Umschlag

Gabriella Wollenhaupt

Grappa

und

die Toten vom See

Kriminalroman

Die Autorin

Gabriella Wollenhaupt, Jahrgang 1952, arbeitet als Fernsehredakteurin in Dortmund. Ihre freche Polizeireporterin Maria Grappa hatte 1993 ihren ersten Auftritt. Mit Grappa und die Toten vom See stellt sie zum dreiundzwanzigsten Mal ihre Schlagfertigkeit unter Beweis.

Gemeinsam mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz hat sich die Autorin auch auf einen Ausflug in die Historie begeben: Leichentuch und Lumpengeld sowie Blutiger Sommer spielen im Vormärz und stehen den Grappa-Krimis in Sachen Witz und Ironie in nichts nach.

www.gabriella-wollenhaupt.de

Inhalt

Die Personen

Motti

Dienstreise zu einem Mord im sonnigen Süden

Mit Brot wirft man nicht

Hirn in der Leberwurst und Oldtimer in den Bergen

Erntedankfest am Lago Maggiore

Italienisches Essen und Hunger am langen Arm

Eine italienische Versuchung taucht auf

Wandern im Wald und weinen bei Walen

Ein Wildschwein auf zwei Beinen

Ein verschwundenes Hotel

»Das Herz brach mir fast und ich schämte mich …«

Persilscheine und Zigarettenkippen

Abschied und Pärchenanalyse

Ordnung im Kopf, Blut im Boden

Frau Schmitz hat Probleme und wird gewarnt

Brauner Terror und Zahnpflege für Hunde

Begegnung der dritten Art beim Italiener

»Frauchen, er hat gar nicht gebohrt!«

SS-Eddi kehrt zurück ins Rampenlicht

Eine befreite Nazibraut

Spuckzone und Katzenkot

Ein alter Bekannter erscheint

Der Killer wird erkannt

Razzia gegen die Autonomen Nationalisten

Geld und noch mal Geld

Verbote und ein einsames Abendessen

Undercover im Fernsehen

Testament des Auftragskillers

Mausefallen gegen Kater

Deutschland lieben und schützen

Jemand will sich nicht finden lassen

Mandanten sind immer unschuldig

Trenchcoats wie im Kino

Datenschutz wird überbewertet

Hauptsache gesprächswertig

Journalisten und das Ego anderer

Anschlag auf Frau Schmitz

Der Fußballer und das Wäschemodel

Noch eine Razzia

Freundschaften ohne Sex

Ein elegantes Hintergrundgespräch

Donka hält die Stellung

Kinder aus Afrika und Charity ohne Ende

Jeder Mensch hat Freunde

Nach den Rechten sehen

Besuch von einem Verschwundenen

Die Kassen sprengen

Das Lächeln vor dem Sterben

Mehr Mehl und Trockenfutter

Eine Kriegserklärung

Ein Bombenservice

Hass macht einig

Der Name Bernd ist auch keine Lösung

Fehler beim Bombenbasteln

Die Polizei ist nicht erwünscht

Die Mörder lächeln in die Kamera

Bruno Zitroni und eine Misswahl

Rhythmisches Schütteln

Wirre Träume und Vorschau auf Halloween

Motte macht sich davon

Ruhe im Karton und die Nummer mit der Eisscholle

Beweissicherung im Badezimmer

Der Willkürstaat wehrt sich

Eine Story ohne Pointe

Der verfolgte Nazikiller

Der Staatsschutz schlief

Notwehr im Wald von Pisano

Kopfgeld für den Täter

Ausklang

Die Personen

Carsten »Bärchen« Bibermausert sich
Holger Brunsmuss für Fehler büßen
Fabian Fellnerhat gefährliche Freunde
Dr. Hassan Ghafourimacht für Geld alles
Gisela Golombeckwirft mit Katzenkot
Heinz Golombeckhasst seine Nachbarin
Maria Grappakommt ins Schleudern
Simon Harrasbehält den Humor
Friedemann Kleistbekommt ein Angebot
Luisa Lichtschweigt zu lange
Giaconda Maronettiwill nur spielen
Chantal Meinauverkehrt in falschen Kreisen
Manfred Motteführt Traditionen fort
Max Mottetrickst fast alle aus
Miriam Mottehat sich abgesetzt
Wayne Pöppelbaumerweitert sein Weltbild
Sarah, Stella, Susihalten den Laden zusammen
»SS-Eddi« Schaberlwill es knallen lassen
Anneliese Schmitzkann nicht in Frieden leben
Berthold Schnackwächst mit seinen Aufgaben
Margarete Wurbel-Simonisfühlt sich unterdrückt

 

Oh Gott, mein Gott,

Möge es nie enden.

Der Sand und das Meer,

Das Rauschen des Wassers,

Der Glanz des Himmels,

Das Gebet der Menschen.

 

Hannah Szenes

Jüdische Freiheitskämpferin aus Palästina.
Sie wurde per Fallschirm über dem besetzten Ungarn abgesetzt, von der SS gefangen genommen, gefoltert und 1944 im Alter von 23 Jahren ermordet.

 

Verbrenne ihre Synagogen … zwinge sie zur Arbeit und gehe mit ihnen nach aller Unbarmherzigkeit um, wie Moses in der Wüste tat, der dreitausend totschlug, daß nicht der ganze Haufe verderben mußte.

 

Martin Luther

Schrift: Von den Juden und ihren Lügen aus dem Jahre 1543

Dienstreise zu einem Mord im sonnigen Süden

»Ich muss unser gemeinsames Kochen leider absagen«, informierte mich Hauptkommissar Friedemann Kleist am Nachmittag telefonisch. »Eine Familie aus Bierstadt ist getötet worden. Eine Art Hinrichtung. Vater, Mutter, Tochter und deren Freund. Und es gibt noch ein fünftes Opfer. Ein Mann, der zufällig am falschen Platz war. Ich fliege morgen nach Italien.«

»Das ist ja schrecklich. Was ist das denn für eine Familie?«

»Lies die Pressemitteilung, die gleich an die Medien rausgeht. Da steht alles drin, was wir bisher wissen.«

»Alles?«

Er lachte. »Na ja, das, was ihr Presseleute wissen dürft. Aber wir haben wirklich noch nicht viel Interessantes. Deshalb muss ich ja nach Locarno.«

»Nach Locarno? Hast du nicht gesagt: Italien?«

»Ja. Ich nehme mir dann ein Auto. Die Familie hat an der italienischen Seite des Lago Maggiore Urlaub gemacht. In Stresa. Locarno ist der nächstgelegene Flugplatz. Bis später.« Er legte auf.

Ich stürzte zu meinem Rechner. Tatsächlich war gerade eine gemeinsame Presseerklärung der Mordkommission und der Staatsanwaltschaft eingegangen.

Mord an fünf Personen in Norditalien

In einem Wald bei Pisano wurden gestern die Leichen von vier Menschen in einem Personenwagen mit Bierstädter Kennzeichen gefunden. Den Ausweispapieren zufolge handelt es sich um das Bierstädter Ehepaar Elise und Norbert M., 50 und 56 Jahre alt, ihre Tochter Melanie M. (23) und den 29-jährigen israelischen Staatsangehörigen David C. Am Tatort wurde außerdem die Leiche eines noch nicht identifizierten Mannes gefunden, der mit dem Fahrrad in dem Waldstück unterwegs war. Er könnte ein Zufallsopfer sein. Nach ersten Erkenntnissen sind die fünf Personen erschossen worden. Die Umstände des Auffindens lassen vermuten, dass die Familie gezielt getötet wurde. Eine Waffe wurde noch nicht gefunden. Ein Raubmord wird ausgeschlossen. Die Mordkommission Bierstadt unterstützt die italienische Polizei. Ein leitender Beamter wurde nach Italien abgeordnet. Die israelische Polizei wurde ebenfalls informiert.

Italien, das Land der Cosa Nostra. Eine ganze Familie ausgelöscht. So fingen Filme an, die von den mächtigen Paten erzählten. Natürlich wurden auch in Italien zuweilen Touristen überfallen, das war nichts Neues. Doch meist wegen Geldes und anderer Wertsachen. Eins der Opfer war Israeli – hatte das etwas zu bedeuten?

Wayne Pöppelbaum hastete ins Großraumbüro und steuerte auf mich zu. »Hast du schon gelesen, Grappa?«

Ich nickte. »Mysteriöse Geschichte. Wir sollten nach Italien fahren.«

»Eine Dienstreise? Das kriegst du bei Schnack nie durch!«, prophezeite der Bluthund. Pöppelbaum war der feste freie Fotograf des Bierstädter Tageblatts und hauptsächlich für die sogenannten Blaulicht-Themen zuständig. Wayne hörte regelmäßig den Polizeifunk ab, um frühzeitig an den Szenen schrecklicher Ereignisse zu erscheinen, die er dann für die blutrünstige Leserschaft unseres Blattes im Bild dokumentierte. Als Reporterin war ich für die Texte zuständig.

»Abwarten«, meinte ich zuversichtlich. »Der Leiter der Bierstädter Mordkommission macht sich auf den Weg nach Bella Italia. Unser Chef ist doch immer so für Begleitreportagen. Nun können wir den Oberpolizisten doch mal bei seiner schwierigen Arbeit begleiten.«

»Weiß Kleist das denn schon?«, fragte Wayne verblüfft.

»Ist alles mit ihm abgesprochen«, log ich, ohne rot zu werden, und griff noch einmal nach der Pressemitteilung. »Hier stehen die Namen nur mit der üblichen verschleierten Abkürzung. Darum kümmern wir uns zuerst. Ich will wissen, wer diese Opfer genau sind.«

»Das kann ich dir sagen«, grinste er stolz. Er reichte mir einen Zettel: Elise, Norbert und Melanie Mahler.

»Den Nachnamen dieses David C. hab ich allerdings noch nicht rausbekommen. Dafür hab ich aber die Adresse der Mahlers.«

»Sauber! Dann machen wir jetzt Arbeitsteilung«, schlug ich vor. »Ich kümmere mich um die Genehmigung der Dienstreise und du schüttelst die Nachbarn. Vielleicht erfährst du von denen noch was Interessantes.«

Wayne nickte und trollte sich.

Ich hatte den Mund ziemlich voll genommen. Nun überlegte ich angestrengt, wie ich unseren Chef Dr. Berthold Schnack von der Notwendigkeit einer Reise nach Italien überzeugen konnte. Leider fiel mir nicht viel ein. Plan B war angesagt: improvisieren. Am besten sofort.

»Ist Schnack schon da?«, fragte ich Susi.

Die Sekretärin reagierte nicht, denn sie war in die Blöd-Zeitung vertieft und knabberte an einem Brötchen. Ich wollte ihrer Weiterbildung nicht im Weg stehen und lief einfach an ihr vorbei. Die Tür zum Chefbüro stand offen.

Schnack war nicht allein. Bärchen Biber, sein Lieblingsredakteur, saß vor dem Schreibtisch und nippte an einem Kaffee.

»Guten Morgen, die Herren«, strahlte ich. »Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Nicht mehr als sonst«, grinste der Kronprinz.

Ich zeigte ihm beim Lächeln kurz die Zähne.

»Was führt Sie zu mir, Frau Grappa?«, fragte Schnack. »Gleich ist doch sowieso Redaktionskonferenz.«

Ich gab ihm eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse.

»Wir sollten die offiziellen Ergebnisse abwarten. Das ist doch bisher eine ganz dünne Suppe«, stellte Schnack fest.

»Der Meinung bin ich nicht. Als Polizeireporterin unseres Blattes würde ich gern nach Norditalien reisen. Eine emotionale Nah-dran-Reportage kommt viel besser als ein nüchterner Faktenbericht. Und es ist doch einfach eine Riesengeschichte: eine vierköpfige Familie aus Bierstadt einfach so niedergemetzelt!«

»Genau, Grappa«, stimmte mir Bärchen zu. »Und das Wetter in Italien ist gerade sehr gut. Blaues Wasser, Palmen, Vino und dolce far niente.«

»Ans Nichtstun hatte ich eigentlich nicht gedacht, du kleiner Schleimer«, gab ich ihm eins drüber.

»Ich muss doch sehr bitten«, blaffte Schnack. »Und damit meine ich alle beide.«

Bärchen zog einen Flunsch.

»Wie stellen Sie sich die Nah-dran-Reportage denn genau vor?«, fragte der Chef. »Glauben Sie wirklich, dass die Polizei Sie nah dran lässt?«

»Zuerst einmal werde ich das Umfeld der Toten hier in Bierstadt untersuchen«, erklärte ich. »Die Mahlers wohnten im Süden der Stadt.«

»Mahler?« Schnack war aufmerksam geworden. »Norbert Mahler?«

»Ja. Kennen Sie den Mann etwa?«

»Und seine Frau heißt Elise?«

»Stimmt.«

Schnack wischte sich die Stirn. Er war bleich geworden. Bärchen Biber und ich schauten uns an.

»Norbert Mahler ist seit Jahren mein Steuerberater«, gestand Schnack. »Und ich bin sogar Melanies Patenonkel. Das ist ja eine grauenhafte Nachricht. Sie bekommen Ihre Dienstreise, Frau Grappa!«

»Mit Sex kannst du Schnack nicht bestochen haben. Wie hast du es also geschafft?«, fragte Wayne zwei Stunden später, als wir in der Kantine beim Kaffee saßen.

»Meine legendäre Überzeugungskraft«, behauptete ich. »Und jetzt erzähl mir, was du von den Nachbarn der Mahlers erfahren hast.«

»Nicht viel.«

»Was heißt das?«

»Natürlich sind die Bullen schon vor mir da gewesen«, erzählte der Bluthund. »Die Nachbarn schildern die Mahlers als unauffällige, angenehme Menschen. Aber das sind in diesem Viertel alle. Gepflegte Villengegend mit Flair. Chefärzte, Unternehmer, leitende Angestellte, Manager und Lokalpolitiker. Mahler war Steuerberater. Ihm gehörte eine Steuerberatungsgesellschaft.«

»Ich weiß. Schnack ist einer seiner Mandanten.«

»Schnack?« Jetzt begriff Wayne. »Deshalb hat er die Dienstreise genehmigt!«

Ich lächelte schief. »Hast du was über den Israeli erfahren? Wie stand er zu den Mahlers?«

»David C. war seit einer Woche zu Besuch. Mit der Tochter war er jedoch wohl nicht liiert. Er war eher ein Verwandter oder Bekannter.«

»Und was wollten die Mahlers in Italien?«

»Urlaub machen, was sonst«, antwortete Wayne. »Im sonnigen Süden. Sie hatten in Stresa ein Hotel gebucht, direkt am See. Ich hab sogar den Namen. Der Tatort liegt nur ein paar Kilometer von Stresa entfernt.«

»Wow!«

»Ja, ich sprach mit einer Nachbarin, die Frau Mahler das Hotel empfohlen hatte. Hotel Milan du Lac.«

»Da mieten wir uns auch ein!«

Den Rest des Tages verbrachte ich mit Reisevorbereitungen. Wagen auftanken, Route berechnen, Proviant zusammenstellen und die neuesten Karten beschaffen. Ich schaute mir den Lago Maggiore im Internet an: Er war sehr länglich geformt. Urlaubsorte reihten sich wie Perlen aneinander. Ein Touristengebiet mit Tradition. Seit einhundertfünfzig Jahren tummelten sich dort Besucher aus aller Herren Länder und genossen die Annehmlichkeiten der Gegend: mildes Klima, Palmen, Oleander und Wellness- und Medizinangebote, die Leute über fünfzig zu schätzen wissen.

Mit Brot wirft man nicht

Hart gekochte Eier sind die beste Nahrung für lange Autofahrten. Sie sättigen, sind einfach zu bedienen und ihre Verdauung macht nicht schläfrig. Ein Klecks Senf oben drauf gibt ihnen eine angenehme Würze. Das galt freilich nicht für Pöppelbaum. Er jammerte nach Schnitzel und Pommes, wann immer eine Autobahnraststätte angezeigt wurde.

Kurz vor Darmstadt signalisierte die Benzinuhr Alarm und ich ließ mich breitschlagen. Die Sonne schien. Die Raststätte verfügte sogar über eine Außenterrasse, die einen aufregenden Blick auf Parkplatz, Tanke und die sechsspurige Fahrbahn zuließ.

Selbstbedienung. Wir schnappten uns jeweils ein schmieriges Tablett und begaben uns zur Essenstheke. Als die Mitarbeiterin des Gourmettempels uns kommen sah, zerstörte sie mit einer Kelle den Trockenfilm auf einer rotbraunen Soße und holte die darin befindlichen Dinge an die Oberfläche. Roulade vom Biorind – war auf einer Schiefertafel zu lesen. Mit Kartoffeln oder Pommes: 11,99 Euro.

Bevor er bestellen konnte, entdeckte Wayne den Preis. Stumm zogen wir an dem Tresen vorbei. Die Thekenkraft drückte die daumengroßen Fleischrollen in die Soße zurück.

Ich begnügte mich mit einem Kännchen Kaffee zu acht Euro, Wayne holte sich ein Baguettebrötchen zum Dumpingpreis von sieben Euro, musste dafür aber in Kauf nehmen, dass die Käseränder hochgebogen waren und das Salatblatt eine braune Färbung angenommen hatte. Er aß seine Mahlzeit nicht auf.

»Heute Abend gibt es was Gutes«, versprach ich. »Dann haben wir die Hälfte der Strecke geschafft. Wir suchen uns einen kleinen Gasthof zum Übernachten. Am besten kurz vor der Schweiz. Möchtest du nicht doch ein hart gekochtes Ei?«

Ein paar Stunden später verließen wir die Autobahn. Mein Kopf brummte von den Fahrgeräuschen und in meinem Magen lärmten die harten Eier nun doch.

»Soll ich nicht mal fahren?«, fragte Wayne.

»Nee, lass mal. Die letzte halbe Stunde schaffe ich noch.«

»Ich hätte dich ja schon längst abgelöst«, sagte Wayne, »aber du bist ja ziemlich komisch mit deinem Wagen.«

»Der Golf ist alt und hat Macken. Und die kenne nur ich.«

»Schlimmer als deine können die nicht sein.«

»Mit denen kommst du ja auch nicht klar.«

Je weiter wir nach Süden kamen, desto schöner wurde die Landschaft. Alles wirkte extrem sauber. Nirgends eine alte Zeitung oder eine Plastiktüte – wie staubgesaugt. Weinberge wechselten sich mit tiefgrünen Wäldern ab. Auf den Feldern wuchsen Mais, Hirse, Tabak und Obst. An fast jeder Straßenkreuzung deutete eine Tafel den Weg zu einer Herzklinik oder einem Reha-Zentrum. Es war Nachsaison und viele Gasthäuser hatten ihre Zimmer-frei-Schilder nach draußen gestellt. Trotzdem erwies es sich als schwierig, zwei Einzelzimmer zu bekommen. Die Hotellerie schien Paare als Gäste zu bevorzugen.

Als es dunkelte, gaben wir auf und nahmen ein Doppelzimmer mit zwei einzelnen Betten.

»Schnarchst du?«, hoffte ich.

»Nein. Du?«

»Ja.«

Wayne schüttelte ungläubig den Kopf.

Wir trugen unser weniges Gepäck nach oben und statteten der Gaststube einen Besuch ab. Es gab nur noch Semmelknödel mit frisch gepflückten Pfifferlingen aus dem Schwarzwald.

Doch das Essen war üppig und lecker. »Es geht nichts über Pilze, die direkt aus dem Wald kommen«, schwärmte ich. Der Hauswein passte gut dazu: unauffällig, aber angenehm.

Am Nebentisch saß eine einheimische Familie mit einem kleinen Mädchen im Prinzessinnenlook. Das Kind bewarf die Gäste mit Brotstücken und die Getroffenen mussten das niedlich finden. Lilli – so der Name der Kleinen – stand schließlich mit wurfbereitem Arm auch vor mir.

»Bleib cool, Grappa«, raunte Wayne. »Die will nur spielen.«

Ich griff ebenfalls nach einem Stück Brot und hob die Hand. Lilli schaute mich empört an, drehte sich zu ihren Eltern um und schrie wütend los.

So wurde ich zwar nicht zur Zielscheibe für eine Brotattacke, musste mir aber die bösen Blicke der übrigen Gäste gefallen lassen.

»Lass uns noch einen Schoppen Wein bestellen«, schlug ich vor. »Und den trinken wir im Garten.«

Draußen legte Wayne seinen Tablet-PC auf den Tisch. »Der Gotthardpass ist frei«, stellte er fest. »Wir fahren über die Berge. Das wird klasse! Bis Stresa sind es nur noch so vierhundert Kilometer.«

Die Bedienung brachte den Wein. Das Licht der Lampen, die in den Kastanien hingen, spiegelte sich milchig in den beschlagenen Gläsern.

»Grappa, du bist so still! Was ist los?«

»Ich überlege gerade, wie wir vorgehen sollen«, sagte ich. »Wir mieten uns im Hotel Milan du Lac ein. Und dann?«

»Erst mal zum Tatort, ist doch klar. Ich brauch doch etwas zum Fotografieren.« Wayne tippte auf sein Tablet. »Guck mal.« Er schob mir den PC hin.

»Hier ist Stresa. Diese Straße da führt am See entlang und bei Meina – das liegt hier – geht es rechts nach Pisano. Also muss es in dem Wald hier passiert sein. Von Stresa aus gibt es keine andere Piste nach Pisano. Zumindest nicht für Touristen, die die Gegend nicht kennen.«

Wir bestellten noch einen Krug Wein, betrachteten die beleuchtete Burgruine der Burg Staufen und beschlossen schließlich, ins Bett zu gehen.

Auf dem Weg zum Zimmer stieß Pöppelbaum mit einer Küchenhilfe zusammen, die den Abfall wegbrachte. Leere Konservendosen kullerten auf den Boden. Auf dem Etikett war zu lesen: Waldkauz-Pfifferlinge, unsortiert, Herkunftsland: Tschechien.

»Es geht doch nichts über Pilze, die direkt aus dem Wald kommen«, grinste Wayne.

Hirn in der Leberwurst und Oldtimer in den Bergen

Natürlich schnarchte der Bluthund doch. Mal hörte er sich an wie eine gequälte Katze, dann wieder wie ein grunzendes Wildschwein, um schließlich – im Morgengrauen – das Pfeifen eines lungenkranken Esels zu imitieren. Es geht doch nichts über Brehms Tierleben im Nachbarbett!

Der Handy-Alarm signalisierte, dass die Nacht vorbei war. Ich duschte als Erste und vermied es, vorher in den Spiegel zu schauen. Der örtliche Weißwein war arg süffig gewesen – und ich hatte wohl mindestens einen Liter davon vernichtet.

Murrend torkelte anschließend Wayne ins Bad. Er hielt sich den Schädel, warf mir einen bösen Blick zu und murmelte Unverständliches. Der Tag begann sehr vielversprechend.

Im rustikalen Frühstücksraum erwartete uns eine mitteilsame Kellnerin. Bevor der erste Kaffee kam, kannte ich ihr halbes Leben. Ich hasste es, vor dem Frühstück zugetextet zu werden. Doch Wayne hatte anscheinend Interesse an der Geschichte. Die ging so: Die Frau hatte studiert und war Inhaberin einer eigenen Firma gewesen, dann wurde sie ganz bös krank, verlor alles und jobbte jetzt als Frühstückskraft. Immerhin hatte ihr neuer Freund einen »großen Laden« in Hamburg und wollte sie bald heiraten.

»Ich kann mir denken, was der Kerl für einen Laden hat«, flüsterte ich.

»Sei nicht so böse, Grappa«, nörgelte Wayne.

»Ich bin wie immer«, muffelte ich.

»Eben.«

Ich griff zu einer liegen gelassenen Blöd-Zeitung. Schimpansen erkennen sich am Hintern – titelte das Blatt. Das Wort Arschgesicht bekam schlagartig eine neue Bedeutung.

Die Frühstückskraft brachte den Teller mit den Delikatessen, die als Brotbelag im Angebot waren: Marmeladetöpfchen, Schmelzkäseecken und Feine Delikatess-Leberwurst. Beherzt griff ich nach Letzterer und verteilte die cremige Pampe auf der Schnittfläche des Brötchens.

»Weißt du eigentlich, was in Leberwurst so alles drin ist?«, fragte Wayne.

»Leber?«, mutmaßte ich.

»Kaum. Muskelfleisch, Speck, Innereien, ein bisschen Leber und die Dinge, die keiner will: Lunge, Herz, Hirn – vor allem Hirn!«

Ich schob ihm meinen Teller hin. »Hirn? Iss!«

Die Fahrt über den Gotthardpass bot atemberaubende Ausblicke. Ich mochte die Berge sehr – selbstverständlich nur zum Angucken und wenn ich sie mit dem Cabrio befahren konnte. In der ersten Haarnadelkurve würgte ich den Motor des alten Golf ab, doch bald hatte ich den Bogen raus. Störend waren allerdings die vielen Radfahrer, die sich die Berge hochmühten.

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass auf den schönsten Straßen dieser Welt immer Rudel von Radlern unterwegs sind? Du denkst an nichts Böses, und schon kommen sie dir in einer Kurve entgegen und meckern auch noch, wenn sie geschnitten werden. Und meist sind es ältere Kerle mit verbissenen Gesichtern und Klobrillenbart.«

»Sei nicht so hart, Grappa! Die haben alle den Herzinfarkt überlebt und befinden sich im Aufbautraining«, erklärte Pöppelbaum.

»Da finde ich diese Art, die Alpen zu bereisen, schon cooler«, meinte ich und deutete auf einen Konvoi von Oldtimern. »Hätte ich nicht gedacht, dass diese alten Möhrchen noch solche Steigungen schaffen.«

»Die Autos oder die Männer?«

»In dem Fall die Autos.«

Nachdem wir den Gotthardpass überwunden hatten, änderte sich das Klima. Es wurde noch milder und bald entdeckten wir auf einem Dorfplatz die ersten Palmen.

Am Nachmittag erreichten wir die italienische Grenze. Zollbeamte standen in der Sonne und winkten uns lächelnd durch.

Kurz vor Stresa tankte ich den Wagen auf. Es ist immer gut, in fremder Umgebung über reichlich Benzin zu verfügen. Beim Bezahlen versorgte ich mich mit den Straßenkarten der Gegend.

Erntedankfest am Lago Maggiore

Das Hotel Milan du Lac thronte nah am See, nur durch die Hauptstraße und einen Parkplatz vom Wasser getrennt. Es handelte sich um einen großen Kasten mit über dreihundert Betten auf mehreren Etagen. Von Stegen am Ufer hinter dem Parkplatz fuhren Ausflugsboote zur Isola Bella und zu weiteren kleinen Inseln. Touristenbusse spuckten ihre Fracht auf dem Parkplatz aus. Rollatoren wurden aufgeklappt und Gehstöcke hervorgezerrt. Wayne und ich senkten das Durchschnittsalter signifikant.

An der Rezeption fragten wir nach unseren Einzelzimmern. Sie lagen in der dritten Etage. Leider ohne Ausblick auf See oder Berge. Stattdessen wiesen die Fenster in einen engen, schmutzigen Innenhof mit verrosteter Feuerleiter. Egal, wir waren ja schließlich zum Arbeiten hier.

Ich machte mich frisch, griff zum Handy und wählte. Kleist meldete sich sofort.

»Hier ist Maria. Rate mal, wo ich bin?«

»Du, ich habe gerade gar keine Zeit.«

»Warst du schon am Tatort? Gibt es Spuren, die auf einen Täter hinweisen?«

»Ich kann jetzt wirklich nicht mit dir sprechen.«

»Ich bin am Lago Maggiore.«

»Wie bitte?« Jetzt hatte ich seine Aufmerksamkeit.

»Du hast schon richtig verstanden«, erklärte ich. »Ich arbeite an einer Reportage über die Morde in Pisano. Pöppelbaum logiert im Zimmer nebenan. Kannst du uns helfen?«

Der Hauptkommissar seufzte tief. Das war ein gutes Zeichen, denn sein Seufzen erfolgte meist unmittelbar vor der Kapitulation.

»Wo seid ihr untergekommen?«

Ich sagte es ihm.

»In einer Stunde bin ich bei euch. Vielleicht ist es umgekehrt und ihr könnt mir helfen.«

»Wie meinst du das?«

»Abwarten.« Er beendete das Gespräch.

Das ist doch ein guter Einstieg, dachte ich zufrieden.

Wayne wartete im Foyer. Er hatte seine kleine Kamera in der Hand und knipste die Anwesenden unauffällig und aufs Geratewohl.

»In einer Stunde ist Kleist da.«

»Echt? Der frisst dir ja regelrecht aus der Hand!«, rief er aus.

»Das täuscht«, entgegnete ich. »Er deutete an, dass er unsere Hilfe braucht. Hast du dein Tablet dabei?«

»Klar.« Er zog es aus der Fototasche.

»Danke, ich muss mich mal aktualisieren.«

Das Web verriet mir, dass es noch keine neue offizielle Stellungnahme zu den Morden in Pisano gab. Allerdings ergingen sich die Boulevardblätter und Privatsender in originellen Spekulationen. Hatte Steuerberater Mahler Geld seiner Mandanten veruntreut? Waren die Mandanten Mafiabosse, die sich gerächt hatten? War Mahler in den Ankauf von Steuer-CDs aus der Schweiz verwickelt? Oder war gar nicht Mahler, sondern der junge Israeli das Ziel der Mörder gewesen? Al Kaida oder Hamas?

Ich war gespannt, was Kleist uns zu erzählen hatte.

Ich gab Wayne sein Tablet zurück und ging zum Tresen, hinter dem zwei Empfangsdamen residierten. Ich suchte mir die mit der schöneren Frisur aus, sie erinnerte an ein Erntedankgesteck der letzten Saison.

»Do you speak German?«, fragte ich in geschliffenem Englisch.

»Wie kann ich Ihnen helfen?« Die andere Dame erstickte meinen Versuch, polyglott zu scheinen, im Keim.

»Ich suche meine Freunde. Familie Mahler. Vier Personen. Wir wollten uns hier in diesem Hotel treffen, aber ich kann sie auf dem Handy nicht erreichen.«

»Mahler?« Die Mädels schauten sich vielsagend an und tuschelten auf Italienisch. Ich verstand nur die Worte polizia und assassino.

»Sie müssen die Polizei fragen.«

»Polizei?«, fragte ich, die Verwirrte spielend.

»Ja, die Polizei. Die Familie ist nicht mehr in Stresa.«

»Sind sie schon abgereist? Und was hat die Polizei damit zu tun?«

»Das müssen Sie die Polizei fragen.«

Ich kehrte zu Pöppelbaum zurück. »Die netten Damen sagen nichts«, berichtete ich.

»Das war nicht zu überhören«, meinte er. »Guck mal!« Er reichte mir seine Kamera. »Dieser Herr hier hat sich sehr dafür interessiert, was du zu fragen hattest.«

Im Display erschien ein älterer Mann mit weißem, halblangem Haar, zerfurchtem Gesicht, kantigem Kinn und Sonnenbrille.

»Wer ist das?«

»Ein Hotelgast – vermute ich. Er blieb stehen und bekam große Ohren, als du den Namen Mahler nanntest.«

»Hm. Vielleicht ist er ein Bulle, der hier im Hotel nach Hinweisen sucht.«

»Oder er ist der Mörder!«

»Bestimmt!«, lachte ich. »Wir sind gerade mal drei Stunden in Italien und der Mörder läuft uns gleich über den Weg. Und wir haben sogar sein Foto.«

»Er sieht jedenfalls nicht aus wie ein harmloser Tourist«, beharrte Wayne. »Eher wie ein amerikanischer Geheimagent oder Auftragskiller.«

»Das ist ein neugieriger Opa aus Deutschland, der auf seine alten Tage Anschluss sucht«, meinte ich.

»Das könnte sein! Als du dich umgedreht hast, ist er ganz schnell im Fahrstuhl verschwunden.«

»Vermutlich bin ich nicht sein Typ«, grinste ich. »Wir werden ihn morgen bestimmt beim Frühstück sehen. Lass uns an die Bar gehen. Wir sind in Italien und haben noch keinen Wein getrunken.«

»Ein Skandal«, nickte Pöppelbaum. »Wenn dein Kerl anrückt, bist du wenigstens in guter Stimmung.«

»Er ist nicht mein Kerl«, widersprach ich. »Wir sind nur gute Freunde.«

»Ja, und die Erde ist eine Scheibe.«

Wir platzierten uns so, dass wir den Eingang im Blick hatten. Der Verkehr auf der Straße ließ nach, die letzten Touristenbusse luden ihre Gäste aus und die Schiffe lagen leer im Wasser.

»Ich hab einen Riesenhunger«, stellte Wayne fest.

»Ich auch.«

»Nebenan ist ein schönes Restaurant.«

»Kleist müsste jeden Augenblick hier sein.«

Ich hatte recht. Im nächsten Moment stoppte ein Polizeiwagen direkt vor dem Hoteleingang. Kleist entstieg ihm, redete noch ein paar Worte mit dem Fahrer und trat durch die Tür ins Foyer. Das Mädel an der Rezeption fiel aus seinem Phlegma und reichte Kleist einen Schlüssel.

»Der wohnt ja auch hier«, wunderte sich Wayne.

»Warum soll er nicht so schlau sein wie wir«, gab ich zurück und rutschte vom Barhocker.

»Maria!« Kleist hatte mich entdeckt.

Ich spürte eine jähe Freude. Er küsste mich auf die Wange und begrüßte Pöppelbaum.

Italienisches Essen und Hunger am langen Arm

Auf unserem kleinen Erkundungsgang durch die Straßen musterte ich die Speisekarten diverser Restaurants und Trattorien. Hoffentlich kannten sich die Betreiber mit dem Würzen ihrer Speisen so gut aus wie mit dem Pfeffern der Preise. Eine halbe Stunde später saßen wir vor einem Restaurant auf harten Stühlen und studierten die mehrsprachig angebotenen Gerichte. Eine Liveband machte sich spielbereit. Auf Plakaten war zu lesen, dass in Stresa gerade ein Musikfestival stattfand. Die ersten Klänge irischer Volksmusik waren zu hören.

Kleist wirkte heiter und entspannt. Panamahut und Leinenhemd standen ihm gut und manch wohlwollender weiblicher Blick blieb an ihm haften.

Wir bestellten Pasta-Variationen, Salat und Vino de la Casa. Eine Unterhaltung war nicht möglich. Die Musik übertönte jeden Satz. Kleist und ich kommunizierten mit Blicken, Wayne verdrehte die Augen, widmete sich dem Rotwein und der Begutachtung der weiblichen Touristenschaft. Endlich packte die Band ihre Instrumente wieder ein.

»Ich möchte gern etwas mit euch besprechen«, kam Kleist schnell zum Punkt. »Hört mir einfach zu und sagt dann eure Meinung.«

Das ist ja eine ganz neue Taktik, dachte ich und nahm einen Schluck Wein.

»Ich bin nach Italien abgeordnet worden, um die hiesigen Kollegen zu unterstützen. Ich informiere sie über die Ermittlungen in Deutschland. Umgekehrt sollen mir die Italiener Einblick geben in das, was sie herausfinden, damit wir in Deutschland weiterkommen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass die mich am langen Arm verhungern lassen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Sie haben mir eine Dolmetscherin zur Verfügung gestellt, die gleichzeitig Polizistin ist. Zuerst klappte es ganz gut mit uns. Ich war dabei, als die Hotelzimmer der Opfer untersucht wurden, man stellte mir die Unterlagen der Spurensicherung zur Verfügung und zeigte mir den Tatort. Alle waren freundlich und zuvorkommend. Seit heute Morgen ist das anders.«

»Wie meinst du das?«

»Die Dolmetscherin übersetzt nicht mehr korrekt. Man hat mir ein sehr wichtiges Detail vorenthalten, das für die Aufklärung des Falles von erheblicher Bedeutung sein könnte.«

»Wie kannst du beurteilen, dass die Übersetzerin schlampt?«, wollte ich wissen.

»Ich kann Italienisch.«

»Das hast du nicht gesagt?«

»Wenn man der Wahrheit auf der Spur ist, sollte man nicht zu viel von sich selbst preisgeben«, grinste der Hauptkommissar. »So kann man seine Gegner in Sicherheit wiegen.«

»Du siehst die italienischen Kollegen als Gegner?«

»Anfangs nicht, jetzt schon. Bei David Cohn, einem der Opfer, wurde bei der Obduktion ein USB-Stick gefunden. Er hat ihn kurz vor seiner Ermordung verschluckt. Ich bekam mit, wie die Dolmetscherin angewiesen wurde, mir davon nichts zu sagen.«

»Das ist ja ein Ding!«

»David Cohn war Journalist. Er wollte sich hier in Italien mit jemandem treffen. Er erkundigte sich an der Rezeption nach einem bestimmten Hotel in Meina. Doch man konnte ihm nicht helfen, denn er geriet an einen Hotelangestellten, der aus dem Kosovo stammt.«

»Wo ist Meina?«

»Das ist ein kleiner Ort ein paar Kilometer von hier entfernt.«

»Was weißt du noch über David Cohn?«

»Nicht viel. Er war der Neffe von Frau Mahler und zu Besuch bei seinen Verwandten. Im Netz findest du einige Artikel, die er geschrieben hat. Meist historische Sachen, Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit, Probleme des Zionismus …«

»Er ist Israeli. Vielleicht ist die Tat politisch motiviert«, sinnierte ich. »Kaltblütige Hinrichtung im Wald, ein Journalist, der an einer Geschichte arbeitet, die ihm so wichtig ist, dass er im Angesicht des Todes seine Informationen verschluckt, weil er sie weitergeben oder sogar retten will …«

»Bisschen theatralisch, Grappa-Baby!«, mischte sich Wayne ein.

»Der ganze Fall ist hochtheatralisch. Genau so eine Geschichte habe ich mir mal wieder gewünscht.« Ich nahm noch einen Schluck Wein. »Was ist eigentlich mit dem toten Radfahrer?«

»Es ist immer noch nicht bekannt, wer er ist. Die Kollegen arbeiten die Vermisstenfälle ab. Der Mann hatte keinerlei Papiere bei sich. Sein Fahrrad ist von deutscher Herkunft. Vielleicht war er einfach ein Tourist. Wenn er allein reiste, können Wochen vergehen, bis sein Verschwinden auffällt.«

»Und wie können wir dir nun helfen?«

Kleist überlegte kurz und sagte dann: »Schreib einen Artikel und stell ihn online.«

»Das hab ich sowieso vor.«

»Diese Provinzkollegen hier sind überfordert. Außerdem traue ich ihnen nicht. Die Ermittlungen sollten von Interpol oder dem Bundeskriminalamt geführt werden.«

»Und wie kriegen wir das hin? Was müsste in dem Artikel stehen?«

»Du hast aus einer sicheren Quelle von dem USB-Stick erfahren und stellst den Behörden unbequeme Fragen, wie es sich für eine brave investigative Journalistin gehört.«

Gegen Mitternacht war der Artikel fertig.

Fünffachmord am Lago Maggiore –
Was verschweigen die Behörden?

Aus Italien berichtet unsere Reporterin Maria Grappa

Blutbad in Italien: Fünf Menschen wurden in einem Wald brutal hingerichtet. Vier von ihnen sind identifiziert: Norbert und Elise M., 56 und 50 Jahre alt, ihre Tochter Melanie (23) und David C., ein 29-jähriger Verwandter der Familie aus Israel. Der ebenfalls ermordete Radfahrer konnte noch nicht identifiziert werden. Die Ermittler gehen davon aus, dass es sich um ein Zufallsopfer handelt; dass er getötet wurde, um ihn als Zeugen des Massakers auszuschalten.

Erste Recherchen unserer Zeitung in Italien ergaben: David C., von Beruf politischer Journalist, arbeitete an einem brisanten Enthüllungsbericht. Galt der Anschlag nicht der Familie, sondern ihm? Wurden seine Verwandten und der Radfahrer nur hingerichtet, um das wahre Motiv der schrecklichen Tat zu vertuschen?

Informationen aus dem internen Kreis der Ermittler nähren diese Spekulation: Bei der Obduktion wurde ein USB-Stick mit Daten entdeckt, den David C. unmittelbar vor seinem Tod verschluckt hat. Die italienischen Behörden haben eine Nachrichtensperre verhängt.

Ich versandte den Artikel und schrieb noch ein paar Zeilen dazu, die an Schnack gerichtet waren:

 

Lieber Kollege, alles läuft wie vorgesehen. Haben Kontakt zu italienischen Behörden. Weiterer Bericht folgt.

Grüße aus Italien,

Grappa

Eine italienische Versuchung taucht auf

Am nächsten Morgen legte ich Kleist den Artikel vor. Er las gründlich und runzelte einige Male die Stirn.

»Was ist?«, fragte ich.

»Die werden natürlich ahnen, dass du die Informationen von mir hast. Aber egal. Vielleicht kommen dafür die Profis zum Zuge.«

»Und du? Bist du dann bei den Ermittlungen nicht außen vor?«

»Nein. Ich habe gute Verbindungen zum BKA. Die Kollegen warten darauf, dass sie sich offiziell einschalten können.«

»Wirst du keinen Ärger kriegen?«

Polizia di Stato