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Tropen

www.tropen.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Tomato Studio, London

unter Verwendung eines Fotos von Tomato Studio, London

Autorenfoto auf S. 1 © Roxanne Lowitt

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50226-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10814-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

In Erinnerung an Olaf Dante Marx (1957  1993)
und Friedrich A. Kittler (1943
  2011)

Für Dada, Hektor und George

Inhalt

1. VORWORT, EINLEITUNG, VORGESCHICHTE

VORWORT ZUR NEUAUFLAGE

VORWORT

EINLEITUNG

Die Sache mit der Parteilichkeit

Die Sache mit dem Underground

Die Sache mit der Technik

Die Sache mit dem Schreiben

Die Sache mit der Geschichte

DJ – das Wort und seine Definitionen

DJ CULTURE – DIE VORGESCHICHTE

Radiopioniere – die ersten DJs

Der erste DJ-Star

»Play my music, man!«

Die Hitparade – die Geburt des Top-40-Radios

Das Top-40-Radio

Alan Freed – der Erfinder des Rock ’n’ Roll

Der DJ und die Bestechung: Payola

»Pop is here to stay« – DJs in der Popindustrie

Mucho Maas – der DJ bei Thomas Pynchon

Der Sieg der Popkultur

Murray the K – »der King der Jockeys« (Cohn)

Going Underground – der Sound einer jugendlichen Revolte

Exkurs: Minimal Music und die Geburt des Loops

Dissidenz und Integration – der schwarze DJ

DJs – die Entwicklung in Europa

2. DIE GESCHICHTE

A. DISCO

Disco – die Anfänge

Der Twist

Francis Grosso – der erste DJ-Autor

Disco – eine schwule Angelegenheit

Die Wurzeln der Disco-Musik

Disco Fever – Inkubationszeit

Der Remix und die ewige Wiederkehr desselben

Saturday Night Fever – Nik Cohn und die Faces und mehrere Versuche, den Hipster auf der Tanzfläche zu entdecken

Der Hipster im Wandel der Zeiten

»Welcome to the Disco« – Studio 54 und der Rest

»Saturday Night Fever« – der Film

»Young Soul Rebels« – auch ein Saturday Night Fever

»Don’t believe the hype« – DJs, Clubs und die Plattenindustrie

Zurück im Underground

Disco – das Ende und kein Ende

B. HIP-HOP

»Word up«

Roots of Rap

Roots of Rap – Roots of Reggae: das jamaikanische Sound System

Die ersten DJs des Rap

Kool DJ Herc und die Breaks

Grandmaster Flash: Mix, Scratch und Beatbox

Afrika Bambaataa und die Zulu-Nation

Der Mann aus Harlem – DJ Hollywood

»Words to the beat«: der Anfang des Rap

»Word up« – was kann die Sprache für den DJ?

Der Weg zum Erfolg

Hip-Hop wird Pop (I): der schwarze Wille zur Macht

Hip-Hop wird Pop (II): die weißen Helfershelfer

Immer neugierig: Blondie verübt Rapture

Alles Kunstgeschichte: Malcolm McLaren – ein weißer Intellektueller entdeckt Hip-Hop

»Wild Style«: Hip-Hop im/als Film

Immer neu: Hip-Hop-Innovationen

EXKURS: »WELCOME TO THE TECHNODOME«

Aura oder Plattenkiste

Beatbox, Drum Machine, Drum-Computer

Die ersten deutschen B-Boys: Kraftwerk

Die digitale Plattenkiste

»Don’t sweat the Technics« – ein Plattenspieler schreibt Musikgeschichte

Das Mischpult

C. HOUSE

Disco wird wieder Underground

Hi-NRG

Die Geburt von House in Chicago

Die Heimat der House-Musik

Die Idee der Erlösung in der House-Musik

Der Stammbaum

Harmonie oder Rhythmus? Harmonie und Rhythmus!

D. DER DANCEFLOOR-PLANET – 1987–1995

Die Reise von Pop zu M/A/R/R/S

Die Zeit nach Old School – der neue Hip-Hop

»Beat Dis« und Freunde

Sampling im Zeitalter seiner absoluten Verwendbarkeit

England – der Anfang der europäischen Dancefloor-Szene

Acid-House

Summer of Love

Rave

Rare Grooves, Acid-Jazz, Modern Soul

Strictly Turntablized: von Soul II Soul und Massive Attack zu Tricky und Mo’Wax

Dancefloor-Style

Rainald Goetz – Literatur unter dem DJ-Pult

Techno – die neue Härte

Techno – der Stammbaum

Belgien – der Sprung von Industrial zu EBM und Techno

England – subsonische Bässe und ein Wunderkind

Deutschland – Westbam und der Rest

Love Parade

3. VERSUCH EINER THEORIE

KURZE BEMERKUNG DES POPFORSCHERS ALS PARASIT

Die großen Ideen

Geschichte und Fortschritt

Kultureller als politischer Fortschritt?

Trotzdem: das Projekt Fortschritt

Der technische Fortschritt

Der ästhetische Fortschritt

Der Tod des Autors/Künstlers

Selbstreferentialität – Kampfziel der Moderne und Selbstverständlichkeit für den DJ

Komplexität des Systems und der Produktion

Avantgarde goes Pop

Hochmoderne – nicht Postmoderne

Ein Fortschritt für die Menschheit: das Leben in der Subkultur

Die Morgensonne

BONUSTRACK (’97 Moody Dub)

Das zweite Erwachen

»I rock the party that rocks the body«

Hausaufgaben

Die neue Selbstverständlichkeit

2015 – HANG THE DJ?

von Tim Renner

EINE KURZE DJ-KULTUR-GESCHICHTE DER NEUZEIT

DAS NACHWORT VON WESTBAM

BIBLIOGRAPHIE

BILDNACHWEIS

DANKSAGUNG

»REALITY USED TO BE
A FRIEND OF MINE«

P. M. DAWN

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VORWORT ZUR NEUAUFLAGE

20 Jahre später kann sich kaum jemand vorstellen, wie neu das alles war und wie aufregend und unerklärt. Als ich 1992 die Arbeiten an »DJ Culture« aufnahm, hatte der Diskjockey seine Nischen der Subkulturen hinter sich gelassen und taumelte, dem letzten Engel der Geschichte ähnlich, rückwärts der Zukunft entgegen, die Geschichte der Popmusik und des Dancefloor im Blick, angezogen von einem magischen Sog aus Erwartung und Neugierde, an dessen Ende ein knappes Jahrzehnt später eine Art popkulturelle Weltherrschaft zu stehen schien. Der Diskjockey ist in der Gegenwartsphänomenologie der Popkultur eine klassische Erscheinung geworden. Seine Position ist gefestigt und gesichert. Gleichzeitig verschwindet er in der Form, wie er in dieser Kulturgeschichte auftaucht, als Mann mit schweren Plattenkoffern, die entweder zu muskulösen Groupies oder zu Bandscheibenvorfällen führten. Die feinziselierte Handwerkskunst im Mix kann problemlos an Apps und Softwareprogramme abgegeben werden, längst reicht ein Laptop mit monströsem Speicher, um ein durchzutanzendes Wochenende zu beschallen. Die Übergänge von der archaischen DJ-Figur, zwei Plattenteller plus Mischpult (oder im Fall des Virtuosen Jeff Mills drei Plattenteller plus Mischpult) hin zu einem Musiker und Instant Producer/Remixer sind fließend und unmerklich geworden, wie die Beat-Textur in einer durchgefeierten Nacht im Berghain.

DJs gibt es nun überall. In jeder Bank- und Joghurt-Anzeige, besonders viele in den Senator-Lounges der Flughäfen, in Kinofilmen und Comics. Die USA werden regiert von einem afroamerikanischen Präsidenten, der im Wahlkampf auch zu den Sounds der Roots slowjamte und dessen Tanzbewegungen alle Hipness-Koordinaten der schwarzen Popkultur beglücken. Es ist der erste Präsident, der ohne Hip-Hop wohl nicht denkbar wäre. Das Patchwork der Minderheiten ist auch in der Repräsentation der Macht Mainstream geworden, ein liberal-konservatives Kabinett in Deutschland hatte zuerst einen schwulen, dann einen asiatischen Vizekanzler, einen behinderten Schatzkanzler und eine Kommunistentochter als Chefin. Die Rockmusik sucht Schutz in den Armen von Remixern und Produzenten, die ihre Gitarrenklänge erträglich machen für eine Generation von jungen Hörern, die mit Hip-Hop, House und Techno geradezu selbstverständlich sozialisiert worden sind. Die DJ-Tauglichkeit ist zu einem Megakriterium für popkulturellen Erfolg und Akzeptanz geworden.

Kurzum: Aus einer kulturrevolutionären Avantgarde ist innerhalb der vergangenen 20 Jahre ein gut verdienendes, selbstbewusstes, oft genug verklärtes Establishment geworden, das bislang keine Gefährdung seiner Machtposition fürchten muss. So gesehen hat sich die Ausgangslage des Buches komplett verändert. Angelegt als ein kämpferisches Buch einer zerbrechlichen Innovationsbewegung kann es rückblickend als ein Ziegelstein zur Errichtung jener Zitadelle der Kulturhoheit sein, welche DJs und DJ-Musik über das weite Land des Pop herrschen lassen. Das Buch hat Mitte der 90er Jahre für eine Doktorarbeit viele Leser gefunden. Es erschien in einigen Auflagen, als Taschenbuch, wurde ins Englische, Französische und Japanische übersetzt.

Der Grund, es noch einmal als Buch aufzulegen, hat auch damit zu tun, dass selbst gebrauchte Exemplare im Internet erstaunlich gute Preise erzielen und der Autor weiterhin oft von Studenten angesprochen wird, die über und mit diesem Buch Magisterarbeiten, Seminartexte oder Referate vorbereiten. Zudem bleibt die Kenntnis über die Anfänge des DJ-Phänomens beschränkt. Hinzugekommen sind jede Menge aufregende, tiefschürfende, brillante Geschichten aus Teilbereichen der DJ-Musik, die Gesamtschau, so fanden Verlag und Autor, verdiene die Chance einer Neuauflage, die von Heiko Hoffmann geremixt und Maximilian Lenz (aka Westbam) mit einem wuchtigen Nachwort versehen wurde.

Während der Durchsicht des Buches spielen an den kalten Winterabenden die Techno-Pioniere von Kraftwerk in einer konzeptkünstlerischen Programmatik an sechs verschiedenen Abenden in der Neuen Nationalgalerie von Mies van der Rohe. Diese Ahnen der DJ-Musik haben ihr Werk 1990 mit dem Mix-Album beendet, um danach Kuratoren und Konservatoren ihres klassischen Œuvres zu werden. Ihre perfektoiden Auftritte an einem der magischen Orte des geläuterten Modernismus markieren jene Ankunft in den heiligen Hallen der Hochkultur, die für die DJ Culture längst selbstverständlich geworden ist.

Diese Doktorarbeit bei Doktorvater Friedrich Kittler war analog zu den Vinylbergen der DJs eine altmodische Materialschlacht. Es ist eine Dissertation vor dem Internet. Nachmittage und Wochenenden in staubigen Archiven, abgelegenen Bibliotheken und Buchläden und das gute Jahr in New York an den Quellen der DJ-Musik, in der Nähe der Zeitzeugen und im Modus endloser Plattenakquisition zum Studium der Musik, führten zu Tonnen von Papier, Vinyl, bedrucktem Papier, Dutzenden Zettelkästen, Tapes, Flyer-Ordnern, Bildern, Postern. Dass neben eigenen Schnappschüssen auch eher dokumentarisch angelegte Fotografien von Wolfgang Tillmans in das Buch gelangt sind, hat mit der Schmalbrüstigkeit des Archivmaterials zu tun, mit dem die emergierende DJ Cuture erfasst wurde.

Viel von dem, was insbesondere die ideologische Begleitung und Einordnung der Kulturgeschichte betrifft, mutet zwei Jahrzehnte später ebenso romantisch wie streng an. Die postpostmodernistische Politisierung der Popkultur ist selbst historisch geworden. Sie war Teil einer Eroberungsstrategie von Diskursapparaten, die zur Beglaubigung der historischen Notwendigkeit und Verdienste einer Kulturpraxis die Einschreibung des neuen Phänomens in existierende Geschichtsschreibungen vorstellbar werden ließ. 20 Jahre später können einige sozial(istisch)e Verpflichtungen gelockert, andere Ernsthaftigkeit im Geiste Duchamps und Ad Reinhardts bestaunt werden. Der DJ ist überall angekommen. Er benötigt die Hilfe des kleinen Parasiten längst nicht mehr, als welcher sich der Autor in die eigene Geschichte der DJ Culture zu Anfang einschrieb. Sein Unterstützer-Gestus ist überflüssig geworden, nicht aber die Liebe und Hingabe an diesen Sound und an diese Hunderte, wohl eher Tausende von Abenden in Clubs, in denen alles, was über die Welt zu verstehen und zu fühlen war, abseits der Bücherberge und Theorietorsi, unmittelbar körperlich durchlebt werden konnte. Dem Nachtleben verdanke ich fast alles. Die exzessive, unablässige, manische Clubgängerei war das wundervollste Geschenk des Forschens an den jungen Wissenschaftler. Er konnte beim Feiern vorformulieren, was dann systematisiert und zur Ordnung gebracht werden musste.

Neben Friedrich Kittlers stets ermunterndem, von der hektischen Ungeduld des jungen Mannes mit den blondierten Haaren und den weiten Hosen amüsiertem Zureden, Inspirieren, Ermutigen und Unterstützen war es ein nun verstorbener Held der neuen Zeit, dem dieses Buch viel verdankt: Willie Ninja, der Türsteher der Sound Factory Bar in New York, die ich jeden Mittwoch aufsuchte, um im Keller, wo die alten Soul-, Funk- und Disco-Platten gespielt wurden, das Wesen von Disco zu verstehen, seine Seele, sein Herz, seine tiefe Religiosität. Oben in der Sound Factory Bar wurde Garage House zur Offenbarung, gerade bei den Live-Auftritten jener Sängerinnen und Sänger, die so nichts, aber auch gar nichts von dem Glamour der Popkultur hatten, sondern nur jene aus dem Gospel geschulten Stimmen, die voller Sehnsucht und Trauer von großen Lieben und ihrem Vergehen sangen. Das Konzert von Ten City im Tunnel, Frankie Knuckles an den Freitagen in der Sound Factory Bar, als kleiner weißer Hetero zwischen schwulen Afroamerikanern und Latinos, vermittelten mir den existentiellen Kern dieser Musik: ihre organische Widerständigkeit, ihr Immunisieren gegen eine feindliche, rassistische, homophobe Umwelt. Das »Release me« war utopisches Fragment. Eigentlich war ich da stets kurz davor, ein ganz anderes, weniger strukturiertes, chronologisches Buch zu schreiben, aber ahnte doch, dass es mein Weg war, mich diesen damals noch weitgehend unberührten Urkulturen von House und Disco wie ein hüftsteifer Bildungsbürger anzunähern. Willie Ninja hat über den akribischen Einsatz im Dienste der Wissenschaft stets gelacht. »Doctor Ulfie« war absurd früh da, sah den DJs beim Auspacken ihrer Platten zu und lauschte ihren »Vorlesungen«. Jeden Mittwoch stand der junge Mann da, alleine oder mit Freunden. Und ging, wenn die Beine vom Tanzen matt geworden waren.

Das Leben des Autors und Parasiten hat sich verändert, aber die Popmusik und die Lebenswelten mit ihm. Der zeitgenössische Hedonismus ist nicht nur in seinem Medium Pop komplett clubisiert und ohne die Leitkultur der DJ Culture schwer vorstellbar. Schriftsteller wie Rainald Goetz und Künstler wie Andreas Gursky haben in der Mimikry als Fan ihre Fasziniertheit in zentralen Werken der Gegenwartskunst formuliert. Auf dem Bild »Mayday V« taucht Gursky selbst neben DJ Westbam und Rainald Goetz als Statist einer ravenden Gesellschaft auf, die in der Vorstellung der Feiernden so unendlich größer und monumentaler geworden war, als es jede realistische Zuschreibung hätte vorstellbar werden lassen. Die Westfalenhalle, in der diese Mayday stattfand, hat in dem Bild statt vier Etagen ganze 18. Gursky, der mit den Superdeejays der Gründerjahre Sven Väth und Westbam befreundet ist, hat – so Westbam – die Mayday so inszeniert, wie sie der DJ schon immer wahrgenommen hat: ein Durcheinander von Hunderten von Individuen, verstrickt in ihren Abenteuern und Biographien. »Es schlüsselt uns«, so Westbam in einer Laudatio auf Gursky, »am Beispiel Mayday auf, was Gesellschaft ist.« Ähnliches gelingt Gursky in seinen maßlos verdichteten Love-Parade-Bildern: Deutschland als Freizeitpark in einer postprotestantischen Heiterkeit versunken. Die kleinen Figuren auf den Bildern sind ohne jeden Heroismus in ihr kleines Glück verstrickt. Sie feiern routiniert. Es ist keine Revolution mehr in Sicht. Sie sind wie fast alle. Der Rave ist jedermanns geworden.

Als das Buch 1995 zum ersten Mal beendet wurde, waren Raves und Clubleben noch abgeschottete Nebenwelten, die sich vom Mainstream der Gesellschaft getrennt hatten, um einen Freiheits- und Möglichkeitsraum zu schaffen, den das Nachtleben so nicht jedermann bieten wollte. Genau zehn Jahre später dokumentiert Gursky jenen Moment, in dem diese Gegenwelt Sinnbild postmoderner Hedonistik des Mainstreams geworden ist. Einer der bedeutendsten Künstler seiner Zeit stellt den Rave neben die monumentalistische Ikonographie von Börsenhallen und Discountläden. Damit wird die Techno-Party als denkbarer Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart nutzbar, und das auch noch in einer Ästhetik, deren Kühle und Reserviertheit widerspiegeln, wie sehr sie vom Sound dieser Musik infiziert ist, was der Fotograf auch gerne in Interviews gesteht.

Im selben Jahr, 2005, als Gursky die Mayday monumentalisierte, war es ein eher beiläufiger DJ-Gig von Kraftwerk-Mastermind Ralf Hütter, der verdeutlichte, wie museal die Techno-Musik und die von ihr angeregte DJ Culture bereits geworden waren. Zur Eröffnung der Kunstbiennale wurde die Party mit Kraftwerk zum Sinnzentrum der umfangreichen Vernissagefeierlichkeiten. Hütter drehte versunken und konzentriert an den kleinen Reglern seines Computers und blickte nur kurz auf, um die Wirkung seiner akustischen Versuchsanordnungen zu kontrollieren. Sein Assistent versuchte, es der Stoik seines Herrn gleichzutun. Man spürte, wie sehr Meister und Geselle jene Töne und Rhythmen aufwühlten, die sie den Apparaten entlockten. Auf der Tanzfläche tobten die Menschen durch die langsam kühler werdende Nacht – die Augen weit aufgerissen oder verträumt geschlossen, die Lippen leicht geöffnet, die Hände in der Luft. Der Wind vom Meer streichelte die Fingerkuppen jener, die sich gleichsam in den Himmel bohren wollten.

Die Biennale in Venedig war gerade zwei Tage alt, als Hütters Auftritt dokumentierte, wie sehr die Paten des Techno längst die Grenzen von Pop und Musik hinter sich gelassen hatten und zu zentralen Figuren der Nachkriegsmoderne geworden waren. Sie wurden als Klassiker rezipiert. Als einer ihrer Hits, »The Robots«, im neuen Remix jene restlos begeisterte Menge aus Künstlern, Galeristen und Sammlern erfasste, dämmerte auch den durch Alkohol und gute Laune benebelten Intellektuellen, dass Kraftwerk etwas gelungen war, was in der bildenden Kunst zu dieser Zeit schmerzhaft vermisst wurde: eine uneingeholte Modernität, die auch nach 30 Jahren unwidersprochen blieb. Pop war Klassik geworden und die Kunst Pop. Das hat sich in den vergangenen zehn Jahren nur teilweise relativiert.

VORWORT

Im Juli 1877 brüllte Thomas Alva Edison sein erstes »Hulloo« ins Telefonmundstück und ließ den Lärm von einem Phonographen aufzeichnen. So begann die Geschichte der Speicherung von Klängen und Geräuschen und damit die Geschichte des Grammophons – jenes Instrumentes, das der DJ zu einer Revolution in der Popmusik nutzen sollte. 1887 wurde die stanniolbespannte Walze auf dem Phonographen Edisons von der mit Wachs überzogenen Zinkplatte des Erfinders Emil Berliner abgelöst; kurz vor der Jahrhundertwende produzierte die Deutsche Grammophon Gesellschaft die ersten Schallplatten. 1906 legte der Elektroingenieur Reginald A. Fessenden in der allerersten Radiosendung Händels »Largo« auf und gilt seither als Urahne aller DJs. Ende der 60er Jahre erblickte der DJ als Künstler und Musik-Musiker in einem New Yorker Club das Licht der (Unter-)Welt. Disco, Hip-Hop und House haben den DJ zum Komponisten gemacht.

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Pet Shop Boys: »DjCulture« (1991)

Der Übergang des DJs vom Plattenaufleger zum Musiker steht im Mittelpunkt dieses Buches. Wie die Künstler im Mittelalter waren die DJs zunächst als Handwerker definiert. Den DJ als Star und »Autor« gibt es – von einigen Ausnahmen abgesehen – erst seit kurzem. Doch der DJ Culture1 gehört die Zukunft der Popmusik. Neil Tennant von den Pet Shop Boys ist sich ganz sicher: »Auf Dauer sind zwei Plattenspieler und ein Mischpult aufregender als fünf Gitarrensaiten.«2

Der DJ stellt den herkömmlichen Künstlerbegriff in Frage, sprengt ihn und wird ihn in renovierter Form reetablieren. Der DJ ist per definitionem Eklektiker und Musik-Musiker. So wie sich der Filmemacher Jean-Luc Godard als Organisator von Bildern und Tönen bezeichnet,3 so erscheint der DJ in der Musikszene, um den archaischen Gedanken der Schöpfung, der sich bis in Ästhetiken des späten 20. Jahrhunderts retten konnte, zu hinterfragen und zum Teil zu zerstören. Der Künstler als Schöpfer seines Werkes in genialischer Autonomie ist in der Renaissance entworfen und von der idealistischen Ästhetik immer wieder bestätigt worden: als »alter deus« und Übermensch.4 Erst die Avantgarden des 20. Jahrhunderts rüttelten an dieser Vorstellung. Duchamp, Picabia, Warhol und andere verhöhnten den Künstlergenius und konnten doch nicht verhindern, dass sie den autorenverhafteten Begriff des Künstlers nur modernisierten. Genau in derselben Ambivalenz von Zerstörung und Wahrung der Künstleridee steht der DJ. Radikal legt er sein Material offen: Seine Plattenkiste steht am Ausgangspunkt aller Produktionen. Er organisiert Geschaffenes und fügt Kunstwerke zu einem neuen Ganzen zusammen. Er ist ein Künstler zweiten Grades.

Lange Zeit war der Künstler entweder ein expressionistischer Autist, der aus sich selbst heraus, quasi als »neurotische« Zwangshandlung, Kunst produzierte, oder aber ein bewusster, rational vorgehender Schöpfer, der sich in der Tradition der gesamten Kunstgeschichte arbeiten sah. Dieser Typus hob mit seiner Kunst die bisher geschaffenen Produktionen im hegelianischen Sinne auf: Das hieß, er negierte, bewahrte und erhöhte sie zugleich.5 Der DJ nun hebt die bisher produzierte Musik im materialistischen Sinn auf: Er sammelt und archiviert sie als Rohstoff für seine eigene Arbeit. Damit gelangt er ganz direkt in ein Verhältnis zur Musikgeschichte und kann so unmittelbar mit dieser hantieren. Er kann Sounds, Beats und Melodien aus verschiedenen Liedern, von verschiedenen Komponisten, sogar aus unterschiedlichen Epochen in Verbindung bringen, sie gegenüberstellen oder miteinander vermischen. Alte Musik wird in neue Zusammenhänge gestellt; die Kontexte werden verschoben. Alte Musikstücke (sowohl im Sinne von ganzen Liedern als auch von Liedelementen) lassen sich unendlich oft neu erfinden. Die Musikgeschichte scheint ihre Linearität zu verlieren: Der potentiell unbegrenzte Zugriff auf altes Material lässt alles auf das Jetzt, den Moment der Synthese, zulaufen.

Das Vorgehen der DJs ist weniger rational als vielmehr darauf angelegt, in der Musik total aufzugehen, wie es ein berühmter Songtitel propagiert: »Lost in Music!« Es gibt keine DJ-Poetik, die sich in abstrakten Begriffen oder theoretischen Überlegungen zum eigenen Schaffen äußert. Der DJ scheint kein bewusstes Verhältnis im Sinne eines in ästhetischen Begriffen gedachten Selbstentwurfes zu haben. Er neigt dazu, sich eher als Handwerker und Musikliebhaber zu verstehen. All die vielen Interviews und Stellungnahmen der DJs verdeutlichen, dass sie ohne Begriffe auskommen können und wollen. Sie haben sich der Musik komplett verschrieben und betrachten es als reine Zeitverschwendung, sich eine Theorie für das eigene Handeln zurechtzulegen. Außerdem könnten Reflexionsprozesse jeder Art die unmittelbare Leidenschaft für die Musik abschwächen. »Es kommt alles von da!«, erklärt Star-DJ David Morales in einem Interview und legt seine Hand auf das Herz.6 Die meisten DJs verspüren nicht das geringste Bedürfnis nach intellektueller Vermittlung. Wer sie verstehen will, muss in den Club gehen. Die Wahrheit über DJs muss erlebt werden, wenn man dem DJ bei der Arbeit zusehen kann und zu seiner Musik tanzt. Dieser Text kann von Fakten, Taten und Ideen sprechen – im Club sind solche Worte stumm und hilflos.

Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Michel Serres vermutet, dass die Human- oder Sozialwissenschaften nur »Polizeimethoden« kennen. Dies sei die wahre Gefahr für jene, welche sie benutzen: Sie gingen das Risiko ein, sich so zu verhalten, wie es die Methode oder die Theorie diktiert.7 »Man muss den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun«, mahnte Foucault, »jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen.«8 Ein Buch über ein Thema wie den DJ muss sich also sehr davor hüten, der Realität allzu viele wissenschaftliche Fesseln anzulegen. »Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis«, schrieb Foucault und wies darauf hin, dass es keine prädiskursive Vorsehung gebe, »welche uns die Welt geneigt macht.«9 Ganz besonders, wenn es sich um ein so häufig wortfreies Stück Welt handelt wie die DJ Culture. Der DJ ist der Wissenschaft bisher bis auf wenige kleine Ausnahmen unbekannt geblieben. DJs sind unstrukturierte, von der Episteme weitgehend unberührte »Natur«. Daher erfordert es das wissenschaftliche Erkennen, »sich dem Leben des Gegenstandes zu übergeben«.10

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T-Shirt mit Keith-Haring-Motiv

DJs neigen zu wortfaulem Autismus. Damit sind sie ein gefügiges Objekt für jeden Theoretiker und Wissenschaftler, der sich ihnen nähert. Er kann ihnen seine Begriffsdecke über den Kopf ziehen und sie in die Struktur seiner Theorie hineinpressen, ohne mit irgendwelchen Gegenreaktionen rechnen zu müssen. Die Polizeimethoden haben es in diesem Fall mit einem willfährigen Opfer zu tun. Doch das Opfer ist mehr und/oder minder immun gegen die Attacken des Forschers; dem DJ ist es meist egal, was über ihn geschrieben, gedacht und diskutiert wird. Er gehört den Produzenten einer neuen Zeit an, die auf den theoretischen Überbau ihres Werkes keinen Wert legen. So sind die DJs zum Parasiten freundlich und aufrichtig. Nicht, weil sie ihn schätzen, sondern weil er ihnen nichts bedeutet.

Es genügt keinesfalls, den DJ nur in einen ästhetischen Zusammenhang zu plazieren. Technik- und Mediengeschichte erden das ästhetische Phänomen »DJ« materialistisch, die Pop- und Subkulturgeschichte positioniert den DJ musikalisch und sozial. Die mehr oder minder bewegte Geschichte der vergangenen 20 Jahre hat ihn nicht nur an die Spitze der Kulturavantgarde gesetzt, sondern auch in die Mitte eines erklärtermaßen sinnlosen Sinnzentrums postmoderner Lebenspraxis. Eine der wichtigsten (Club-)Kulturzeitschriften dieser Zeit, das »i-D«-Magazin, erklärte 1990 in ihrer Enzyklopädie der 80er Jahre Clubs, Mode und Musik zum Triumvirat der letzten Dekade, deren enger Bund den einen nicht ohne den anderen denkbar mache. Als Motor dieses Triumvirats drehte, schraubte, rollte und mixte sich der DJ in die vorderste Front einer Jugendkultur, die reicher und vielfältiger war11 als die jedes anderen Jahrzehnts.

Einzig in diesem Umfeld von hipper Mode, coolen Clubs und den alles tragenden Beats und Grooves tauchen außerhandwerkliche Aussagen von DJs auf. In dieser Umgebung durchbrechen einige DJs ihr selbstauferlegtes Schweigegelübde, um als intellektuelle Ordnungsmacht ihre kleine Welt zu organisieren. Hier finden sich dann auch Berührungspunkte für den Wissenschaftler, der eine Geschichte und Ästhetik der DJ Culture erarbeitet. Einer der Erfinder des Hip-Hop, DJ Grandmaster Flash, will die Geschichtsschreibung in den eigenen Händen wissen. Abgesehen von ihm und ein paar anderen DJs gäbe es niemanden, der die Geschichte des Hip-Hop erzählen könnte. »Either you can hear his-story, or history, and the only way you gonna hear the real historical views on it is by the people who were actually there – who actually took it from nothing and built into whatever it became to be.«12

EINLEITUNG

DIE SACHE MIT DER PARTEILICHKEIT

Diese Arbeit ist parteiisch. Eine Geschichtsschreibung des DJs ist wie jede Geschichtsschreibung auch ein Akt der Selektion und Bewertung. Grundsätzlich ist jede Form und Erscheinung des DJs interessant, doch am faszinierendsten und wichtigsten – für die Profession – sind die Figuren des Aufbruchs, des Widerstands und der Rebellion, die aus dem biederen Plattenaufleger eine komplex strukturierte Künstlernatur machen. Die Geschichte des DJs ist nicht zuletzt die Geschichte der Ausnahme-DJs, die eine Vision von ihrem Job hatten und von der Musik, die sie spielen und damit durchsetzen wollten. Die sich gegen Mainstream und Anpassung stellten und die so zu Heroen des großen, allgemeinen Popaufstandes wurden, der diese Musik von Anfang an immer zu einer aufrührerischen und aufregenden Sache gemacht hat.

Die Popgeschichtsschreibung, auf die sich dieser Text, besonders im ersten, allgemein historischen Teil, bezieht, ist immer auch eine Quelle der Legendenbildung um diese DJ-Figuren. Selten bleibt der Ton nüchtern, immer ist den Texten der Schreiber, ob es Literaten sind wie Nik Cohn, Thomas Pynchon und Tom Wolfe oder Musikhistoriker wie Arnold Shaw, Charlie Gillett oder Nelson George, anzumerken, dass die Autoren den DJs oft gelauscht haben und dass sie von ihnen und ihrer Musik beeindruckt, ja beeinflusst worden sind. Nicht einmal die Artikel in Rocklexika bemühen sich um eine neutrale Haltung, der DJ ist mehr als ein Plattenaufleger, er ist einer der neuen »Kulturmacher« (Wolfe) und eine Kultfigur.

Wissenschaft muss sich um Objektivität und Neutralität bemühen. Wie kann sich die Wissenschaft einer Kultfigur annähern, ohne ihr die Aura zu rauben? Wie kann Wissenschaft den Geist einer Kultfigur aufnehmen, ohne sie durch die falschen Begriffe komplett zu entstellen? Nietzsche schrieb 1887, dass die Wissenschaft »heute ein Versteckspiel für alle Art Missmuth, Unglauben, Nagewurm, despectio sui, schlechtes Gewissen«1 sei und geprägt von der Unruhe der Ideallosigkeit und dem Mangel an großer Liebe. Diesen »Missmuth«, Unglauben und vor allem den Mangel an Liebe verträgt das DJ-Thema nicht.

»Definieren Sie nicht«,2 warnt Michel Serres, der die Wissenschaft zur Ordnung ruft, indem er an ihr Herz appelliert. Für Serres, einen der fröhlichsten zeitgenössischen Denker, erwächst die Fruchtbarkeit eines Werkes aus dem Positiven, ohne Reich und ohne Herrschaft, ohne Dominante und ohne Widerspruch. Der Schöpfer im Denker ist gefordert: »Los, vorwärts, fassen Sie die ausgestreckte Hand, machen Sie weiter, Zuversicht wird sich einstellen. (…) Wollen Sie schreiben, dann verlassen Sie die Kritik. Lassen Sie die Theorie, die Methode, alle intellektuellen, emotionellen Begehrlichkeiten fahren.«3

Besonders wichtig sind diese epistemologischen Forderungen für einen Theoretiker, der auf beiden, auf »gegnerischen« Feldern agiert: der zum einen als Wissenschaftler über den DJ schreibt und zum anderen seit Jahren als House-DJ Platten auflegt und sich ganz dem Dancefloor-Underground verpflichtet fühlt. Beiden Seiten gerecht zu werden versucht dieser Text. Jede wissenschaftliche Arbeit hat ihre individuellen, epistemologischen Probleme, und jede muss zu einer befriedigenden wissenschaftlichen Konstruktion gelangen, die Thema und Beschreibung »am Leben lässt«. Dieses Buch über DJs bemüht sich, strenge Kategorisierungen und restriktive Begriffsordnungen zu umgehen, um ein »verknöcherndes Aushungern der Dinge«,4 die beschrieben und erklärt werden sollen, zu vermeiden.

Geschrieben wird nicht zuletzt mit dem Herzen, und das gehört dem Underground-DJ. Glücklicherweise hat der Autor gute, sozusagen objektive Gründe, sich in seinen Ausführungen auf den Underground zu konzentrieren. Denn dieser ist es, der nach Ansicht aller Experten die Entwicklung des Mainstreams vorangetrieben hat. Wie die Avantgarden in der klassischen Moderne haben die Rebellen das Gesicht der Hoch- und Popkultur verändert und geprägt. Besonders in der Popkultur war eine rebellische, oft aggressive Praxis von Anfang an konstituierend.

DIE SACHE MIT DEM UNDERGROUND

»Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h., die Klasse, welche die herrschende Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht«,5 schrieben Marx und Engels 1845/46 in der »Deutschen Ideologie«. »Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zur Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.«6

Über eine kulturelle Dissidenz verlieren Marx und Engels kaum ein Wort. Knapp bemerken sie, dass die Existenz revolutionärer Gedanken in einer bestimmten Epoche »bereits die Existenz einer revolutionären Klasse«7 voraussetze. Geschrieben wurde dies in einer Zeit des Bürgerkriegs, der Revolutionen und des Klassenkampfes.

Der Beginn der Popkultur liegt in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts, als die westliche, zivilisierte Welt anfing, es sich in Frieden und Wohlstand gutgehen zu lassen. Und von Anfang an war diese Popkultur Produkt herrschender Ideologie und Ausdruck absoluter Rebellion zugleich. Die Wurzeln der ersten Popmusik, des Rock ’n’ Roll, lagen im Rhythm & Blues, Jazz und Gospel der unterdrückten Schwarzen und im »Schnulzengesang der Weißen«.8

Von Anfang an war die Popkultur eine Sache der Jugend, und deren erstes Ziel – als biologisch determinierte Avantgarde – war der symbolische Vatermord, die Auflehnung gegen das Alte und der Kampf für das Neue und Eigene: die Pubertät als Manifest. Die Jugendlichen rebellierten so lange, bis sie sich durchgesetzt hatten und selbst Establishment wurden. Eine ganz natürliche Angelegenheit ständiger Erneuerung in einer Gesellschaft, die so keine großen Konflikte aufkeimen ließ. Greil Marcus zufolge wurden durch Pop Lücken in die überkommenen kulturellen Voraussetzungen geschlagen. Die herrschenden Annahmen darüber, wie die Welt funktioniere, wurden in Frage gestellt – gipfelnd im Punk als Pop, der sich auf alles auswirkte, »auf das Milieu, in dem man als Pendler zur Arbeit fuhr, in der Fabrik, dem Büro oder dem Einkaufszentrum seinem Job nachging, ins Kino ging, Lebensmittel einkaufte, Schallplatten erwarb, fernsah, miteinander schlief, Gespräche führte, keine Gespräche führte oder auflistete, was man als Nächstes tun wollte, also auf die allgemeinen Lebensumstände der Menschen«.9 Das unerträgliche Leben wurde erträglich.

Keine politischen Überlegungen schienen die Poprebellion angetrieben zu haben, sondern vielmehr die Sehnsucht vieler Menschen nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung, eine Sehnsucht also, die bisher jede bürgerliche Demokratie mit konstituierte. Dass diese Sehnsucht genuin politische Interessen beinhaltete, wollte in den 50er Jahren niemand wissen, ging es doch eigentlich nur um das Privatleben, die persönliche Existenz. Anfang der 60er Jahre stauten sich langsam die Aggressionen der Jugendlichen gegen die Restriktionen und Repressionen einer reformbedürftigen Gesellschaft und kamen schließlich Ende der 60er Jahre zum Ausbruch. Die »Kinder von Marx und Coca-Cola« (Godard) versuchten nun nicht mehr nur, ihre eigene kleine Welt zu verändern, sondern auch zugleich den ganzen Rest. Als Traum von freier Liebe, Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit und mit einem Schuss Sozialismus sollte die Poprebellion in einer echten Revolution enden. Doch das Projekt scheiterte politisch; gesellschaftlich machte es die angeschlagenen westlichen Nationen fit für die neue Zeit. Alles wurde vermeintlich liberaler, großzügiger, toleranter. Die Werte der Nachkriegszeit waren rundum erneuert worden, und das Establishment hatte einen modernen Anstrich bekommen.

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Sid-Vicious-Foto inmitten einer Modestrecke in »Interview« 10/1993

Die politischen Utopien hatten endgültig ausgedient, und eine große allgemeine Ratlosigkeit machte sich breit. Sollten die 70er Jahre das Ende der Popkultur sehen? Nein, denn die Zukunft des Pop hatte längst begonnen in kleinen, dunklen Schwulenclubs in New York. Disco wurde geboren und mit ihr eine neue Strategie des Widerstands. Separatistisch versuchte eine Minderheit (schwul und/oder schwarz), sich in düsteren Garagen, bunten Clubs und kleinen Bars eine eigene, neue Welt aufzubauen, ohne direkt auf die »wirkliche«, feindliche (Außen-)Welt reagieren zu müssen. Während der Diskurs der 60er Jahre geprägt war vom lauten, pathetischen Nein, setzte die Disco-Kultur auf ein lautes, euphorisches Ja. Mit Widerspruch und Kritik hatte sie nur mittelbar, nur unfreiwillig zu tun. Der Disco-Underground war Underground, weil er sich deutlich vom Rest der Welt absonderte und weil er von Leuten getragen war, die im Rest der Welt diskriminiert und deren Leidenschaften unterdrückt waren.

Wie beim Rock ’n’ Roll, beim Soul und Funk wurde die Musik zum außergesellschaftlichen Freiraum – mit dem Unterschied, dass in der Disco-Kultur erstmals der vordergründig rebellische Charakter verschwunden war. Es ging um das Gutaussehen, Cool-Tanzen und um das Spaßhaben. Die Disco-Kultur stellte sich nicht offensiv gegen die Welt, sondern ignorierte sie und versuchte, eine eigene aufzubauen. Eine Grundhaltung, die alle folgenden Dancefloor-Subkulturen prägen sollte.

Gerade als Disco 1977 den absoluten Höhepunkt und Ausverkauf erlebte, tobte in London die Punk-Revolution. Ihre Musik, ihr Stil und ihr Auftreten machten die Punks zu Kriegern einer nihilistischen Guerilla, die den Rest der Welt nicht ignorieren, sondern vernichten und dann vergessen wollte.

Für Greil Marcus, der in »Lipstick Traces« den Punk in eine Reihe mit den wichtigsten kulturellen Avantgarden des 20. Jahrhunderts stellt, hat Punk die Welt verändert. Das Nein der Punker war so laut und unversöhnlich, dass es das Leben derjenigen verändern musste, die ihnen richtig zuhörten. Greil Marcus hatte dies am eigenen Leib verspürt. Nach dem letzten Konzert der Sex Pistols am 14. Januar 1978 in San Francisco war sein Leben verändert. Alles konnte noch einmal neu beginnen. Marcus war damals 32 Jahre alt. Es folgten neun Jahre Arbeit an »Lipstick Traces«.

Der Wunsch, die Welt zu verändern, begann »mit dem Anspruch, nicht als Objekt, sondern als Subjekt der Geschichte zu leben, so zu leben, als hänge von dem, was du tust, tatsächlich etwas ab. (…) Die Musik verdammte Gott und den Staat, Arbeit und Freizeit, Heim und Familie, Sex und Vergnügen, das Publikum und sich selbst und machte es dadurch für kurze Zeit möglich, alle diese Dinge nicht als Tatsachen, sondern als ideologische Konstrukte anzusehen, als etwas Fabriziertes, das sich ändern oder völlig abschaffen ließ. Es tat sich die Möglichkeit auf, diese Dinge als schlechte Scherze zu sehen und die Musik als den besseren Scherz. Die Musik wirkte wie ein Nein, das zu einem Ja wurde, dann wieder zum Nein und erneut zum Ja: Nichts ist wahr außer unserer Überzeugung, dass alles, was wir als wahr akzeptieren sollen, falsch ist. Wenn nichts wahr war, war alles möglich.«10

Diese Haltung, die Marcus dem Punk zuschreibt, lässt sich mit Verschiebungen auch auf die Disco-Kultur übertragen. Während die Punks ihre Anliegen aggressiv kundtaten, ignorierten die Disco-Macher und -Jünger Gott, Staat, Arbeit, Heim und Familie. Sie machten sich zu Subjekten der Geschichte, indem sie sich einen Raum schufen, wo sie unentfremdet und selbstbestimmt glücklich sein durften. Disco hatte das Nein schon hinter sich und konnte direkt mit seinem Ja anfangen. Und dennoch wurde Punk für die nachfolgenden (Jugend-)Subkulturen zum wichtigen Ansatzpunkt, vor allem auch für die (europäische) Dancefloor-Szene.

Punk hatte die Welt untergehen lassen – »symbolisch, wenn nicht anders möglich«.11 Und nach dem Untergang waren viel Platz und Raum da, Neues zu schaffen. Nach der symbolischen Vernichtung setzte die symbolische Neuorientierung ein. Bis in die Kunst, die Literatur, den Film und die Grafik reichten die Erschütterungen des Punk. Überall begannen junge und »fast junge« Menschen, ihren eigenen Vorstellungen von Schönheit, Kunst, Design nachzugehen. Ein Schub begann, der bis in die späten 80er Jahre andauerte.

Der linke englische Musikwissenschaftler Simon Frith stellte angesichts von Punk die Frage, ob man, um revolutionäre Musik zu machen, musikalische Traditionen und Sprache revolutionieren müsse und ob Avantgarde die einzig radikale Kunstform sei. Beides beantwortet Frith mit Ja. »Avantgarde ist per Definition die Kunstform, die sich gegen die kulturelle Verwertbarkeit des kapitalistischen Systems sperrt.«12 Frith schrieb dies 1978, und schon ein Jahr später wurden Punk-Outfits bei den teuersten Friseuren und Modeläden zum allerletzten Schrei. Bis in das hinterste Provinzkaufhaus schwappte die Punk-Welle, entstellt bis zur Unkenntlichkeit und pervertiert zur reinen Formsache. Der radikale Widerstand gegen alle Regeln des Establishments wurde von ebendiesem genüsslich aufgesogen. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis erschien bei Thomas Gottschalk mit wild geföhnter Punk-Frisur. Die Kraft des Widerstands und die Heftigkeit der Entrüstung (wie von Punk vorgesehen) wurden umgewandelt in positive Energien, die für das System verwertbar waren: wie Kreativität, Originalität und Frechheit (das war das gewünschte Pendant zur Rebellion, siehe Thomas Gottschalk oder Günther Jauch). Die Ambivalenz von Punk zwischen absoluter Rebellion und zynischem Nihilismus war bewusst konstruiert. Malcolm McLaren, einer der Entdecker des Punk, bezeichnete die ganze Sache als »The Great Rock ’n’ Roll Swindle«. Wie auch schon bei der 68er-Revolte, stand am Ende von Punk ein modernerer Anstrich der alten Gesellschaft, der mehr Toleranz und ein verändertes (libertäreres) Wertesystem versprach, ohne jedoch deren grundsätzlich restriktive Grundzüge zu verändern. Alles blieb, wie es war, aber es sah jetzt netter aus und schien mehr Spaß zu versprechen. Nach der glorreichen Befreiung war es auch diese Erfahrung der blitzschnellen Vereinnahmung und des kompletten Ausverkaufs, die die nach Punk folgenden Subkulturen prägte. Gefragt war eine neue Strategie des Widerstands, und heraus kam der ansehnliche Zeichenkrieg der 80er Jahre.

Eine der wichtigsten Zeitschriften dieses Aufbruchs war das englische »i-D«, das im September 1980 gegründet wurde und seither mit wilden Layouts, eigenwilligen Bildern und stürmischen Texten über »i-Deas, Fashion, Clubs, Music, People«13 berichtet. 1990 stellten die Macher des »i-D« eine Enzyklopädie der 80er zusammen und zogen Bilanz: »The ’80s was the decade when everybody dealt in ideas. From the pages of magazines, the catwalks, art galleries, music to nightclubs, the energy that punk unleashed at the end of the ’70s became the rationale of a decade. Broken glass stuck on canvas became art, records were made in bedrooms, magazines bred like rabbits, anything and everything became fashion. (…) Ideas were reworked with such speed that nothing ever stood still, and the information technology that evolved made sure that everybody knew what was happening then, even if it couldn’t predict what was going to happen next. Popular culture became a game in which anybody could join in, and everybody broke the rules.«14

Der Normenverstoß wurde in den kreativen Bezirken der kapitalistischen Gesellschaft die Norm. Die neue Freiheit, gepaart mit der wohlstandsbedingten »Konjunktur«15 der Ästhetik, schuf eine Inflation kultureller Innovationen. Alles schien bunt, schön, postmodern zu werden. Die breiten Massen, die wohlhabenden »zwei drittel« der Gesellschaft, begannen, sich für die schönen Dinge des Lebens zu interessieren. Raffinement, Eleganz, Exotik, ja Glamour verloren ihren strikt elitären Beigeschmack.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen, die besonders in der zweiten Hälfte der 80er Jahre kulminierten, musste sich die Popkultur neue Strategien einfallen lassen. Nach Punk und dessen melancholischen Nachwehen im New Wave war es der 82er-Pop, der neue Wege zeigte. Der deutsche Popjournalist und -vordenker Diedrich Diederichsen sah das »Projekt, durch Historisierung und Relativierung aller Musikelemente eine neue Popmusikart auf die Beine zu stellen«,16 als gelungen an: »Niemand glaubte mehr an den natürlichen Ausdruck. Alle Elemente waren referentiell, bezogen sich auf die Historie der Popkultur, nichts war mehr unschuldig, alles überspitzt bewusst, intellektuell, campy und trotzdem schön und berückend. (…) Das Roxy-Music-Projekt einer nicht mehr herausgeschrienen, sondern analog zum System der Sprache aus bedeutenden musikalischen und außermusikalischen Zeichen angeordneten Popmusik hatte sich durchgesetzt.«17

Popmusik war nun – klassisch postmodern – doppelkodiert. Für viele war es einfach nur Pop, für die anderen ein kompliziertes Spiel von Zeichen, mit Verweisen, Anspielungen und Überlegungen, die Pop zur (kritischen) Theorie von Pop werden ließen. Bands wie ABC, Spandau Ballet oder Heaven 17 produzierten Pop im Wissen um die Funktion, die Pop in einer kapitalistischen Gesellschaft hat, und die Gefährdungen, welche daraus erwachsen können. Ein neues, linkes Poppublikum wuchs heran, das Pop nicht mehr mit unschuldiger Euphorie, sondern mit reflektierter Euphorie genoss und das »für die Werte Wort, Geschichte, Politik und Schönheit einstehen«18 würde. Aus diesem Publikum entstand die neue, linke Popkritik um die Zeitschriften »Sounds« und »Spex« und die Literatur von Lottmann, Diederichsen, Glaser und Goetz.

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Madonna: Filmstill aus »In Bed with Madonna« (1991)

Der 82er-Pop währte kurz, aber seine Folgen waren andauernd. Der Mainstream-Pop wurde ab jetzt an seinem Medienrealismus gemessen, das heißt an der Exaktheit, mit welcher sich die Bedingungen des Produktionsprozesses und seiner Zusammenhänge in der Musik, im Styling, in Interviews, Videos und Auftritten dem Produkt eingeschrieben hatten. Madonna wurde zum Paradebeispiel: Auf der einen Seite verkörperte sie ganz die »Hure« des Systems, indem sie mit ihrem rationalisierten Wechselspiel von Images jeder Modeerscheinung nicht nur aufsaß, sondern diese auch ausbeutete; auf der anderen Seite verlor Madonna aber nie den Kontakt zum Dancefloor-Underground. Die strikte Trennung zwischen ihrer Persönlichkeit und dem Popimage (das stündlich gewechselt werden konnte) machte sie zur Galionsfigur der neuen kritischen Popintellektuellen. Analog funktionierten Bands wie New Order und die Pet Shop Boys; Letztere wurde bezeichnenderweise von einem Popschreiber gegründet. Vergleichbar ist die Bewusstwerdung des Pop mit der Entwicklung im Film der 50er Jahre, als sich in Paris junge Filmjournalisten zusammenfanden und über die Theorie und das Schreiben und über die Liebe zum Film zur Praxis gelangten. Die Nouvelle Vague nahm mit ihren reflektierten »Film-Filmen« dem Kino seine Unschuld und rettete es gleichzeitig vor Verödung und Verdummung.

Die Popintellektuellen, ob sie als Journalisten oder als Musiker arbeiteten, nutzten das für kritische und reflektive Ansätze relativ unberührte Feld der Popmusik, und unter dem Deckmantel der Affirmation begannen sie in der Unterhaltungsindustrie einen Feldzug raffinierter Doppelkodierung.

Diederichsen bezeichnet die »Abweisung der stets dialogischen Struktur der Kritik oder des Protestes zugunsten von Scheinaffirmation oder Affirmation«19 als eine der zentralen künstlerischen Praktiken, die sich als subversiv verstehen. Der kluge, doppelkodierte Pop hat keine Lust, sich kritisch in die Meinungsbildungsprozesse bürgerlicher Öffentlichkeit zu integrieren, sondern heuchelt ein scheinbar grenzenloses Einverständnis mit der Machtausübung; »denn dass die Scheiße mit sich selbst identisch bleibt, ist (…) mehr Grund zur Freude, als wenn sie durch den Dialog mit Oppositionellen die Gelegenheit bekommt, sich selbst als reformfreudig zu inszenieren«.20 Stattdessen werden ganz direkt Energien in den Underground gesteckt. Madonna hält den Kontakt zu den Schwarzen und schwulen Latinos und verschafft ihnen lukrative Aufträge, die Pet Shop Boys finanzieren die Filme des in England vom »Clause 28«21 betroffenen Filmemachers Derek Jarman bis zu seinem Tod 1994.

Eine ganz andere Strategie schlugen die sogenannten Indie-Bands ein, die ganz im Geiste des Punk die großen Plattenfirmen und deren Vermarktungs- und Produktionsbedingungen mieden. Die Indie-Bands erschlossen dem Musikkonsumenten ein breites Spektrum von experimenteller E-Musik, Industrial- und Konzeptkunstklängen über Punkrock, Metal und EBM