Susannah Kells

Das Hexen-Amulett

Historischer Roman

Deutsch von Michael Windgassen

 

Gesegnet sei durch der Apostel Vier

das Bett, auf dem ich liege hier,

drum herum vier Engel stehen,

am Kopf bis runter zu den Zehen,

einer wacht und einer betet dort,

die anderen tragen meine Seele fort.

 

Thomas Ady

 

Für Michael, Todd und Jill

Prolog

1633

Krachend traf das Schiff auf einen Wellenberg. Wind heulte in den Spanten, schaufelte Gischt über das rutschige Deck und trieb die bebende Kogge auf die nächste Wasserwalze zu.

«Käpt’n, Ihr legt’s drauf an, dass die verfluchten Masten brechen!»

Der Kapitän ignorierte seinen Steuermann.

«Ihr seid wahnsinnig, Käpt’n!»

Natürlich war er wahnsinnig! Er war stolz darauf. Er lachte. Seine Männer schüttelten die Köpfe. Manche bekreuzigten sich, andere, Protestanten, beteten nur. Früher, bevor all die Schwierigkeiten begonnen hatten, war er Dichter gewesen. Und waren nicht alle Dichter verrückt?

Eine Stunde später ließ er die Segel reffen und beidrehen. Von Wellen geschüttelt, schlingerte das Schiff durch die aufgewühlte See. Er hatte sich zur Heckreling begeben und starrte lange durch Regen und Gischt auf die flache, schwarze Landzunge. Von der Mannschaft war kein Wort zu hören. Alle kannten die tückische Passage vor der Küste. Ihre Augen waren auf den Kapitän gerichtet.

Schließlich kehrte er zu seinem Steuermann zurück. Seine Miene wirkte jetzt ruhiger, trauriger. «Kurs halten und abwettern.»

«Aye, aye, Käpt’n.»

Sie kamen der Küste so nahe, dass der eiserne Korb auf dem Mast der Bake zu erkennen war. The Lizard. Für viele war es der letzte Blick auf England, für allzu viele gar die letzte Landsichtung, bevor sie im großen Atlantik verschollen gingen.

Der Kapitän nahm Abschied. Er schaute auf das Leuchtfeuer, bis es vom Sturm verschluckt wurde, starrte noch lange in die Richtung, als hoffe er, es könnte noch einmal aufleuchten. Es war ein Abschied.

Er ließ eine kleine Tochter zurück, die er nie gesehen hatte.

Er hinterließ ihr ein Vermögen, in dessen Genuss sie womöglich niemals kommen würde.

Er ließ sie zurück, so wie alle Eltern ihre Kinder irgendwann zurücklassen müssen. Doch von ihr hatte er sich schon vor ihrer Geburt getrennt, und der ganze Reichtum, mit dem er sie ausgestattet hatte, konnte seine Schuld nicht schmälern. Er hatte sie im Stich gelassen, wie er nun all die anderen im Stich ließ, an denen er sich schuldig gemacht hatte. Er segelte einem unbekannten Ziel entgegen in der Hoffnung, vergessen und neu anfangen zu können. Nur eines führte er mit sich, das ihn an seine Schande erinnerte: eine goldene Halskette, die er unter der Wetterjacke trug.

Einem König war er Feind, einem anderen Freund gewesen. Man hatte ihn als den stattlichsten Mann Europas bezeichnet, und trotz Gefängnis, trotz mancher Kriege war er immer noch eine beeindruckende Erscheinung.

Ein letztes Mal richtete er den Blick zurück. Von England war nichts mehr zu sehen. Seine Tochter blieb ihrem Schicksal überlassen.

Erster Teil

Das Siegel des Apostels Matthäus

1

An einem Tag, der wie ein Vorgeschmack auf das Paradies schien, begegnete sie Toby Lazender zum ersten Mal. England schlummerte in der Sommerhitze. Der Duft nach wildem Basilikum und Majoran hing schwer in der Luft. Sie saß am Ufer eines Baches, in einem Bett aus blühendem Blutweiderich.

Sie glaubte, allein zu sein, und schaute sich um wie ein scheues Tier, nervös und auf der Hut, denn sie war dabei, eine Sünde zu begehen.

Bestimmt war keine Menschenseele in der Nähe. Sie blickte nach links, wo der Pfad zum Haus durch die Hecke von Top Meadow führte. Es war niemand zu sehen. Sie schaute auf die Hügel jenseits des Baches, aber auch da, zwischen den Stämmen der hohen Buchen oder in den Auen unterhalb, rührte sich nichts. Das Land gehörte ihr.

Vor drei Jahren – sie war damals siebzehn und ihre Mutter seit einem Jahr tot – hatte sie sich zum ersten Mal dieser Sünde hingegeben, obwohl sie ihr geradezu ungeheuerlich vorgekommen war. Sie fürchtete damals, ein unvorstellbares Vergehen wider den Heiligen Geist begangen zu haben, etwas so Schreckliches, dass die Bibel dafür keine Worte hatte, wohl aber damit drohte, dass dem, der dieser Sünde verfalle, nicht vergeben werde. Und trotzdem hatte sie sie begangen. Jetzt, drei Sommer später, nachdem sie den Fehltritt häufig wiederholt hatte, war die Furcht geringer geworden. Dennoch bestand kein Zweifel, dass sie sündigte.

Sie nahm die Haube vom Kopf und legte sie vorsichtig in den breiten Korb, in dem sie die Binsen nach Hause tragen wollte. Ihr Vater, ein wohlhabender Mann, verlangte von ihr, dass sie dem Müßiggang widerstand. Der heilige Apostel Paulus, so pflegte er zu sagen, sei ein Zeltmacher gewesen, und nach seinem Vorbild müssten alle Christen einem Gewerbe nachgehen. Schon mit acht Jahren hatte sie in der Molkerei gearbeitet, es dann aber vorgezogen, Binsen zu sammeln, die als Bodenstreu verwendet und für die Binsenlichter gebraucht wurden. Es gab einen besonderen Grund für diese Wahl. Hier, wo sich der Bach zu einem tiefen Teich staute, konnte sie allein sein.

Sie löste die Klammern aus ihren Haaren und legte sie ebenfalls in den Korb, wo sie nicht verloren gehen konnten. Noch einmal schaute sie sich um, ohne etwas zu entdecken, was sie hätte stören können. Sie fühlte sich so allein, als wäre der sechste Tag der Schöpfung angebrochen. Die Haare, so hell wie hellstes Gold, fielen ihr ins Gesicht.

Sie wusste um den Engel hoch über ihr, der das große Buch des Lebens führte, auch genannt das Buch des Lammes. Schon als sie sechs Jahre alt gewesen war, hatte ihr der Vater von diesem Engel mit dem Buch erzählt. Damals hatte sie den Namen seltsam gefunden, doch jetzt wusste sie, dass mit dem Lamm Jesus gemeint und das Buch des Lebens in Wirklichkeit das Buch des Todes war. Sie stellte es sich als einen riesigen Folianten mit Messingbeschlägen vor, mit dicken Lederwülsten auf dem Rücken und mit Seiten, die groß genug waren, um alle Sünden eines jeden Menschen auf Gottes Erde darauf festzuhalten. Der Engel suchte jetzt bestimmt nach ihrem Namen, fuhr mit dem Finger das Register entlang und hielt dabei seine in Tinte getauchte Feder schreibbereit.

Am Tag des Jüngsten Gerichts, so sagte der Vater, werde das Buch des Lebens dem Herrgott vorgelegt werden. Dann müsse jeder Mensch einzeln vor seinen Thron treten, und eine mächtige Stimme würde alle in diesem Buch eingetragenen Sünden laut vorlesen. Sie fürchtete diesen Tag. Sie fürchtete sich davor, auf dem kristallenen Boden unter dem aus Smaragd und Jaspis geschliffenen Thron zu stehen. Doch trotz dieser Furcht und trotz aller Gebete mochte sie nicht von der Sünde ablassen.

Ein Windhauch fuhr ihr durchs Haar und ließ das gekräuselte Wasser des Baches silbrig aufblitzen. Dann herrschte wieder Stille. Es war heiß. Der Leinenkragen schnürte ihr den Hals zu. Das enge Mieder klebte auf der Haut, und das schwarze Kleid hing schwer an ihr herab. Die Luft war wie aus Blei.

Sie fuhr mit den Händen unter den Saum ihre Rockes und öffnete ihre Strumpfbänder. Eine Erregung befiel sie, die sie trotz der Stille ringsum noch einmal ängstlich aufmerken ließ.

Ihr Vater stattete gerade seinem Advokaten in Dorchester einen Besuch ab und wurde erst am Abend zurückerwartet, ihr Bruder war beim Pfarrer im Dorf, und von den Dienstboten kam nie jemand an den Fluss. Sie zog die dicken Strümpfe aus und stopfte sie in ihre Lederschuhe.

Goodwife Baggerlie, die Haushälterin ihres Vaters, hatte sie ermahnt, nicht zu lange am Bach zu verweilen, weil die Soldaten kommen könnten. Aber die waren noch nie in der Nähe gesehen worden.

Der Krieg hatte zwölf Monate zuvor, im Jahre 1642, begonnen und war von ihrem Vater, den man eigentlich als zurückhaltenden Mann kannte, mit Begeisterung begrüßt worden. Er hatte mit Hand angelegt, als ein römisch-katholischer Priester in dem alten Amphitheater von Dorchester aufgeknüpft wurde, was Matthew Slythe als ein göttliches Zeichen dafür deutete, dass fortan den Regeln der Heiligen entsprochen werde. Matthew Slythe war Puritaner, wie sein Hausstand und das gesamte Dorf. Allabendlich erflehte er in seinen Gebeten den Sturz des Königs und den Sieg des Parlaments. Aber der Krieg war nur wie ein fernes Wetterleuchten, er hatte Werlatton Hall und das Dorf, nach dem das Anwesen benannt war, noch nicht erreicht.

Sie schaute sich um. Ein Wachtelkönig flatterte von der Wiese jenseits des Baches auf, aus Mohn, Mädesüß und Rauten. Da, wo der Bach in den Teich mündete, wuchsen die Binsen am höchsten. Sie löste die gestärkte weiße Schürze und legte sie, sorgsam gefaltet, zuoberst in den Korb. Auf dem Weg hierher hatte sie an der Hecke von Top Meadow ein paar rote Lichtnelken gepflückt, die sie jetzt vorsichtig an den Korbrand bettete, wo die zarten fünfblättrigen Blüten von den anderen Sachen nicht zerdrückt werden konnten.

Dann rückte sie näher ans Wasser heran, blieb reglos stehen und lauschte dem Gurgeln des Baches und dem Summen der Bienen im Klee. Andere Laute waren in der heißen, schweren Luft nicht zu hören. Es war ein perfekter Sommertag, gewidmet der Reife von Weizen, Gerste und Roggen. Schon hingen die Zweige der Obstbäume, von schwellenden Früchten beschwert, tief herab. Unter der Hitze verströmte das Land süße Düfte. Sie kauerte sich an den Rand des Teiches, wo die Grasnarbe abbrach. Im stillen, klaren Wasser blinkten Kieselsteine. Hier, von ihrem Versteck aus, vermochte sie nur noch die Binsen zu sehen und die Wipfel der hohen Buchen auf den fernen Hügelhängen.

Im Bach sprang ein Fisch. Sie erschrak, horchte, doch schon war es wieder still geworden. Trotzdem lauschte sie noch eine Weile mit klopfendem Herzen. Dann lupfte sie das schwere, schwarze Kleid und den Unterrock und zog beides mit flinker Hand über den Kopf. Nackt und weiß stand sie im Sonnenlicht.

Schon im nächsten Moment stieg sie ins Wasser. Sie schnappte unwillkürlich nach Luft, weil es so kalt war. Wie sie diesen Moment des Schauderns liebte. Sie watete tiefer in den Teich hinein und tauchte unter, ließ sich vom Wasser tragen und genoss das erfrischende Bad mit all ihren Sinnen. Sie schloss die Augen, spürte die Sonne warm und hellrot auf den Lidern. Wie im Himmel fühlte sie sich. Dann suchte sie mit den Füßen Halt auf dem Kieselgrund, beugte die Knie, sodass nur der Kopf aus dem Wasser ragte, und schlug die Augen auf, um zu sehen, ob nicht doch jemand nahte. Hier zu baden war eine heimliche, verruchte Lust. Eine Sünde.

Sie hatte irgendwann gelernt zu schwimmen und konnte sich, etwas unbeholfen mit den Armen paddelnd, vorwärtsbewegen, quer durch den Teich und bis zur Mündung des Baches, von dessen Strömung sie sich dann zurücktreiben ließ. Das war ihre Sünde, Lust und Schande. Oben im Himmel kratzte die Schreibfeder über eine Seite des großen Buches.

Noch vor drei Jahren war ihr dieses geheime Vergnügen wie ein unbeschreiblicher Frevel vorgekommen, wie kindlich mutwillige Gotteslästerung. So erschien es ihr auch heute noch. Sie konnte sich nichts vorstellen – jedenfalls nichts, was als Gedanke zu ertragen gewesen wäre –, das ihren Vater mehr entsetzt hätte als ihre Blöße. Und darum verstand sie ihr Bad im Teich nicht zuletzt auch als eine Geste der Auflehnung gegen Matthew Slythe, obwohl ihr klar war, dass es nur eine ohnmächtige Geste war, dass sie sich dem gestrengen Vater letztlich würde fügen müssen.

Sie war jetzt zwanzig und würde in knapp drei Monaten einundzwanzig Jahre alt sein. Ihr Vater machte sich, wie sie wusste, Gedanken über ihre Zukunft. Er betrachtete sie in letzter Zeit mit einer grüblerischen Mischung aus Verärgerung und Widerwillen. Schon bald würde sie nicht mehr wie ein geschmeidiger, bleicher Otter ins Wasser gleiten können. Ihre Tage am Teich waren gezählt. Eigentlich hätte sie schon längst, seit drei oder vier Jahren, verheiratet sein sollen. Matthew Slythe sorgte sich darum, was aus ihr werden sollte. Und sie fürchtete ihren Vater. Sie versuchte, ihn zu lieben, aber leicht machte er es ihr nicht.

Sie stand jetzt im flachen Wasser. Die Tropfen perlten an ihr ab, und die Haare klebten kalt und feucht auf ihrem Rücken. Mit den Händen streifte sie die Nässe von den Brüsten, von den Hüften. Sie spürte die Sonne auf ihrem Leib brennen und streckte beide Arme aus, sie genoss das erregende Gefühl von Freiheit, die Wärme auf der Haut und das Wasser, das ihre Beine umspülte. Wieder sprang ein Fisch.

Und noch einmal. Als es ein drittes Mal platschte, wusste sie, dass es kein Fisch sein konnte. Diese Sprünge waren zu regelmäßig. Sie bekam es mit der Angst zu tun, eilte ans Ufer und riss Unterrock und Kleid aus dem Korb. Sie zog sich die Sachen über den feuchten Kopf, zerrte, in Panik geraten, den steifen Stoff über Hüften und Beine.

Erneut spritzte Wasser auf, ganz in ihrer Nähe. Sie hatte ihre Blöße inzwischen bedeckt, sah aber noch sehr zerzaust aus. Schnell zog sie die feuchten Haare unter dem Kragen hervor und setzte sich auf den Boden, um die Strümpfe anzuziehen.

«Dryade, Hamadryade oder Nymphe?» Die Stimme, die vom Wasser heraufdrang, unterdrückte offenbar nur mit Mühe ein Lachen.

Sie sagte nichts. Sie zitterte vor Angst. Die feuchten Haare verdeckten ihr die Sicht.

«Ihr müsst eine Nymphe sein, der Geist dieses Baches.»

Mit einer schnellen Bewegung wischte sie sich die Haare aus der Stirn. Ihr Blick fiel auf einen lächelnden jungen Mann mit dunkelroten Locken, die anscheinend kaum zu bändigen waren. Er stand in merkwürdig gebückter Haltung im Bach und hatte die Arme bis zu den Ellbogen eingetaucht. Sein weißes Hemd war aufgeknöpft und steckte im Bund einer schwarzen, durchnässten Kniehose. Schwarz und Weiß, die Farben, mit denen sich die Puritaner kleideten. Der junge Mann aber schien kein Puritaner zu sein. Dazu passten weder das feine Leinenhemd noch die schwarze Seide, auf die die dekorativen Falten seiner Hose den Blick freigaben. Und auch nicht sein Gesicht. Vor allem das Gesicht ließ sie vermuten, dass er kein Puritaner sein konnte. Es war ein markantes, hübsches Gesicht mit fröhlichen Zügen. Sie hätte sich eigentlich fürchten müssen, empfand aber stattdessen ein amüsiertes Interesse an diesem Mann, der da in gebückter Haltung und tropfnass vor ihr stand. Gleichgültigkeit mimend, fragte sie den Eindringling abweisend: «Was treibt Er hier?»

«Ich vergreife mich an Slythes Fischen. Und Ihr?»

Sein unverblümtes Geständnis entlockte ihr ein Lächeln. Auf seinem Gesicht spielten die Sonnenstrahlen, die das kräuselnde Wasser zurückwarf. Es gefiel ihr. Sie bemerkte, dass er weder eine Rute noch ein Netz bei sich hatte. «Auf Fische scheint Ihr mir nicht aus zu sein.»

«Ihr unterstellt mir, dass ich lüge!» Er schmunzelte. «Wir Lazenders lügen nie. Jedenfalls nicht oft.»

Ein Lazender! Das schien durchaus passend zu diesem verborgenen Ort, an dem sie ihrem Vater trotzte. Sir George Lazender war Mitglied des Parlaments und vertrat den Nordteil der Grafschaft. Er besaß große Ländereien und stand im Rang eines Ritters, aber ihr Vater hielt nur wenig von ihm. Zwar ergriff Sir George Lazender Partei für das Parlament und gegen den König, doch Matthew Slythe zweifelte nicht daran, dass die Unterstützung nur halbherzig war. Der Edelmann, so meinte er, sei viel zu vorsichtig für diesen großen Kampf. Schwerer wog der von Gerüchten genährte Verdacht, Sir George sei gegen die Abschaffung der Bischöfe und gedenke, das Book of Common Prayers für den Gottesdienst beizubehalten. Matthew Slythe glaubte diesen Gerüchten und witterte in beiden Vorhaben Werke des papistischen Teufels.

Der junge Rotschopf machte eine ungeschickte Verbeugung. «Darf ich mich vorstellen, Nymphe? Toby Lazender, Erbe von Lazen Castle und Wilddieb.»

«Ihr wildert nicht, jedenfalls fangt Ihr keine Fische.» Sie hatte die Arme um ihre Knie geschlungen.

«Doch, das tue ich.» Zum Beweis nahm er einen Beutel vom Rücken und zeigte ihr ein halbes Dutzend Forellen.

Sie lächelte. «Wie stellt Ihr das an?»

Er watete ans Ufer, legte sich, kaum einen Schritt von ihr entfernt, ins Gras und erklärte, wie man mit bloßen Händen Fische fangen könne. Es sei, sagte er, ein langwieriges Unternehmen. Man müsse Hände und Unterarme so lange im Wasser eingetaucht halten, bis sie auf die Temperatur des Baches abgekühlt seien. Dann pirsche man, die Hände immer noch unter Wasser, langsam flussaufwärts. Forellen, sagte er, seien träge Fische, die zwischen den Pflanzen am Grund verharrten und nur gerade genug täten, um der Strömung standzuhalten. Auch sie könne, wenn sie sich denn so langsam wie Distelwolle bewege, mit gespreizten Fingern das Wasser durchkämmen und mit etwas Glück einen Fisch erhaschen. Er grinste. «Den Fisch selbst kann man kaum erfühlen, jedenfalls nicht sofort, wohl aber einen gewissen Druck.»

«Einen Druck?»

Er nickte. «Ich kann’s nicht besser erklären. Er ist einfach da. Das Wasser scheint dicker zu sein.»

«Und dann?»

«Dann streichelt man den Fisch.» Er beschrieb eine sachte Auf-und-ab-Bewegung mit den Fingern, die sich um diesen seltsamen Druck zu schließen hätten, bis sie den Leib des Fisches erspürten. Weil sich die Hände, die so kalt wie das Wasser seien, nur ganz langsam bewegten, schöpfe der Fisch keinen Verdacht. Der Fisch müsse, so erklärte er, äußerst behutsam gestreichelt werden, immer von vorn nach hinten, dass er sich wie von Wasserpflanzen umschmeichelt fühle. Plötzlich langte er in pantomimischer Geste zu, tat, als ergreife er blitzschnell einen Fisch und schleudere ihn ans Ufer. «Und dann versetzt Ihr ihm einen Schlag auf den Kopf.» Er grinste.

Sie lachte. «Wirklich?»

Er nickte. «Ehrenwort. Wart Ihr schwimmen?»

Sie schüttelte den Kopf und log: «Nein.»

Er hatte die nassen Hosenbeine hochgekrempelt. «Wenn Ihr euch weiter anziehen wollt – ich schaue in die andere Richtung», sagte er.

Ein ungutes Gefühl veranlasste sie zu der Bemerkung: «Ihr dürftet gar nicht hier sein.»

«Erzählt es nicht weiter. Ich tu’s auch nicht.»

Sie blickte sich um, doch außer ihnen war nach wie vor niemand zu sehen. Sie streifte die Strümpfe über, stieg in die Schuhe, band sich die Schürze um und richtete ihr Kleid.

Toby machte ihr keine Angst. Er brachte sie vielmehr zum Lachen. Noch nie hatte sie jemanden kennengelernt, mit dem sich so unbeschwert reden ließ. Da ihr Vater fort war, konnte sie sich Zeit lassen, und so plauderten die beiden den ganzen Nachmittag miteinander. Toby lag auf dem Bauch und erklärte, dass er den Krieg schrecklich finde und lieber für den König kämpfen würde als an der Seite seines Vaters. Als er das sagte, ging ihr ein kalter Schauer durch und durch. Doch er lächelte und fragte neckend: «Ihr würdet den König wohl eher nicht unterstützen, oder?»

Sie sah ihn an. Ihr Herz klopfte laut. Sie lächelte scheu zurück. «Vielleicht.»

Insgeheim dachte sie: Für Euch würde ich womöglich die Gefolgschaft aufgeben, zu der ich erzogen worden bin.

Sie war ein puritanisches, von der Welt abgeschirmtes Mädchen und hatte sich noch nie weiter als vier Meilen von ihrem Elternhaus entfernt. Sie war geprägt von der harschen Moral und der zornigen Religion ihres Vaters, der zwar darauf bestanden hatte, dass sie lesen lernte, aber auch nur, damit sie in der Heiligen Schrift ihren Heilsweg fände. Davon abgesehen war sie ungebildet, das heißt, sie wurde in Unwissenheit gehalten, denn die Puritaner fürchteten das Wissen um die Welt und deren verführerische Kräfte. Doch nicht einmal Matthew Slythe vermochte der Phantasie seiner Tochter Zügel anzulegen. Er konnte für sie beten, sie schlagen und bestrafen, nicht aber in ihre Träume eingreifen, sosehr er auch danach trachtete.

Zwischen ihr und Toby, das würde sie später sagen, war es Liebe auf den ersten Blick.

Und das war es wohl auch, zumindest in dem Sinne, dass sie plötzlich ein starkes Bedürfnis empfand, Toby Lazender näher kennenzulernen und mehr Zeit mit diesem jungen Mann zu verbringen, der sie zum Lachen brachte und ihr das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Sie hatte bisher ein sehr zurückgezogenes und farbloses Leben geführt und sich deshalb die Welt jenseits des väterlichen Landsitzes überaus bunt und fröhlich vorgestellt. Jetzt war plötzlich ein Gesandter dieser Welt zu ihr vorgedrungen, der ihr ein großes Glücksgefühl vermittelte. Sie verliebte sich noch am Ufer des Baches in ihn, er war, von diesem Augenblick an, der Mittelpunkt aller ihrer Träume.

Er wiederum sah ein Mädchen, das so schön war wie kein anderes. Ihre Haut war hell und klar, sie hatte blaue Augen, eine gerade Nase und volle Lippen. Als ihre Haare getrocknet waren, fielen sie ihr wie gesponnenes Gold über die Schultern. Er spürte eine Kraft in ihr, die so durchdringend schien wie fein geschmiedeter Stahl, doch als er sie fragte, ob er wiederkommen könne, schüttelte sie den Kopf. «Mein Vater würde es nicht erlauben.»

«Brauche ich denn seine Erlaubnis?»

Sie lächelte. «Ihr vergreift Euch an seinen Fischen.»

Er sah verwundert auf. «Ihr seid Slythes Tochter?»

Sie nickte.

Toby lachte. «Gütiger Himmel! Eure Mutter muss ein Engel gewesen sein.»

Sie lachte. Martha Slythe war eine dicke, rachsüchtige und verbitterte Frau gewesen. «Nein.»

«Wie heißt Ihr?»

Unvermittelt wurde ihre Miene ernst, und sie sah ihn mit traurigen Augen an. Der eigene Name war ihr verhasst; sie mochte ihn nicht preisgeben aus Sorge, er könnte wegen des hässlichen Namens weniger von ihr halten. Plötzlich wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie ihn nie wiedersehen durfte. Ihr Name ging ihn nichts an.

Er war hartnäckig. «Verratet ihn mir.»

Sie zuckte mit den Achseln. «Es kann Euch doch gleichgültig sein, wie ich heiße.»

«Das ist es aber nicht!», rief er. «Gleichgültig sind mir der Himmel, die Sterne und mein Abendbrot, aber nicht Euer Name. Verratet ihn mir.»

Sie lachte über seinen Überschwang. «Ihr wollt ihn gar nicht wissen.»

«Und ob! Sonst müsste ich mir einen Namen für Euch ausdenken.»

Lächelnd schaute sie über den Bach hinweg. Sie war verlegen. Ein von ihm ausgedachter Name wäre womöglich noch weniger schön als ihr wirklicher Name. Ohne ihn anzusehen, sagte sie: «Ich heiße Dorcas.»

Sie hatte damit gerechnet, dass er laut auflachte, doch es blieb still. Sie wandte sich ihm mit trotziger Miene zu. «Dorcas Slythe.»

Er schüttelte den Kopf, bedächtig und ernst. «Ich denke, wir sollten Euch einen neuen Namen geben.»

Sie hatte gewusst, dass er ihren Namen schrecklich finden würde.

Toby warf einen Blick in den Binsenkorb, nahm eine der rosaroten Lichtnelken in die Hand und drehte die Blüte vor seinen Augen hin und her. «Ich nenne Euch Campion.»

Der Name gefiel ihr sofort. Es schien, als habe sie ihr ganzes Leben darauf gewartet, dass ihr jemand sagte, wer sie war. Campion. Lichtnelke. Im Geiste sprach sie den Namen ein ums andere Mal aus – Campion Campion Campion. Sie ließ ihn sich auf der Zunge zergehen, schmeckte ihn und wusste zugleich, dass sie einen hoffnungslosen Traum träumte. «Mein Name ist Dorcas Slythe.»

Er schüttelte den Kopf, mit Nachdruck. «Ihr seid Campion. Und dabei bleibt es.» Er betrachtete die Blüte aus nächster Nähe und führte sie an die Lippen. Dann hielt er ihr die Blume hin. «Wer seid Ihr?»

Sie griff danach. Ihr Herz pochte so heftig wie zuvor, als sie die Kleider ablegt hatte, um ins Wasser zu steigen. Mit zitternden Fingern nahm sie die Blume entgegen. Die Blütenblätter vibrierten. «Campion», antwortete sie kaum hörbar.

In diesem Moment war ihr, als existierten nur sie, Toby und die zarte, wunderschöne Blume.

Er schaute sie an und flüsterte: «Morgen Nachmittag werde ich wieder hier sein.»

Ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit löste den magischen Augenblick auf. «Ich nicht», entgegnete sie. «Ich kann nicht.» Die Binsen wurden nur einmal in der Woche geschnitten, und es gab keinen anderen Vorwand, zum Bach zu gehen. Der Gedanke erinnerte sie daran, dass es höchste Zeit war, nach Hause zurückzukehren.

Toby ließ sie nicht aus den Augen. «Wann werdet Ihr wieder hier sein?»

«Nächste Woche.»

Toby seufzte. «Dann bin ich in London.»

«In London?»

Er nickte. «Mein Vater will es so. Ich soll mich mit dem Recht vertraut machen, zumindest so weit, dass ich auf Advokaten verzichten kann.» Er schaute zum Himmel empor, um einzuschätzen, wie spät es war. «Viel lieber würde ich kämpfen.» Er war vierundzwanzig Jahre alt, und es gab sehr viel jüngere Männer, die in den Kampf zogen.

«Ist das Euer Ernst?»

Er richtete sich auf. «Wenn die Puritaner an die Macht gelangen, werden wir nichts mehr zu lachen haben.»

Sie nickte. Sie wusste Bescheid. Über ihr Leben bestimmten die Puritaner schon längst. Sie steckte sich die Haare hoch. «Ich werde am Sonntag in der Kirche sein.»

Er sah sie an. «Ich gebe mich dann als Puritaner», sagte er und setzte eine finstere Miene auf. Sie lachte.

Auch für ihn war es an der Zeit aufzubrechen. Er hatte im Nachbardorf ein Pferd gekauft, das noch beschlagen werden sollte, jetzt aber abgeholt werden konnte. Er sagte, er habe noch einen langen Rückweg nach Lazen Castle, werde aber wie im Flug reiten und dabei von dem Mädchen träumen, dem er am Bach begegnet sei.

«Bis Sonntag, Campion.»

Sie nickte. Schon mit ihm zu sprechen, war eine Sünde, jedenfalls in den Augen ihres Vaters. Doch sie wollte ihn unbedingt wiedersehen. Sie hatte sich in ihn verliebt, hoffnungslos, romantisch – und hilflos, denn diese Liebe hatte keine Aussicht auf Erfüllung. Sie war die Tochter ihres Vaters und unterstand seinem Befehl. Sie war Dorcas Slythe.

Nun aber sehnte sie sich danach, Campion zu sein.

Toby schnitt noch mit leichter Hand für sie die Binsen, er hatte sichtlich seinen Spaß daran. Dann nahm er Abschied. Sie schaute ihm nach, als er sich, dem Bachlauf folgend, in Richtung Norden entfernte. Sie wünschte sich, Werlatton den Rücken kehren und mit ihm gehen zu können.

Sie versteckte die Lichtnelken in ihrer Schürze und trug die Binsen nach Hause.

Ihr Bruder Ebenezer, der sie, hinter einer der großen Buchen versteckt, den ganzen Nachmittag über beobachtet hatte, hinkte auf der Straße nach Dorchester dem Vater entgegen.

Sie war Dorcas und wünschte sich, Campion zu sein.