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© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2013

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Einband und Illustrationen von Stefanie Scharnberg

Reproduktion: Domino GmbH, Lübeck

E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin 2013

ISBN 978-3-86274-098-7

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Eine Zwei in Mathe

Zuerst hat Jonathan Papa und Hilary ja noch mal eine Chance gegeben. Aber was soll man denn machen, wenn die Erwachsenen immer nur ungerecht und gemein und gemein und ungerecht sind? Da muss man doch einfach von zu Hause abhauen, da hat man doch gar keine andere Wahl! Und außerdem haben sie jetzt ja sowieso ihre geliebte Lilly und merken vielleicht gar nicht, dass Jonathan weg ist, und vermissen ihn nicht mal.

Als Jonathan am Mittag aus der Schule gekommen ist, hat es angefangen. Da hat Hilary ihm nur ganz schnell die Wohnungstür aufgemacht mit dem Baby auf dem Arm. Dann ist sie auch schon zurück ins Schlafzimmer gesaust.

Aber um mit Jonathan zu schimpfen, hatte sie natürlich trotzdem noch Zeit. »Hast du schon wieder deinen Schlüssel vergessen!«, hat sie ihm über die Schulter zugerufen. »Jetzt hast du mit deinem Geklingel Lilly aufgeweckt, und es hat sowieso ewig gedauert, bis sie eingeschlafen war!«

Jonathan hat seinen Ranzen unter die Garderobe gepfeffert. Klar hat er so doll geklingelt, dass fast das ganze Haus zusammengekracht wäre; im Stockwerk unter ihnen hat sogar die nette Frau Brockmann ihre Wohnungstür aufgerissen und gerufen: »Ist was passiert, mein Jonathan?« Aber das Geklingel war doch nur, weil sie heute in Mathe die schrecklich schwierige Klassenarbeit zurückgekriegt haben, vor der Jonathan so große Angst gehabt hat; und nun hat er eine Zwei und Frau Kägele hat sogar »Super, Jonathan!« daruntergeschrieben und mit ihrem Lobestempel gestempelt. Da durfte er ja wohl mal ordentlich lange auf den Klingelknopf drücken! Weil er sich doch so furchtbar gefreut hat und Hilary unbedingt sofort davon erzählen wollte.

Und nun interessiert seine Mathe-Arbeit sie nicht mal! Nur ihre blöde Schrei-Lilly interessiert sie, und langsam weiß Jonathan auch, warum. Weil die nämlich ihr echtes Kind ist, jawohl, und Jonathan ist nur ihr angeheiratetes, da ist Hilary seine Stiefmutter, und was das bedeutet, weiß man ja aus den Märchen.

Jonathan geht in sein Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Als Papa Hilary kennengelernt hat, hat Jonathan sich zuerst richtig gefreut. Mama ist ja schon so lange nicht mehr bei ihnen, dass Jonathan sich nicht mal mehr erinnern kann, wie sie ausgesehen hat, da war eine neue Frau im Haus doch gar nicht schlecht. Und Hilary war zu Anfang auch immer schrecklich nett zu ihm. Sogar netter als Papa war sie und hat ihm mit seinem Nix geholfen (aber wer der Nix ist, kommt in dieser Geschichte erst später), als Papa noch nicht mal glauben wollte, dass es Nixe gibt; und als Hilary dann bei Papa und Jonathan eingezogen ist, war das wirklich schön. Sie haben immer zu dritt Abendbrot gegessen und geredet, und manchmal haben sie Spiele gespielt, bei denen Papa immer verloren hat; und Hilary mochte auch nicht so gerne Fisch und am liebsten Spaghetti, genau wie Jonathan, und bei den Hausaufgaben war sie auch längst nicht so schnell ungeduldig wie Papa. Darum hat Jonathan sich ehrlich gefreut, als Papa und Hilary ihn gefragt haben, ob er es okay findet, wenn sie heiraten. Natürlich fand er das eine gute Idee! Aber da hat er sich ja wohl getäuscht. Da haben sie ihn ja wohl ganz schön reingelegt!

Weil dann nämlich Lilly gekommen ist, das hatten sie ihm ja vorher schon erzählt. Und eigentlich hat Jonathan es auch ganz schön gefunden, dass er jetzt eine kleine Schwester kriegen sollte. Kleine Babys sind ja so niedlich und haben winzige Finger und Zehen und schlafen den ganzen Tag. Und später muss man eine kleine Schwester dann ordentlich vor gemeinen großen Jungs und vor gefährlichen Hunden beschützen, und die kleine Schwester findet ihren Bruder dann toll und bewundert ihn, das ist bei allen kleinen Schwestern so, und das gehört sich schließlich auch.

Aber da hatte Jonathan sich schon wieder getäuscht! Winzige Finger und Zehen hat Lilly natürlich schon, und die sind auch wirklich ziemlich süß; aber was nützt ihm das, bitte sehr? Wenn sie doch überhaupt nicht daran denkt, den ganzen Tag zu schlafen, nicht mal die ganze Nacht, sondern immer nur schreit und schreit, und Hilary regt sich furchtbar auf und sagt zu Papa: »Wenn ich bloß wüsste, was ihr fehlt!«, und Papa trägt sie durch die Wohnung und summt dabei das Lied von der Fußball-WM, damit Lilly endlich einschlafen soll, aber die denkt ja gar nicht daran.

Und wenn Jonathan ganz leise zu Papa schleicht und nur mal eine winzige Frage hat, ob er vielleicht die neue Serie im Fernsehen gucken darf zum Beispiel oder nur mal eine winzig kurze Viertelstunde am Computer spielen, wird Papa gleich sauer und brüllt: »Siehst du nicht, dass ich versuche, Lilly zum Einschlafen zu kriegen? Jetzt quengel du nicht auch noch rum! Hast du überhaupt schon deine Hausaufgaben gemacht?«

Und dann fängt Lilly wieder an zu schreien, und Papa schnauzt, dass das jetzt Jonathans Schuld ist, und dabei war es ja wohl Papa, der so laut gebrüllt hat, dass kein Baby auf der ganzen Welt dabei schlafen könnte. Aber immer soll Jonathan ja jetzt an allem schuld sein, und immer hat er alles falsch gemacht, und immer schimpfen sie mit ihm.

Jonathan schmeißt sich auf sein Bett. Im Schlafzimmer singt Hilary ein Schlaflied. Wenn Hilary so gemein zu ihm ist, erzählt er ihr eben nicht, dass er eine Zwei in Mathe geschrieben hat, das hat sie nun davon. Und wenn Papa heute Abend nach Hause kommt, erzählt Jonathan ihm das auch nicht, geschieht ihm recht. Bestimmt hätte Papa sich sonst gefreut, aber das kann Jonathan nun auch nicht mehr ändern. Papa hat ja jetzt seine Lilly, da soll er sich doch über die alte Schreitante freuen! Jonathan jedenfalls erzählt ihm keine schönen Freu-Sachen mehr, niemals: Nicht, wenn er in der Schule gute Noten schreibt, und nicht, wenn Frau Kägele ihn lobt, und auch nicht, wenn der Trainer beim Fußball sagt, dass Jonathan sein kommender Star ist und er nur hoffen kann, dass demnächst nicht Real Madrid kommt und ihm Jonathan vor der Nase wegkauft, oder Manchester United. Gar nichts Schönes wird Jonathan Papa und Hilary mehr erzählen, und alles wird er für sich behalten und ganz alleine sein mit seinen Geheimnissen. Sie behandeln ihn ja sowieso, als ob er immer nur stört.

Jonathan zieht die Nase hoch. Eine Zwei in Mathe ist doch toll! Er versteht gar nicht, warum er dann jetzt so ein Gefühl hat, als ob er gleich weinen muss. Aber das tut er trotzdem ganz bestimmt nicht, auch wenn er jetzt ganz allein ist auf der Welt. Wenigstens gibt es noch Leo, die ist seine allerbeste Freundin, und später heiratet er sie mal. Aber Leo findet Lilly auch immer so süß, wenn sie kommt, um Jonathan zur Schule abzuholen, und gestern hat sie Hilary gefragt, ob sie vielleicht bitte mal den Kinderwagen schieben darf. Als ob Kinderwagen-Schieben so was Aufregendes wäre! Wahrscheinlich findet Leo Lilly auch längst besser als ihn, sie hat es Jonathan nur noch nicht gesagt.

Jonathan presst sein Gesicht ins Kissen, das fühlt sich irgendwie ein bisschen feucht an. Wenn Leo ihn nun auch nicht mehr mag, ist er wirklich ganz und gar allein, noch mehr allein geht gar nicht. Aber große Jungs, die schon acht Jahre alt sind, weinen ja wohl nicht!

Darum gibt es auch bestimmt einen anderen Grund dafür, dass sein Kissen nass ist. Das sind keine Heultränen, das sind Allergietränen, jede Wette, wahrscheinlich ist er einfach nur allergisch gegen das neue Waschmittel, das eigentlich ganz schön nach Wiesenblumen duftet. Wenn man allergisch ist, kommen einem manchmal auch die Tränen, das weiß Jonathan, und die Nase läuft, und schon ist das Kissen nass. Wahrscheinlich ist er einfach nur allergisch, kein Wunder. Ihm passieren ja immerzu lauter blöde Sachen.

Und gerade als Jonathan noch mal die Nase hochgezogen und sich mit dem Bettdeckenzipfel über die Augen gewischt hat, geht die Zimmertür auf.

»Jonathan?«, sagt Hilary. Da merkt Jonathan erst, dass das Schlaflieder-Gesinge und das Baby-Geweine aufgehört hat. »Entschuldige bitte, Jonathan! Ich wollte dich eben nicht so anschnauzen! Aber ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan, weil Lilly wieder so gebrüllt hat, und als sie mir eben endlich eingeschlafen war, da hast du sie mit deinem Geklingel wieder geweckt! Jonathan?«

Aber Jonathan presst sein Gesicht vorsichtshalber immer noch weiter in sein Kissen. Er hat ja keine Ahnung, wie seine Allergie gerade aussieht.

»Hallo, mein Großer?«, sagt Hilary wieder und fasst ihn ganz behutsam an der Schulter. Dann dreht sie ihn zu sich um. »Kannst du mir noch mal verzeihen?«

Jonathan guckt sie böse an. Bestimmt sind seine Augen noch ganz rot. Dann denkt Hilary womöglich noch was Falsches, und das soll sie nicht. »Ich bin allergisch!«, sagt er. »Du musst ein neues Waschmittel kaufen!«

»Ach, du je!«, sagt Hilary und nimmt ihn in den Arm. »So ein Mist aber auch! Da hoffe ich mal, dass die Allergie ganz schnell wieder vorbeigeht! Und du bist mir doch nicht mehr böse? Ich kriege so wenig Schlaf in letzter Zeit, da ist mein Nervenkostüm einfach viel zu dünn!«

Jonathan denkt, dass Nervenkostüm ein schönes Wort ist, das muss er sich merken. »Mein Nervenkostüm ist das auch«, murmelt er gegen Hilarys Schulter. Vielleicht verzeiht er ihr wirklich noch dieses eine Mal.

»Wir müssen einfach alle ein bisschen besser aufpassen, Jonathan«, sagt Hilary. »Es ist ja immer noch alles ziemlich neu jetzt mit Lilly, da müssen wir als Familie noch ganz viel lernen.« Sie seufzt. »Apropos lernen: Wie war es denn heute in der Schule?« Und jetzt schiebt sie Jonathan wieder von sich weg, damit sie ihm in die Augen sehen kann.

Da fühlt Jonathan sich auf einmal ganz froh. Jetzt wird Hilary aber staunen, wenn er ihr von der Mathe-Zwei erzählt! Und sie wird glücklich sein und denken, ja, der Jonathan, der macht mir immer so viel Freude, aber die Lilly, die hätten wir lieber gar nicht erst anschaffen sollen.

»Rate mal, Hilary!«, sagt Jonathan und macht ein sehr geheimnisvolles Gesicht. »Dreimal hast du frei! Rate mal, was ich in der Mathe-Arbeit …«

Genau in diesem Moment kommt aus dem Schlafzimmer zuerst ein leises Wimmern und dann ein lauter Schrei.

Hilary springt auf. »Lilly!«, ruft sie und ist schon auf dem Weg zur Tür. »Entschuldige, Jonathan! Wenn ich bloß wüsste, was …«

Jonathan schleudert seine Bettdecke auf den Boden. »Scheiß-Lilly!«, sagt er. Ganz ruhig. Fast wäre er noch mal auf Hilary reingefallen.

An der Ostsee passieren merkwürdige Dinge

Und während Jonathan zu Hause böse auf Lilly ist, kommen die Leute in einem kleinen Badeort an der Ostsee gerade aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

Als Erste merken es die Zwillinge Lukas und Finn-Anton, die mit ihrer Mutter eine Woche Strandurlaub machen, als sie sich auf dem Spielplatz gleich hinter der Promenade um ihre Lakritz-Heringe streiten.

»Du hast meine Tüte geklaut!«, schreit Finn-Anton. Sie sind ungefähr hundertmal über die Wackelbrücke gelaufen und haben Seeräuber gespielt, und danach sind sie tausendmal mit der Seilbahn quer über den Spielplatz gezischt und haben eine Million Mal Absprung von der Schaukel gemacht und geguckt, wer am weitesten fliegt.

Aber jetzt kommt plötzlich eine ganze Schulklasse mit ihrem Lehrer auf den Spielplatz, die sind vielleicht auf Klassenfahrt und ziemlich viel größer als die Zwillinge. Da wissen Lukas und Finn-Anton, dass es jetzt nur Streit mit denen gibt, wenn sie trotzdem noch weiterschaukeln wollen und Seilbahn fahren, und außerdem haben sie sowieso langsam genug. Darum gehen sie zurück zu der Bank, auf der sonst immer die Eltern sitzen, wenn kleine Kinder auf dem Spielplatz sind, und auf der jetzt eigentlich zwei Tüten mit Lakritz-Heringen liegen müssten, die haben sie sich vorhin am Kiosk gekauft. Aber da liegt nur noch eine.

»Du hast meine Tüte geklaut!«, schreit Finn-Anton, als Lukas sich die Tüte schnappt und gleich drei Heringe auf einmal in den Mund steckt. »Gib die her!«

»Hab ich gar nicht!«, sagt Lukas und kaut und hält die Tüte hinter seinen Rücken. »Das ist ja wohl meine!«

»Gib her!«, schreit Finn-Anton und versucht, Lukas die Tüte wegzureißen. »Das ist meine! Ich hab meine Fische noch nicht gegessen!«

»Denkst du, ich?«, schreit Lukas, und man kann sehen, dass er gar nicht daran denkt, die Tüte rauszurücken.

Finn-Anton versucht, nach ihm zu treten. »Das sag ich Mama!«, schreit er, und »Bist du blöde?«, schreit Lukas, und bestimmt hätten die beiden sich jetzt gleich richtig geprügelt, weil das leider auch Zwillinge manchmal tun müssen; aber da trifft Finn-Anton plötzlich etwas an der Stirn und plumpst von da in den Sand, und als er es aufhebt, ist es ein Lakritz-Hering.

Finn-Anton starrt Lukas ganz böse an. »Mach das nicht noch mal, du!«, sagt er.

»Was denn, du Idiot?«, sagt Lukas und hält immer noch seine Tüte hinter den Rücken.

»Mich mit Heringen beschmeißen!«, sagt Finn-Anton. »Selber Idiot!«

Und tatsächlich fliegen jetzt rund um die beiden Lakritz-Heringe über den Spielplatz und landen im Sand, und dass es nicht Lukas ist, der sie schmeißt, sieht jetzt auch Finn-Anton. Wie von Zauberhand geworfen, tauchen sie plötzlich irgendwo auf und sausen durch die Luft, aber dass es keine Zauberhände gibt, wissen Lukas und Finn-Anton eigentlich seit hundert Jahren.

»Das mach ich doch gar nicht!«, murmelt Lukas trotzdem vorsichtshalber noch mal.

»Hilfe, ein Geist!«, flüstert Finn-Anton, und weil das so merkwürdig ist, sind sie jetzt auch gar nicht mehr verkracht und fassen sich an den Händen und rennen zurück an den Strand, wo ihre Mutter auf einer Wolldecke liegt, und erzählen ihr, was ihnen gerade eben auf dem Spielplatz passiert ist.

Darum hören sie leider auch nicht mehr, wie neben der Bank, auf der eben noch ihre Heringe gelegen haben, eine ärgerliche Stimme vor sich hin schimpft. »Was soll denn das, was soll der Mist?«, ruft die Stimme. »Wenn was aussieht wie Fisch und doch kein Fisch ist?« Und dann saust schon der nächste Hering durch die Luft. »Krabben und Quallen, jetzt hab ich genug! Dieses eklige Zeugs ist gemeiner Betrug!«

Aber zu sehen ist leider immer noch niemand. Nur die leere Tüte kommt jetzt als Letztes auch noch durch die Luft gesegelt und landet dem Lehrer genau vor den Füßen.

»Wer schmeißt denn hier mit Abfall rum?«, ruft der natürlich gleich, und dann sagt er zu zwei großen Jungs aus seiner Klasse, dass sie die Tüte aber mal sofort in den Papierkorb werfen sollen, und die Jungs schreien, sie waren das aber gar nicht und haben die gar nicht geschmissen, und der Lehrer sagt, das spielt keine Rolle, und kriegt ärgerliche Falten auf der Stirn.

Und Falten auf der Stirn kriegt am Strand auch die Mutter von Lukas und Finn-Anton, als die schwören, dass auf dem Spielplatz ein echter Unsichtbarer mit Lakritz-Heringen schmeißt.

»Ich mag es nicht, wenn ihr schwindelt!«, sagt sie. »Das wisst ihr genau!«

Aber da halten die Zwillinge auch noch die drei Schwurfinger in die Luft und schreien: »Echter Unsichtbarer, Mama!«, und ihre Mutter sagt, dass sie wahrscheinlich einfach zu lange in der Sonne gespielt haben, und jetzt haben sie einen Sonnenstich.

»Darum ab ins Hotel!«, sagt sie, und Lukas hält seinem Bruder die Lakritz-Tüte hin, und auf dem Rückweg teilen sie sich die restlichen Heringe gerecht.

Sie finden nämlich beide, dass man sich nicht wegen ein paar albernen Heringen streiten sollte, wenn man auf dem Spielpatz schon mal einem Unsichtbaren begegnet, der mit Sachen schmeißt. Da sollte man sich lieber freuen und wieder vertragen. So was passiert nämlich bestimmt nicht so vielen Menschen.

Jonathan ärgert sich noch mehr

Und das ist genau an dem Tag, an dem Jonathan in der Stadt seine Mathe-Zwei zurückgekriegt hat. Wenn er stattdessen an der Ostsee wäre, könnte er Lukas und Finn-Anton vielleicht etwas erklären. Aber er sitzt ja zu Hause in seinem Zimmer und ist böse.

Den ganzen Nachmittag ist Hilary mit ihrer Lilly auf dem Arm durch die Wohnung gelaufen, und zwischendurch ist Lilly eingeschlafen, aber immer, wenn Hilary sie in ihr Bett legen wollte, ist sie sofort wieder aufgewacht und hat geschrien. Darum sollte Jonathan leise sein und sich zum Mittagessen einfach schnell ein Brot streichen und ganz allein seine Hausaufgaben machen, und Hilary hat ihn kein einziges Mal mehr nach seiner Mathe-Arbeit gefragt. Er hat ja gewusst, dass er ihr in Wirklichkeit ganz gleichgültig ist und die Schule sie gar nicht interessiert. Sie hat vorhin nur so getan.

Und das einzige Mal, als sie in sein Zimmer guckt, baut Jonathan auf dem Boden gerade Lego auf. Die Hausaufgaben kann er ja später immer noch machen.

»Ach, du meine Güte, Jonathan!«, flüstert Hilary. Lilly liegt an ihrer Schulter, und ihre Augen sind zu, und sie schläft mit so grunzigen kleinen Schnaufern. »Du kannst in diesem Chaos doch nicht auch noch mit Lego spielen! Irgendwann musst du doch wenigstens den Boden mal freiräumen!«

Jonathan sieht nicht mal zu ihr hoch. Natürlich, das Einzige, was Hilary interessiert, ist ein aufgeräumtes Kinderzimmer.

»Jonathan?«, flüstert Hilary. »Ich glaube, du solltest jetzt mal …«

»Nein!«, brüllt Jonathan. Was anderes als meckern kann Hilary wohl nicht, was? Wozu hat er denn eine Zwei geschrieben, wenn er zu Hause sowieso nur Ärger kriegt? Andere Kinder kriegen dafür einen Euro oder ein Eis oder werden wenigstens gelobt, aber er soll immer nur sein Zimmer aufräumen. »Tu ich gar nicht!«

Und davon wacht Scheiß-Lilly natürlich auf und brüllt so laut, dass Frau Brockmann in der Wohnung unter ihnen vor Schreck bestimmt wieder ihre Tür aufreißt. Und Hilary wirft ihm einen bösen Blick zu und verschwindet mit Lilly im Schlafzimmer. Da gehört sie auch hin mit ihrem dünnen Nervenkostüm. Aber wenigstens lässt sie Jonathan jetzt in Ruhe und sagt nicht mal was, als er sich im Wohnzimmer einfach, ohne zu fragen, den Fernseher einschaltet. Geschieht ihr recht.

Ein Unsichtbarer im Papierkorb

In dem kleinen Ort an der Ostsee geht das Merkwürdige währenddessen immer noch weiter.

»Aber wenn ich es dir doch sage, Kalle!«, flüstert Manni, dem der Fischimbiss an der Strandpromenade gehört, und gibt dem Dorfpolizisten einen Becher Kaffee umsonst. Manni darf den Polizisten duzen, weil sie nämlich schon zusammen zur Schule gegangen sind. »Da ist in der letzten Zeit immer irgendwas in meinen Papierkörben!«

Kalle nimmt einen großen Schluck. »Gut, dein Kaffee, Manni!«, sagt er.

Aber Manni hört gar nicht zu. »Das ist, als ob da einer drin sitzt und alles durchwühlt!«, flüstert er wieder. »Und dann pfeffert er die Papierservietten raus und die Pappteller mit den Kartoffelsalatresten! Und die ganze Zeit murmelt er dabei! Ich hab schon mein Radio extra laut gestellt, damit die Gäste nichts merken! Der sagt im Papierkorb Gedichte auf!«

Kalle setzt seinen Becher ab. »Gedichte?«, fragt er, und noch ungläubiger kann man gar nicht aussehen.

»Ja, Gedichte. Wenn ich es doch sage!«, flüstert Manni und hält einen Finger gegen die Lippen zum Zeichen, dass sie leiser reden müssen. Weil jetzt nämlich eine junge Frau von einem der Tische vor dem Imbiss zu ihnen hinsieht, und Manni will ja bestimmt nicht, dass die etwas mitkriegt. »Der sagt immer irgendwas wie: Dieser Fisch ist ja nicht frisch! Und: Was klebt denn da für Matsch drum ´rum? Schmeckt doch ohne viel besser! Ihr Menschen seid dumm!«

»Manni!«, sagt Kalle streng. »Jetzt tüdelst du aber.«

»Wenn ich es dir doch sage!«, flüstert Manni. »Immer Gedichte! Und immer irgendwie Beleidigungen! Als ob meine Panade um das Fischfilet Matsch wäre! Aber manchmal raschelt es auch nur, und dann hört man jemanden schmatzen und schlucken.«

»Und immer im Papierkorb? Das klingt mir aber nach Ratten!«, sagt Kalle. »Und Ratten an einem Imbiss sind nicht so gut, Manni, das weißt du! Da musst du was gegen tun!«

»Hast du schon mal Ratten gesehen, die mit Kartoffelsalat schmeißen?«, flüstert Manni. »Und die die ganze Zeit Gedichte aufsagen? Ich lauf doch immer sofort hin, wenn es wieder losgeht, und guck nach, was da im Papierkorb ist, und ich hab nie was gefunden! Nie! Obwohl ich schon mindestens zehnmal nachgeguckt hab! Es ist, als ob ein Unsichtbarer in meinen Papierkörben hockt und mit Essen und Plastikgabeln schmeißt!«