Wo ist die Liebe? Sie befindet sich nicht im Ich und hat das Du nur zum Gegenstand – sie ist zwischen Ich und Du. Sie ist da, wo zwei miteinander fühlen und handeln; ihre geteilte Freude ist eine doppelte, ihr geteiltes Leid ein halbes. Aber wie kann man Gefühle teilen? Dieser Frage geht Angelika Krebs nach und bedient sich dabei der Methoden und Erkenntnisse sowohl der analytischen Philosophie als auch der Phänomenologie. Im Zentrum stehen die Bedeutung des Miteinanderfühlens und seine Abgrenzung etwa von klassischem Mitleid und von Gefühlsansteckung. Das Buch liefert die erste umfassende Strukturanalyse des Phänomens der Gefühlsteilung und exemplifiziert das Phänomen an konkreten Beispielen: den Liebesgeschichten des Schriftstellers Henry James.

Angelika Krebs ist Professorin für Philosophie an der Universität Basel. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion (Hg., stw 1262), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik (Hg., stw 1495) sowie Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit (stw 1564).

Angelika Krebs

Zwischen Ich und Du

Eine dialogische Philosophie
der Liebe

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2063.

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© Angelika Krebs

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73089-8

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung

I. Drei Modelle der Liebe

1. Liebe als Verschmelzung

1.1. Klassisch:
Platon und der Mythos vom Kugelmenschen

1.2. Modern:
Robert Solomon über das Paradox der Liebe

2. Liebe als »Care«

2.1. Klassisch:
Aristoteles und das Wohlwollen

2.2. Modern:
Harry Frankfurt für Elternliebe als Paradigma

3. Liebe als Dialog

3.1. Klassisch:
Aristoteles und das Zusammenleben in dem, was man im Leben am meisten schätzt

3.2. Modern:
Roger Scruton gegen das Übel des Solipsismus

4. Welches Liebesmodell ist das beste?

4.1. Kritik am Verschmelzungsmodell

4.2. Kritik am kurativen Modell

4.3. Verteidigung des dialogischen Modells

5. Liebe und das gute Leben

5.1. Instrumentelle und intrinsische Güter

5.2. Rationalität

6. Liebe und Moral

6.1. Parteilichkeit

6.2. Respekt

6.3. Das Zerbrechen einer Liebe an ihrer Unmoral in Henry James’ Roman The Wings of the Dove

II. Das dialogische Teilen des Lebens

1. Miteinanderfühlen nach Max Scheler

1.1. Vier Formen des Mitgefühls

1.2. Vier korrespondierende Formen von Gemeinschaft

1.3. Die vier Kategorien in Henry James’ Erzählung »The Pupil«

1.4. Die Einheit des Gefühls im Miteinanderfühlen

1.5. Edith Steins Weiterentwicklung des Scheler’schen Ansatzes

2. Miteinanderhandeln in der »Joint Action«-Debatte

2.1. Holistisch: Ulrich Baltzer und Margaret Gilbert über das Zusammenspazierengehen

2.2. Individualistisch: Michael Bratman über das gemeinsame Anstreichen eines Hauses

2.3. Miteinanderhandeln und Miteinanderfühlen: eine holistische Zwischenbilanz

3. Fühlen, allein und zusammen

3.1. Funktionieren, Wahrnehmen, Empfinden und Handeln

3.2. Gefühle als Widerfahrnisse: Hermann Schmitz’ Leibphilosophie

3.3. Gefühle als Werturteile: Martha Nussbaums Kognitivismus

3.4. Gefühle als Einheiten von Werturteilen, leiblichen Empfindungen und Verhalten: Christiane Voss’ narrativer Ansatz

3.5. Einfallstore des Handelns im Fühlen

3.6. Miteinanderfühlen: die definitive Analyse

3.7. Liebe als geteiltes Gefühl

III. Philosophie und Literatur

1. Die Frage nach dem guten L(i)eben

1.1. Literatur als optisches Instrument

1.2. Die schöpferische Leistung von Literatur

2. Fiktion und Wahrheit

2.1. Die Richtungsumkehr des Bedeutens

2.2. Das In-Gang-Bringen der reflektierenden Urteilskraft

3. Ein literarisches Beispiel: Henry James’ Erzählung »The Beast in the Jungle«

3.1. Die Moral von der Geschichte

3.2. Form und Inhalt

4. Das philosophische Gegenstück: Friedrich Kambartels Abhandlungen über den Sinn des Lebens

4.1. Religion

4.2. Gelassenheit

4.3. Kunst

5. Liebe in Literatur und Philosophie

5.1. Narrativität

5.2. Phänomenalität

5.3. Dialogizität

5.4. Partikularität

6. Der Kampf um dialogische Liebe in Henry James’ Roman The Golden Bowl

6.1. Maggie Ververs Schwärmerei für ihren Märchenprinzen

6.2. Der Verrat an Maggie

6.3. Maggies Erkenntnis und Gegenwehr

6.4. Die Hoffnung auf dialogische Liebe

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Nun, es war die Blume der Teilnahme, und als solche reichte sie sie ihm und setzte ihre Idee in die Tat um: die Idee, […] jede Freude, jedes Interesse und jede Erfahrung mit ihm zu teilen.

Henry James

Einleitung

Im Jahre 2004 erschienen in England in rascher Folge drei Romane über den Schriftsteller Henry James. Der erste, Colm Tóibíns The Master, schaffte es auf die Shortlist des Man-Booker-Preises. Der zweite, Alan Hollinghursts The Line of Beauty, gewann den Booker- Preis. Dem dritten, David Lodges Author, Author, gelang als Nachzügler keines von beidem. »Wenn jemand es verdient, den diesjährigen Man-Booker-Preis zu gewinnen«, schrieb 2004 ein Rezensent von Lodges Werk, »dann ist es Henry James. Im Jahr 2004 war er Urheber von nicht weniger als drei herausragenden Romanen«.[1] Warum plötzlich diese Begeisterung für einen Schriftsteller, der seit einem Jahrhundert tot ist und seit einem halben Jahrhundert zum klassischen Kanon der Weltliteratur gehört? Zumindest in England und in den USA gilt James als einer der drei ganz großen Romanciers, neben Marcel Proust und Leo Tolstoi. Im deutschsprachigen Raum muss sich dies allerdings noch herumsprechen.

Der in den 1970er Jahren einsetzende und im Jahr 2004 gipfelnde Boom um Henry James hat eine ganze Reihe von Gründen. Die »Women Studies« wurden in ihrer Suche nach starken Frauenfiguren in seinem Werk fündig. Ähnlich erging es den »Queer Studies«, was homosexuelle Vorbilder angeht. Sowohl Tóibín als auch Hollinghurst sind erklärte Homosexuelle. Ein dritter Grund war das Aufkommen der Postmoderne in der Literaturwissenschaft. Der schwindelerregende Tanz der Perspektiven und Bedeutungen, insbesondere im James’schen Spätwerk, war ein gefundenes Fressen für die Dekonstruktion der Wahrheit und des Subjekts.[2] Es gibt aber noch einen vierten Grund, und er ist es, der hier in diesem Buch interessiert: Henry James zeichnet in seinen Romanen und Erzählungen ein für uns heute besonders attraktives Bild von Liebe als dialogischem Teilen des Lebens. Er führt uns vor, wie zwei Personen auf Augenhöhe ihr Fühlen und Handeln so ineinander verweben, dass ein neues Ganzes – ihre Liebe – entsteht. Er zeigt uns aber auch, wie solche Gewebe unter Schmerzen wieder auseinanderfallen, und zwar in einer Subtilität und Tiefe, wie man dies bei kaum einem anderen Schriftsteller findet. In seiner Zeit hat es ihm den Vorwurf eines »Leviathan, der nur Kieselsteine auftut«, eingebracht.[3] Für manch einen seiner männlichen Zeitgenossen war es eine Schande, dass ein so begnadeter Schriftsteller sich eines so unwichtigen Themas wie der symmetrischen Liebe zwischen Mann und Frau verschrieb.

Das vorliegende Buch erkundet mit philosophischen Mitteln, was Henry James mit literarischen Mitteln vorführt. Es will Liebe als dialogisches Teilen des Lebens genauer denken, diese Intuition unter dem Titel eines »dialogischen Liebesmodells« allererst auf den Begriff bringen und über das Erzählwerk von Henry James begründen und plastisch machen. Es versteht Liebe mit James als »Teilnahme«, als eine Form des empfindenden und tätigen Miteinanders, in dem sich zwei Individualitäten aneinander entzünden. Oder, um es mit dem Phänomenologen Martin Buber und seinem Klassiker Ich und Du zu sagen: »Die Liebe haftet dem Ich nicht an, so daß sie das Du nur zum ›Inhalt‹, zum Gegenstand hätte; sie ist zwischen Ich und Du.« (Buber 1923/1997: 22) Liebe ist nicht in den einzelnen Liebenden »drinnen«. Sie ist vielmehr das Haus, das sich die Liebenden zusammen bauen.

Wir leben in einer hektischen Zeit, in der das Haus der Liebe durch steigende Flexibilitätsanforderungen und Erreichbarkeitserwartungen aus der ökonomischen Sphäre bedroht ist. Unsere Welt ist vollgestellt mit bloßen simulacra von Intimität: flachen Facebookfreundschaften oder seelenlosem Sex.[4] Und dann hat auch noch »die Wissenschaft festgestellt«, dass Liebe ohnehin nur eine Sache der Hormone oder der Gene ist.[5] – Das ist natürlich Unsinn. Liebe ist eines der wichtigsten Dinge im menschlichen Leben. Man überlässt so etwas nicht den Hormonen oder den Genen. Und man gibt sich auch nicht mit billigem Ersatz zufrieden. Im Werk von Henry James finden wir, was Liebe, wenn alles gut geht, auch für uns heute noch sein kann: das einzig Wahre, »The Real Thing«.[6]

Das dialogische Liebesmodell soll in diesem Buch freilich nicht unbedingt für alle Formen von Liebe starkgemacht werden, sondern nur für die sogenannte romantische Liebe. Von der Liebe zu den eigenen Kindern, Eltern oder Geschwistern, von Freundschaft und Nächstenliebe, von der Liebe zur Wahrheit, zur Natur, zur Musik oder zu Gott wird, wenn überhaupt, dann nur am Rande die Rede sein. »Liebe« meint in diesem Buch die Liebe, wie sie in »Liebeserklärung«, »Liebespaar« und »Liebesgeschichte« vorkommt und wie ihr die Weltliteratur ein Denkmal gesetzt hat. Diese Liebe wird im Folgenden auch ohne Zusatz, ohne »geschlechtlich«, »sexuell«, »erotisch«, »zwischen Mann und Frau«, »Paar«, »partnerschaftlich« oder »romantisch« angesprochen. Denn alle diese Zusätze haben etwas Irreführendes an sich. »Geschlechtlich«, »sexuell« und »erotisch« überbetonen die Sexualität, »zwischen Mann und Frau« ist auf heterosexuelle Liebe fixiert, »Paarliebe« auf die Dyade, als könnten nicht ausnahmsweise auch drei oder vier einander lieben, »partnerschaftlich« klingt zu prosaisch, nach einem kleinen Wirtschaftsunternehmen, und »romantisch« kippt ins Gegenteil und lässt einen vor allem an schwärmerische Gefühle denken.

Das dialogische Verständnis von Liebe ist in der Philosophie hin und wieder angedacht worden, Martin Buber ist hierfür ein gutes Beispiel. Aber ungleich populärer waren und sind zwei andere Modelle von Liebe. Das eine ist seit Platon das Fusionsmodell. Es begreift Liebe als Verschmelzung mit dem anderen zu einer Einheit. Das andere, heutzutage dominante, ist seit Aristoteles das »Care«-Modell. Es begreift Liebe als selbstlose Sorge für den anderen.

Das »Care«-Modell ist monologisch, in Bubers Sinn. Es tut so, als würde Liebe dem Ich anhaften und das Du nur zum Inhalt, zum Objekt haben. Das Gegenteil von Liebe ist im »Care«-Modell der Egoismus. Das Gegenteil von Liebe im dialogischen Modell ist der Individualismus. Mit dem Individualismus will der philosophische Mainstream aber nicht brechen. Handeln muss jeder schon für sich allein. Oder etwa nicht? Und die Vorstellung gemeinsamer Gefühle löst im Mainstream nur Kopfschütteln aus, wenn nicht gar Widerwillen. Wer das dialogische Modell gegen das kurative in Stellung bringen will, muss daher zeigen, dass man Handlungen und vor allem Gefühle sehr wohl miteinander teilen kann. Erst wenn dies »gegessen« ist, kann Liebe als dialogisches Teilen des Lebens einsichtig werden.

Das Fusionsmodell ist nicht monologisch. Aber es arbeitet mit einer zu primitiven Vorstellung von menschlicher Einheit oder Gemeinschaft. Es kommt mit der Autonomie und Individualität der Einzelperson nicht zurecht. Es begreift den Liebenden als einen, der den anderen einnehmen, aufsaugen, besitzen will oder von ihm eingenommen, aufgesaugt, besessen werden will. Es denkt Gemeinschaft vorpersonal oder regressiv, als Zurück zu einem seligen Zustand der Ganzheit. Wer das dialogische Modell gegen das fusionistische in Stellung bringen will, muss daher zeigen, dass es ein besseres, personales Verständnis von menschlicher Gemeinschaft gibt, ein besseres, dialogisches Teilen des Lebens.

Der erste Teil des Buchs stellt die drei Liebesmodelle einander gegenüber und weist das dialogische Modell als dasjenige aus, welches das Potential der Liebe für ein gutes menschliches Leben am vollsten ausschöpft. Das heißt nicht, dass es in gelebter dialogischer Liebe nicht auch Momente von »care« und Verschmelzung geben darf, vielleicht sogar geben muss.

Der erste Teil arbeitet zudem heraus, welche Anforderungen Liebe an die Rationalität und die Moral der Liebenden stellt. Dialogische Liebe verlangt soziale Intelligenz: die Fähigkeit zu Empathie und zum Denken vom Ganzen, vom Wir her. Ohne Moral kann dialogische Liebe auch nicht gedeihen. Dies führe ich an einem Fallbeispiel vor. Merton Densher und Kate Croy, die beiden leidenschaftlich Liebenden aus Henry James’ Roman The Wings of the Dove (Die Flügel der Taube), müssen nach ihrem Verrat an einer gemeinsamen Freundin mit ansehen, wie ihre Liebe an ihrer eigenen Unmoral zerbricht. Der Roman zeigt, dass an der aristotelischen Idee, nur moralisch gute Menschen seien zu wahrer Liebe und Freundschaft fähig, mehr dran ist, als man denkt. Der eilige Leser, der nur einen Überblick über die Geschichte und den gegenwärtigen Stand der Philosophie der Liebe sucht und meine Position nur kurz kennenlernen will, mag sich mit diesem grundsätzlichen Teil begnügen.[7]

Der zweite Teil buchstabiert das dialogische Modell aus und erklärt, was es bedeutet, Handlungen und vor allem Gefühle im eigentlichen Sinn: personal oder dialogisch miteinander zu teilen. Die Kernidee dabei ist, dass zwei Personen miteinander handeln, wenn sie ihre Teilhandlungen – wie Stimmen in der Musik – als Beiträge zum Gesamthandeln verstehen, wenn sich also der Sinn der Gesamthandlung nicht aus der Summe isolierter Einzelhandlungen ergibt, sondern als Sinneinheit die Beitragshandlungen der Beteiligten durchwirkt.

Gefühle sind, wie ich weiter erläutern werde, keine reinen Widerfahrnisse, sondern als narrative Einheiten aus Werturteilen, Ausdrucksverhalten, leiblichen Empfindungen und körperlichen Veränderungen wesentlich durch Handlungen konstituiert:

(1) durch das Fällen von Werturteilen, (2) durch das Handeln aus dem Gefühl heraus und (3) durch das »Schreiben« eines die verschiedenen Gefühlskomponenten zusammenbindenden Gefühlsnarrativs. Da dem so ist, können geteilte Gefühle als wesentlich durch geteiltes Handeln konstituiert begriffen werden: (1') durch das gemeinsame Fällen von Werturteilen, (2') durch das gemeinsame Handeln aus dem Gefühl heraus und (3') durch das gemeinsame Schreiben des Gefühlsnarrativs. Wenn zum Beispiel zwei Personen ein Schuldgefühl teilen, dann fällen sie (1'') miteinander das Werturteil, dass das, was sie getan haben, falsch war, dann arbeiten sie (2'') miteinander an der Wiedergutmachung ihres Vergehens und begreifen (3'') miteinander auch ihre leiblichen Empfindungen und körperlichen Veränderungen, etwa die Nervosität und die Magenkrämpfe, als Komponenten ihres Schuldgefühls, schreiben also das Narrativ ihres Schuldgefühls zusammen.

Natürlich fühlen und handeln nicht nur Liebende miteinander. Das liebende Miteinander zeichnet sich vor allem durch drei Eigenschaften aus. Es erfolgt erstens um seiner selbst willen. Es kreist zweitens um die Individualität oder Partikularität der Beteiligten. Und es ist drittens auf Dauer angelegt. Man kann nicht nur einen Augenblick lang lieben.

Der zweite Teil ist philosophisch anspruchsvoller als der erste. Er begibt sich in die zwar genaue, bisweilen aber recht technische Debatte zum geteilten Handeln in der analytischen Philosophie und bemüht sich, zur Vorbereitung eines Verständnisses geteilter Gefühle, auch um die zwar lebensgetränkte, bisweilen aber verstiegene phänomenologische Tradition.

Der dritte Teil wechselt von der Handlungs- und Gefühlstheorie in den Bereich der Ästhetik. Er begründet die Angewiesenheit der Philosophie der Liebe auf Literatur, und zwar mit dem Argument, dass Literatur die dialogische Natur der Liebe nicht nur erkennbar, sondern auch erfahrbar macht und somit eine Art konstruktiven Existenzbeweis für das Phänomen des geteilten Fühlens erbringt.

Das Schlusskapitel dieses Teils blendet den letzten großen Roman von Henry James ein, und zwar über einen Mix aus erzählendem und zitierendem Nachvollzug, literaturwissenschaftlicher Interpretation und philosophischer Analyse. Es »erdet« damit nicht nur die bis dahin entwickelten philosophischen Unterscheidungen und Überlegungen, sondern ermöglicht dem Leser, auf knappem Raum und zumindest ansatzweise dialogische Liebe literarisch zu erfahren. Die eigene Lektüre des Romans kann dies freilich nicht ersetzen. Es mag aber immerhin dazu anspornen. The Golden Bowl (Die goldene Schale) stellt den schwierigen Aufstieg zu einer dialogischen Liebe dar. Maggie Verver muss mühsam lernen, dass Liebe mehr ist als Schwärmerei und »care«. Der Roman entwickelt das wohl beste Beispiel geteilten Fühlens im Gesamtwerk von Henry James.[8]

Es gibt eine Erzählung von Henry James, die von einem Maler handelt, der zu lange wartet mit einem Bild. Er hat sein ideales Modell für ein Madonnenbild gefunden, eine junge, schöne Venezianerin. Er besucht sie immer wieder, schult seinen Blick, fühlt sich aber der großen Aufgabe noch nicht recht gewachsen. Und ehe er sich’s versieht, ist sein Modell alt geworden und er kann sein Bild nicht mehr malen. Die Geschichte trägt den Titel »The Madonna of the Future«. In der Philosophie kann es einem ähnlich ergehen wie dem Maler in der James’schen Geschichte. Vor allem, wenn man im Philosophieren nah an den Dingen dranbleiben will. Man studiert und studiert die Phänomene und entdeckt immer neue Facetten. Die Liebe ist fürwahr ein »unerschöpflicher Gegenstand«. Und ehe man sich’s versieht, verblassen einem die Konturen und man hat den klaren Blick verloren. Dann muss man sich einen Ruck geben und Nägel mit Köpfen machen. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieses Rucks.

Das Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die genaue, kluge und phantasievolle Mitarbeit meiner Studierenden und Assistierenden am Philosophischen Seminar der Universität Basel. Mein besonderer Dank gilt hier Larissa Dätwyler, Rebekka Gersbach, Sebastian Knell, Rebecca Lötscher, Miranda Oeschger, Isabelle Pryce, Susanne Schmetkamp und Adrian Wettstein. Das Buch wäre auch nicht möglich gewesen ohne das großzügige Rockefeller-Stipendium am Center for Human Values der Universität Princeton. In der geschützten, intensiven Arbeitsatmosphäre des Zentrums konnte ich nicht nur mit Harry Frankfurt, Victoria McGeer, Roger Scruton und vielen anderen gute Gespräche über die Philosophie der Liebe führen. Ich fand auch die Muße zur Lektüre des monumentalen Werks von Henry James. Für wertvolle Anregungen habe ich des Weiteren zu danken: Aaron Ben-Ze’ev, Gottfried Gabriel, Eva Gilmer, Friedrich Kambartel, Avishai Margalit, Barbara Merker, Bernhard Schlink, Hans Bernhard Schmid, Hermann Schmitz, Christiane Voss, Bernard Williams und natürlich Jochen Koenigsmann und mit ihm Lady Margaret Hall in Oxford und Liberty Hall in den Schweizer Bergen.

I.
Drei Modelle der Liebe

Wenn wir einen anderen Menschen lieben, dann teilen wir unser empfindendes und tätiges Leben mit ihm in seiner Besonderheit oder möchten dies zumindest tun. Wir teilen Freud und Leid, wir verfolgen zusammen Projekte: eine große Reise, den Garten, die Musik, Kinder. Das Teilen des Lebens in der Liebe steht nicht im Dienste anderer Güter, der eigenen Lust oder Charakterentwicklung zum Beispiel, sondern ist ein Gut um seiner selbst willen.

Eine Beziehung, in welcher die Partner einander nur benutzen, und sei es in aller moralisch gebotenen Fairness und Freundlichkeit, verdient so wenig den Titel »Liebe« wie eine Beziehung, in welcher die Partner einander nur als austauschbare Platzhalter attraktiver Eigenschaften, der Schönheit, Klugheit oder Wärme etwa, betrachten. Liebe ist nur da gegeben, wo die Partner erstens ihren Egoismus zumindest ein Stück weit überwinden und sich zweitens dem anderen auch in seiner Partikularität zuwenden.

Es gibt verschiedene Weisen, die für Liebe konstitutive Überwindung des Egoismus, sprich, das für Liebe konstitutive Teilen des Lebens zu verstehen. Drei Hauptverständnisse lassen sich unterscheiden. Wir begegnen diesen drei Liebesmodellen bereits am Anfang der Philosophie in der griechischen Antike. Aber wir begegnen ihnen auch heute noch in der angelsächsisch dominierten »philosophy of love«.

Das erste Liebesmodell versteht Liebe als Verschmelzung der Liebenden zu einer Einheit. Im zweiten Modell wird Liebe als selbstlose Sorge oder »care« für den anderen vorgestellt. Das dritte Modell begreift Liebe als personale Gemeinschaft oder Dialog.

Das Verschmelzungsmodell findet seine klassische Formulierung im Kugelmenschenmythos des Aristophanes in Platons Gastmahl und gilt als Inbegriff von Liebe als eros. Eine zeitgenössische Variante dieses Modells vertritt der amerikanische Philosoph Robert Solomon in seinem Buch About Love aus dem Jahr 1988.

Das Moment der Sorge für den anderen um des anderen willen ist ein wichtiger Aspekt der aristotelischen Begriffsbestimmung von Freundschaft und Liebe in seiner Nikomachischen Ethik, kommt aber erst als christliche agapé zu voller Entfaltung. Ein prominenter gegenwärtiger Vertreter dieses »Care«-Modells der Liebe ist der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt.

Das dialogische Modell schließlich hat seinen Vorläufer ebenfalls in der aristotelischen Ethik und ihrer Betonung des Miteinanders von Freunden und Liebenden als Gleichen. Das ist Liebe als philia. Zeitgenössische Ansätze zu einem dialogischen Verständnis von Liebe gibt es bei dem englischen Philosophen Roger Scruton in seinem Buch Sexual Desire von 1986 und in der sogenannten Joint-Action-Debatte.

Diese Unterscheidung von drei Modellen findet sich weder in der Geschichte der Philosophie noch in der gegenwärtigen Diskussion. Meist wird, wenn überhaupt, nur zwischen zwei Modellen unterschieden, einem Verständnis von Liebe als Einheit und einem als Sorge. Das dialogische Modell kommt in dieser Zweiteilung entweder gar nicht in den Blick oder wird als Unterfall des Einheitsmodells abgehandelt. Zwischen Einheit als Verschmelzung und Einheit als personaler Gemeinschaft liegen jedoch Welten.

Im Folgenden werden die drei Liebesmodelle in ihrer klassischen und modernen Ausprägung vorgestellt (1.-3.). Auf die Präsentation der drei Modelle folgt ihre Kritik (4.). Dem Verschmelzungsmodell wird vorgeworfen, dass es der Autonomie und Individualität des Einzelnen nicht genug Rechnung trägt (4.1.). Regressive Formen menschlicher Gemeinschaft, in denen ein Ich das andere »aufsaugt«, sind von personalen Formen zu unterscheiden. Dass dieser grundlegende Unterschied in der Philosophie der Liebe oft nicht gesehen wurde, mag damit zu tun haben, dass die Frau in ihrer Autonomie und Individualität lange nicht für voll genommen wurde. In Anspielung auf die bis vor einigen Jahrzehnten gültige Namensgesetzgebung für die Ehe heißt es im Englischen: »Man and woman are one and the man is the one.«

Am kurativen Modell indes ist auszusetzen, dass es von den Liebenden einerseits zu viel verlangt (zu viel Selbstaufgabe) und andererseits zu wenig (zu wenig Dialog, 4.2.). Auch in diesem Modell mag die lange Geschichte der geschlechtlichen Arbeitsteilung nachwirken. Wenn die Frau zu Hause den Mann und die Kinder zu umsorgen hatte und der Mann hinaus in die Welt musste, um den Unterhalt für die Familie zu verdienen, fehlte es oft an der nötigen Zeit und Bildung, um das Leben auf Augenhöhe dialogisch zu teilen.

Das vierte Kapitel schließt mit einer Verteidigung des dialogischen Modells gegen naheliegende Einwände, etwa den, dass Liebe doch ein Gefühl ist, mitunter gar ein unerwidertes, und keine Beziehung (4.3.).

Das fünfte Kapitel bestimmt die Gründe, warum wir der Liebe in unserem Leben einen prominenten Platz einräumen sollten. Er benennt neben intrinsischen Gründen, wie sie die drei Liebesmodelle bereits dingfest machen (unsere Mangelnatur als Halbwesen bzw. unsere »soziale«, d. h. kurative oder dialogische Natur), etliche instrumentelle Gründe, zum Beispiel, dass Liebe der Selbsterkenntnis und der Charakterentwicklung dient, dass sie eine größere Kontinuität im Tätigsein erlaubt und dass sie Hilfe in der Not sicherstellt (5.1.). Im Anschluss daran wird die Position vertreten, dass es rational ist, und nicht in einem schlechten Sinn »verkopft« oder berechnend, bei der Wahl des Liebespartners diese Gründe mit einzubeziehen (5.2.).

Das sechste und letzte Kapitel befasst sich mit dem Spannungsverhältnis von Liebe und Moral. Während die einen Liebe als parteilich und daher unmoralisch ablehnen (6.1.), setzen die anderen der Liebe mit ihrem Interesse am Wohl des anderen einen Heiligenschein auf (6.2.). Das Kapitel argumentiert, dass Liebe von Haus aus weder moralisch noch unmoralisch ist. Allerdings stellt insbesondere die dialogische Liebe hohe Anforderungen an die Moral der Partner. Wie eine solche Liebe an ihrer eigenen Unmoral scheitert, zeigt exemplarisch Henry James’ Roman The Wings of the Dove (6.3.).

1.
Liebe als Verschmelzung

1.1. Klassisch:
Platon und der Mythos vom Kugelmenschen

Wenn es ein philosophisches Werk gibt, welches als der Grundtext der Philosophie der Liebe gelten darf, dann ist dies Platons Dialog Das Gastmahl. Dank Platon und Aristoteles ist die griechische Antike ohnehin die Blütezeit der Philosophie der Liebe. Zwar haben sich alle »großen Philosophen« auch zur Liebe geäußert. Aber was Kant, Hume oder Hegel zur Liebe sagen, hat kein vergleichbares Gewicht – nicht in der Philosophie der Liebe und nicht in ihrem eigenen philosophischen Werk.[1]

Das Gastmahl stammt aus Platons mittlerer Schaffensphase (von 375 v. Chr.). Es ist weder Platons erstes Wort zur Liebe (das ist der Lysis) noch sein letztes (das ist der Phaidros). Das Gastmahl gilt als Platons literarischster Dialog. Erzähl-, Vortrags- und Gesprächsmomente sind kunstvoll ineinander verschachtelt. Die Figuren, insbesondere der aus Trunkenheit redselige, verliebte und verschmähte Alkibiades mit Efeu im Haar sowie der, den er liebt, Sokrates, sind plastisch modelliert. Bilder, Vergleiche und Mythen veranschaulichen die abstrakten philosophischen Inhalte. Die Abendgesellschaft zu Ehren des jungen Dichters Agathon entsteht so in aller Lebendigkeit vor unseren Augen: Da bringt Sokrates einen ungeladenen Gast mit und ist im entscheidenden Moment, da es gälte, den Gast einzuführen, noch draußen in Gedanken versunken. Da gibt es ein eifersüchtiges Gerangel um den besten Platz, neben Agathon. Da debattiert man, ob man sich schon wieder betrinken oder lieber reihum Reden halten soll, zum Beispiel zum Lob auf eros. Da bekommt einer Schluckauf, als er mit dem Redenhalten dran wäre. Da will nach Agathons brillantem Vortrag keiner mehr reden müssen etc.

Sieben Redner treten insgesamt auf. Der erste, Phaidros, behauptet, dass eros uns zur Tugendhaftigkeit anspornt. Der zweite, Pausanias, stößt in dasselbe Horn: Eros führe uns weg von der Sinnlichkeit hin zur seelischen Tugend. Der dritte Redner, Eryximachos, bringt einen neuen, naturphilosophischen Aspekt ins Spiel: Eros versöhne Gegensätze und walte in allem, nicht nur im Menschen. Auf etwas wieder ganz anderes will der Dramatiker Aristophanes mit seinem Kugelmenschenmythos hinaus: Eros sei die Kraft, die uns zur verlorenen, anderen Hälfte zurückführt. Die beiden folgenden Redner knüpfen an das Tugendthema der Anfangsreden an. Für Agathon leitet uns eros zum Schönen und macht uns weich, blühend, tugendhaft und kreativ. Für Sokrates, der eine Lehre der weisen Diotima vorträgt, bringt uns eros von der Liebe zu einem schönen Körper über die Liebe zur Schönheit aller Körper und die Liebe zur geistigen Schönheit endlich zur Liebe der Schönheit und Wahrheit an sich. Der letzte Redner, Alkibiades, besingt seine eigene Liebe zu Sokrates als einer einzigartigen Person und setzt somit, wie zuvor Aristophanes mit dem Kugelmenschenmythos, einen Kontrapunkt zu all den Reden über Schönheit, Wahrheit und Tugend. Die beiden berühmtesten Reden sind die des Aristophanes und die des Sokrates beziehungsweise der Diotima.

Nach dem Mythos des Aristophanes waren die Menschen ursprünglich Kugelwesen, zusammengesetzt entweder (und im besten Fall) aus zwei männlichen Hälften oder (im zweitbesten Fall) aus einer männlichen und einer weiblichen Hälfte oder (im schlechtesten Fall) aus zwei weiblichen Hälften. Die Kugelmenschen waren von gewaltiger Kraft und Stärke; sie wollten sich Zugang zum Himmel bahnen und die Götter angreifen. Um ihrem Übermut Einhalt zu gebieten, zerschnitt Zeus sie in zwei Hälften:

Seit so langer Zeit ist demnach die Liebe zu einander den Menschen eingeboren und sucht die alte Natur zurückzuführen und aus zweien eins zu machen und die menschliche Schwäche zu heilen. Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke von einem Menschen, weil wir zerschnitten, wie die Schollen, zwei aus einem geworden sind. Daher sucht denn jeder beständig seine andere Hälfte. (191d)

Der Kugelmenschenmythos denkt die für Liebe konstitutive Überwindung des Egoismus als Einswerdung mit dem anderen. Der andere wird ein wesentlicher Teil des eigenen Selbst. Und als solchen instrumentalisiert man ihn nicht. Der andere interessiert im Kugelmenschenmythos in seiner Partikularität als die verlorene, ergänzende, passende Hälfte; er interessiert nicht, jedenfalls nicht vorrangig, als austauschbarer Träger guter Eigenschaften. Nimmt man den Kugelmenschenmythos wörtlich, dann gibt es sogar nur einen einzigen vorbestimmten anderen, der als die verlorene Hälfte zu einem passt.

Die Stufenleiter der Liebe der Diotima beziehungsweise des Sokrates lässt sich als Gegenmodell dazu lesen. In der scala amoris erscheint der andere als austauschbarer Träger guter Eigenschaften, gar als bloßes Mittel zum Zweck der eigenen Höherentwicklung, der eigenen Vereinigung mit der Idee des Schönen, Wahren und Guten. Überspitzt gesagt lautet hier die Botschaft: »Make philosophy, not love!« Liebe die Weisheit (philo-sophia) und nicht einen anderen Menschen! So gelesen, verfehlt die in der scala amoris vorgestellte Liebeskonzeption die beiden für Liebe eingangs als konstitutiv bestimmten Merkmale: die Überwindung des Egoismus und das Interesse am anderen in seiner Besonderheit.[2]

1.2. Modern:
Robert Solomon über das Paradox der Liebe

Eine zeitgenössische Variante des Verschmelzungsmodells der Liebe finden wir bei dem Emotionstheoretiker Robert Solomon in seinem Buch About Love.[3] Anders als Platon betont unser Zeitgenosse die Komplementarität der Geschlechter. Der heterosexuelle Liebesakt wird zum Leitbild des Ineinanderpassens der beiden nicht nur körperlich, sondern auch seelisch verschiedenen männlichen und weiblichen Hälften. Platon hatte mit unverhohlener Geringschätzung der Fähigkeiten der Frau die homosexuelle Liebe unter Männern als beste Form der Liebe angepriesen.[4] Robert Solomon privilegiert dagegen die Liebe zwischen Mann und Frau als gleichwertige, aber verschiedene Partner.

Auch die Besonderheit des Geliebten versteht Solomon anders als Aristophanes, nämlich nicht ontologisch, sondern historisch-produktiv. Danach gibt es nicht den einen vorbestimmten anderen, der zu einem als die andere Hälfte passt und vielleicht in der »Liebe auf den ersten Blick« erkannt wird. Vielmehr erschaffen Liebende allererst die Besonderheit oder Unersetzbarkeit des von ihnen Geliebten. Sie tun dies durch die Geschichte ihres Ringens um Einswerdung. Anders als historisch lässt sich nach Solomon die für Liebe charakteristische Unersetzbarkeit des Geliebten nicht erklären: »Nur historische Gründe sind jener gefährlichen Frage, die alle Diskussionen über Gründe in der Liebe heimsucht, nicht ausgesetzt: Würde man nicht – sollte man nicht – eine andere Person genauso lieben, für die die gleichen Gründe sprechen?« (Solomon 1988: 160)

Das »Ich liebe Dich« einer beginnenden Liebe ist nach Solomon kein feststellender Sprechakt, es bildet kein gegebenes Einheitsgefühl ab, sondern ist »performativ«, eine Bereitschaftserklärung und Einladung zu einem Prozess der gemeinsamen Erarbeitung einer Einheit: »Wer sagt: ›Ich liebe Dich‹, berichtet nicht über ein bei ihm vorliegendes Gefühl. […] Er vollzieht vielmehr einen aggressiven, kreativen und sozial definitiven Akt.« (Ebd.: 36) Selbstverständlich lade man nicht einen x-Beliebigen zu einem solchen Prozess ein, eine gewisse Wertschätzung und Kompatibilität müsse schon vorab gegeben sein.

Die in der Liebe ersehnte Vereinigung will Solomon weder nur körperlich noch rein metaphorisch verstanden wissen. Er denkt vielmehr an einen realen psychologischen Mechanismus: In der Liebe teilt man – anders als in der Freundschaft – nicht nur bestimmte Tätigkeiten, Wahrnehmungen und Empfindungen, sondern auch ein Selbst, eine Sicht auf die Welt. Man definiert dieses Selbst wechselseitig und besitzt es gemeinsam:

Eine Theorie der Liebe […] ist eine Theorie des Selbst, aber eines geteilten Selbst, eines Selbst, das von zwei Personen gemeinsam bestimmt und besessen wird. […] Die Geschichte [von Aristophanes] ist zwar Unsinn, aber sie deutet auf eine tiefe Wahrheit hin. Es ist die Aufgabe dieses Buches, Liebe neu zu begreifen als die wörtliche und nicht nur metaphorische »Verschmelzung« zweier Seelen. (Ebd.: 24)

Typisch für Liebende sei, dass sie nicht mehr wissen, wo der eine aufhört und der andere anfängt: »[S]ie können nicht mehr sagen, wo des einen Fleisch endet und des andern Fleisch beginnt, können nicht mehr sicher sein, wessen lustvolles Aufstöhnen wem gehört, denn alles Fleisch und alle Lust ist geteilt.« (Ebd.: 193)

Die Sehnsucht nach einer solch nahtlosen Einheit in der Liebe sieht Solomon allerdings in Spannung mit unserem Bedürfnis nach Autonomie, nach der eigenen wie nach der des anderen. Er spricht daher im Anschluss an Hegels Herr-Knecht-Dialektik und Sartres Kampf der Blicke von einem »Paradox der Liebe«. Unsere Sehnsucht, endlich wieder ganz zu sein, sei letztlich nicht stillbar. Insofern gehe Liebe notwendig mit Verzweiflung einher:

Hier ist das Paradox: Das unabhängige Individuum ist die Voraussetzung von Liebe, doch es ist genau diese Unabhängigkeit, welche die Liebe überwinden und negieren will. Das Individuum besteht auf seiner Selbstbestimmung, Liebe dagegen verlangt eine wechselseitige, gemeinsame Bestimmung. Das Individuum lebt an seinem eigenen Ort und in seiner eigenen Zeit, doch die Liebe baut alle Distanz ab und negiert die Integrität des Einzelkörpers. […] Wer mit jemandem schläft, versucht verzweifelt, mit ihm eins zu werden. Das gelingt aber nur für eine bestimmte Zeit und wir sind uns selbst in den Momenten größter Erfüllung des Abgrunds zwischen uns schmerzlich bewusst. Und deswegen wollen wir immer mehr, Liebe bringt keine Erfüllung, sondern Verzweiflung, denn das wahre Ziel unseres Begehrens erreichen wir nie. (Ebd.: 65)

2.
Liebe als »Care«

2.1. Klassisch:
Aristoteles und das Wohlwollen

Im Vergleich zu Platons blumigem und hochfliegendem Gastmahl nimmt sich die Nikomachische Ethik seines Schülers Aristoteles spröde und pragmatisch aus. Die Nikomachische Ethik (von ca. 350 v. Chr.) ist jedoch Aristoteles’ ethisches Hauptwerk und neben Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vielleicht der wichtigste philosophische Text zur Ethik überhaupt. Der Ausgangspunkt der aristotelischen Untersuchung ist die Frage nach dem glücklichen menschlichen Leben. Besteht das für den Menschen beste Leben im hedonistischen Leben der Lust, im politischen Leben als Bürger in der Polis oder im kontemplativen Leben der Wissenschaft? Und welche Rolle spielen Freundschaft und Liebe für das menschliche Glück? Von den zehn Büchern der Nikomachischen Ethik befassen sich immerhin ganze zwei, die Bücher VIII und IX, mit philia, was man mit »Freundschaft und Liebe« oder gar nur mit »Liebe« übersetzen sollte, das aber oft nur mit »Freundschaft« übersetzt wird.[5] Freundschaft und Liebe sind aber auch in anderen aristotelischen Texten Gegenstand ausführlicher Erörterung: in der Eudemischen Ethik (VII, 1-12), der Rhetorik (II, 4) und den Magna Moralia (II, 11-17).

Die Hauptthemen der Bücher VIII und IX der Nikomachischen Ethik sind die Begriffsbestimmung von Freundschaft und Liebe sowie die Unterscheidung dreier Formen derselben (VIII, 2-7), das Verhältnis zwischen Moral einerseits und Freundschaft und Liebe andererseits (VIII, 8-11 und 15 bis IX, 3), die Frage, wozu Freundschaft und Liebe gut ist (VIII, 1 und IX, 9-12), die Spezialform der politischen Freundschaft oder Liebe unter Mitbürgern (VIII, 12-14) und das Verhältnis zwischen Selbstliebe auf der einen Seite und Freundschaft und Liebe auf der anderen Seite (IX, 4 und 8).

Im Kern der aristotelischen Begriffsbestimmung von Freundschaft und Liebe stehen zwei Elemente: das Element des Wohlwollens (dem anderen das Gute wünschen um des anderen willen) und das Element der Gegenseitigkeit. Es wäre lächerlich, sagt Aristoteles, einem edlen Wein das Gute um seiner selbst willen zu wünschen – man will ihn höchstens erhalten, damit man ihn selbst genießen kann. Genauso lächerlich wäre es, auf die Gegenliebe des Weines zu hoffen. Daher könne man mit einem edlen Wein auch nicht befreundet sein – man kann ihn mögen, aber man kann ihn nicht wirklich lieben.

Fügen wir als drittes Element der Begriffsbestimmung hinzu, dass das gegenseitige Wohlwollen nicht verborgen bleiben darf, dann erhalten wir Aristoteles’ Definition: »Man muss also einander wohlgesinnt sein und das Gute wünschen, und so, daß man dies voneinander weiß […].« (VIII, 2, 1156a 3-4)

Diese Eingangsdefinition erfährt in den darauf folgenden Textpassagen einige Präzisierungen und Ergänzungen: Das Element des Wohlwollens wird in Richtung des aktiven Wohltuns erweitert (VIII, 6 und 7). Die Begriffsbestimmung in der Rhetorik hat das Wohltun gleich von Anfang an mit eingebaut: »Lieben sei also, einem anderen das wünschen, was man für Güter hält, und zwar um dessen- und nicht um unseretwillen, und nach Kräften dafür tätig sein. Freund aber ist der, der liebt und wieder geliebt wird.« (II, 4, 1380b 35-1381a 1)

Dass Freundschaft und Liebe auch aus der Ferne noch möglich sind, führt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik zu einer weiteren Präzisierung. Freundschaft beziehungsweise Liebe sei eher eine Haltung oder Einstellung, denn notwendig ein Tun oder Fühlen. Allerdings dürfe die Trennung nicht zu lange dauern, oft würden Freundschaft und Liebe durch einen Mangel an Gespräch aufgelöst (VIII, 6, 1157b 5-14).

Das Ergebnis dieser aristotelischen Zurechtstellungen lautet: Freundschaft oder Liebe ist ein wechselseitiges, offenbartes Wohlwollen und Wohltun beziehungsweise die entsprechende Haltung.

Aristoteles unterscheidet zwischen drei Arten von Liebenswertem: dem Tugendhaften, dem Angenehmen und dem Nützlichen, und entsprechend zwischen drei Arten von Freundschaft und Liebe. Mit der Art variiere die Dimension, in der man dem anderen Gutes wünscht:

Wer einander liebt, will also einander das Gute in dem Sinne, in dem sie einander lieben.

Die einen lieben einander also wegen des Nutzens und nicht als solche, sondern sofern sie einander Gutes verschaffen. Dasselbe gilt für jene, die einander der Lust wegen lieben. Denn sie lieben die Gewandten nicht um ihrer Qualitäten willen, sondern weil sie angenehm sind.

Wer also um des Nutzens willen liebt, tut es um seines eigenen Gewinns willen, und wer um der Lust willen, tut es um seiner eigenen Lust willen, und nicht sofern der Freund ist, was er ist, sondern nur soweit er nützlich oder angenehm ist. Dies sind also zufällige Freundschaften. Denn der Freund wird da nicht geliebt in dem, was er ist, sondern nur soweit der eine einen Gewinn, der andere Lust verschafft.

Dergleichen Freundschaften lösen sich bald auf, da die Partner nicht dieselben bleiben. Wenn sie nämlich nicht mehr angenehm oder nützlich sind, hört die Freundschaft zu ihnen auf. Der Nutzen bleibt aber nicht, sondern ist bald dieser, bald jener. […]

Vollkommen ist die Freundschaft der Tugendhaften und an Tugend Ähnlichen. Diese wünschen einander gleichmäßig das Gute, sofern sie gut sind, und sie sind gut an sich selbst. Jene aber, die den Freunden das Gute wünschen um der Freunde willen, sind im eigentlichen Sinne Freunde; denn sie verhalten sich an sich so, und nicht zufällig. Ihre Freundschaft dauert, solange sie tugendhaft sind. Die Tugend ist aber beständig. (VIII, 3, 1156a 9-23 und 4, 1156b 6-11)

Ein Verständnisproblem tut sich an dieser Stelle von Aristoteles’ Text auf: Die altruistische Definition von Freundschaft und Liebe über uneigennütziges Wohlwollen und Wohltun scheint sich nämlich nicht mit der Charakterisierung von Nutzen- und Lustfreundschaft beziehungsweise -liebe als egoistisch, um des eigenen Vorteils willen, zu vertragen. In der Aristoteles-Rezeption stehen sich zwei Positionen zur Entschärfung dieses »Widerspruchs« gegenüber: Die eine Lesart versteht das in die Definition von Freundschaft und Liebe eingelassene Wohlwollen und Wohltun nicht unbedingt als uneigennützig. Nur in der höchsten Form, der Beziehung zwischen Tugendhaften, gelte es dem anderen um des anderen willen – »um des anderen willen« im doppelten Sinn von einerseits Altruismus und andererseits dem Bezug auf sein Wesen, seine Tugenden.[6]

Die andere Lesart unterstellt ein uneigennütziges Element in allen drei Formen und grenzt alle drei von bloßen Vorteilsbeziehungen ab. Nur in der höchsten Form gehen nach dieser Lesart die beiden Bedeutungen des »um des anderen willen« zusammen. In den beiden niederen Formen fänden wir aber immerhin das altruistische Moment (etwa aus Dankbarkeit für den erhaltenen Nutzen und die gewährte Lust) als »Surplus« zu dem in diesen Beziehungen tragenden Egoismus.[7] Dass Nutzen und Annehmlichkeit mit einem uneigennützigen Interesse am anderen oft einhergehen und nicht unbedingt gegeneinander auszuspielen sind, hat Henry James immer wieder gestaltet. In der berühmten venezianischen Erzählung »The Aspern Papers« verwandelt sich eine alte Jungfer für den Ich-Erzähler in eine engelgleiche Gestalt, weil sie Papiere des verstorbenen Dichters Aspern in ihren Händen hält, hinter denen der Ich-Erzähler, ein amerikanischer Literaturwissenschaftler, schon lange her ist. Miss Tina, die alte Jungfer, hatte dem namenlosen Ich-Erzähler tags zuvor erklärt, er könne die Papiere haben, aber nur wenn sie »in der Familie blieben«, woraufhin er in Horror davonläuft. Nach einer durchwachten Nacht kehrt er zu ihr zurück:

Sie stand in der Mitte des Zimmers, das von Milde erfüllte Gesicht mir zugewandt, und ihr Blick voller Vergebung und Verzeihen verlieh ihr etwas Engelhaftes. Er machte sie schöner; sie war jünger, sie war nicht mehr die lächerliche ältere Frau. Diese Besonderheit in ihrem Ausdruck, dieser Zauber ihres Geistes machte eine andere aus ihr, und während ich diese Verwandlung noch auf mich wirken ließ, vernahm ich irgendwo in den Tiefen meines Bewusstseins ein Flüstern: »Warum nicht, warum eigentlich nicht?« Plötzlich hatte ich das Gefühl, ich könnte den Preis sehr wohl zahlen. (James 1888, dt. 2005: 179)

Miss Tina gesteht ihm dann allerdings, sie habe die Papiere inzwischen alle verbrannt. Da verwandelt sie sich für ihn wieder in eine alte Jungfer zurück:

Das Zimmer schien sich um mich zu drehen, als sie das sagte, und einen Moment lang senkte sich völlige Dunkelheit über meine Augen. Als dieser Anfall vorüber war, stand Miss Tina immer noch da, aber mit der Verwandlung war es vorbei, und sie hatte sich in die schlichte, schäbige ältere Frau zurückverwandelt. (Ebd.: 180 f.)

In der späten James’schen Erzählung »The Birthplace« entdeckt ein alterndes, verarmtes Paar seine Liebe zu Shakespeare, als ihm der Posten als Kurator des Geburtshauses von Shakespeare angeboten wird. Die Szenen, in denen die beiden einander allabendlich mit Tränen der Begeisterung in den Augen Shakespeare vorlesen, berühren in ihrem irreduziblen Doppelcharakter:

So dass die allerglücklichste Zeit ihres sorgenreichen Lebens vielleicht die Stunden nach dem Abendessen, bei Lampenlicht, gewesen sein werden, in denen sie abwechselnd aus dem Buch ihren wohltätigen Autor deklamierten, fast aufführten. Er wurde schnell mehr als ihr Autor – ihr persönlicher Freund, ihr universales Licht, ihre letzte Autorität und Gottheit. […]

»Wir sehen ihn, weil wir ihn lieben – ja, das tun wir. Und wie könnten wir anders, der gute Alte – nach allem, was er für uns tut? Kein Licht leuchtet so hell«, sagte sie etwas hochtrabend, »wie wahre Zuneigung«. (James 1903/1996a: 447 f.)

Die drei Grundformen von Freundschaft und Liebe vervielfältigt Aristoteles noch einmal über eine Unterscheidung der Gleichheit beziehungsweise Ungleichheit der Gründe (die eine aus Nutzen, der andere aus Lust z. B.) und der Überlegenheit beziehungsweise Gleichheit der Partner (Liebe zwischen Vater und Kind versus Geschwisterliebe z. B.). Es ergäben sich dann insgesamt zwölf Arten von Freundschaft oder Liebe. Unterlegenheit sei durch ein Mehr an Liebe wettzumachen, auf dass eine Gleichheit des Gebens und Nehmens herrsche. Streit entstünde insbesondere in der Nutzenfreundschaft oder -liebe und da, wo die Art der Beziehung nicht geklärt ist (VIII, 15 und IX, 1).

In der auf Tugend basierenden Freundschaft und Liebe geht es nach Aristoteles um das Gesamt der Tugenden, den Charakter, das Wesen, den Kern der Persönlichkeit des anderen. Die Erfassung des Wesens eines anderen brauche allerdings Zeit, Erprobung und Gewöhnung. Man muss, wie Aristoteles sagt, erst das sprichwörtliche Salz miteinander gegessen haben (VIII, 4, 1156b 24-33). Diese Art der Freundschaft oder Liebe richte sich daher meist auf einen einzigen Menschen: »Mit vielen befreundet zu sein ist in der Weise der vollkommenen Freundschaft nicht möglich, wie man auch nicht viele zugleich lieben kann. Das gleicht nämlich dem Übermaß, und seiner Natur nach bezieht sich ein solches Verhältnis immer nur auf einen einzigen.« (VIII, 7, 1158a 10-13) Die Qualität des Charakters eines Menschen bemisst Aristoteles an einem für alle Menschen verbindlichen Tugendkatalog. Der gute Mensch hat mutig, gerecht, großzügig und so weiter zu sein. Da die aristotelische Charakterbeziehung auf einen für alle Menschen verbindlichen Tugendkatalog gerichtet ist, verfehlt auch Aristoteles, trotz seiner Betonung der zeitlichen Dimension, das Moment der Besonderheit und Unersetzbarkeit des anderen. Aristoteles gründet, wie schon Platon in der scala amoris, Liebe und Freundschaft auf prinzipiell ersetzbare gute Eigenschaften des anderen.[8]

Die alten Griechen hatten anscheinend noch keinen vollen Begriff von Individualität. Die Tiefen des Selbst wurden erst in der Romantik richtig ausgelotet. Wenn an der unter anderem von den Soziologen Niklas Luhmann und Anthony Giddens vertretenen historistischen These, dass romantische Liebe eine moderne Erfindung ist, etwas dran ist, dann dies.[9] Der zu Beginn dieses Teils über die zwei Momente Teilen und Individualität formulierte Vorbegriff von Liebe zeigt damit sein modernes Gesicht. Der Phänomenologe Hermann Schmitz verortet den Beginn des neuen Liebesverständnisses bereits mit dem Zaubertrank in Gottfrieds von Straßburg Tristan. Dass Tristan und Isolde sich nach dem Genuss des Zaubertranks lieben, symbolisiere eine Liebe ohne Verankerung in den guten Eigenschaften des anderen.[10]

agapéagapé[11]