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Klappentext

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Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Band 44

 

Countdown für Siron

 

von Rüdiger Schäfer

 

 

 

April 2037: Perry Rhodan, Atlan und Crest sind auf der gefahrvollen Reise nach Arkon, der Zentralwelt des riesigen Imperiums. Sie müssen das Epetran-Archiv finden, bevor es in die Hände des Arkon-Regenten fällt. Es enthält die Positionsdaten der Erde. Da der Regent auf Rache sinnt, schwebt die Menschheit in größter Gefahr.

Nach einer Zwischenstation auf dem Planeten Trebola sind Rhodan und seine Gefährten wieder auf der Flucht. Mithilfe der spinnenartigen Trebolaner gelangen sie zum Wüstenplaneten Siron. Dort soll nach Atlans uralten Kenntnissen ein geheimes Depot existieren.

Wenn alles gut geht, können Rhodan und seine Begleiter das dort geparkte Raumschiff in ihren Besitz nehmen und weiterfliegen. Doch der Planet ist besiedelt: Die Sironer stammen von Arkoniden ab, ihre Zivilisation hat sich über die Welt ausgebreitet. Jetzt aber steuert sie auf einen globalen Krieg zu ...

1.

 

Der Ton lag gerade noch im für Menschen hörbaren Frequenzbereich und schien sich in Perry Rhodans Kopf bohren zu wollen. Er wischte sich mit der rechten Hand über die feuchte Stirn. In der Zentrale der HIS-KEM-IR war es ungewöhnlich warm – zumindest für den Geschmack eines Menschen vom Planeten Erde.

Stumm beobachtete Rhodan die anwesenden Trebolaner. Es war noch kein Jahr her, da war er mit einer vergleichsweise primitiven Raumfähre, die man auf die Spitze einer hundertfünfzig Meter hohen Rakete montiert hatte, zum irdischen Mond aufgebrochen. Wenn ihm damals jemand gesagt hätte, dass er kaum zehn Monate später inmitten einer Gruppe mannsgroßer Spinnenwesen und Tausende von Lichtjahren von der Erde entfernt in einem Raumschiff durchs Weltall reisen würde, das größtenteils aus Seidenfäden gewebt worden war, hätte er ihn für verrückt erklärt. Und doch war er hier. Das alles geschah tatsächlich, auch wenn er immer noch Probleme hatte, sich damit zu arrangieren.

Der enervierende Pfeifton brach endlich ab, Rhodan atmete erleichtert aus. Täuschte er sich, oder waren die Trebolaner plötzlich hektisch und nervös? Selbst Ril-Omh-Er, der als Netzfürst das Kommando über seine in der Zentrale diensttuenden Artgenossen führte, hatte seinen typisch lethargischen Zustand abgelegt. Seine Gliedmaßen zuckten in schneller Folge über die Kontrollen seines Steuerpults.

Die HIS-KEM-IR war ein Netzschiff und eine der ungewöhnlichsten Konstruktionen, die Rhodan jemals gesehen hatte – dieser Umstand wurde durch die Tatsache relativiert, dass seine Erfahrungen mit außerirdischen Raumfahrzeugen nicht besonders umfangreich waren. Von oben betrachtet erinnerte die HIS-KEM-IR an ein dreidimensionales, bis zu 270 Meter breites Spinnennetz mit insgesamt vierzehn wahllos über die Gesamtfläche verteilten Verdickungen. In einer davon, der Zentrale, hielt sich Rhodan gerade auf. Aus größerer Entfernung und mit ein wenig Phantasie betrachtet konnte man die zwischen zehn und fünfzig Meter großen Auswüchse für Insekten halten, die sich in den Netzfäden verfangen hatten.

»Gibt es Schwierigkeiten?«, fragte Rhodan.

Ril-Omh-Er wandte den Blick nicht von seinen Kontrollen. Trebolaner verfügten neben einem Hauptaugenpaar im Zentrum ihres exotischen Gesichts über weitere Sehorgane, die entlang des kleinen Kopfes angeordnet waren und eine perfekte Rundumsicht erlaubten. Der Netzfürst klickte mit den Kieferzangen und hob den mächtigen Hinterleib an.

»Ortungsalarm«, antwortete er knapp und lüftete so immerhin das Geheimnis um den grauenhaften Pfeifton. »Drei arkonidische Kreuzer.«

»Haben sie uns entdeckt?«, wollte Rhodan wissen.

»Das ist schwer zu sagen. Momentan halten sie ihre Positionen, aber wenn wir sie orten können, können sie theoretisch auch uns erfassen.«

»Theoretisch?«

»Die HIS-KEM-IR ist lückenlos mit einer dünnen Auflage Tarnseide beschichtet«, erklärte der Arachnoide. »Das verschafft uns einen kleinen Vorteil. Ich befürchte allerdings, dass das Trio in Kürze ausfächern und ein Peilnetz spannen wird. Eine sehr beliebte arkonidische Taktik, um ein möglichst großes Raumgebiet zeitsparend zu durchsuchen.«

»Sie wissen, dass wir hier irgendwo sind«, sagte Rhodan leise. »Unsere Flucht aus dem Orbit von Khebur muss registriert worden sein. Vermutlich ist auch die Kennung der HIS-KEM-IR bekannt. Nach den Ereignissen im Trebola-System wird man gezielt nach uns suchen.«

Auf dem Hauptschirm erschien eine rechnergestützte Darstellung des umliegenden Weltraums. Ein weißer Punkt symbolisierte die HIS-KEM-IR, drei rote Punkte markierten die Standorte der drei arkonidischen Kugelraumer.

Rhodans Blick huschte durch die Zentrale, die so völlig anders aussah, als er es bisher gewohnt gewesen war. Die Steuerpulte endeten einen Meter über dem Boden und waren für Menschen zu niedrig. Hinzu kam, dass sie mit Kontrollen bestückt waren, für deren Bedienung man mindestens zwei zusätzliche Arme und Hände benötigt hätte. Für die Trebolaner mit ihren acht Gliedmaßen stellten sie freilich kein Problem dar.

»Warum verschwinden wir nicht einfach?«, fragte Rhodan. Zum ersten Mal wurde ihm mit aller Konsequenz bewusst, dass er und seine Begleiter vollständig auf die Arachnoiden angewiesen waren. Nur Ril-Omh-Er und seine Mannschaft konnten das Schiff fliegen.

»Unser letzter Sprung liegt erst zwei Stunden zurück. Eine weitere Transition so kurz nach der vorangegangenen birgt Risiken bis hin zu einem mit Bordmitteln nicht zu reparierenden Maschinenschaden.«

Rhodan nickte. Etwas Ähnliches hatte er sich bereits gedacht. Nachdenklich studierte er die Anzeigen auf dem Hauptschirm. »Ist das ein Sonnensystem?«, fragte er dann und deutete auf eine weitere Markierung in unmittelbarer Nähe der HIS-KEM-IR.

»Ein Roter Riese der Spektralklasse K0. Keine Planeten.«

Rhodan kramte in seinem Gedächtnis. Wenn er sich richtig erinnerte, handelte es sich bei Roten Riesen um Himmelskörper mit sehr hoher Leuchtkraft. Im Vergleich zur irdischen Sonne waren sie zwar deutlich größer, wiesen allerdings niedrigere Oberflächentemperaturen auf.

»Können wir uns nicht in der Nähe des Sterns verstecken? Die Emissionen der Sonne müssten eigentlich ausreichen, um unser eigenes Strahlungsmuster zu überdecken.«

»Eine gute Idee«, hörte Rhodan eine Stimme in seinem Rücken. Er hatte nicht bemerkt, dass Crest in die Zentrale gekommen war. »Allerdings gilt das nicht für die mehrdimensionalen Komponenten unserer Strahlungssignatur – und genau danach werden unsere Verfolger gezielt suchen.«

»Dann schalten wir alle Aggregate ab, die auf Hyperbasis funktionieren«, ließ sich Rhodan nicht entmutigen. »Wir durchstoßen die ultraheiße Gashülle und dringen in die darunter liegende Fotosphäre vor. Dort sollten die Temperaturen vier- bis fünftausend Grad Celsius nicht übersteigen. Das hält die HIS-KEM-IR auch ohne Schutzschirme eine Weile aus. Ril-Omh-Er ...?«

Der Trebolaner hatte seine Arbeit am Steuerpult eingestellt. Die langen, mehrfach gegliederten Spinnenbeine kratzten leise über den Boden, als er seinen grazilen Körper den beiden Humanoiden zuwandte. Rhodan musste sich zwingen, nicht automatisch zurückzuweichen.

Seltsam, durchfuhr es ihn. Ich hege immer noch die unterbewusste Befürchtung, dass dieses Wesen mich plötzlich anspringen und mir seine Kieferklauen in den Hals schlagen könnte.

Unwillkürlich dachte er an Ishy Matsu. Um wie viel schlimmer musste es für die Japanerin mit ihrer Arachnophobie sein, unter Trebolanern zu weilen? Vor vielen Jahren hatte Rhodan einen Artikel über Angstzustände in einer psychologischen Fachzeitschrift gelesen. Ein Satz war ihm dabei in Erinnerung geblieben: Je deutlicher ein Lebewesen vom menschlichen Erscheinungsbild abweicht, desto ausgeprägter, umfänglicher und weiter verbreitet ist die Angst, die wir vor ihm empfinden.

Wie weit wir unsere Technik auch entwickeln, dachte er für einen Moment resignierend, wie tief wir ins Universum vorstoßen und für wie klug und hoch entwickelt wir uns halten mögen – am Ende läuft es doch stets darauf hinaus, dass wir die in Jahrmillionen erlernten Instinkte, das Tier in uns unterdrücken, um uns nicht gegenseitig die Schädel einzuschlagen.

»Ich bin nicht sicher«, riss ihn Ril-Omh-Er aus den Grübeleien. »Dieses Schiff ist ein Prototyp, und ich bin nicht sonderlich gut mit ihm vertraut ...«

»Wir wollen Sie zu nichts überreden«, sagte Rhodan. »Wenn Sie meinen, es ist zu gefährlich, werden wir einen anderen Weg finden.«

»Rufen Sie Je-Ron-Tia in die Zentrale, und geben Sie uns Zugriff zum Hauptrechner des Schiffes«, mischte sich Crest ein. »Die HIS-KEM-IR basiert auf arkonidischen Spezifikationen, und Je-Ron-Tia besitzt fundiertes Hintergrundwissen über Hybridtechnik. Es sollte kein Problem sein, in vertretbarer Zeit eine Simulation zu fahren, die unsere Erfolgsaussichten kalkuliert.«

»Dann glauben Sie also, dass es möglich ist?«, fragte Rhodan.

Der Arkonide legte Rhodan eine Hand auf die Schulter und lächelte ihn an. »Seit ich Sie und die Bewohner Ihrer Heimat getroffen habe, mein Freund, glaube ich, dass fast alles möglich ist.«

 

Die HIS-KEM-IR bremste ab. Das von der Positronik gefilterte grelle Wabern des Roten Riesen füllte die gesamte rechte Hälfte des Hauptbildschirms. Ril-Omh-Er steuerte das Netzschiff in flachem Winkel und parallel zur willkürlich festgelegten Längsachse des Sterns. Die drei Arkonidenkreuzer hatten währenddessen die Eckpunkte eines gleichschenkligen Dreiecks mit rund 150 Millionen Kilometer Seitenlänge besetzt. In dieser Formation und mit voll aktivierter Ortungsphalanx hielten sie Kurs auf einen imaginären Punkt hinter der HIS-KEM-IR. Die Zeit wurde knapp.

Eine Flucht per Transitionssprung kam nicht infrage. Auch wenn die Trebolaner viele Jahre intensiver Forschungs- und Entwicklungsarbeit in ihr Netzschiff investiert hatten, war es den arkonidischen Einheiten dennoch weit unterlegen. Zum einen hätte man den Raumer in der Beschleunigungsphase aufgrund des immensen Energieverbrauchs sofort geortet, zum anderen wären die Kreuzer auf Schussweite heran gewesen, lange bevor die HIS-KEM-IR die notwendige Mindestgeschwindigkeit für einen Eintritt in den Hyperraum erreicht hätte.

»Unsere trebolanischen Freunde vermessen die koronalen Gasströme«, kommentierte Crest das Geschehen in der Zentrale. Inzwischen waren auch Atlan, Ishy Matsu, Iwan Goratschin, Belinkhar und Chabalh eingetroffen. Gebannt verfolgten sie das Geschehen auf dem Hauptschirm.

»Während die Temperaturen in der Foto- und Chromosphäre meist vergleichsweise moderat ausfallen«, fuhr der arkonidische Wissenschaftler fort, »kann es in der Korona durch Gaswinde und eruptiven Massenauswurf bis zu mehrere Millionen Grad Celsius heiß werden. Wenn wir in eine solche Zone geraten, helfen auch die Energieschirme nicht mehr.«

Rhodan beobachtete, wie Matsu ihre schmale Hand in die riesige Pranke des Zündermutanten Goratschin legte und dieser sie behutsam drückte. So unterschiedlich diese beiden Menschen auch waren, so eindringlich vermittelte ihre intuitive Geste der Zärtlichkeit, dass sich Liebe nicht um Banalitäten wie Aussehen oder Herkunft scherte.

Die HIS-KEM-IR neigte sich zur Seite und nahm wieder Fahrt auf. Für Perry Rhodan war es nach so vielen Monaten an Bord hochmoderner Raumfahrzeuge noch immer ungewöhnlich, dass er von den immensen Trägheitskräften, die in diesen Momenten auf den Schiffskörper wirkten, nichts spürte. Es schien gerade so, als würde auf dem Hauptschirm ein Film ablaufen, der die Annäherung an den Roten Riesen zeigte.

Der Weltraum verschwand und machte einem diffusen Wirbeln aus roten, gelben und weißen Nebelschwaden Platz.

Ich fliege gerade mitten in eine Sonne hinein, schoss es Rhodan durch den Kopf. Mein Gott, Reg, ich wünschte, du wärst jetzt bei mir. Das hier, dieser magische Augenblick, ist alles, wovon wir als Astronauten jemals geträumt haben.

»Wir sind durch!« Die tiefe Stimme Goratschins ließ Rhodan zusammenzucken. Gleichzeitig färbte sich der Bildschirm dunkelrot. Wie lange hatte er einfach nur dagestanden und sich von seiner Euphorie berauschen lassen?

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Atlan neben ihm.

Rhodan nickte nur; zu mehr wäre er nicht fähig gewesen.

»In Kürze erreichen wir den von der Positronik errechneten Ankerpunkt«, hörte er Crest wie aus weiter Ferne reden. »Es sieht gut aus. Da draußen herrschen knapp viertausend Grad Celsius. Zu warm für ein Sonnenbad, aber kühl genug für die HIS-KEM-IR.«

»Was machen unsere arkonidischen Spürhunde?«, wollte Belinkhar wissen.

»Wir empfangen ihre Echos nur noch sehr schwach«, informierte Je-Ron-Tia. Er hatte den Platz neben Ril-Omh-Er eingenommen und überwachte die Messwerte der Außensensoren. »Sobald wir uns tot stellen, werden wir sie völlig verlieren. Bevor wir die Fotosphäre wieder verlassen, sollten wir ein paar Sonden losschicken, um festzustellen, ob die Luft rein ist.«

Kaum eine Minute später kam das Netzschiff zum Stillstand. Fasziniert verfolgte Rhodan das auf dem Hauptschirm sichtbare Wogen und Strömen der Oberfläche des Roten Riesen. Es sah wie ein brennender Ozean in Zeitlupe aus. Wie lange mochte dieser Stern wohl schon existieren? Wie viele Jahrmillionen hatte er seine unerschöpfliche Energie bereits in den Weltraum hinausgeschleudert?

Die irdische Sonne verwandelte jede Sekunde 500 Millionen Tonnen Wasserstoff in Helium – und das seit nunmehr fast fünf Milliarden Jahren. Rhodan hatte sich das nie wirklich vorstellen können. Der menschliche Verstand war nicht dafür geschaffen, in solchen Dimensionen zu denken. Aber jetzt und hier, als er auf dieses endlose Meer aus Feuer starrte und das Gefühl hatte, in ihm zu versinken, glaubte er einen Atemzug lang zu wissen, warum die Welt so sein musste, wie sie war. Doch bevor er den Moment festhalten konnte, war er auch schon wieder vorüber.

»Die Kreuzer haben uns beinahe erreicht.« Je-Ron-Tia bewegte hektisch vier seiner acht Beine.

»Ich starte das Abschaltprogramm«, verkündete Ril-Omh-Er. »Lediglich die Notversorgung der Lebenserhaltungssysteme bleibt aktiv.«

Rhodan blinzelte. Er wartete darauf, dass das Herunterfahren aller Systeme sich irgendwie bemerkbar machte. War das Licht in der Zentrale nicht kurzzeitig schwächer geworden? Nein, das waren lediglich die Nerven, die seiner Wahrnehmung einen Streich spielten.

»Und jetzt?«, fragte Belinkhar.

»Jetzt warten wir«, gab Crest zurück.

»Großartig.« Iwan Goratschin seufzte. »Hat jemand Karten dabei?«

Rhodan musste unwillkürlich schmunzeln. Tatsächlich gab es an Bord der HIS-KEM-IR nicht viel, mit dem sich humanoide Lebewesen die Zeit vertreiben konnten. Vielleicht sollte er in seine Kabine zurückkehren und ...

Der Ruck, der durch das Netzschiff fuhr, war nicht besonders heftig, aber Rhodan registrierte irritiert, dass die beiden Trebolaner aufgeregt ihre Steuerpulte bearbeiteten.

»Was war das?«, stellte Atlan die auf der Hand liegende Frage.

»Sonnenwinde«, erwiderte Je-Ron-Tia knapp.

»So tief unten?« Crest drängte sich zwischen die Spinnenwesen, um die Anzeigen besser betrachten zu können. »Das ist nicht möglich. Außerdem hätten uns die Verzerrungen im Magnetfeld warnen müssen.«

»Würde irgendjemand auch uns Normalsterbliche aufklären?«, rief Rhodan in das Pfeifen des Alarms.

»Sonnenwinde sind Ströme geladener Teilchen, hauptsächlich Protonen, Elektronen und Heliumkerne, die durch das physikalische Ungleichgewicht entstehen, das die Kernfusion innerhalb der Sonnenatmosphäre auslöst ...«, setzte Atlan an.

Er wurde von Rhodan unterbrochen. »Verdammt, ich weiß, was Sonnenwinde sind!«, schimpfte er wütend. »Ich will wissen, was ...«

Der Boden der Zentrale vibrierte. Mehrere Bildschirme zersprangen mit lautem Knall. Die HIS-KEM-IR bäumte sich plötzlich auf wie ein störrisches Pferd. Rhodan wurde von den Beinen gerissen und gegen ein Steuerpult geschleudert. Er schrie, als sich etwas Spitzes, Hartes in seine Seite bohrte.

»Hochfahren!«, brüllte Crest gegen den Lärm an, der sich wie ein Flächenbrand in der Zentrale ausbreitete. »Wir müssen sofort die Energieerzeuger wieder hochfahren!«

»Die Positronik reagiert nicht.« Hörte Rhodan da Panik aus Je-Ron-Tias Stimme? War der implantierte Translator überhaupt in der Lage, so etwas entsprechend zu extrapolieren?

»Wir stürzen ab«, meldete Ril-Omh-Er. »Der Partikelstrom hat die Zentraleinheit getroffen. Sämtliche Systeme sind tot! Wir stürzen in die Sonne!«

So endet also mein kurzer Traum von den Sternen, dachte Rhodan noch. Dann setzte die künstliche Schwerkraft endgültig aus, und die HIS-KEM-IR neigte sich langsam nach vorn.

2.

 

Es ist stets der Augenblick, in dem sich Zeit und Ewigkeit berühren. Anstatt seine Bedeutung in Zweifel zu ziehen, sollten wir uns seiner Wirkung in jeder Sekunde unseres Lebens bewusst sein.

Die Worte des berühmten arkonidischen Philosophen Mohrat da Them gingen Sergh da Teffron seit den frühen Morgenstunden nicht mehr aus dem Sinn. Die Hand des Regenten war mitten in der Nacht aufgewacht und danach nicht mehr eingeschlafen. Nach längerer ruheloser Wanderung durch seine Privaträume im Orbitalgeflecht hatte er schließlich die Schriften da Thems in der Hoffnung aufgerufen, dass sie ihm die verlorene innere Ruhe zurückgaben.

Während seiner Zeit als Gouverneur von Naat hatten ihm dessen Bücher häufig Trost gespendet und ihn mehr als einmal davor bewahrt, in Lethargie und Selbstmitleid zu versinken. Mohrat da Them galt als einer der einflussreichsten Denker des frühen Imperiums, und das, obwohl er seinem Leben mit nur 29 Jahren selbst ein frühes Ende gesetzt hatte. Seitdem versuchten sich Wissenschaftler zahlreicher Disziplinen an der Deutung seiner erstaunlich umfangreichen Hinterlassenschaft.

Da Thems zentrales Motiv war der Widerspruch zwischen Wissen und Erkenntnis – zumindest soweit es Sergh da Teffron betraf. Die Hand des Regenten war kein weltfremder Ideologe, kein Theoretiker der Macht, sondern ein Mann mit strengen Prinzipien und einer klaren Vorstellung, welche Handlungen aus ihnen abzuleiten waren. Dennoch gab ihm die Lektüre der alten Texte ein schwer in Worte zu fassendes Gefühl von Freiheit, ein Gefühl, das er nicht festzuhalten vermochte, das ihn jedoch an eine Zeit erinnerte, in der sein Leben noch einfach und unkompliziert gewesen war.

Sergh da Teffron stand mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor dem großen Panoramafenster und starrte blicklos auf die viele Kilometer unter ihm liegende Planetenoberfläche. Vor wenigen Minuten war die dichte Wolkendecke über dem einzigen Kontinent der Wasserwelt an einer Stelle aufgerissen. Durch die entstandene Lücke waren die Lichter der Fabrikanlagen und Industriekomplexe als winzige Punkte in einem Ozean aus Grau und Schwarz zu erkennen.

Der klein gewachsene Mann wandte den Kopf und folgte mit den Augen der breiten Umrandung einer der Archen, die in scheinbar wahlloser Folge in die verzweigte Struktur des Geflechts eingeklinkt waren. Hinter dem transparenten Material der Kuppel erkannte er dichte Vegetation, Pflanzen, die es einst auch auf Artekh 17 gegeben hatte. Dann jedoch war das Imperium auf das System aufmerksam geworden.

Die Hand des Regenten hatte die Geschichten gelesen, die sich um den Planeten rankten. Nostalgische Ammenmärchen um eine Imperatorentochter namens Crysalgira da Quertamagin und ihren blühenden Garten. Damals, vor vielen Jahrtausenden, war das Große Imperium noch ein anderes gewesen. Der Krieg gegen die Methans hatte das geändert. Die Notwendigkeit, sich gegen einen übermächtigen und ebenso grausamen wie skrupellosen Feind stemmen zu müssen, hatte die Arkoniden geprägt und ihre Kultur nachhaltig beeinflusst.

Sergh da Teffron gehörte zu denen, die diese Entwicklung begrüßten und sie als etwas begriffen, was der Seele seines Volkes gutgetan hatte. Große historische Leistungen erforderten von jeher Opferbereitschaft und den Willen, über sich selbst hinauszuwachsen. Es war nicht zuletzt diese Überzeugung gewesen, die ihn die schweren Jahre auf Naat hatte erdulden lassen. Er hatte beharrlich auf seine Chance gewartet, und als sie schließlich kam, schwor er sich, alles zu tun, um nie mehr in den Schlamm der Bedeutungslosigkeit zurücksinken zu müssen.

Er wusste nicht, wie lange er so vor dem Panoramafenster seines Arbeitsraums gestanden hatte, doch als die ersten Sonnenstrahlen über die sanfte Wölbung der Planetenscheibe krochen und das Meer in einen silbern schimmernden Spiegel verwandelten, waren der Zorn und die Selbstzweifel der letzten Wochen für ein paar wertvolle Momente wie weggewischt. Ein neuer Tag mit all seinen Möglichkeiten und Herausforderungen lag vor ihm – und es gab wahrlich viel zu tun.

Versonnen beobachtete die Hand des Regenten einen der wuchtigen Truppentransporter, die das Artekh-System seit Wochen in ununterbrochener Folge anflogen, ihre Fracht löschten und nach kurzer Inspektion in einer der fliegenden Werften wieder aufbrachen. Die Schiffe brachten hauptsächlich Rekruten. Artekh 17 war einer der wichtigsten militärischen Stützpunkte des Imperiums. Nicht zuletzt deshalb hatte Sergh da Teffron hier auch sein Hauptquartier errichtet. Selbst wenn er nicht alle Pläne des Regenten im Detail kannte, so wusste er doch, dass sich große Dinge ankündigten.

Seiner Meinung nach war ein Krieg genau das, was das Große Imperium derzeit brauchte. Die Jahrtausende der nahezu unkontrollierten Expansion hatten aus dem arkonidischen Reich einen Flickenteppich gemacht, und eine endlose Reihe von Imperatoren war nicht in der Lage gewesen, diesen Zustand zu ändern. Zahlreiche Kolonien und Protektorate zweifelten bereits die imperialen Hoheitsrechte an und lehnten sich mehr oder weniger offen gegen die Vorherrschaft der Arkoniden auf. Der Regent war der erste Herrscher seit Langem, der diese Erosion der Staatsgewalt nicht länger zu dulden gedachte.

Für Sergh da Teffron war der Krieg nichts weiter als ein Naturgesetz. Wo immer sich intelligentes Leben organisierte und zu einer Gemeinschaft wurde, erwuchsen Konflikte, die früher oder später zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führten. Nur auf diese Weise konnte sich das Starke vom Schwachen trennen. Nur auf diese Weise entstand so etwas wie Fortschritt und damit die Basis für das Überleben der eigenen Art.

Der Transporter dockte an einen der Zubringer des Orbitalgeflechts an. Energetische Tunnel wurden direkt über die Schleusenöffnungen projiziert, und schon Sekunden später wechselten die Soldaten im Laufschritt auf das Geflecht über. Sie würden nicht lange bleiben. Sobald die Neuankömmlinge registriert waren, würden sie einer Einheit zugeteilt und an ihren zukünftigen Einsatzort – in den meisten Fällen ein imperiales Schlachtschiff – gebracht werden.

Sergh da Teffron fuhr sich zufrieden mit der Rechten über den kahlen Schädel. Die Vorbereitungen liefen nach Plan. Nach den diversen Rückschlägen der jüngeren Vergangenheit war das zur Abwechslung eine gute Nachricht – und der Regent hatte während des letzten Kontakts unmissverständlich klargestellt, dass er in Zukunft nur noch gute Nachrichten erwartete.

Im Hinblick auf seine eigene Position innerhalb der komplexen imperialen Hierarchie gab sich da Teffron keinen Illusionen hin. Er lebte von geborgter Macht. Er war kein Anführer, der von seinen Untergebenen geliebt wurde, aber das war gar nicht nötig. Angesichts der Tatsache, dass der Regent sich nur höchst selten öffentlich zeigte, repräsentierte Sergh da Teffron faktisch das höchste Amt im Staate. Niemand würde es wagen, einen seiner Befehle anzuzweifeln. Wenn einer es tat, war ein schneller Tod noch das Beste, was ihm passieren konnte.

Mit einem letzten Blick auf das in den Strahlen der aufgehenden Sonne leuchtende Geflecht kehrte Sergh da Teffron zu seinem Arbeitstisch zurück, einer gewaltigen, nierenförmig geschwungenen Konstruktion aus poliertem Arkonstahl und einer halb transparenten Platte aus bruchfestem Glas. Der Arkonide ließ sich in den nicht minder wuchtigen Sessel fallen und berührte ein in die Armstütze integriertes Sensorfeld. Ein farbiges Holo erschien, auf dessen Oberfläche Bilder und Textzeilen entlangliefen.

Lustlos rief der Arkonide die aktuellsten Meldungen auf und blätterte durch Rekrutenlisten, Materialaufstellungen und die Einsatzbefehle der diversen Abschnittskommandanten. In der Nacht waren mehrere Versorgungsschiffe eingetroffen und entladen worden. Aufgrund der anhaltenden Mobilmachung arbeitete das Orbitalgeflecht an der Grenze seines Leistungsvermögens, um der Flut der Besucher Herr zu werden und sie mit allem Notwendigen zu versorgen.

Die Koordination dieser Aktivitäten oblag Stiqs Bahroff – und der machte seine Sache überraschend gut, wie sich Sergh da Teffron widerwillig eingestand. Überhaupt war sein Assistent, den er zunächst nur deshalb an seiner Seite geduldet hatte, weil seine Herkunft die alten arkonidischen Adelseliten bis aufs Blut reizte, zu einem äußerst wertvollen Helfer geworden. Er hatte sich als klug und vorausschauend erwiesen und verstand es, da Teffron jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Wie auf Kommando summte der Türmelder. Die auf das Holo überspielten Aufnahmen der Überwachungskameras zeigten ihm, dass es tatsächlich Bahroff war, der Einlass verlangte. Mit einer beiläufigen Geste signalisierte die Hand des Regenten der Servoeinheit, den Halbarkoniden passieren zu lassen. Ein Doppelschott fuhr lautlos zur Seite und gab den Zugang in da Teffrons Privatgemächer frei.

Interessiert verfolgte Sergh da Teffron, wie sein Assistent den kurzen Weg zum Arbeitstisch zurücklegte. Der Gang war bestimmt, geradezu federnd. Überhaupt hatte sich Bahroff äußerlich sehr zu seinem Vorteil verändert. Hatte er in den Tagen zuvor noch eher kränklich und gesundheitlich stark angeschlagen gewirkt, erweckte er nun den Eindruck eines durchtrainierten und sich in Hochform befindlichen Mannes.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Sergh da Teffron dennoch. Es war keineswegs so, dass er sich tatsächlich um das körperliche Wohlbefinden seines Gehilfen sorgte. Vielmehr ging es ihm darum, auszuloten, welche Wirkung der geheimnisvolle Zellaktivator auf Stiqs Bahroff ausübte. Der Assistent trug das Gerät nun seit mehreren Monaten, doch noch immer ließen sich keine eindeutigen Aussagen über dessen Wirkung treffen. Der Umstand, dass Bahroff wie das blühende Leben aussah, mochte sich als Falle erweisen, und Sergh da Teffron war nicht bereit, auch nur das geringste Risiko einzugehen.

Die Hand des Regenten hatte den Aktivator von Atlan da Gonozal erhalten. Angeblich als Geschenk. Die damaligen Worte des rätselhaften Arkoniden hatten sich unauslöschlich in die Erinnerung da Teffrons gebrannt:

Der Regent herrscht durch seine Hand. Doch diese Hand ist trotz ihrer unermesslichen Macht ein Werkzeug, austauschbar. Aber stellen Sie sich vor, die Hand besäße einen Zellaktivator, wäre unsterblich. Sie würde den Regenten überdauern. Einen Regenten, der keinen Nachfolger hat ...

Seitdem hatte ihn die Frage nicht mehr losgelassen. Die einzige Frage, die von Bedeutung war und die er sich seit jener schicksalhaften Begegnung immer wieder gestellt hatte: Warum sollte ihm dieser Atlan die Unsterblichkeit schenken?

Sergh da Teffron hatte in seinem Leben gelernt, dass es im Universum nichts umsonst gab. Alles hatte seinen Preis, und es machte ihn fast wahnsinnig, dass er die verborgenen Beweggründe Atlan da Gonozals nicht kannte. Daran, dass sie existierten, bestand für ihn kein Zweifel. Auch wenn die Begegnung mit dem geheimnisvollen Arkoniden nur kurz gewesen war, so hatte er doch sofort begriffen, dass er Atlan auf keinen Fall unterschätzen durfte. Dieser Mann verfolgte seine Ziele mit großer Konsequenz.

»Verzeihen Sie, dass ich zu so früher Stunde störe, Herr«, beendete die Stimme Bahroffs seine Grübeleien.

Sergh da Teffron musterte den untersetzten Halbarkoniden intensiv und lächelte, als er dessen Unbehagen bemerkte. Die feinen Federn, die sich eng an Bahroffs Kopf schmiegten und die man mit Haaren verwechseln konnte, stellten sich auf. Rasch senkte der Assistent den Blick und streckte stattdessen die Arme aus. Seine Hände umschlossen ein in schneeweiße Folie gewickeltes Päckchen. Das würfelförmige Objekt wies eine Seitenlänge von rund zwanzig Zentimetern auf und war mit dem Siegel des Regenten gekennzeichnet.

»Die Sendung aus dem Trebola-System«, sagte Bahroff. »Sie ist vor wenigen Minuten eingetroffen, Herr, und ich dachte mir, dass Sie ...«

»Gib her!«, unterbrach Sergh da Teffron seinen Assistenten und riss diesem das Päckchen aus den Fingern. Zugleich maßregelte er sich selbst ob seiner Unbeherrschtheit. Für einen Mann in seiner Position ziemte es sich nicht, vor Dienstboten die Haltung zu verlieren. Gereiztheit und mangelnde Selbstkontrolle waren Zeichen von Schwäche und der Hand des Regenten unwürdig. Andererseits war ihm Stiqs Bahroff geradezu hündisch ergeben. Er war mit den Launen seines Herrn vertraut und dachte sich wahrscheinlich längst nichts mehr dabei.

Sergh da Teffron überlegte für einen Moment, ob er Stiqs Bahroff fortschicken sollte, bevor er das Päckchen öffnete, entschied sich dann aber dagegen. Nach den Ereignissen im Tatlira-System hätte er am liebsten persönlich vor Ort nach dem Rechten gesehen, doch der beschämende Verlust der VEAST'ARK, des derzeit modernsten Raumschiffs des Imperiums, war eine Niederlage, die noch immer schmerzte. In Offiziers- und Adelskreisen zerriss man sich garantiert die Mäuler darüber, dass sich die Hand des Regenten von einer Horde tumber Naats hatte übertölpeln lassen.

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