins Mark und dann sah sie, wie das Wesen auf sie zu spurtete. Der Angstschrei war ihr nicht ganz entwichen, als es schon bei ihr war.

Und an ihr vorbei.

Vollkommen verwirrt drehte sie sich um und sah wie der schwarze Werwolf sich mit einem dunkelgrauen bekämpfte. Sie schnappten nacheinander, warfen sich auf den Gegner, um die Zähne in ihn zu schlagen oder um ihn mit den Klauen zu treffen. Trotz ihrer Panik erkannte sie, dass das vielleicht ihre Möglichkeit zu fliehen war. Solange die Wölfe einander zerfleischten, sahen sie nicht zu ihr. Zitternd und mit weichen Knien stolperte sie los. Tatsächlich schaffte sie es nur mit einem Sturz bis zu ihrem Auto, wo sie die Tür zu knallte und es sofort verriegelte.

Kurz vorm Hyperventilieren steckten ihre klammen Finger den Schlüssel ins Zündschloss. Ein Brüllen ließ sie den Kopf hochreißen, so dass sie gerade noch sah, wie der erste Werwolf den anderen in einem hohen Bogen - gut zehn Meter weit - gegen die Hauswand schleuderte. Es gab ein ohrenbetäubendes Krachen, als das Fenster zerbarst. Glas und Holz prasselten mit dem geworfenen Wolf auf den Boden herab. Der graue Wolf rappelte sich vom Boden auf, doch anstatt wieder anzugreifen, rannte er nach einer fiesen Grimasse mit vielen scharfen Zähnen in die Dunkelheit der Nacht davon.

Kaum atmend und erstarrt saß sie hinter dem Lenkrad, was sie umklammerte, und sah zu, wie eine Staubschicht sich auf das schwarze Fell des zurückgebliebenen Werwolfs legte, der sie seinerseits mit diesen glühenden Augen anstarrte. Dann richtete er sich auf zwei Beine auf und stand wieder wie ein Mann da. Nach dem Körperbau schloss sie, dass es sich in der Tat um einen männlichen Werwolf handeln musste. Erschrocken kniff sie die Augen zu, bevor sie zu viel sah. Hosen gab es offenbar nicht!

Sie hörte Rufe, die aus dem Haus zu kommen schienen. Ein Schreck durchfuhr sie und sie startete den Motor - oder eher sie wollte ihn starten. Denn er sprang nicht an.

Bitte, flehte sie in ihrem Kopf. Gott, bitte, nur einmal!

Sie versuchte es mehrere Male, aber nichts geschah. Als sie wieder aufsah, war das Wesen weg. Stattdessen kam eine ältere Frau zielstrebig auf sie zu. Bei ihr angekommen klopfte sie an das Seitenfenster des Autos und deutete ihr, dieses herunter zu lassen. Sie drückte mit eiskalten, schwitzigen Fingern den Knopf. Warum war ihr unklar, denn eigentlich wollte sie nur wild um sich schlagen und niemanden an sich ran lassen.

„Hallo, ich bin Paige. Wir haben auf deinen Besuch gewartet, nur zu dumm, dass du zu so einem blöden Zeitpunkt gekommen bist. Aber, wenn du dich beeilst, muntere ich dich mit einem Schokoladenkuchen wieder auf.“

Zwar hörte sie die nette Stimme und die Worte „Besuch“ und „Kuchen“, doch sie glotzte die Frau nur verständnislos an und dachte: War diese Frau auch ein Werwolf? Und wenn nicht, wo war der andere Werwolf? Und der andere…?

Und verfluchter Dreck, wie viele Monster rannten hier durch den beschissenen Wald? Hysterie blubberte in ihr hoch, dass sie fast wie irre angefangen hätte zu lachen. Aber sie fuhr sich eilig mit den Fingern über die Stirn. Versuchte keinen Laut zu machen und irgendwie… zu entkommen? Eine Lösung zu finden?

Sie hockte da wie ein Häufchen Elend mit rasendem und stotterndem Herzen und blickte ungläubig in das faltige, gebräunte Gesicht mit der grauen Lockenmähne, während sie immer wieder um sich schielte.

„Ich… bin zu einem blöden Zeitpunkt gekommen?“, brachte sie dann raus, als ihr aufging, dass die Worte der Frau irgendwie nicht recht zu der verrückten Situation passten.

Die Frau, die übrigens wirklich Tante Paige sein musste lachte. Ihre Eltern hatten oft gesagt, dass Paige und ihr Mann ihre besten Freunde waren. Und dass sie sich um das alte Familienanwesen kümmerte, was vor all der Zeit ihr Urgroßvater hatte bauen lassen.

„Naja, wir hatten gehofft, dass es ruhig sein würde! Aber diese stumpfsinnigen Quälgeister… Wilde Vargs“, stockte Paige und lächelte sie dabei an, als sollte sie das alles verstehen und Verständnis haben. Tat sie aber nicht… Sie verstand gar nichts.

„Vargs?“, echote sie nur.

Ihre Tante, die eigentlich nicht ihre Tante war, lächelte erst nur weiter. Aber dann blinzelte sie und ihr Gesicht zuckte kurz, als ihr wohl aufging, dass hier etwas nicht stimmte. Etwas ganz und gar nicht passte. Erneut musterte die Frau ihr Gesicht und schien kalt erwischt.

„Ach, Kind. Du weißt gar nichts von allem, oder?“

Stumm nickte sie nur über das Offensichtliche.

„Hat Christina nie über die Wurzeln deiner Familie gesprochen?“ Bei dem Namen ihrer Mutter wurde ihr elend.

„Nein, ich weiß überhaupt nicht, was hier los ist“, bestätigte sie nur trocken.

Paige war nun deutlich weniger lebhaft geworden und sie sah sie mitfühlend an. „Hab nicht so eine Angst. Ich habe fünf Söhne. Alle fünf sind große, einschüchternde Kerle, die auf uns aufpassen. Versprochen. Keiner wird dir etwas antun können.“

Als sie sich nicht rührte, wandte Paige den Oberkörper zum Haus. „Nur, wenn ich hier länger mit dir quatsche, könnte es sein, dass der Kuchen gleich weg ist.“ Das sollte sie wohl auf andere Gedanken bringen. „Sie sind wirklich verfressen. Fressen mir die letzten Haare vom Kopf, weswegen wir heilfroh sind, dass wir nie für das Haus zahlen mussten.“

Den Wortschwall von Paige ignorierend schüttelte sie den Kopf und versuchte wieder, den Motor zu starten, und fing fast an panisch zu heulen, als es nicht ging.

Das war alles zu viel für sie. Das wäre für jeden Menschen zu viel, der trotz der ganzen Fantasy-Filme Hollywoods nicht an Monster glaubte. Also, die geistig gesunden Menschen…

War sie geisteskrank?

„Na, komm schon!“, unterbrach Paige ihre Panik vor Schizophrenie, „Es passiert dir nichts!“ Mitfühlende braune Augen sahen sie an. „Aber ich verstehe, dass es etwas viel für dich ist, meine Kleine. Aber deine Eltern hätten dir ruhig sagen können, dass die väterliche Seite deiner Familie Vargs beinhaltet und zum Rudel gehörte! Warum sollte man sonst in diesem Kaff ein verdammtes Schloss bauen?“

Sie saß da, nickte kopflos und schaltete das Radio an. Sie wollte nichts mehr von Werwölfen hören. Es lief Thriller von Micheal Jackson. Frustriert schrie sie auf und schaltete es wieder aus. Paige lächelte nur einen winzigen Augenblick schmerzlich und ging Richtung Haus: „Lass dir ruhig Zeit zum Denken, Mia!“

 

Bemüht normal zu atmen, blickte sie Paige hinterher und versuchte, alle die Worte zusammen zu bekommen. Ihre Söhne. Vargs auf der Seite ihres Vaters… Sie sah, wie Licht hinter dem kaputten Fenster im ersten Stock aufleuchtete und wie sich ein Lockenkopf aus der Hauswand streckte. Sie hörte Gelächter. Dann sah sie einen Jungen aus dem Haus kommen. Er war groß und hager. Nur mit Jeans und einem mitgenommenen T-Shirt bekleidet lief er um das Haus herum, blieb bei dem Loch stehen und sah nach oben. Er rief dem Jungen mit dem Lockenkopf etwas zu, worauf dieser verschwand, und er sich dann zu ihr drehte. Langsam schlenderte er auf sie zu.

Sie rutschte in ihrem Sitz tiefer. Er wartete nicht, bis er bei ihr ankam, sondern redete einfach drauf los. Aber sie hörte ihn auch so. Seine Stimme war erstaunlich tief und laut.

„He, du musst die neue Besitzerin vom Haus sein. Lässt du das Loch in meinem Schlafzimmer reparieren?“, er wies hinter sich.

Sie zuckte mit den Schultern, immerhin hatte sie genug Geld, um so viele Häuser, wie sie wollte, bauen oder reparieren zu lassen. Dann könnte sie auch das Haus der Werwölfe reparieren lassen… Warum verdammt auch nicht? War jetzt auch nicht weiter tragisch…

Er grinste sie breit an und entblößte dabei unglaublich viele und weiße Zähne.

„Hast eine riesen Angst, nicht wahr?“

Das war keine Frage. Es war eine Feststellung.

Verschwörerisch beugte sich der Teenager etwas zu ihr runter und legte eine Hand auf das Autodach. „Ich bin Cameron. Du kannst Cam sagen, wenn du willst. Aber eigentlich auch, wenn du nicht willst. Ist mir einfach lieber. Und wie willst du genannt werden?“

Sie sah verdutzt in die großen schwarzen Augen und fragte sich, ob sie die einzige hier war, die das alles als unnormal empfand.

„Ich bin Mia Ashcroft... Und eigentlich will ich gar nicht mehr hier sein, aber leider geht mein Motor nicht mehr an.“

Der Junge zog seine schwarzen Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. „Klar, geht der nicht mehr an!“

Sie wurde leicht zornig: „Wieso das denn nicht? Vor einer Viertelstunde ging er noch.“

„Keine Ahnung, aber das ratternde Geräusch war jedenfalls zuhören, bevor man das Ding hier sah. Aber vielleicht ist ja einfach nur die Batterie leer, kein Plan. Aber ist auch besser so. Ein wahrer Schicksalsstreich! Denn wir wollen doch nicht, dass du in lauter Panik, anderen von uns erzählst – zum Beispiel der Polizei oder irgendwelchen Irren aus dem Internet. Und das hätte passieren können, wenn du abgehauen wärst.“

Prüfend musterte er das Mietauto, einen kleinen Honda. Dann sah er sie wieder an, ohne dass sie selbst etwas dazu sagen konnte. Ihr Kopf war wie leer.

„Schon krass, dass du nichts von uns wusstest, wo du doch fast zum Rudel gehörst. Jedenfalls ist die Karre im Arsch!“

„Ich will hier weg!“, brach ihr einziger Gedanke heraus und sie funkelte ihn wütend an. „Gebt mir ein anderes Auto. Ich bezahle es! Dann fahre ich ruhig nach Hause, setze mich vor mein leeres Aquarium und werde gar nichts tun. Keine Sorge, ich werde NIE sagen, was ich gesehen habe. Und wenn, dann sag ich es nur meinen stummen, neuen Fischen, die dann vermutlich denken, ihr Frauchen ist bescheuert. Ich bin doch nicht blöd und sage es jemanden! Dann komme ich nur in eine Zwangsjacke!“

Sie stoppte.

Und es tauchte erneut die Frage in ihrem Kopf auf, ob sie vielleicht doch geisteskrank war. Denn so etwas wie Werwölfe - Vargs verbesserte sie sich - gab es schließlich nicht. Sie sank wieder soweit in sich zusammen, wie das mit Knochen möglich war, und strich ihre langen Haare hinter die Ohren. Segelohren um genau zu sein.

„Bin ich verrückt, Cam? Also so richtig geisteskrank?“

Der Junge gluckste freudig und klopfte gegen das Autodach.

„Na, komm schon! Der Kuchen ist super. Und vielleicht bekommst du ein paar Krümel ab, wenn du jetzt aufhörst zu zicken.“

Etwas an seiner offenen, unbekümmerten Art brachte sie zum Durchatmen. „Ich hab nur leider das Gefühl, dass ich umfalle, wenn ich versuche auszusteigen“, gestand sie leise.

Er grinste nur von einem Ohr bis zum anderen. „Keine Sorge ich bin stärker, als ich aussehe.“ Probeweise hob er einen Arm in Bodybuilder-Manier und führte einige Posen vor.

Das glaubte sie ihm sofort, auch wenn der Arm lang und schlaksig war. Aber bei der Körpergröße und den breiten Schultern sprach das für sich und er würde mit Sicherheit noch in seine Größe reinwachsen.

Immer noch unsicher stieg sie jedenfalls aus und stand dann neben einem sie anfeixenden Teen Wolf, der sie weit überragte und sich auf den Fußballen hin- und herwiegte. „Willkommen Zuhause, Lady Croft!“

Sie runzelte die Stirn, nachdem sie verstand: „Ich bin nicht Lara Croft.“ Aber Cam marschierte schon los. „Ist mein Lieblingsfilm. Hat alles: Action, Angelina Jolie.“

Ihr blieb nichts übrig, als ihm nachzulaufen.

 

Begeistert vor sich hinredend führte Cam sie durch die gigantische Eingangshalle mit zwei königlich anmutenden Treppen, die links und rechts an der Seite entlang nach oben führten. Gemälde und dazwischen gehängte Fotos, die überhaupt nicht zum Rest passten, schmückten die Wände. Der Kronleuchter erhellte die große Eingangshalle allerdings nur spärlich. Cam führte sie unter der linken Treppe hindurch, in einen schmalen Flur, der in einer großen Wohnküche endete.

In diesen Raum hätten auch ein oder zwei Schulklassen gepasst. Die Einrichtung schien irgendwie aus dem Mittelalter und den Neunzigern zugleich zu stammen. Schwere, dunkle Holzmöbel und den ein oder anderen Kitsch. An einem langen, antiken und sehr abgenutzten Holztisch saßen zwei Personen.

Ein Mann, so um die Fünfunddreißig, der auf Mia wegen seiner riesigen und breiten Bauart wie ein Bär wirkte. Er hatte kurzes grauschwarzes Haar, lachende braune Augen und einen kauenden Mund, der ebenfalls grinste. Vor ihm auf dem Teller lag wortwörtlich der halbe Kuchen. Der Rest stand auf einer Platte vor dem jüngeren Mann zu seiner Linken. Er war schmal und groß wie Cam, aber sein Haar war dunkel blond und lang. Er hatte es nach hinten zusammengebunden und hielt einen Eisbeutel auf seine Stirn gedrückt. Graue Augen sahen Mia wach und abschätzend an. Im Gegensatz zu dem Bär-Typen sah Blondie weder Paige noch Cam ähnlich.

Ihre „Tante“ Paige stand am Herd und schien irgendetwas zu kochen. Es roch süßlich nach Vanille, Zimt und Früchten.

Mia konnte ihren Blick aber nicht von den beiden Riesen vor ihr abwenden, da sie sich ständig fragte, wann sie sich verwandeln und sie anfallen würden.

„Also, der Breite ist Connor, mein ältester Bruder, und der Blonde ist Fergus. Und du hast Glück, ich teile mit dir die andere Hälfte des Kuchens!“ Womit er die Kuchenplatte von Fergus wegzog und sich davor fallen ließ.

„Wie ritterlich!“, rutsche es ihr spöttisch raus. Als sie sich auf die Zunge beißen wollte, hörte Mia nur, wie Connor leise, aber rumpelnd auflachte.

Sie setzte sich neben Cam an den Tisch. Gegenüber von Connor, der seine Gabel hob wie einen Zeigestock: „Wärst du heute Morgen gekommen, wie von uns allen erwartet, wäre nix passiert! Dass die Leute sich auch nie an die Zeiten halten können.“

Dann aß er weiter, nachdem er ihr schelmisch zugezwinkert hatte. So als hätte er nichts gesagt. Paige schnalzte mit der Zunge und stellte Milchreis auf den Tisch. Eine solche Menge, dass Mia nicht wagte, zu fragen, wie viele denn zum Essen erwartet wurden. Aber dann begann Cam sich etwas auf seinen Teller, pardon Platte, zu schaufeln. Vermutlich hatte der junge Glücksritter vergessen, dass er ihr versprochen hatte, zu teilen.

Paige stellte aber eine gefüllte Schale vor ihre Nase: „Iss so viel, wie du willst!“ Dann lief sie zurück zum Herd und rührte in einem anderen Topf weiter.

 

Also saß sie mit verkrampften, in sich verknoteten Fingern da und sah um sich herum Riesen, die alles in sich hineinschaufelten, während ihr übel war und sie nichts anrührte. Aber es stimmte nicht ganz, dass sie die einzige war, die nichts aß. Der Blonde taxierte sie aus schmalen grauen Augen, als wollte er sie gleich ins Kreuzfeuer nehmen und aß ebenfalls nichts. Er bewegte sich überhaupt nicht. Der Eisbeutel lag Wasser um sich sammelnd auf dem Tisch. Mia wartete drauf, dass er auf sie losgehen würde oder zumindest etwas sagte, aber er tat nichts. Unruhig rutschte sie auf dem polierten Holz des Stuhls herum.

„Wo sind eigentlich unsere beiden anderen abgeblieben?“, durchbrach Paige das Schweigen. „Sie sind doch nicht hinter den anderen her, oder?“ Besorgt trat sie an den Tisch. „Ich habe ihnen doch gesagt, dass sie sobald wie möglich…“

„Also Zayn ist schon oben“, unterbrach Cam seine Mutter und sein Kauen. „Er begutachtet den Schaden. Und ich vermute, dass Seth die Sache allein regeln gegangen ist“, sagte er Schultern zuckend.

Paige atmete scharf ein und sah ihren ältesten Sohn bittend an. Dieser brummte und stand auf. „Ich geh ja schon!“ Damit erhob er sich schwerfällig und küsste seiner Mutter kurz auf den Kopf. Beim Rausgehen gab er Fergus ein Zeichen, der sie kurz weiter fixierte, dann jedoch leichtfüßig aufsprang und Connor lautlos mit der Eleganz eines Profikillers folgte. Kurz danach krachte die schwere Eichenholztür der Eingangshalle ins Schloss.

 

Paige sah ihnen wortlos nach, selbst als sie lange verschwunden waren. Mia entging der dünne Mund der älteren Frau nicht. Dann drehte sie sich aber zu ihr: „Ich bin ja froh, dass dir nichts passiert ist, Mia. Du hast Glück, dass Seth da war!“

Mia fragte nicht, wer dieser Seth war und was er gerade tat, wenn er eine Sache regelte. Sie trank etwas von dem Kaffee, den Paige ihr eingossen und neben ihr unangerührtes Essen gestellt hatte. Die alte Jugendfreundin ihrer Mutter setzte sich seufzend zu ihr.

„Hast du dich denn vom ersten Schock beruhigt?“, fragte sie, während sie Mias Hand tätschelte.

Sie nickte verhalten und wollte lieber nicht in sich hineinhorchen, ob das auch stimmte. Paige entzog mit strengem Blick Cam den Rest des Kuchens. Dieser sagte nichts, aber seine dunklen Augen verfolgten den Nachtisch gebannt. Es war nur noch ein kleines Stück übrig. Paige schob es ihr nickend zu, aber sie würde das nie alleine schaffen. Sie sah Cams neidischen Blick. Wie ein trauriger Welpe. Der Kleine und die liebevolle Art von Paige streichelten ihre überreizten Nerven. Was auch immer hier für ein Wahnsinn geschah, die alten Freunde ihrer Familie waren eigentlich anständige Leute. Das spürte sie.

Allerdings konnte sie die Panik der letzten halben Stunde nicht ganz hinter sich lassen.

Es war zu surreal!

Erstens, gab es einfach keine Monster. Es war die schiere Angst vor dem unbekannten Monströsen. Ihr Verstand konnte es nicht verarbeiten, was sie gesehen hatte. So etwas gab es nicht! Also war sie geisteskrank! Punkt!

Und zweitens, war da gerade ein Kampf vor ihrer Nase passiert, ob das nun Vargs, Drogendealer in Kostümen oder riesige Hunde gewesen waren. Tatsache war, dass das Adrenalin durch ihren Körper gejagt war, als zwei gigantische Wesen sich geprügelt hatten, während sie daneben gestanden hatte. Mia fühlte sich wie nach einem Banküberfall oder einem miterlebten Straßenkampf.

„Ich habe noch einen Kuchen im Backofen! Typisch verfressene Wölfe!“, jammerte Paige. Mia lächelte zerknittert, schob dann Cam aber leise den zuvor vor ihm geretteten Kuchen wieder zu.

Cam dankte stumm und stopfte scheinbar mit einem Bissen den Rest des Kuchens in sich.

„Na, komm! Wir essen doch jetzt oft in der Schule mit, so dass du entlastet bist. Du kannst nicht klagen, Mom!“, würgte Cam beim Schlucken hervor. Paige verdrehte die Augen und berührte Mias Schulter: „Bist du müde? Ich habe dir ein Zimmer hergerichtet – weit weg von den Rabauken. Wenn du willst, kannst du schlafen gehen oder dich einfach nur zurückziehen.“

„Ich kann jetzt doch nicht schlafen. Vermutlich nie wieder Ich habe ein Gefühl, als hätte mir ein Pferd gegen den Kopf getreten und als….“

„Du kennst das Gefühl? Das ist mir jetzt schon zwei Mal passiert…“

Sie starrte Cam an. Dieser lachte, als er verstand, dass sie das nur so gesagt hat. „Naja, die Nachbarn haben Pferde“, schloss er lahm.

Eigentlich wollte Mia nun endlich reden, aber sie kam nicht weit.

Hinter ihnen polterte jemand die Treppe in die Eingangshalle hinunter und trappte zur Küche, die links von dieser lag.

„So ein Scheiß!“, ein zorniges Knurren ertönte hinter ihr. Ihre Nackenhaare wanderten hoch und sämtliche Fragen wurden mal wieder zurückgedrängt.

In diesem Haus ging es wie im Irrenhaus zu.

„Wieso hat Seth den blöden Mistkerl gerade auf meinen Schreibtisch geworfen? Ich hatte da irgendwo meine Hausaufgaben liegen!“ Wieder ein Knurren, aber es war weniger bedrohlich. Langsam wandte sie sich zu dem wütenden Knurrer um. Es war ein Junge mit mehreren Heften über den Armen und der wütend auf diese herabsah. Seine langen Finger sortierten Blätter hinein. Er schien in Cams Alter. Vielleicht sechszehn oder siebzehn.

„Zayn, wir haben Besuch!“, seine Mutter klang plötzlich recht streng.

Er blickte erschrocken auf und sah Mia völlig verdattert an. „Stimmt, ja!“ Dann lief er auf sie zu und gab ihr die Hand. „Du bist Mia, richtig? Dann viel Spaß hier im Schloss Igor“, sagte er verächtlich.

Seine Mutter murmelte irgendetwas und schaufelte noch mehr Milchreis in Mias kleine Schale, obwohl sie diese gar nicht angerührt hatte.

„Ist Seth wieder da? Er kann sich ruhig entschuldigen für das Durcheinander!“, beschwerte sich die Mutter der Jungs. Was eher ironisch klang, aber Zayn ignorierte das. „Sehe ich auch so!“, grollte er nur.

Cam funkelte seinen Bruder an, der der Lockenkopf war, den sie zuvor gesehen hatte. „Wenn du an deinem Posten gewesen wärst, hättest du das ja selbst regeln können. Würd ja gern wissen, ob dann kein Schreibtisch zu Bruch gegangen wäre. Vermutlich nicht, sondern eher dein Dickschädel!“

Zayn lehnte sich zurück und sah auf eins seiner Bücher nieder. Scheinbar nicht gewillt, seinem Bruder zu antworten. Mia fiel es schwer, den Jungen nicht anzustarren. Noch nie hatte sie jemanden gesehen, der so hübsch gewesen ist. Er hatte schwarzbraune Locken, die glänzend in alle Richtungen zeigten und auf sein Gesicht einen tiefen Schatten warfen, solange er den Kopf gesenkt hatte. Sein Gesicht war recht schmal, mit einer geraden, scharf geschnittenen Nase und einem vollen, breiten Mund. Das Kinn und der Unterkiefer waren recht ausgeprägt, so dass sein Gesicht etwas Kantiges erhielt. Aber durch die großen grünen Augen und die langen Wimpern übersah man das fast. Überhaupt war das Gesicht so klar und fein geschnitten, dass es eher zu einer Skulptur des Adonis gehören müsste, als zu einem lebenden Menschen. Aber er war ja auch kein Mensch...

Cam kicherte und stieß sie an. Mia rieb sich die Stelle und blickte ihn verwundert an. „Lass das besser! Er kann das nicht leiden, wenn man ihn anhimmelt. Nicht war, Barbie?“

Zayn sah schlecht gelaunt auf und verzog das Gesicht zu einer Fratze. In seinen grünen Augen verdüsterte es sich.

„Siehst du? Er ist da sehr empfindlich!“, gackerte Cam.

„Ich gebe dir gleich empfindlich! Kannst du nicht einmal, deine große Klappe halten?“

Cam zuckte leichthin mit den Achseln. „Scheinbar nicht, Barbie!“

Paige gab dem vorlauten Cam einen Klaps auf den Hinterkopf. „Ich will, dass ihr beiden jetzt hoch geht und eure Hausaufgaben macht. Besonders du, Cam! Ich will nicht schon wieder von Mrs. Henderson angerufen werden.“

 

„Ach, Kleines! Es tut mir wirklich leid. Ich wollte dir hier eine erholsame Zeit bereiten. Ich weiß, dass der Tod deiner Mutter hart sein muss, auch wenn es jetzt schon fast ein halbes Jahr ist… Und eigentlich sollten sie sich alle benehmen, was ich zugegebener Maßen nicht wirklich erwartet habe.“ Sie rieb sich über die Stirn.

Mia wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte. Tränen schwammen vor ihren Augen. Es gab so viel, was ihr im Kopf herumschwirrte. Aber das Beileid war echt. Das hatte sie schon gewusst, als sie mit Paige telefoniert hatte.

Paige legte nachdenklich den Kopf schief und schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. Sie stand auf: „Hast du noch Hunger?“

Plötzlich war alles wieder da. Das Gefühl von Leere. Sie hatte nie viele Freunde gehabt, dazu waren sie zu oft umgezogen. Und so seltsam es klang, sie hatte doch die meiste Zeit mit ihrer Mutter verbracht. Nun war das große Haus in Boston plötzlich leer. Und niemand rief sie ständig bei der Arbeit an. Und niemand fragte sie, was sie essen wollte, wenn sie abends alleine zuhause war.

Sie hörte die Aufrichtigkeit der Worte und die Melancholie der Frau, die sie zwar zuvor nie getroffen hatte, ihr aber irgendwie vertraut vorkam.

„Mh, das freut mich. Ich hänge nämlich an dem alten Kasten hier. Aber Mia?“ Sie fing an abzuräumen. „Bitte, bleib länger hier! Du brauchst mal etwas anderes. Hier ist Natur und immer jemand, der dir zuhört. Auch, wenn es dir jetzt wohl wie ein Alptraum vorkommt, wir sind für dich da. Und wir freuen uns ehrlich, dass du endlich unsere Einladung angenommen hast.“

„Christina, deine Mutter war lange nicht mehr hier gewesen. Sie hatte immer alle Hände voll zu tun, aber wir telefonierten so oft, wie wir konnten. Wir haben nie über Telefon darüber geredet, was wir sind. Deine Mutter wusste, dass es in der Familie ihres Mannes Vargs gab. Dazu kannte sie mich und Thomas sehr gut. Sie kannte alle unsere Geheimnisse. Und ich hatte angenommen, dass… dass deine Eltern es dir gesagt hatten, auch wenn es für dein eigenes Leben keine Rolle spielen mag. Aber immerhin ist es in deinem Blut enthalten...“

„Nein,… Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern“, sagte sie leise und würgte den Kloß im Hals mit Kaffee herunter, der ihr nun wirklich gut tat.

„Ja, ich weiß… Sie redete oft von euren wilden Zeiten und… Ich weiß, dass sie dich als ihre Schwester im Geiste sah. Auch, wenn ihr euch nie besuchtet.“

Das nahm Mia nun auch an, aber sie sagte nichts dazu. Jetzt war es eben anders gekommen.

„Nein, das Blut ist durch Verbindungen mit Menschen immer dünner geworden. Manche werden noch die verstärkten Fähigkeiten haben, aber die Wandlung ist nicht mehr möglich. Ich denke, dass in dir nur noch ein stummer Anteil alter DNA schlummert. Für dein Leben spielt es keine Rolle. Und wärst du nicht hierhergekommen, hättest du es wohl nie erfahren.“