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© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2005

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Cover und Illustrationen von Isabel Pin

E-Book-Umsetzung: pagina GmbH, Tübingen 2012

ISBN 978-3-86274-585-2

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ie Geschichte von Muhar dem Kleinen, von dem gleich die Rede sein wird, spielt nicht hier bei uns, sondern im Orient. Genauer gesagt in Memoluk. Zumindest beginnt und endet sie dort.

Für alle, die es genau wissen wollen: Memoluk ist ein kleines Städtchen und liegt auf halber Strecke zwischen Makame und Hims, rechts von der staubigen Karawanenstraße in einer fruchtbaren Oase.

Die Geschichte von Muhar dem Kleinen, von dem – wie gesagt – gleich die Rede sein wird, spielt auch nicht in unseren Tagen, sondern vor sehr langer Zeit.

Damals gab es noch kein Fernsehen, kein Radio, kein elektrisches Licht und keine elektrischen Zahnbürsten. Autos gab es natürlich auch noch keine, selbst das Fahrrad war noch nicht erfunden. Wenn man schnell von einem Ort zum andern kommen wollte, musste man ein Pferd haben und reiten können. Oder man stieg auf ein Kamel. Aber ein Kamel besaßen nur die sehr reichen Männer. Und davon gab es in Memoluk nicht mehr als vier oder fünf.

Muhar der Kleine, von dem jetzt endlich die Rede ist, wohnte ganz am Ende der Straße der Schmuckhändler. Seine Eltern waren früh gestorben. Sie hatten ihm ein Pferd hinterlassen, einen kleinen Garten und ein kleines Haus, in dem sich ein winziger Laden befand. In diesem Laden verkaufte Muhar mit einer jungen Gehilfin Kupferschmuck, Gürtel aus Kamelleder, bestickte Sitzkissen und die kleinen Gebetsteppiche, die ihm Harrat Ben Hammam, der Teppichknüpfer aus der Straße der Teppichknüpfer, regelmäßig vorbeibrachte.

Die junge Gehilfin hieß Fatme. Muhars Eltern hatten sie in den Laden geholt, als Fatme zwölf Jahre alt war. Nun war sie achtzehn, genau wie Muhar, und Muhars Eltern waren schon seit drei Jahren tot.

Viel mehr gibt es vorerst von Muhar dem Kleinen nicht zu berichten. Höchstens, dass er eine Flöte aus Buchsbaumholz hatte, auf der er gern spielte, wenn kein Kunde im Laden war.

Fatme sagte oft: „Du spielst wunderschön, Muhar. Ich könnte dir stundenlang zuhören.“

Muhar sagte dann höchstens „Ach ja?“ oder „Findest du?“, worauf er weiterspielte. Meistens antwortete er gar nicht, denn Fatme gehörte für ihn so zum Laden wie die Ladenglocke, das Fliegennetz oder der niedrige Tisch, an dem Muhar seinen Kunden in kleinen Gläsern den Tee anbot. Und einer Ladenglocke antwortet man ja auch nicht, wenn sie klingelt.

Vielleicht muss noch erzählt werden, weshalb die Einwohner von Memoluk oder zumindest die Anwohner der Straße der Schmuckhändler Muhar den Beinamen „der Kleine“ gegeben hatten und ihn untereinander „der kleine Muhar“ nannten.

In der Straße der Schmuckhändler wohnten nämlich zwei mit Namen Muhar. Der kleine Muhar hieß mit ganzem Namen Muhar Ben Hadschi Abbul Abbas Ibn Hadschi Davud Al Gossarah, der andere, den sie den Großen nannten, hieß Muhar Omar Ben Chosro Abbul Nosrati Ibn Parviz Al Firazeh. Weil die Leute aus Memoluk ihre Mitbewohner aber lieber mit Vornamen ansprachen (und weil es immer so lange dauerte, bis der vollständige Nachname ausgesprochen war), unterschieden sie die beiden Muhars, indem sie den einen den Großen und den anderen den Kleinen nannten. Dabei war der große Muhar in Wirklichkeit drei Zentimeter kleiner als der kleine. Er wurde so genannt, weil er der Besitzer des größten Geschäftes in der Straße der Schmuckhändler war, eines zweistöckigen Ladens, in dem er mit drei Gehilfen Gold- und Silberschmuck, Korallen, Perlen und Edelsteine verkaufte.

Der kleine Muhar war mit seinem bescheidenen Leben zufrieden. Er liebte es, mit seinen Kunden lange Verkaufsgespräche zu führen, dabei mit ihnen an dem kleinen Tisch zu sitzen, zu plaudern und Tee zu trinken. Manchmal verkaufte er an einem Tag drei Teppiche, zwei Gürtel und ein Sitzkissen. Dann sagte er abends zu Fatme: „Das war heute ein besonders guter Tag. Morgen können wir uns ein üppiges Essen leisten. Geh diesen Abend noch in die Straße der Fleischverkäufer und besorge uns ein Stück Hammelfleisch!“

Manchmal verkaufte er lediglich eine kupferne Haarspange. Dann gab es am nächsten Tag nur Hirsebrei mit Gartenkräutern. Den aßen Muhar und Fatme mit dem gleichen Appetit wie am Vortag den Hammelbraten in Pfefferminzsoße. Wie gesagt, Muhar war zufrieden und Fatme war es auch.

Alles änderte sich, als in die Straße der Gewürzhändler ein Kaufmann namens Walid einzog, den man schon bald „der reiche Walid“ oder „Walid der Reiche“ nannte.

Der Garten des reichen Kaufmanns grenzte an Muhars Garten.

Eines Abends, als Muhar auf dem flachen Dach seines Hauses saß und den sanften, kühlen Wind genoss, der von den fernen Bergen her wehte, sah er im Nachbargarten ein junges Mädchen. Es ging mit einer Dienerin zwischen den hoch gewachsenen Palmen auf und ab und schien wie Muhar die Abendkühle zu genießen. Das Mädchen war hübsch und Muhar verliebte sich auf der Stelle in sie.

Gleich am nächsten Morgen pflückte er alle Blumen aus seinem Garten, band sie zu einem riesigen Blumenstrauß, betrat damit das Haus des reichen Walid, begrüßte ihn mit einer tiefen Verbeugung und fragte: „Werter Herr Walid, gestattet Ihr, dass ich Eure Tochter sehe, um ihr eine Frage zu stellen?“

Der Kaufmann Walid sagte: „Und was willst du sie fragen?“

Muhar antwortete: „Ich möchte sie fragen, ob sie mich heiraten will.“