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Urlaubspläne

»Lippel?« Lippels Vater blickte kopfschüttelnd zu Lippel hinüber, der jetzt schon seit fast einer Minute mit dem Löffel in seiner leeren Teetasse rührte und offensichtlich nicht zugehört hatte.

»Lippel, träumst du schon wieder!«

»Wer? Ich? Nein!«, behauptete Lippel. Er legte den Löffel weg und grinste seinen Vater an.

»Bist du wieder mal auf einem Kamel durch die Wüste geritten?«, fragte seine Mutter.

»Nee, auf meinem Pferd«, gab Lippel zu. »Wir wollten in einer Oase Wasser trinken.«

»Wer ist denn ›wir‹?«, fragte seine Mutter.

»Mein Pferd und ich«, sagte Lippel. »Aber der Brunnen war ausgetrocknet. Ungefähr so leer wie meine Tasse.«

»Ausgetrocknet, aha«, sagte Lippels Vater, während er den letzten Rest Kräutertee in Lippels Tasse goss. »Also hast du doch geträumt.«

»Ich hab mir nur etwas vorgestellt«, sagte Lippel.

Seine Mutter sagte: »Jedenfalls hast du nicht zugehört, und wir können alles noch mal besprechen.«

»Was denn besprechen?«, fragte Lippel.

»Unsere Urlaubspläne!«, sagte sein Vater.

»Ach so, die kenn ich doch. Du hast gesagt, wir fahren am Sonntag für zwei Wochen nach Norwegen und mieten dort ein Ferienhaus. Dann angelst du, und Mama darf sich so lange langweilen«, sagte Lippel.

»Du bist schon ein merkwürdiger Junge«, stellte Lippels Vater fest. »Kannst gleichzeitig träumen und kriegst doch das Wichtigste mit. Nur das mit dem Langweilen habe ich so nicht gesagt.«

Lippel lachte. »Stimmt, das hab ich mir dazugedacht.«

»Habe ich das richtig gehört? Ich darf mich langweilen?«, fragte seine Mutter. »Und du?«

»Ich werde mich kein bisschen langweilen«, sagte Lippel und trank einen tiefen Schluck aus seiner Tasse.

»Das freut mich«, sagte sein Vater.

Lippel stellte die Tasse ab. »Ja, weil ich nämlich solange hier bleibe.«

»Machst du Witze?«, fragte sein Vater. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«

Seine Mutter sagte: »Lippel, wie stellst du dir das vor? Denkst du, wir lassen einen zehnjährigen Jungen zwei Wochen hier allein?«

»Erstens habt ihr wohl vergessen, dass ich vor drei Wochen elf geworden bin …«

»Stimmt«, sagte seine Mutter. »Entschuldige. Und zweitens?«

»Zweitens seid ihr vor ungefähr einem Jahr schon mal eine Woche nach Wien gefahren, ohne mich«, sagte Lippel.

»Erinnere uns bitte nicht daran!«, sagte seine Mutter. »Ich werde mir nie vergessen, dass wir ausgerechnet diese Frau Jakob eingestellt haben, damit sie für dich sorgt.«

»Das war wirklich eine Fehlentscheidung.« Lippels Vater kratzte sich am Kinn. Das machte er immer, wenn ihm eine Sache unangenehm war. »Die Frau war nicht gerade kinderfreundlich.«

Lippel nickte. »Nein, das war sie wirklich nicht!«

Seine Mutter sagte: »Das tut uns heute noch leid.«

»Immerhin habe ich dadurch Arslan und Hamide kennengelernt. Und ich habe entdeckt, dass es Fortsetzungsträume gibt. Vorher habe ich nie so spannend geträumt«, sagte Lippel. »Es war also auch zu etwas gut, dass ihr weg wart.«

»Du hättest deine Freunde auch kennengelernt, wenn du nicht allein hier gewesen wärst«, sagte sein Vater. »Schließlich gehen sie in deine Klasse.«

»Lippel, dass du hier allein bleibst, das ist doch wieder so ein Tagtraum von dir, stimmt’s?«, fragte seine Mutter. »Lippel allein zu Haus! Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Doch. Mein ernstester Ernst!«

»Das kommt überhaupt nicht infrage«, sagte sein Vater. »Sieh das bitte ein!«

Aber Lippel wollte das nicht einsehen, stand auf und ging in sein Zimmer.

Später am Nachmittag, während sein Vater im Arbeitszimmer an einem Artikel für seine Zeitung schrieb, machte Lippel noch mal einen Versuch, mit seiner Mutter über die Urlaubspläne zu sprechen. Sie saß auf dem Sofa und blätterte in einem Bildband. Als Lippel sich zu ihr setzte, blickte sie auf.

»Schau mal: Das ist die nördlichste Kathedrale der Welt. Ganz aus Holz gebaut«, sagte sie und zeigte auf eines der Fotos. »Die steht in Tromsö.«

tromso-buch

»Wieso will Papa ausgerechnet dahin fahren?«, fragte Lippel. »Ich hab diese Lofoten, oder wie das heißt, auf der Landkarte gesucht. Das ist ganz im Norden von Norwegen. Da ist es doch kalt.«

»Im Sommer kann es auf den Lofoten sogar ziemlich heiß sein«, sagte seine Mutter. »Man hat dort schon mehr als 30 Grad gemessen.«

»Wenn ihr es sehr heiß haben wollt, können wir ja auch in den Orient fahren«, schlug Lippel vor. »Nachdem Papa mir das Buch von Tausendundeiner Nacht geschenkt hat, habe ich jede Nacht vom Morgenland geträumt.«

»Ich weiß«, sagte seine Mutter. »Du hast ja tagelang von nichts anderem geredet.«

»Ich war aber noch nie dort. Ich würde viel lieber mal die Wüste sehen als diese Lofoten.«

»Schade, dass dir dein Vater damals nicht Nils Holgersson geschenkt hat«, sagte Lippels Mutter lachend. »Dann hättest du vom Norden geträumt, und wir hätten kein Problem.«

»Von so einem langweiligen Ort kann man doch gar nicht träumen«, sagte Lippel. »Wenn ihr schon nicht in den Orient wollt, warum müssen wir dann ausgerechnet nächsten Sonntag fahren? Wir könnten doch auch erst in zwei Wochen starten. Die Ferien sind noch lang, und Arslan und Hamide fahren auch erst in zwei Wochen zu ihren Verwandten nach Antakya.«

»Jetzt verstehe ich!«, sagte sie. »Deshalb willst du also hierbleiben. Aber unser Urlaub ist schon gebucht. Das ist nicht mehr zu ändern. Und du wirst doch mal zwei Wochen ohne deine Freunde auskommen können.«

»Was heißt zwei Wochen?«, sagte Lippel. »Wenn wir aus Norwegen zurückkommen, sind sie ja noch weg. Warum will Papa denn eigentlich ausgerechnet angeln? Kann er das überhaupt?«

»Daran ist sein Hausarzt schuld! Er hat ihm so viel von seiner Lofotenreise und vom Angeln vorgeschwärmt, dass Papa das unbedingt auch erleben will. Jetzt trainiert er mit ihm in der Freizeit, wie man die Angel auswirft, und erzählt abends nur noch vom Überkopfwurf und dem Rollwurf.«

»Ich finde, wir sollten mal den Arzt wechseln«, knurrte Lippel.

»Bestimmt lässt dich Papa auch mal angeln. Vielleicht macht dir das sogar Spaß«, sagte seine Mutter.

»Ich kille doch keine Fische!«, sagte Lippel.

»Denk halt noch mal über das Ganze nach«, sagte seine Mutter. »Es sind ja noch ein paar Tage, bis wir losfahren.«

»Ich denke die ganze Zeit darüber nach«, sagte Lippel. »Und ich habe auch schon eine Idee.«

Ein Besuch bei Frau Jeschke

Am nächsten Tag machte Lippel einen Besuch bei seiner alten Freundin, Frau Jeschke. Sie war eine freundliche, ältere, nicht sehr schlanke Dame mit einer etwas zu großen Brille und wohnte zwei Häuser weiter, auf der anderen Straßenseite. Wie immer war ihre Haustür nicht abgeschlossen. Lippel klopfte an der Flurtür. Als er keine Antwort bekam, öffnete er einfach und ging hinein.

Er fand Frau Jeschke in ihrer Küche. Sie kochte gerade Kirschen ein und sang dabei vor sich hin.

»Hallo, Frau Jeschke«, rief Lippel.

Sie hörte auf zu singen und fuhr erschrocken herum.

»Ach, du bist’s, Lippel«, sagte sie. »Mann, hast du mich aber erschreckt! Ich hab dich gar nicht reinkommen hören. Habe ich mal wieder vergessen, die Tür ordentlich abzuschließen?«

»Ja, sie war offen, da bin ich einfach rein«, entschuldigte er sich.

»Schön, dass du dich mal wieder sehen lässt«, sagte sie. »Du hast mich schon lange nicht mehr besucht.«

»Ja, das stimmt«, gab Lippel ein wenig verlegen zu. »Und jetzt komme ich auch noch mit einer Bitte zu Ihnen.«

»Mit einer Bitte?«

»Na ja, es ist eher eine Frage«, sagte Lippel.

»Dann frag sie mal, deine Frage«, sagte Frau Jeschke. Sie setzte sich auf einen der beiden Küchenstühle und forderte Lippel auf, sich auf den anderen zu setzen.

»Meine Eltern möchten für zwei Wochen Urlaub machen. Auf einer Insel in Norwegen«, fing Lippel an.

»Auf einer Insel? Wie kommt ihr denn dorthin? Mit dem Schiff?«, fragte sie.

»Nein, wir fliegen zuerst nach Tromsö und mieten uns dann am Flughafen ein Auto. Es gibt eine Straße vom Festland zu den meisten Lofoteninseln, hat Papa erzählt.«

»Wie schön. Aber das ist immer noch keine Frage«, stellte sie fest.

»Die kommt gleich«, sagte Lippel. »Erinnern Sie sich, wie Sie mit mir zusammen diese Frau Jakob verjagt haben, als sie Arslan und Hamide nicht ins Haus lassen wollte? Und wie Sie dann bei uns drüben wohnten, bis meine Eltern aus Wien zurückkamen?«

»Und ob ich mich erinnere. Als wäre es gestern gewesen!« Frau Jeschke lachte schallend. »Die Dame war so was von sauer, als sie ins Taxi gestiegen und abgerauscht ist!«

»Ja, und jetzt wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht wieder bei uns wohnen könnten, während meine Eltern weg sind.«

»Du meinst, ich soll euer Haus hüten? Kein Problem! Deswegen muss ich aber doch nicht extra bei euch einziehen. Ich kann ja jeden Tag mal rübergehen und nach dem Rechten schauen. Die Blumen gießen und die Post aus dem Kasten holen, wenn er überquillt.«

»Nein, es ist anders«, sagte Lippel. »Ich wollte fragen, ob Sie mich hüten können, gewissermaßen.«

Frau Jeschke blickte ihn verblüfft an. »Heißt das, du willst gar nicht mit deinen Eltern mitfahren?«

Lippel nickte.

»Du willst zwei Wochen allein hierbleiben?«

Lippel schüttelte den Kopf. »Nicht allein. Sie wären ja da.«

»Jetzt verstehe ich. Ich soll also zwei Wochen auf dich aufpassen, dich versorgen und dazu noch bei euch wohnen. Stellst du dir das so vor?«

Lippel nickte wieder.

»Was sagen denn deine Eltern dazu?«

»Die wollen natürlich, dass ich mit ihnen in die Ferien fahre. Sie wissen nicht, dass ich Sie frage.«

Frau Jeschke schüttelte langsam und entschieden den Kopf. »Nein, Lippel, das geht nicht«, sagte sie. »Du bist gerade erst elf geworden, wenn ich mich richtig erinnere. Ich kann nicht zwei Wochen lang die Verantwortung für einen elfjährigen Jungen übernehmen. Das musst du einsehen.«

»Was heißt: erst elf?«, sagte Lippel. »Edward der Fünfte ist mit zwölf Jahren schon König geworden! Er war also gerade mal ein Jahr älter als ich!«

»Edward der Fünfte? Wer ist das denn?«, fragte sie. »Über den habe ich noch nie was gelesen.«

Frau Jeschke las jede Woche zwei Frauenzeitschriften und die Fernsehzeitung. Sie war über Prinzessinnen, Prinzen und Königshäuser bestens informiert. Deswegen fragte sie noch einmal erstaunt nach: »Ein englischer König?«

»Genau«, sagte Lippel. »Er ist um 1500 herum gewählt worden. Ich habe mal ein Referat über ihn gehalten.«

»1500? Kein Wunder, dass ich den nicht mehr kennen kann«, sagte sie. »Aber auch wenn er König war, heißt das noch lange nicht, dass man ihn zwei Wochen allein lassen konnte. Der hatte doch ständig Berater und Minister und Diener um sich. Spione bestimmt auch.«

Lippel seufzte. »Es ist wohl einfacher, mit zwölf Jahren König zu werden, als mit elf zwei Wochen allein zu bleiben!«

Frau Jeschke stand auf, ging zu Lippel und klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst sehen: Diese Lofoten sind schöner, als du denkst. Soviel ich weiß, scheint dort selbst um Mitternacht noch die Sonne.«

»Ehrlich?«, fragte Lippel. »Wann geht sie denn dann unter?«

»Überhaupt nicht«, sagte Frau Jeschke. »Im Sommer jedenfalls.«

»Überhaupt nicht?! Wie soll ich denn da schlafen und träumen?«, fragte Lippel.

»Du musst halt die Vorhänge zuziehen oder die Fensterläden zumachen, falls es welche gibt«, sagte sie. »Dann werden deine Träume schon kommen.«

»Eigentlich kann ich aufs Träumen dort sowieso verzichten«, sagte Lippel. »Wenn ich mich den ganzen Tag nur langweile, sind auch meine Träume langweilig.«

»Meine Träume sind auch nicht besonders spannend«, sagte sie. »Fahr ruhig mit deinen Eltern mit!«

Lippel seufzte. »Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben. Dann sag ich mal Arslan Bescheid, dass wir uns während der Ferien kaum sehen. Wenn er da ist, sind wir nämlich in Norwegen, und wenn wir wieder da sind, ist er in der Türkei. Auf Wiedersehen, Frau Jeschke.« Er stand auf und ging zur Tür.

»Wiedersehen, Lippel«, sagte sie. »Hinterher wirst du gern an euren Urlaub zurückdenken.«

»Ja, noch jahrzehntelang: als den langweiligsten Urlaub, den je ein Elfjähriger im 21. Jahrhundert erlebt hat. Vielleicht bringe ich Ihnen ja einen Lachs mit, wenn er nicht unterwegs zu stinken anfängt und wir ihn aus dem Fenster werfen müssen.«

»Wieso ausgerechnet einen Lachs?«, fragte sie.

»Mein Vater will doch angeln und Fische fangen. Das ist ja das Langweilige! Er fährt mit dem Auto zu irgendeinem Bach, angelt den ganzen Tag lang, und meine Mutter und ich sitzen währenddessen in einem Ferienhaus fest, Tausende Kilometer von der nächsten Stadt entfernt, langweilen uns und warten, bis der Urlaub endlich vorbei ist.«

»Was sagt denn deine Mutter dazu?«, fragte Frau Jeschke.

»Die behauptet, man erholt sich am besten, wenn man sich langweilt. Sie freut sich, dass sie mal nichts tun muss und den ganzen Tag herumsitzen und lesen kann.«

Frau Jeschke kicherte. »Wetten, dass dein Vater in diesen zwei Wochen keinen einzigen Fisch fängt?«, fragte sie. »Nichts gegen ihn! Er ist ein netter Mann. Aber sportlich ist er nicht gerade. Und Angeln will gelernt sein. Kronprinz Alfred zum Beispiel ist Sportangler.«

»Kronprinz Alfred?«, fragte Lippel.

»Vielleicht heißt er auch Albert oder Albrecht. Mein Gedächtnis lässt langsam nach. Außerdem sollte ich meine Brille mal wieder prüfen lassen, ich seh das Gedruckte nur noch verschwommen. Jedenfalls hat der Prinz in der Karibik schon mal einen Zwanzigpfünder am Angelhaken gehabt. Leider hat er sich wieder losgerissen und ist abgetaucht. Der Fisch, meine ich.«

»Woher wollen Sie wissen, dass der Fisch zwanzig Pfund wog, wenn Ihr berühmter Angler es gar nicht geschafft hat, ihn rauszuziehen?«

»So stand es in meiner Zeitung«, sagte Frau Jeschke. »Man wird sein Gewicht wohl geschätzt haben.«

»Das vom Kronprinzen?«

»Nein, das vom Fisch, das weißt du ganz genau. Und jetzt wünsche ich dir schöne und erholsame Ferien! Du kannst mir gern eine Ansichtskarte schicken.«

»Ansichtskarten aus anderen Ländern brauchen meistens so lange, dass man früher da ist als die Karte«, sagte Lippel. »Deswegen werde ich Ihnen die Ansichtskarte lieber persönlich vorbeibringen, wenn wir zurück sind. Dann also auf Wiedersehen, Frau Jeschke.«

»Wiedersehen, Lippel«, sagte sie.

Die Reise

»Der größte Teil unseres Urlaubs geht vermutlich für die Hin- und Rückreise drauf«, sagte Lippel, als sie im Flughafen Tromsö am Förderband standen und auf ihr Gepäck warteten.

»Lippel hat nicht ganz unrecht«, sagte seine Mutter.

Am Vortag waren sie mit zwei Koffern und der Angelrute von Lippels Vater in den Zug nach Hamburg gestiegen und hatten nach der Ankunft in einem Hotel nahe beim Flughafen übernachtet. Heute Morgen waren sie dann nach Oslo geflogen, wo sie ziemlich lange auf das Flugzeug nach Tromsö gewartet hatten, und nun waren sie noch immer nicht an ihrem Ziel.

»Keine Sorge, in drei Stunden sind wir da«, sagte Lippels Vater. Aber man merkte ihm an, dass er selbst nicht recht daran glaubte.

Die beiden Koffer hatte er zwar vom Band gehoben und auf einen Gepäckkarren gestellt. Aber das Futteral mit der zusammengelegten Angelrute fehlte. Das Förderband zog inzwischen ganz leer geräumt seine Runden. Die anderen Fluggäste waren schon unter dem EXIT-Schild nach draußen verschwunden, nur Familie Mattenheim wartete immer noch.

»Ich war ja nicht sehr dafür, dass wir hier Urlaub machen«, sagte Lippel zu seinem Vater. »Trotzdem wünsche ich dir nicht, dass deine Angelrute in Hamburg geblieben oder aus Versehen nach Tokio geschickt worden ist. Dann wären wir nämlich umsonst nach Norwegen geflogen.«

»Sie wird schon noch kommen«, sagte sein Vater.

Aber sie kam nicht. Das leere Förderband fuhr noch eine Weile seine Runden, dann hielt es an.

Ein Mann in Uniform kam auf sie zu. Ihm war wohl aufgefallen, dass Lippel und seine Eltern allein und ratlos in der Gepäckhalle standen. Er fragte etwas auf Norwegisch. Lippels Vater antwortete auf Englisch, dass sie auf ein Gepäckstück warteten.

»Weißt du, wie ›Angel‹ auf Englisch heißt?«, flüsterte er Lippels Mutter zu.

»Ich glaube ›fishing rod‹«, sagte sie.

Als der Uniformierte das hörte, lächelte er. »Ah, ihr soin Deutsche«, sagte er mit starkem Akzent. »Oine Moment.« Gleich darauf stieg er über das Förderband zu der Öffnung, durch die alle Koffer auf das Band geplumpst waren, blickte in den Spalt zwischen dem Band und der Abdeckung und fasste hinunter. Im nächsten Moment hatte er das Futteral mit der Angel in der Hand und zeigte es triumphierend.

»Schmal Sache fall oft herunter«, rief er und drückte Lippels Vater das fehlende Gepäckstück in die Hand.

Etwas schneller ging es dann mit dem Mietauto. Lippels Mutter hatte es von Deutschland aus bestellt. Die Mattenheims mussten es nur abholen, die Angel und die Koffer verstauen, und schon konnten sie starten.

Zuerst schloss Lippels Vater aber das Navigationsgerät an, das er aus seinem Auto mitgebracht hatte, und setzte es in Betrieb.

»Wie schön! Es funktioniert«, sagte er zufrieden. »Anscheinend kennt es sich auch in Norwegen aus. Allerdings behauptet es, dass wir doch noch vier Stunden fahren müssen, bis wir am Ziel sind.«

»Dann ist es schon mindestens halb neun Uhr abends, wenn wir ankommen«, sagte Lippel. »Da ist es doch schon dunkel.«

»Ist es nicht!«, sagte sein Vater. »Die Sonne geht hier erst um Mitternacht unter. Und das auch nur für eine Stunde.«

»Das haben wir dir doch erzählt«, sagte seine Mutter.

»Hatte ich vergessen«, sagte Lippel.

Der Flughafen Tromsö liegt, wie die ganze Stadt, auf einer Insel. Die Mattenheims fuhren also erst über eine lange Brücke auf das Festland, an der weißen Eismeerkathedrale mit den hohen Fenstern vorbei, und dann auf der Autobahn nach Süden.

Lippels Vater gab sich sachkundig. »Wir fahren auf der E8. Die führt direkt zu unserem Ziel«, sagte er.

Lippel saß auf dem Rücksitz des Mietwagens. Neben ihm stand senkrecht einer der beiden Koffer. Der hatte nicht mehr in den kleinen Kofferraum gepasst und drohte nun bei jeder scharfen Kurve umzukippen. Deshalb stellte Lippel beide Füße auf den Sitz und lehnte mit dem Rücken am Koffer.

Die Straße führte erst eine ganze Weile am Meeresufer entlang, dann stieg sie an und entfernte sich immer mehr von der Küste. Rechts, weit unter ihnen, leuchtete das Meer. In Ufernähe sah es dunkelblau aus, fast schwarz, weil sich die dunklen Berge im Wasser spiegelten. Weiter draußen strahlte es in einem hellen Blau, und am Horizont gingen Meer und Himmel ineinander über. Lippel konnte nicht erkennen, wo das Meer endete und der Himmel begann.

»Schau doch mal nach oben, Lippel!«, sagte seine Mutter. »Hast du schon mal so hohe Berge gesehen? Auf den Gipfeln liegt Schnee! Und das im Sommer!«

»Ja, die sind recht groß«, sagte Lippel, während er den Kopf nach unten neigte, um durch das Fenster zu den Bergen hochzusehen. »Genau so stelle ich mir den Hohen Atlas in Marokko vor.«

»Das ist ewiger Schnee. Weil er auch im Sommer nicht schmilzt«, erklärte sein Vater ihm.

»Na ja, im Norden ist das nichts Besonderes. Bei diesen kalten Wintern«, sagte Lippel. »Im Orient gibt es auch Berge, auf denen ewiger Schnee liegt. Obwohl es dort viel, viel wärmer ist. Wie hoch sind denn die Berge hier?«

Lippels Mutter holte eine Landkarte aus ihrer Handtasche und studierte sie. »Mehr als tausend Meter«, sagte sie.

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Lippel lachte. »Tausend Meter? Wisst ihr, wie hoch der Ararat ist?«, fragte er. »Das ist der höchste Berg in der Türkei.«

»Das wissen wir«, sagte sein Vater.

»Der Ararat ist mehr als fünftausend Meter hoch«, sagte Lippel. »Dagegen sind die Berge hier kleine Zwerge.«

»Jetzt übertreibst du aber gewaltig«, sagte seine Mutter. Sie schien ein wenig gekränkt zu sein.

»Stimmt doch«, sagte Lippel.

Der Berghang stieg steil an, manchmal fast senkrecht. An seinem Fuß hatten noch Büsche und niedrige Bäume gestanden. Hier, weiter oben, wuchsen nur noch einige Nadelbäume, die den Blick aufs Wasser mehr und mehr versperrten, je höher die Straße anstieg.

Lippel blickte mal aus dem linken, mal aus dem rechten Seitenfenster. Langsam wurde ihm langweilig. Er döste vor sich hin und wurde erst wieder wach, als sein Vater plötzlich die Geschwindigkeit verringerte und fast im Schritttempo weiterfuhr.

»Warum fährst du auf einmal so vorsichtig?«, fragte Lippel.

»Hast du das Schild nicht gesehen?«, fragte sein Vater zurück.

»Das mit dem Hirsch darauf?«

»Das war kein Hirsch, es war ein Elch«, sagte sein Vater.

Lippels Mutter drehte sich nach hinten um. »Man sieht es am Geweih«, sagte sie. »Ein Hirsch hat nicht solche großen Schaufeln auf dem Kopf. Hier kann einem ein Elch über den Weg laufen.«

»Und das ist nicht ungefährlich«, sagte Lippels Vater. »Ein Zusammenstoß mit diesem Riesenvieh wäre für uns genauso unangenehm wie für den Elch.«

Ein Elch wäre zumindest etwas, wovon ich Arslan und Hamide erzählen könnte, dachte Lippel. Aber es war weit und breit keiner zu entdecken.

Nach einer Weile erhöhte Lippels Vater die Geschwindigkeit und fuhr weiter wie vor dem Verkehrsschild.

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»Der Elch schläft wohl«, sagte Lippel enttäuscht. Er gähnte. Nun waren sie schon zwölf Stunden unterwegs, und er war müde. Er verschränkte die Unterarme über dem Koffer und lehnte den Kopf darauf. Vielleicht träume ich ja von einem Elch, dachte er noch. Kurz darauf war er auch schon eingeschlafen.