PORTERVILLE

Edition I

Folgen 1-6

Raimon Weber

Anette Strohmeyer

Simon X. Rost

John Beckmann

- Originalausgabe -

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-942261-49-4

Lektorat: Hendrik Buchna

Cover-Gestaltung: Ivar Leon Menger

Fotografie: iStockphoto

Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

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Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen! Ivar Leon Menger

Folge 1

„Von Draußen“

Raimon Weber

Prolog

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger von Porterville! Im Angesicht nie gekannter Gefahren ist es mein unumstößliches Ziel, die Freiheit und Sicherheit unserer wunderschönen Stadt zu bewahren. Und ich gelobe feierlich: Ich werde jeden einzelnen von euch, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, wieder heil nach Hause bringen.“

Angus Hudson

Bürgermeister von Porterville

- 1 -

Porterville ist Geborgenheit und Glück!

Draußen bedeutet Verlust und Chaos!

Ich fixiere die Leitsätze unter dem Portrait des Bürgermeisters Takumi Sato an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Es hätte auch jeder andere Punkt im Klassenzimmer sein können. Ein winziger Schmutzfleck oder ein vergessener Klebestreifen, an der einst ein Poster mit gut gemeinten Ratschlägen hing.

Ich kann mich noch genau an die bunten Poster erinnern, die damals im monatlichen Rhythmus wechselten. Wenn sie von der Klassenleiterin an die Wand geheftet wurden, folgte im Anschluss stets eine zweistündige Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema. Dabei ging es um Körperhygiene, Energieeinsparung oder Mülltrennung. Oder, wie vor drei Jahren, um Partnerschaft. Das Motiv habe ich mir eingeprägt. Das Poster war durch eine rote Linie in zwei Hälften geteilt. Auf der linken betrieb eine Gruppe junger Mädchen Gymnastik, in dem sie überaus geschickt bunte Bänder durch die Luft wirbeln ließen. Die rechte Seite zeigte vier Jungen mit verbissenen Gesichtern, die um einen Football rangen. Drei von ihnen lagen bereits am Boden, der vierte, ein mächtiger Bursche mit Kriegsbemalung, warf sich gerade auf sie. Er war inmitten des Sprungs festgehalten worden, so dass er trotz seines massigen Körpers wie schwerelos wirkte.

Über den gegensätzlichen Szenen prangte die Losung: Lebt eure Jugend! Lasst euch Zeit!

Unsere damalige Klassenleiterin hatte uns klargemacht, dass man die kostbare Zeit der Jugend nicht mit Schwärmereien für das andere Geschlecht vertun soll. Dafür wäre im späteren Leben noch genügend Zeit. Außerdem seien flüchtige Emotionen ohnehin nicht dazu geeignet, um eine Partnerschaft einzugehen. Die städtische Instanz für Lebensgemeinschaften würde in jedem Einzelfall erkennen, wer füreinander bestimmt ist. Und auch den richtigen Zeitpunkt mitteilen. Bis dahin hat all unser Streben dem Wohl der Stadt Porterville zu dienen.

Damals, als Zwölfjährige, klang das für mich plausibel. Wer, wenn nicht die zuständige Instanz, sollte wissen, was richtig ist. So ist es doch in allen Bereichen. Doch als ich Jonathan vor drei Monaten kennenlernte, wuchsen in mir Zweifel an der Richtigkeit.

Während ich die Leitsätze anstarre, denke ich nur an Jonathan. Mrs. Gratschow referiert monoton über ethische Grundlagen der Gemeinschaft. Ihre Sätze zerfasern in meinem Kopf zu einem monotonen Rauschen.

„Miststück!“, kreischt Carmen neben mir.

Ich blicke zur Seite. Ein Greybug, ein besonders fettes Exemplar mit mindestens drei Zentimeter Durchmesser, krabbelt vor ihr über die Tischplatte.

Carmen schlägt mit der Faust auf den Tisch. Die Vibration lässt den Greybug auf der Stelle verharren. Carmen zückt ihr Cuttermesser und schneidet das Ding in der Mitte durch. Dabei muss sie einige Kraft aufwenden. Ein Greybug ist sehr zäh. Eine gelbliche Masse dringt aus den Körperhälften. Zum Glück ist sie absolut geruchlos. Greybugs stinken nicht, sie fressen dafür aber alles Mögliche an. Kunststoff, Holz, Kleidung und natürlich Lebensmittel. Es heißt, sie würden auch nicht vor hilflosen Menschen zurückschrecken. Kranke und Säuglinge verbringen die Nächte daher unter einem Netz aus Leichtmetall.

„Gut gemacht!“, vernehme ich Mrs. Gratschows Stimme. Sie eilt mit einer Sammelbox herbei. Die Lehrerin streift sich Latexhandschuhe über, lässt die beiden Hälften des Greybugs in der metallenen Box verschwinden und reicht meiner Nachbarin ein Papiertuch, um den Tisch abzuwischen.

Mrs. Gratschow schüttelt den Kopf. „Die Viecher werden immer aufdringlicher“, murmelt sie und schaut kurz in die Sammelbox. Ich vermute, dass sich darin schon mehrere Dutzend Exemplare befinden müssen. Das Ergebnis von weniger als einer Woche.

Ein Gongschlag beendet in diesem Moment den Unterricht. Alle Mädchen stehen wie in einer einzigen Bewegung auf, verharren kerzengerade und sehen zu, wie Mrs. Gratschow sich dem Bild des Bürgermeisters zuwendet und eine Verbeugung andeutet. Dann sind wir an der Reihe, Takumi Sato unsere Ehrerbietung zu erweisen.

Was wird der Bürgermeister dazu sagen, wenn er erfährt, dass ich mich ausgerechnet in seinen Enkel verliebt habe? Entgegen aller Vorschriften.

Beim Verlassen des Klassenraums treffe ich auf dem Flur den Hausmeister. Er ist das einzige männliche Wesen in diesem Teil der Schule. Mädchen und Jungen werden getrennt unterrichtet.

Der Hausmeister sprüht etwas aus einer grellroten Flasche in einen schmalen Spalt auf dem gefliesten Fußboden. Gift gegen die Greybugs, vermute ich. Manchmal bebt die Erde. Erst in der letzten Nacht wurde ich durch eine Welle von Erschütterungen wach. Fundamente verschieben sich, Risse entstehen auf Straßen und an Gebäuden. Daraus kommen dann die widerlichen Greybugs hervor. Ovale, graue Käfer ohne Kopf und sichtbare Sinnesorgane. Sie sind extrem widerstandsfähig. Wenn man versucht, sie zu zertreten, glaubt man nachgiebiges Gummi unter der Schuhsohle zu spüren. Anschließend flitzen sie völlig unversehrt davon. Man muss sie vergiften, zerschneiden oder verbrennen.

Ich habe jetzt einige Stunden Freizeit, die ich bei meinem Großvater verbringen möchte. Er ist der einzige Verwandte, den ich habe. Ich glaube, dass er nur mir zuliebe noch nicht gestorben ist. Obwohl er sehr krank ist und unter ständigen Schmerzen leidet. Meine Besuche, so betont er immer wieder, sind die einzigen Lichtblicke in seinem ansonsten so tristen Dasein. Manchmal, von einem Moment zum anderen, beginnt er zu weinen. Wenn ich ihn nach dem Grund frage, gibt er mir keine vernünftige Antwort.

An meine Eltern kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich war keine zwei Jahre alt, als sie durch das Draußen getötet wurden. Wie alle aus ihrer Generation.

Im Bedarfs-Center werde ich ein kleines Geschenk für Großvater besorgen.

- 2 -

Die Bedarfs-Center sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Das Größte befindet sich zum Glück in der Nähe der Schule. Hier kann man sicher sein, fast alles Notwendige zu bekommen. Das Center ist im Parterre eines riesigen Gebäudes untergebracht. Von außen wirkt es mit seinen Erkern und Verzierungen, umrahmt von quadratischen Wohn- und Verwaltungsblöcken, völlig deplaziert. Ich will gerade die ausladenden Treppenstufen erklimmen, als ein riesiger Schatten über den Himmel gleitet. Ich richte den Blick reflexartig in die Höhe. Doch was immer da über die Stadt gleitet, ist zu schnell, um von mir erfasst zu werden. Normalerweise gibt es nichts Ungewöhnliches am Himmel zu entdecken. Wolken und Sonne am Tag, unzählige Sterne und einen blassen Mond in der Nacht. Und den Regen. Aber der kann uns nicht erreichen. Die Tropfen prallen am Schutzschild ab.

Jetzt bemerke ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder den Spruch über dem Eingang des Bedarf-Centers.

Beurteile den Tag nicht nach dem was du geerntet hast, sondern danach, was du ausgesät hast.

Die einzelnen Wörter sind verblasst. Irgendwann in naher Zukunft werden sie vollständig verschwunden sein. Sie passen so gar nicht an diesen Ort. Vielleicht weiß Großvater etwas über den Ursprung der Worte.

Im Eingangsbereich stehen noch mehrere Einkaufswagen. Würden alle benutzt, müsste ich warten, bis ein Kunde seinen Wagen nicht mehr benötigt und ihn wieder abstellt. Manchmal bilden sich so lange Warteschlangen, aber dafür herrscht im Inneren des Centers nie ein Gedränge.

Heute ist der hintere Teil des Centers unbeleuchtet und durch gelbe Bänder abgesperrt. Das bedeutet, dass es weder Fleisch, noch Obst oder Gemüse gibt. Bei diesen Nahrungsmitteln kommt es immer wieder zu Engpässen, da sie von Tieren und Pflanzen stammen, die innerhalb der Stadt gezüchtet werden. Nahrung von außerhalb ist, so haben Untersuchungen in der Vergangenheit gezeigt, ungenießbar und nicht selten sogar hochgiftig.

Die Regale sind mäßig gefüllt. Nur die Dosen mit der gelben Beschriftung Supreme sind allgegenwärtig. Sie enthalten eine hellbraune, halbfeste Masse, die durch Erhitzen ein entfernt nussig schmeckendes Aroma entwickelt. Supreme enthält alle lebensnotwendigen Nährstoffe. Nimmt man zusätzlich ausreichend Flüssigkeit zu sich, benötigt man eigentlich keine anderen Lebensmittel. Aber der Bürgermeister und seine Mitarbeiter setzen natürlich alles daran, den Menschen Abwechslung, ja, sogar ein wenig Luxus zu ermöglichen. Letzte Woche gab es jeden Tag Speiseeis.

Zu meiner Freude entdecke ich in einer Regalreihe eine kleine Schachtel Schokomints. Ich weiß, dass Großvater sie ganz besonders mag. Sie kostet nur noch acht Mac-Kingsley-Punkte. Früher lag der Preis bei einem nahezu unerschwinglichen Boy. Ich hole die Karten aus meiner Jackentasche: drei Zweier, zwei Vierer. Das ist nicht viel. Normalerweise würde ich mit den Karten an der Kasse ein Spielchen wagen. Gewinne ich die Partie, gibt es die Schokomints umsonst und vielleicht sogar ein paar Extrapunkte. Aber heute will ich das Risiko nicht eingehen. Auf dem Schulhof habe ich bereits zwei wertvolle Neuner verloren. Ausgerechnet an Debra, die Klassenzicke. Nach meiner Niederlage hat sie ein so hämisches Gesicht gezogen, dass ich ihr am liebsten die Nase gebrochen hätte.

An der Wand hängt ein riesiges Plakat. Darauf ist natürlich Bürgermeister Sato abgebildet. Er tätschelt einer Kuh den mächtigen Schädel. Diese Tiere kenne ich nur aus dem Biologie-Unterricht. Ich habe keine Ahnung, wo das Foto gemacht wurde. Tier und Bürgermeister scheinen auf einer Wiese zu stehen. Im Hintergrund sind weitere Kühe zu erkennen. Im blauen Plakathimmel prangt in schwungvollen Lettern der Slogan Trinkt mehr Milch!

Ich kann mich schwach an dieses Getränk erinnern. Im Kinderhort bekamen wir es manchmal. Damals muss ich etwa vier Jahre alt gewesen sein.

Der Kassierer, ein schlaksiger junger Bursche mit enormen Ohren, erwartet mich an der Kasse.

Ich deute auf das Plakat. Es ist selbst von hier nicht zu übersehen. „Wo steht denn die Milch?“

Er blickt völlig desinteressiert. „Haben wir nicht. Vielleicht kommt sie irgendwann.“

Ich reiche dem Kassierer meine beiden Vierer-Karten.

„Oh, schade“, macht er. „Das könnte doch heute dein Glückstag sein.“ Wie alle in Porterville liebt er das Spiel mit den Mac-Kingsleys.

„Oder deiner!“, erwidere ich und versuche, dabei nicht auf seine abstehenden Riesenlauscher zu starren.

Schade, denke ich, Großvater hätte sich bestimmt über etwas Milch zu den Schokomints gefreut.

- 3 -

Ich habe zwar einen eigenen Schlüssel zu Großvaters Wohnung, aber der Höflichkeit halber kündige ich mein Kommen immer durch zweimaliges Drücken auf den Klingelknopf an. Dann warte ich einen Moment. Manchmal geht es Großvater gut genug, um aufzustehen und die Tür von innen zu öffnen. Heute bleiben seine schlurfenden Schritte aus. Ich betrete den Flur und rufe halblaut: „Großvater! Ich bin es!“

Keine Antwort. Es ist absolut still in der Wohnung. Staubpartikel blitzen in einem gebündelten Sonnenstrahl, der durch den Schlitz einer dunklen Gardine vor dem Fenster dringt. In Großvaters Wohnung ist es immer düster.

„Hier ist Emily!“

Noch immer meldet er sich nicht mit seiner heiseren Stimme. Mit einem Mal bekomme ich Angst. Angst, dass er doch gestorben ist. In meiner Abwesenheit und vergessen von allen Menschen.

Ich haste ins Wohnzimmer. Großvater sitzt in seinem Lieblingssessel. Der Kopf ist ihm auf die Brust gesunken. Zu seinen Füßen liegt ein aufgeschlagenes Buch. Eine Seite ist geknickt. Großvater geht mit seinen Büchern sehr sorgsam um. Es muss ihm aus den Händen gerutscht sein, als er ...

„Großvater!“, rufe ich jetzt, so laut ich kann.

„Häh?“, höre ich ihn sagen und atme erleichtert aus. Er hustet und richtet seine Augen auf mich. Er gestikuliert fahrig mit seinen Händen.

Die Brille!, fällt mir ein. Sie liegt ebenfalls auf dem Boden. Er muss eingenickt sein, dabei ist sie ihm von der Nase gerutscht. Ich hebe die Brille auf und setze sie Großvater behutsam auf.

„Emily!“, stellt er fest und sein Blick klärt sich. Großvater entdeckt das Buch auf dem Fußboden. „Würdest du mir das bitte geben?“

„Gern.“

Er versucht, die geknickte Seite zu glätten. „Ich bin wohl eingeschlafen“, murmelt er dabei und gähnt.

„Ich habe dir Schokomints mitgebracht.“

Großvater betrachtet erstaunt die Schachtel aus Metall. „Das sollst du doch nicht. Die sind viel zu teuer.“

Ich winke ab. „Der Preis wurde auf acht Punkte gesenkt. Toll, nicht wahr?“

Er öffnet die Schachtel. Es freut mich, wie er die Lippen zu einem schmalen Lächeln verzieht und eine Weile die Köstlichkeit nur mit seinen Augen verschlingt. Zartbitter-Schokolade mit einer erfrischenden Cremefüllung aus echter Pfefferminze. Ganz langsam und vorsichtig, als könnte sie zwischen seinen Fingern zerbrechen, nimmt er eine der flachen Pralinen aus der Schachtel und steckt sie sich in den Mund.

„Bitte, Emily, greif zu.“

Wir lutschen schweigend die Schokomints. Die Umhüllung aus Schokolade ist viel süßer, als ich sie in Erinnerung habe, und als ich auf die Füllung stoße, schmeckt sie kaum noch nach Minze sondern eher nach ...

„Sie haben die Rezeptur geändert“, bemerkt Großvater.

Supreme!“, entfährt es mir. „Da ist Supreme in der Füllung. Deshalb ist es auch so billig.“

„Macht nichts“, erwidert Großvater. „Es schmeckt trotzdem noch ganz gut.“ Er stellt die Schachtel auf den kleinen Tisch neben dem Sessel.

Ich erkenne deutlich, dass er schwindelt, denn sonst hätte er nicht auf einen zweiten oder dritten Schokomint verzichtet.

„Immerhin soll es bald wieder Milch geben“, erwähne ich.

„Milch?“ Er sieht mich ungläubig an.

Ich nicke eifrig. „Im Bedarfs-Center hängt ein Werbeplakat.“

„Die machen sie garantiert auch aus Supreme“, murmelt er und fragt dann: „Wie läuft es in der Schule?“

Ich zucke mit den Schultern. „Meistens ist es langweilig.“

„Auch der Geschichtsunterricht?“ Er beugt sich ein wenig nach vorn.

Wir haben erst kürzlich die Historie von Porterville als Unterrichtsfach erhalten. Großvater ist sehr daran interessiert, was wir dort lernen. Den Inhalt der ersten beiden Geschichtsstunden hat er lediglich mit hochgezogenen Augenbrauen kommentiert.

„Würdest du bitte zusammenfassen, was man dir beigebracht hat, Emily?“

Ich erkläre ihm, dass Porterville der letzte Ort ist, an dem die menschliche Rasse noch existieren kann. Seit eine alles umfassende Katastrophe die Welt jenseits der Stadtmauern radikal verändert hat. Das geschah vor vielen Jahren. Damals regierte ein ebenso brutaler wie unfähiger Bürgermeister namens Hudson die Stadt. Er trägt die Hauptverantwortung dafür, dass eine ganze Generation vom Draußen getötet wurde. Also auch meine Eltern und die Eltern meiner Mitschülerinnen.

„Hat man dir erzählt, wie sie alle ums Leben gekommen sind?“, fragt Großvater nach.

„Noch nicht“, erwidere ich.

„Und was erfährst du über das so genannte Draußen?“

„Dass dort der Schmerz von allen Seiten angreift. Ein Mensch würde dort keine fünf Minuten überleben.“

Er schließt die Augen, presst die Lippen fest zusammen, und ich weiß, dass sein ganz persönlicher Schmerz gerade überaus heftig in seinem Körper wütet. Es dauert eine ganze Weile, bis Großvater wieder sprechen kann. Es ist furchtbar für mich, dass ich ihm nicht helfen kann. Er bekommt Medikamente, aber die scheinen seinen Zustand nicht zu verbessern, sondern höchstens zu stabilisieren.

„Glaubst du diese Dinge?“, fragt er schließlich mit schwacher Stimme.

Ich zögere mit der Antwort. Er bemerkt es und lächelt sanft. „Du weißt, dass du immer ehrlich zu mir sein kannst.“

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Manches klingt eben zu ... einfach. Es bleiben immer Fragen offen.“

„Die du hoffentlich nicht stellst“, sagt er und sein Lächeln verschwindet, als hätte er es einfach ausgeknipst. „Keine Fragen, Emily! Keine Zweifel! Dann wird dir nichts geschehen. Neugierde zahlt sich in Porterville niemals aus. Unwissenheit ist Trumpf!“

Ich nehme aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und wende mich gerade noch schnell genug zur Seite, um zu sehen, dass ein Greybug unter ein Bücherregal huscht.

„Lass ihn“, sagt Großvater, als er meine sofortige Anspannung bemerkt.

Ich habe gelernt, einen Greybug sofort unschädlich machen zu müssen.

„Die bleiben hier nicht lange“, erklärt Großvater. „Fühlen sich bei mir nicht wohl.“

Für mich ist einfach unvorstellbar, wissentlich einen Greybug zu verschonen. In meinem Zimmer im Schulheim hätte ich notfalls das Regal zerlegt, um ihn zu töten.

„Und?“, setzt Großvater an. „Was macht die Liebe?“

Ich spüre wie ich augenblicklich erröte. „Was soll die Frage?“

Er grinst und scheint mit einem Mal ganz ohne Schmerzen. „Du trägst dein Haar offen, hast dir die Augenbrauen gezupft und wenn mich nicht alles täuscht, duftest du nach parfümierter Seife. Von der ich annahm, sie wäre in der Schule verboten.“

„Aber nicht außerhalb der Schule“, erwidere ich kleinlaut.

„Wie heißt er?“, hakt Großvater nach.

Ich konnte ihm tatsächlich immer vertrauen. Wenn er jemals die Stimme erhob, was sehr selten vorkam, dann nur um mich vor irgendetwas Törichtem zu bewahren.

„Jonathan.“

„Existiert auch ein Nachname?“

Ich weiß nicht, wie er reagieren wird, wenn ich verrate, dass es sich um den Enkel des Bürgermeisters handelt.

Er wartet geduldig und ich nehme allen Mut zusammen und sage: „Jonathan Sato.“

Ich habe meinen Großvater noch nie mit einer, wie es heißt, frischen Gesichtsfarbe gesehen. Sein Teint war stets so eine Mischung aus gelb und grau. Aber jetzt wird er ganz blass, fast weiß. Er bekommt einen schlimmen Hustenanfall. Ich laufe in die Küche, um ihm ein Glas Wasser zu holen. Er trinkt es in hektischen Schlücken aus, bekommt wieder etwas Luft und krächzt: „Lass das!“

„Warum?“, frage ich. „Wegen der Instanz für Lebensgemeinschaften?“

Er wedelt hektisch mit der Hand. „Vergiss diese Instanz! Vergiss überhaupt jede beschissene Instanz!“

So habe ich ihn noch nie reden gehört.

„Du darfst dich nicht in die Umgebung von Takumi Sato wagen“, fährt er aufgebracht fort. „Dieser Mann ist gefährlich. Er wird es nicht dulden, dass du mit seinem Enkel zusammen bist.“

Der Greybug hat Gesellschaft bekommen. Drei weitere Exemplare laufen eilig über den abgewetzten Teppich. Aber die sind mir jetzt völlig egal. Ich bin erschüttert über die Reaktion meines Großvaters.

„Was soll er denn gegen unsere Liebe tun?“

Großvater sieht sich nach allen Seiten um. So, als wären wir gar nicht allein. Er senkt die Stimme. „Du weißt, was die IFIS ist?“

Ich nicke. „Die Instanz für Innere Sicherheit. Sie sorgt dafür, dass wir keine Angst vor Kriminellen jeglicher Art haben müssen.“

Großvater schlägt mit der flachen Hand auf die Lehne des Sessels. „Sie sorgt aber auch dafür, dass jeder, der dem Bürgermeister und seiner Clique nicht passt, auf Nimmerwiedersehen verschwindet.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Erst vor einer Woche besuchten uns zwei Frauen der IFIS in der Schule. Sie redeten mit uns ganz freundlich und fragten nach einigen Dingen. Was wir so in der Freizeit treiben und wer mit wem befreundet ist. Ihre weißen Uniformen sahen ziemlich schick aus. Tori, meine beste Freundin, war ganz begeistert und will sich später unbedingt bei der Instanz für Innere Sicherheit bewerben. Da sie weiß, dass dort nur die Besten genommen werden, lernt sie seitdem wie verrückt.

Tori würde nie jemanden verschwinden lassen.

Ich weiche unwillkürlich zwei Schritte zurück. Großvater bemerkt es und versucht, seiner Stimme einen versöhnlichen Klang zu geben. „Emily, ich will dich doch nur schützen.“

„Aber ich liebe Jonathan. Und selbst wenn es wirklich so ist, wie du sagst, wird er nicht zulassen, dass mir etwas Schlimmes geschieht.“

„Liebe.“ Großvater seufzt. „Glaube mir, ich weiß, was Liebe anrichten kann.“ Er winkt mit seiner Hand. „Komm wieder her zu mir.“

Ich mache einen Schritt auf ihn zu.

„Ich möchte dir etwas erzählen“, beginnt er. „Damit du alles besser verstehst. Setz dich bitte.“

Ich schüttele den Kopf.

„Auch gut“, fährt er fort. „Was weißt du über meinen früheren Beruf?“

„Nur, dass du mit Büchern gearbeitet hast.“

Großvater lässt seinen Blick kurz durch das Zimmer wandern. Die Bücher sind überall. In den Regalen, auf der Fensterbank. Oder einfach zu wackeligen Türmen an den Wänden gestapelt.

„Ich leitete die Stadtbibliothek. Später machten sie dann ein Bedarfs-Center daraus. In der Nähe deiner Schule. Da, wo du die Schokomints gekauft hast.“

Ich kenne die Bibliothek unserer Schule. Ein vielleicht dreißig Quadratmeter großer Raum mit Lehrbüchern. Die meisten wurden von Bürgermeister Sato persönlich verfasst. Unfassbar, dass es einmal so viele Bücher gegeben haben soll, um ein riesiges Gebäude damit zu füllen.

„Der Spruch über dem Eingang?“, frage ich. „Ist der von Sato?“

Großvater lacht. Aber es klingt gar nicht belustigt, eher traurig. „Das ist ein Zitat des Schriftstellers Robert Louis Stevenson. Der ist schon lange tot. Sato ist kein Schriftsteller, sondern ein Tyrann.“

Einmal in der Woche kommt ein junger Mann von der Instanz für Gesundheit bei Großvater vorbei. Er bringt dann neue Medikamente. Einmal, als ich zufällig auch anwesend war, nahm er mich beiseite und eröffnete mir, dass mein Großvater im Laufe der Zeit ein wenig verwirrt werden könnte. Das sei eine Folge der Erkrankung. Ich frage mich, ob dieser Zustand soeben eingetreten ist. Das macht mich so traurig, dass ich nur mit Mühe die Tränen zurückhalten kann.

„Sato lügt“, fährt Großvater fort. „Was über das Draußen verbreitet wird, entspricht nicht der Wahrheit.“

Er fährt zusammen, als die Türklingel schrillt. Unsere Blicke treffen sich. Großvater hat eindeutig Angst. Warum?

„Erwartest du Besuch?“, frage ich. Der Mann von der Instanz für Gesundheit kann es nicht sein. Der kommt immer nur montags. Heute ist Freitag.

„Ich sehe nach“, beschließe ich. Ich habe gerade den Flur erreicht, als die Tür geöffnet wird. Ein kleiner korpulenter Mann in einem grauen Overall steht im Eingang. Ein zweiter, wesentlich größerer Mann schaut ihm über die Schulter.

„Wir vermuten, dass sich in diesem Gebäude eine inakzeptable Populationsdichte von Greybugs befindet“, verkündet er und lässt seinen gezückten Ausweis so schnell verschwinden, dass es mir unmöglich ist, auch nur einen Blick darauf zu werfen. „Wir haben die Anweisung, die Wohnung auch dann zu betreten, wenn niemand anwesend ist.“

„Sie haben nur einmal kurz geklingelt“, erwidere ich.

„Mädchen, wir dürfen keine Zeit verlieren. Du lernst doch in der Schule, wie schädlich diese Greybugs sind.“ Mit beinahe lustig anzusehenden Trippelschritten tänzelt er an mir vorbei. Sein Kollege trägt einen feuerroten Sprühbehälter auf dem Rücken und grunzt nur: „Wir machen sie alle fertig.“

Ich folge ihnen ins Wohnzimmer. Der Dicke reicht Großvater ein Formular. „Mr. Prey? Sie sind Martin Prey, der Eigentümer dieser Wohnung?“

Großvater starrt ihn mit großen Augen an.

„Unten rechts auf der Linie unterschreiben, Mr. Prey“, fährt der Mann fort.

„Muss mein Großvater die Wohnung vorübergehend verlassen?“, frage ich.

Der lange Kerl schüttelt den Kopf und schnallt den Behälter von seinem Rücken. „Nö, das Zeug macht nur die Viecher fertig. Nicht deinen Opa.“

„Geh jetzt besser“, höre ich Großvater sagen. Sein Lächeln ist nicht echt.

- 4 -

Der Weg zu Jonathan ist leicht zu finden. Er wohnt mit seinen Großeltern im mit Abstand höchsten Gebäude der Stadt. Das Hochhaus ist nach dem Bürgermeister benannt. Man kann den Sato-Tower von fast allen Orten in Porterville sehen.

Ich hoffe, dass es Großvater gut geht. Dieser letzte Blick von ihm, ehe ich die Wohnung verließ, schien so sorgenvoll und verzweifelt.

Warum glaubt er, dass Bürgermeister Sato gefährlich ist? Was wollte er mir über das Draußen mitteilen?

Der Mann von der Instanz für Gesundheit gab mir strikte Anweisung, jegliche Aufregung von meinem Großvater fernzuhalten. Daher habe ich verschwiegen, dass auch Jonathan Zweifel an dem hat, was uns über die Welt außerhalb von Porterville gelehrt wird. Jonathan versucht ständig, an Informationen zu gelangen, wagt es aber nicht mehr, seinen eigenen Großvater, den Bürgermeister, danach zu fragen. Beim letzten Versuch wurde er dazu verdonnert, einen ausführlichen Aufsatz über die Logistik des urbanen Zusammenlebens zu verfassen. Eine Woche hat er dazu gebraucht. Aber sein Interesse am Draußen und vielen anderen Dingen wurde dadurch nicht geschmälert. Dafür bewundere ich ihn. Er gibt einfach nicht auf.

Ich benötige zu Fuß über eine halbe Stunde bis zum Sato-Tower. Das macht aber nichts. Durch den überraschenden Abbruch meines Besuchs bei Großvater habe ich mehr als genug Zeit.

Einer der wenigen Busse rauscht fast lautlos an mir vorbei. Die Scheiben des riesigen Fahrzeugs sind verspiegelt. Ich bin erst einmal mit einem solchen Bus gefahren. Bei einem Ausflug ins historische Museum. Ansonsten transportieren die Busse nur wichtige Leute wie Mitarbeiter der verschiedenen Instanzen zu ihren Arbeitsplätzen. Es gibt sie in verschiedenen Größen. Vom Achtsitzer bis zu riesigen Ungetümen mit Platz für zweihundert Fahrgäste.

Ich nähere mich einem prunkvollen Gebäude. Es trägt den Namen Olympic Regent. In vergangenen Zeiten, bevor sich alles veränderte, war es ein Hotel. Gäste aus anderen Städten, die Porterville besuchten, wohnten dort. Jetzt kommt niemand mehr. Woher auch? Es heißt, dass außerhalb von Porterville kein menschliches Wesen existiert. Die Katastrophe hat sie alle getötet.

Das ehemalige Hotel wird heute nur noch bei feierlichen Anlässen genutzt. Wie etwa beim Geburtstag des Bürgermeisters. Dann werden dort verdiente Mitbürger eingeladen. Ein paar Mal im Jahr finden im Olympic Regent auch öffentliche Gerichtsverhandlungen statt. Bei besonders schwerwiegenden Straftaten, die eine Gefährdung der Stadt bedeuten. Selbst diese Kriminellen verschwinden nicht einfach, wie Großvater behauptete, sondern müssen Arbeiten verrichten. Manchmal sieht man sie in ihren orangefarbenen Overalls bei der Ausbesserung von Straßen und Gebäuden. Sie steigen auch in die Kanalisation, um Greybugs zu vernichten. Natürlich immer unter Bewachung.

Heute stehen mehrere Kleinbusse der IFIS vor dem Eingang des Olympic Regent. Sicherheitsleute rennen geschäftig hin und her. Sie tragen nicht die üblichen weißen Uniformen, sondern schwarze Schutzkleidung und Helme mit Visier. Ein bewaffneter Mann bedeutet mir mit herrischer Geste, die Straßenseite zu wechseln.

Mir ist sofort klar, dass dort weder eine Feier noch eine Gerichtsverhandlung abgehalten wird. Eine Person wird auf einer Trage aus dem Hotel zu einem der Busse gebracht. Ich bin immer noch nahe genug, um zu erkennen, dass sie schwer verletzt ist. Ihr Gesicht und die ganze Kleidung sind voller Blut.

„Weitergehen!“, brüllt mich der Uniformierte an. Er wirkt schon ziemlich betagt für diesen Job. Aber wie in allen Bereichen arbeiten bei der IFIS alte und junge Menschen. Die Generation dazwischen ist nun mal nicht mehr vorhanden.

Ich beschleunige meine Schritte, lasse aber dabei den Eingang des Hotels nicht aus den Augen. Ein tiefes Grollen dringt aus dem Gebäude, wird lauter und schwingt sich dabei zu einem schrillen Kreischen empor. Abrupt bricht es ab und hinterlässt eine Sekunde absoluter Stille. So, als würden alle Anwesenden, ja, die ganze Stadt, die Luft anhalten. Ohne es zu bemerken, bin ich auf der Stelle erstarrt.

Dann sind seltsam abgehackte Geräusche zu hören. Ich brauche einen Moment, um sie zu identifizieren. Es sind Schüsse. Ganze Salven.

Ein weiterer Bus der IFIS rast heran. Ein Dutzend schwarz Uniformierter springt heraus. Zwei von ihnen tragen Sprühbehälter. Sie erinnern an den Behälter der Greybug-Vernichter in Großvaters Wohnung. Nur glänzen diese hier wie poliertes Silber.

Ich wüsste zu gern, was in dem ehemaligen Hotel geschieht. Ein letzte Salve, dann nichts mehr. Auf wen wurde dort geschossen? Ich muss unbedingt mit Jonathan über den Vorfall reden.

Die bellenden Kommandostimmen der Einsatzkräfte bleiben hinter mir zurück. Die breite Straße vor mir ist völlig unbelebt. Das ist nicht allzu außergewöhnlich, denn schließlich ist die Bevölkerungsentwicklung stark rückläufig. Ganze Viertel sind nahezu unbewohnt.

Ein infernalisches Knistern lässt mich instinktiv zusammenzucken. Weit über mir entlädt sich Energie in zuckenden Blitzen. Sie bilden ein wildes, sich permanent veränderndes Adergeflecht auf dem unsichtbaren Schutzschirm. Dieses Phänomen kommt in letzter Zeit immer häufiger vor. Die Verantwortlichen lassen aber verlauten, dass keinerlei Grund zur Beunruhigung vorliege.

Eine massige Gestalt katapultiert sich aus dem Eingang eines Hauses. Es ist ein alter Mann. Keine zwei Meter vor mir ringt er um sein Gleichgewicht, rudert mit den Armen und sucht Halt am Pfahl einer Straßenlaterne. „Uff!“, macht der Fremde und „Puh!“ Er schwitzt sehr stark. Sein teigiges Gesicht ist ganz bleich, bis auf die leuchtend violetten Flecken auf den Wangen.

Ich fürchte mich nicht vor ihm. Porterville ist sicher, heißt es doch.

„Kann ich Ihnen helfen?“, frage ich. Der Mann pumpt Luft in seine Lungen, wedelt ungeduldig mit der Hand und ächzt: „Sekunde, Kleine! Ich ... ich muss dir etwas Wichtiges sagen.“

Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Seine äußere Erscheinung ist ziemlich ungewöhnlich. Trotz einer gefühlten Außentemperatur von etwa fünfundzwanzig Grad trägt er einen langen grauen Mantel mit hochgestelltem Kragen. Ein wirrer, schulterlanger Haarkranz umrahmt seinen ansonsten kahlen Schädel. Er spuckt geräuschvoll aus und schüttelt den Kopf so heftig, dass seine schlaffen Wangen in heftige Wellenbewegungen geraten.

Ich kann mir vorstellen, dass der Mann mal eine eindrucksvolle Erscheinung abgegeben hat. Aber jetzt ist sein Körper zusehends dem Verfall preisgegeben.

„Du bist Emily Prey!“ Keine Frage, sondern eine Feststellung. „Ich musste mich sehr beeilen, um dich noch rechtzeitig abzupassen“, fährt er fort und findet langsam wieder zu normaler Atmung zurück.

„Was kann ich für Sie tun?“ Wir sind in der Schule zu höflichem Benehmen erzogen worden. Besonders gegenüber den älteren Mitmenschen. Und mein Gegenüber wirkt in der Tat sehr alt.

„Du musst deinem Großvater etwas ausrichten. Sag ihm, dass ich sie gefunden habe.“ Er wartet auf meine Reaktion.

„Wen oder was haben Sie gefunden?“ , frage ich zurück.

„Sarah Freeman.“

„Wer soll das sein?“ Der Name sagt mir gar nichts.

„Gut! Das ist sehr guuut!“ Er dehnt den Vokal und grinst breit. „Du weißt nichts. Das freut mich für dich. Wirklich, kleine Emily. Unwissenheit ist Trumpf.“

Diesen Satz habe ich heute schon einmal gehört. Von meinem Großvater.

Der Mann ist mir unsympathisch. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er seine Worte nicht ernst meint. Oder ist er vielleicht nur verwirrt? Und in welchem Verhältnis steht er zu Großvater?

„Darf ich fragen, wer Sie sind?“

Er reagiert nicht und sieht an mir vorbei. Dorthin, wo die Einsatzkräfte der IFIS ihrer rätselhaften Arbeit nachgehen. „Es wird immer schlimmer“, murmelt er dabei. „Von Tag zu Tag. Sie verlieren noch die Kontrolle.“

„Haben Sie eine Ahnung, was im Olympic geschehen ist?“

„Ja“, sagt er und seine Stimme hat mit einem Mal jegliche Kraftlosigkeit verloren. „Aber es ist besser, wenn ich es dir nicht verrate. Zu deiner eigenen Sicherheit.“

„Ich verstehe kein Wort“, erwidere ich.

„Aufgemerkt!“ Er klatscht in die Hände. „Einigen wir uns darauf, dass du keine Fragen stellst und nur zuhörst.“

Er kann den Widerwillen von meinem Gesicht ablesen. „Kein Grund zum Schmollen. Ich will nur dein Leben retten.“ Er legt eine fleischige Pranke auf meine Schulter. Es kostet Überwindung, sie nicht abzuschütteln. Erst jetzt wird mir bewusst, dass es sich hier um eine Belästigung, einen so genannten sexuellen Übergriff, handelt. In der Schule haben wir gelernt, in einer solchen Situation sofort um Hilfe zu rufen. Doch der Fremde scheint auch meine Gedanken erahnen zu können und lässt die Hand in seiner Manteltasche verschwinden.

„Ich will dir nichts tun. Mir ist bekannt, dass du mit Jonathan Sato ... wie sagt man? ... zusammen bist.“

„Woher wissen Sie das?“

„Pst!“, macht er. „Ich weiß eben sehr viel. Sogar, dass er plant, mit dir das Draußen zu erforschen.“

„Das stimmt nicht.“ Ich verschweige, dass ich sehr wohl über Jonathans innigen Wunsch, mehr über das Draußen zu erfahren, Bescheid weiß. Aber wie soll er es denn erforschen können? Das ist absolut unmöglich.

Der Mann lässt nicht locker. „Wenn er dich auffordert, ihm in verbotene Bereiche zu folgen, darfst du dich darauf nicht einlassen. Außerhalb der Stadt wartet nur der Tod auf euch. Sonst nichts.“

Ich nicke eingeschüchtert, wage aber dennoch eine Frage: „Waren Sie schon mal außerhalb der Stadt?“

Er sieht zum Himmel empor. Ein blaugrüner Blitz schlängelt sich über den Schutzschirm. Dabei verursacht er ein deutlich hörbares Zischeln. Beinahe scheint er lebendig zu sein.

„Nein“, sagt der Mann schließlich. „Dann würde ich hier nicht stehen.“

Ein großer Transporter fährt laut hupend an uns vorbei. Auf seiner Seite grinst ein aufgemaltes Schwein. Dass man dem Tier bereits ein üppiges Filetstück aus dem Rücken geschnitten hat, scheint es nicht zu stören. Der Transporter bremst und fährt rückwärts auf den Eingang des Hotels zu. Ein Mann der IFIS weist ihn dabei ein.

„Wirst du auf mich hören?“, fragt der Fremde.

Ich nicke erneut.

Der Mann mustert mich, als würde er mir nicht so recht trauen, seufzt dann und sagt: „Und vergiss nicht, deinem Großvater zu erzählen, dass ich Sarah Freeman gefunden habe.“

„Ist es nicht besser, wenn ich dazu auch Ihren Namen erfahre?“

Er überlegt kurz. „Sag ihm, du hast den alten Parker getroffen.“

„Und woher kennen Sie meinen Großvater, Mr. Parker?“

Er glotzt mich an und ich glaube schon, dass ich ihn mit meiner Neugierde verstimmt habe. Doch dann verzieht er die fleischigen Lippen zu einem Lächeln und sagt: „Kennst du den Darkside Park, Emily?“

„Nein.“

„Gut! Sehr guuut!“ Er kneift ein Auge zu und verschwindet wieder im Hauseingang. Er bewegt sich trotz seines Alters völlig lautlos.