Flucht nach Varennes

 

 

 

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Band 81

 

Flucht nach Varennes

 

von Uwe Voehl und Catherine Parker

 

 

© Zaubermond Verlag 2015

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Ihn kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Der in ihr schlummernde Asmodi übernimmt die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Und die Umstände wollen es, dass ausgerechnet Coco Zamis die neue Schiedsrichterin wird. Das Dämonenkiller-Team droht zu zerfallen, Dorian stirbt. Die Dämonen scheinen gesiegt zu haben.

Aber mit vereinten Kräften gelingt es Dorians Freunden, ihn ins Leben zurückzuholen. Das Team formiert sich neu. Dummerweise sind einige von ihnen während Dorians Abwesenheit auf Abwege geraten. So hat der ehemalige KGB-Agent Kiwibin eine mächtige Dämonin namens Mainica aus ihrem steinzeitlichen Gefängnis befreit.

 

 

 

 

Erstes Buch: Nach uns die Hölle

 

 

Nach uns die Hölle

 

von Uwe Voehl

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm

 

1. Kapitel

 

Paris

Mystys Didgeridoo webte rhythmische Klangteppiche über die Tundra.

Jason dagegen hatte es nach draußen zum Schneemobil getrieben, um sich eine Flasche Whisky aus seinem Gepäck zu holen. Eigentlich hatte er sich geschworen, die letzte Etappe clean zu bleiben. Das, was sie beide erwartete, würde er nur mit klarem Kopf bewältigen können.

Jason McCullough war Schotte. Menschen, die ihn zum ersten Mal sahen, waren versucht, den bärenstarken, wortkargen Mann vorschnell in die Kategorie Rocker einzugruppieren. Äußerlich erfüllte er alle Klischees: Das lange schwarze Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, die rechte Wange zierte eine lange Narbe, die er sich bei einer Messerstecherei zugezogen hatte, und seine Arme waren vollständig tätowiert. Zu Hause in Schottland fuhr er am liebsten auf seiner Harley die hügeligen Straßen seiner Heimat ab. Aber seine Leidenschaft für das Rockerleben beschränkte sich tatsächlich auf seine Harley und die damit verbundene Freiheit, die sie ihm schenkte. Er gehörte keiner Bikergang an, und die Sache mit dem Messerkampf lag schon lange zurück. In der Magischen Bruderschaft galt er als Tüftler. Für ihn gab es keine Probleme, nur Herausforderungen, die es zu überwinden galt. Wenn er einmal eine Aufgabe übernommen hatte, führte er sie bis zum Ende aus. Egal, wie lange es dauerte und wie mühsam der Weg war.

Von seiner dänischen Mutter hatte er die Gabe der Runenmagie geerbt. Zugleich beherrschte er eine ganz spezielle Form der Synästhesie: Sein Gehirn setzte alle Gedanken, Wahrnehmungen und Sinnesreize in Runen um. In Ausnahmesituation wurden die von ihm erzeugten Runen auch für Außenstehende sichtbar. Sie schwebten dann wie filigrane Schatten um ihn herum, hüllten ihn ein und beschützten ihn.

McCullough stapfte über die gefrorene Schneedecke. Sie war so hart, dass noch nicht mal ein Knirschen zu hören war. Obwohl es nur wenige Meter bis zu dem Schneemobil waren, drang die erbarmungslose Kälte sofort durch seinen schützenden Anzug. Lautlos fluchte er vor sich hin. Er befand sich an einem der abgelegensten und kältesten Orte, an denen er je gewesen war. Aber gerade das hatte ihn gereizt: Eine Herausforderung anzunehmen, die selbst für ihn völlig neu war. Natürlich hatte er sich mental auf die Mission vorbereitet. Er wusste, was ihn erwartete: eine Eiswüste, in der nur wenige Stunden am Tag die Sonne zu sehen war. Ohne Hilfsmittel und entsprechende Schutzausrüstung würde man zu dieser Jahreszeit innerhalb von Minuten erfrieren. Wer sich verirrte, dem drohte der Hungerstod.

Plötzlich stutzte er. Direkt neben dem Schneemobil ragte ein Schatten auf. Blitzschnell jagte McCullough vorwärts. Doch bereits nach dem ersten Meter war der Schatten wieder verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sich hinter dem Gefährt zu Boden geworfen und war nun nicht mehr zu sehen.

McCullough überlegte nur kurz, ob er Mysty zu Hilfe holen sollte. Dann entschied er sich, die Sache allein zu regeln. Er selbst war unbewaffnet.

In der Einöde war sich jeder selbst der Nächste. Und wen hier der Tod ereilte, hinter dem krähte kein Hahn. Vielleicht aber handelte es sich auch nur um einen hungernden Nomaden, der Hilfe suchte. Doch warum schlich er dann hier herum, anstatt sich offen zu zeigen?

Eine Windböe erfasste ihn von vorn. Sie hüllte ihn in Schnee und feine Eiskristalle, sodass er von einer Sekunde zur anderen nichts mehr sah.

Wenigstens nicht mit seinen Augen. Reflexartig schaltete sein Gehirn um. Er nahm die Umgebung als Runen wahr. Als solche, die ihm nutzten, und solche, die ihm schadeten. Die Schadensrune war pechschwarz und schwebte links oben in seinem imaginären Blickfeld. Ohne abzubremsen, lief er weiter, verließ sich dabei auf sein sensorisches Navi, wie er es scherzhaft nannte, das anstelle der bewussten Entscheidungen nun seine Bewegungen steuerte.

Die schwarze Rune bewegte sich. Rasend schnell schwirrte sie davon und verschwand. Als McCullough die Stelle erreichte, an der der Fremde einige Sekunden zuvor noch gestanden hatte, war dieser verschwunden.

Und mit ihm das plötzliche Schneetreiben. Er konnte wieder mit seinen Augen sehen. Aber auch das half ihm nicht weiter. Der Unbekannte schien über alle Berge zu sein.

Als hätte er sich in Luft aufgelöst.

Die Schneedecke lag unberührt vor ihm und verlor sich nach einigen Metern in der Dunkelheit.

»Er ist noch da. Irgendwo dort draußen. Ich spüre ihn!«

Zuerst zuckte er zusammen, als er die Stimme hörte. Doch er erkannte augenblicklich, dass keine Gefahr bestand. Sein Partner Volkher Fischer war lautlos hinter ihm aufgetaucht. Innerhalb der Magischen Bruderschaft nannten sie ihn Mysty, eine Mischung aus Nebel und Mysteriös. Lautlos wie der berüchtigte Londoner Nebel stand er unerwartet hinter einem. Und er verstand es wie kein Zweiter, zu schweigen. Was seine Person betraf, so wusste man nur sehr wenig über ihn, was zur allgemeinen Legendenbildung beitrug. Es hieß, er habe nach dem Besuch des Konservatoriums seine Studien auf die Musik der Naturvölker ausgedehnt. Auf privaten Reisen nach Süd- und Nordamerika, Afrika, Asien und Australien habe er dabei den magische Nutzen der Musik erkannt.

Seit sie zusammen durch die Tundra reisten, spielte Mysty vor allem auf seinem Didgeridoo und trieb McCullough damit zur Weißglut.

Du kannst ihn gar nicht bemerkt haben, dachte McCullough. Weil du auf deinem verdammten Holzschwanz rumgeblasen hast! Allerdings wusste er, dass Mysty ebenso wie er über mehr Sinne verfügte als normale Menschen. Sein Ärger verpuffte genauso schnell, wie er gekommen war.

»Ich habe ihn nicht mehr auf dem Radar«, flüsterte er.

»Aber ich«, erwiderte Mysty. »Es sind sogar zwei. Und sie verbergen sich in der Dunkelheit.« Er spähte hinaus in die Nacht, als würde er mit unsichtbaren Fühlern die Fremden, die sich dort versteckten, ertasten.

»Sollen wir sie uns schnappen?«, schlug der Schotte vor, aber Mysty schüttelte nur den Kopf. Wie so oft ließ er nur Gesten sprechen, anstatt etwas zu sagen. Eine Angewohnheit, die McCullough zur Verzweiflung brachte.

»Du meinst also, wir sollen hierbleiben?«

Diesmal dauerte es sogar eine geschlagene Minute, ehe Mysty endlich nickte.

»Was heißt das? Sind sie weg?«

»Ja.«

»Aber wer mögen die zwei gewesen sein? Warum schleichen sie hier herum, anstatt sich ordentlich vorzustellen? Es gibt Zeitgenossen, die fackeln nicht lange, wenn sich jemand auf diese Weise ihrem Lager nähert!«

»Sie werden etwas zu verbergen haben.«

»Ach ja, und was? Glaubst du, sie waren wegen uns hier?«

»Weiß ich noch nicht. Und ich schlage vor, es auch nicht herausfinden zu wollen. Nicht heute Nacht. Unsere Mission lautet, das Hügelgrab vorzubereiten. Konzentrieren wir uns darauf.«

Klugscheißer!, dachte McCullough, aber auch das behielt er für sich. Hier in der Wildnis waren er und Mysty aufeinander angewiesen. Sie hatten sich einander nicht ausgesucht. Das Oberhaupt der Magischen Bruderschaft hatte sie beide als erfolgversprechendstes Team für diesen Job ausgewählt.

»Ist dir klar, dass du gerade das erste Mal mehr als zwei Sätze hintereinander gesprochen hast?«, sagte er stattdessen.

»Es waren sogar vier.« Mysty grinste.

»Also schön, ich schlage vor, dass wir für den Rest der Nacht abwechselnd Wache halten.«

»Einverstanden. Ich bleibe hier draußen. Du kannst dich als Erster hinlegen.«

»Okay, aber vorher brauche ich meine Wärmflasche. Jetzt erst recht!«

Mysty sagte nichts dazu. Er trank keinen Alkohol. McCullough spürte aber, dass der andere es ihm zumindest als Schwäche auslegte. Dennoch war aus Mystys Miene, die auch die eines schweigenden Indianers hätte sein können, nichts herauszulesen.

McCullough kletterte auf die Ladefläche, kramte aus seinem Gepäck die Flasche Whisky heraus und verzog sich schließlich zurück in das Thermozelt.

Bereits nach fünf Minuten stürmte Mysty in das Zelt und machte McCulloughs Hoffnung auf Schlaf zunichte.

»Der Motor springt nicht an. Wir sitzen fest.«

»Der Motor? Welcher Motor?« Nicht, dass er wirklich viel getrunken hätte, aber im ersten Moment ließ ihn sein Begriffsvermögen im Stich.

»Ich habe versucht, die Heizung im Schneemobil anzuwerfen. Scheint so, als wären sämtliche Batterien leer.«

Fluchend wälzte sich McCullough aus seinem Schlafsack. »Glaubst du, dass die Kerle von vorhin dahinterstecken?«

»Scheint so, als hätten sie die Energie abgezapft, ja.«

»Energie abgezapft? Wie soll das funktionieren?«

»Keine Ahnung.«

»Was schlägst du vor?« Wenn es nach McCullough ginge, wäre er den Verbrechern hinterhergestürmt. Doch selbst sein Verstand sagte ihm, dass das erst recht ihr Todesurteil bedeuten konnte.

»Hier drinnen ist es warm. Wir warten bis zum Anbruch des Tages und marschieren weiter.«

»Wir marschieren weiter? Einfach so, als wäre nichts passiert?«

»Unsere Mission lautet, das Hügelgrab zu verschließen. Egal wie. Wir werden unsere Aufgabe erfüllen.«

»Und wie? Etwa zu Fuß?«

Mysty antwortete nur mit einem Blick. Aber das, was McCullough darin sah, verriet ihm, dass sein verrückter Partner es tatsächlich ernst meinte.

Zum ersten Mal bereute er, sich auf die Mission eingelassen zu haben. Sie hatten gewusst, dass es nicht einfach sein würde. Wobei ihnen der Weg zum Hügelgrab noch die geringsten Sorgen bereitet hatte. Das Hügelgrab darauf vorzubereiten, dass es auf magische Weise verschlossen werden konnte, war die eigentlich schwierige Aufgabe. In der Theorie hatten sie einen Weg gefunden. Doch ob er in der Praxis Bestand hatte, das konnte sich erst vor Ort erweisen. Wenn es ihnen einmal gelang, einen Bann zu wirken, würden sie die Prozedur beliebig wiederholen können. Sofern es Dorian Hunter gelingen sollte, die Hexe Mainica gefangen zu setzen.

Der Gedanke an Dorian Hunter ließ ihn fluchen. Bevor Mysty und er in diese Kälte aufgebrochen waren, hatte er gehört, dass Dorian Hunter der Hexe auf den Fersen war und sich inzwischen in Versailles befand. Garantiert war es dort um einiges angenehmer.

Trotzdem, irgendetwas stimmte nicht mehr mit dem Wetter, und innerhalb der Magischen Bruderschaft war man überzeugt, dass der Kälteeinbruch mit Mainicas Befreiung zusammenhing. Selbst in London schneite es heftiger als in sämtlichen Wintern davor, obwohl sich die Hexe inzwischen in Frankreich befand.

Mit diesen Gedanken schlief er irgendwann ein.

Er träumte davon, dass er eingeschneit wurde und erstickte.

Als er schreiend von seinem Lager hochfuhr, war es bereits Morgen.

Sie ließen jeden überflüssigen Ballast zurück und schulterten nur das Notwendigste. Schweren Herzens verzichtete McCullough sogar auf seine Flasche Whisky.

Zuvor waren sie nach einem Blick auf das Kartenmaterial übereingekommen, dass sie drei Tage unterwegs sein würden. Drei elende lange Tage und Nächte, die sie überleben mussten, um ihr Ziel zu erreichen.

»Habe ich dir eigentlich schon gebeichtet, dass ich Kälte hasse?«, fragte der Schotte.

»Nein. Aber ich habe dir auch eine Beichte zu machen«, sagte Mysty. »Gestern Nacht, diese Besucher waren keine Menschen.«

»Bist du dir sicher? Dämonen?«

Mysty nickte. Dann stiefelte er los. McCullough schloss sich ihm fluchend an.

Der Schnee knirschte unter ihren schweren Stiefeln. Sie befanden sich auf einer Höhe, in der die Schneedecke nur knapp den Boden bedeckte. Dennoch gab es in dieser eisigen Kälte immer noch eine Vegetation, die sich gegen die weiße Eintönigkeit behauptete.

Stoisch marschierte McCullough hinter seinem Kollegen her. Jeder von ihnen wusste, dass jede Rast nur ihre Kraft- und Wärmereserven rauben würde. Also gönnten sie sich keine Pause.

Die Umgebung wurde zusehends lebensfeindlicher. Die weiß bedeckten Hügel, die sich, so weit das Auge reichte, in allen Richtungen erstreckten, täuschten eine Idylle vor, die trügerisch war.

»Wir müssen sehen, dass wir bis zum Einbruch der Dunkelheit das Tal erreichen«, sagte McCullough, bloß um das eintönige Schweigen zu brechen. Aber Mysty nickte nur.

Sie wussten beide, dass die Temperatur rasch sinken würde. Tödlich sinken.

Schließlich standen sie vor einem steilen Abhang. Der Schnee war trügerisch. Er verdeckte das lose Gestein.

»Bist du dir sicher, dass wir da runter müssen?«

»Es wäre zumindest eine gewaltige Abkürzung«, sagte Mysty. »Wenn wir erst mal unten sind, haben wir es geschafft.«

Zumindest für heute, ergänzte McCullough in Gedanken. Sein Armbandmessgerät verriet ihm, dass die Temperatur mittlerweile auf einundzwanzig Grad minus gesunken war. Wahrscheinlich würde es noch eine Stunde hell sein, dann würden sich die Temperaturen rasch weiter verringern. In ihrem Thermozelt waren die minus vierzig Grad und mehr, die hier nachts herrschten, einigermaßen auszuhalten. Aber die Aggregate, die Wärme garantierten, hatten sie zurücklassen müssen. Sie trugen jeder nur einen Rucksack.

Im Tal würde es zumindest einige Grade wärmer sein.

Diesmal übernahm McCullough die Führung. Mehrmals rutschte er aus und drohte zu stürzen. Aber jedes Mal fing er sich wieder. Schließlich überließ er sich ganz den Runen. Er ließ sich von ihnen leiten, anstatt selbst nach dem ungefährlichsten Abstieg zu suchen. Fast schlafwandlerisch erreichte er schließlich das Tal.

Mysty war ihm einfach nur gefolgt. Jetzt nickte er anerkennend.

»Scheiße, sag einfach nur: Gut gemacht, Jason!«, knurrte der Schotte. Aber auch ihm war anzumerken, dass er froh war, den Abstieg geschafft zu haben.

»Gut gemacht, Jason«, sagte Mysty. Er schaute auf seinen digitalen Temperaturmesser. »Nur noch fünfzehn Grad unter null. Scheint, als hätten wir eine echte Chance, die Nacht zu überleben.«

»Du wirst ja noch richtig gesprächig, alter Knabe«, erwiderte McCullough erstaunt. Er sah hinauf zum Himmel, der sich zunehmend verdunkelte. »Wir sollten allmählich sehen, dass wir einen geschützten Platz für die Nacht finden, was meinst du?«

Als wäre dies das Stichwort gewesen, ertönte von weither das Geheul eines Wolfs durch die sibirische Tundra.

Eine halbe Stunde später hatten sie eine Höhle entdeckt. Sie schien endlos hinab in die Tiefe zu führen. Ihnen beiden reichten ein paar Meter, um sich für die Nacht einzurichten. Während Mysty die Route für den nächsten Tag errechnete, sammelte McCullough trockenes Holz für ein Lagerfeuer. Das Wolfsgeheul war näher gekommen. Und mittlerweile waren es mehrere Wölfe, die es anstimmten.

Aber nicht wegen der Wölfe spähte der Schotte immer wieder umher. Wie am gestrigen Abend hatte er die ganze Zeit das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete.

Nachdem er in die Höhle zurückgekehrt war und das Feuer direkt vor dem Eingang entzündet hatte, sprach er mit Mysty darüber.

Der schien nicht sehr überrascht. »Sie verfolgen uns schon den ganzen Tag. Seit wir aufgebrochen sind.«

»Und das sagst du erst jetzt? Und überhaupt: Wer sind ›sie‹?«

Mysty schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber ich werde dafür sorgen, dass wir diese Nacht Ruhe vor ihnen haben.« Er hob das Didgeridoo vom Boden hoch und begann hineinzublasen. Die Klänge des Instruments erfüllten die Höhle. Selbst der Schotte war plötzlich für die seltsamen Laute empfänglich. Sie wärmten ihn. Seinen Körper und seine Seele.

Irgendwann schlief er sogar ein.

Am nächsten Morgen fanden sie die toten Wölfe. Sie lagen nur wenige Hundert Meter von der Höhle entfernt. Es waren sechs Kadaver. Ihr Blut färbte den Schnee. Es erinnerte McCullough an ein Schlachtfeld.

Er bückte sich und untersuchte die Bissspuren. »Ziemlich große Abdrücke«, stellte er fest. »Zu groß für einen Bären. Abgesehen davon, dass ein einzelner Bär keine Chance gegen ein Rudel Wölfe hat.«

Auch Mysty kniete sich nieder und betaste eines der toten Tiere. »Etwas hat seine Zähne in das Fleisch geschlagen und das Tier getötet. Außerdem hat es Teile des Fleisches gegessen.«

Er zog das Messer und begann das Tier fachmännisch zu enthäuten.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte der Schotte erstaunt.

Mysty zeigte es ihm, als er mit seinem blutigen Werk zu Ende war. Er legte sich das Fell um die Schultern und sagte: »Es wärmt. Du solltest dir auch eins zuschneiden.«

»Ich kotze gleich! Nachher sagst du mir noch, dass wir das Blut trinken sollen, damit wir Kraft tanken.« Er wollte ausspucken, aber die Spucke gefror ihm bereits auf den Lippen.

»Keine schlechte Idee«, grinste Mysty. »Aber fürs Erste reichen die Vorräte noch.«

Er steckte das Messer zurück in die Scheide und stapfte weiter.

Immer wieder stießen sie nun auf Anzeichen, dass sie nicht allein unterwegs waren.

»Sie folgen uns nach wie vor«, stieß McCullough aus.

»Nein, sie begleiten uns«, stellte Mysty fest. »Ich würde sogar sagen, im Moment sind sie uns voraus.«

»Das hieße, sie kennen unser Ziel?« Die Möglichkeit hatte McCullough noch nicht überdacht. Der Schotte kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Dann klickte es auch bei ihm. »Wenn sie wissen, wohin wir wollen, muss es ihnen jemand verraten haben.« Er schüttelte den Kopf: »Nein, ich glaube einfach nicht, dass es in der Magischen Bruderschaft einen Verräter gibt.«

»Das muss es auch nicht heißen«, antwortete Mysty. »Der Weg, auf dem wir uns befinden, führt nur zu einem einzigen Ziel. Also zählen unsere unsichtbaren Begleiter einfach nur eins und eins zusammen.«

Gegen Abend stießen sie auf den Kadaver eines Bären. Er war völlig ausgeweidet. Die Fleischstücke lagen verteilt im Schnee.

»Guten Appetit«, sagte McCullough und musste würgen.

Diesmal hatten es beide eilig, die Stätte des Gemetzels hinter sich zu lassen.

Am Mittag des dritten Tages hatten sie ihr Ziel erreicht.

Zumindest laut ihres Kartenmaterials. Sämtliche GPS-Geräte spielten bereits seit einem Tag verrückt und funktionierten nicht mehr zuverlässig.

McCullough kratzte sich am Kopf. »Das verstehe ich nicht. Laut unseren Infos müsste sich dort vorne ein Steinkreis befinden.« Er fragte sich ernsthaft, ob die Kälte bereits dabei war, sein Denkvermögen zu beeinträchtigen. Außerdem spürte er die unheilvolle Magie des Ortes am ganzen Körper. All seine Sinne waren in Alarmbereitschaft. Wenn er nicht gewusst hätte, dass Mainica, die Hexe, sich in Europa befand, so hätte er geschworen, dass sie sie hier erwartete.

Anstatt zu antworten, stapfte Mysty nach kurzem Zögern weiter. Aber auch er preschte nicht mehr derart zielstrebig voran wie zuvor. Bereits nach wenigen Schritten hielt er plötzlich an.

McCullough trat an seine Seite. Jetzt sah auch er, warum man die Steine, die um das Hügelgrab gruppiert waren, nicht sehen konnte:

Vor ihnen tat sich ein Abgrund auf. Ein kreisrunder Krater gähnte ihnen entgegen. In dreißig Meter Tiefe lagen die eingestürzten Trümmer des Grabes.

»Das sieht aus, als hätte hier eine Bombe eingeschlagen«, stellte der Schotte fest.

»Eher, als wäre uns jemand zuvorgekommen«, erwiderte Mysty düster.

»Du meinst, unsere beiden unsichtbaren Begleiter?«

Mysty nickte.

»Auf jeden Fall ist damit unsere Mission gescheitert«, sagte McCullough. »Selbst wenn Dorian Hunter und sein Team die Hexe einfangen, dürften die Mauern ihres Gefängnisses wohl für alle Zeiten eingestürzt sein.«

»Sehe ich nicht so.«

»Was siehst du nicht so?« McCullough zwang sich zur Geduld.

»Dass unsere Mission gescheitert ist. Zumindest ist sie nicht einfach zu Ende, weil hier alles eingestürzt ist. Wir werden hier alles vermessen und protokollieren. Danach beginnen wir mit unserer eigentlichen Arbeit. Wir werden sehen, ob wir das Grab trotzdem versiegeln können. Wenigstens provisorisch, damit niemand Unschuldiges in dieses schwarzmagisch beeinflusste Loch stolpert.«

Er nahm den Rucksack ab und zog das Didgeridoo hervor. Dann setzte er sich in den Schnee und begann zu spielen, um die weißmagischen Kräfte zu erwecken, die in ihm schlummerten.

 

Sie blieben eine Nacht und den folgenden Tag, um das Ritual zu vollenden. Doch immer wieder kam etwas dazwischen. Mal gab das magische Didgeridoo wegen der Kälte keinen Ton mehr von sich, mal gelang es McCullough noch nicht einmal, die einfachste Runenmagie zu wirken. Es war buchstäblich wie verhext. Die Magie des Ortes schien sich gegen jegliche Beeinflussung zu sträuben.

Doch weder Mysty noch der Runenmann ließen sich beirren. Sie arbeiteten ihr vorbereitetes Programm ab, bis sie am folgenden Tag den Abgrund endlich versiegelt hatten. Sie waren am Ende ihrer Kräfte.

»Zumindest kann hier niemand mehr zu Schaden kommen«, fasste der Schotte ihr Wirken zusammen. »Die provisorische Versiegelung kann nur auf magischem Weg wieder gesprengt werden. Und nur von dem, der den Schlüssel dazu hat.«

Er sehnte sich nach seinem Whisky. Er fragte sich, ob sie überhaupt jemals wieder die Zivilisation erreichen würden. McCullough hatte das Gefühl, niemals dem Tode näher gekommen zu sein. Was Mysty betraf, so schienen dessen Lippen zu Eis gefroren. Er sprach kaum mehr ein Wort.

Dafür näherten sich plötzlich zwei Gestalten dem magischen Ort. Eine besaß menschliche Gestalt und war in einen Bärenmantel gehüllt, der sie vor der Kälte schützte. An der Seite des Mannes stapfte auf vier krallenbewehrten Pfoten ein Untier, das ihn überragte. Es besaß weißes langes Fell, sodass es sich von Weitem kaum von der Schneedecke abhob. Der Kopf ähnelte dem eines Gargoyles. Geifer troff aus dem mit spitzen Zähnen bewehrten Maul. Offensichtlich handelte es sich um einen Dämon der niedersten Art. Und sein Herr und Meister spazierte neben ihm heran.

Die beiden Logenbrüder waren auf der Hut.

Als sich die Besucher auf Hörweite genähert hatten, zog McCullough seine Pistole. Sie war mit geweihten Silberkugeln geladen. »Ich würde euch beiden raten, euch dorthin zu verziehen, wo ihr herkommt!«

Die zwei Dämonen dachten nicht daran. Der mit dem Bärenfellmantel grinste herausfordernd.

McCullough zielte, aber Mysty legte beruhigend die Hand auf seinen Arm. »Lass sie erst näher kommen. Ich will hören, was sie zu sagen haben. Es könnte wichtig sein.«

»Für wen? Für uns nicht! Unser Job ist hier erledigt!«

»Für die Magische Bruderschaft. Jede Information hilft uns weiter, die negative Energie dieses Ortes zu bannen.«

»Also gut, aber ich werde trotzdem schießen, sobald einer von denen auch nur eine falsche Bewegung macht.«

»Das erwarte ich von dir, Bruder.« Mysty zog sein Didgeridoo hervor.

Schließlich waren die Dämonen bis auf zehn Meter herangekommen. Das riesige Untier kauerte sich in den Schnee. Sein Herr streckte beide Hände aus, wie zum Zeichen, dass er in friedlicher Absicht kam. Sein Gesicht war bleich und hager. Allein die roten Augen stachen heraus. Weiße Haare kamen unter seiner Fellmütze zum Vorschein. Er war ein Albino.

»Wer bist du?«, fragte der Schotte angriffslustig. Die Pistole hielt er zwar gesenkt, aber er war jederzeit bereit, sie hochzureißen und einen Schuss abzufeuern.

»Finn Rosnick ist mein Name und das ...« Er deutete auf die Kreatur an seiner Seite. »... ist mein treuer Begleiter Yomachi.«

Das Monster gab einen Grunzlaut von sich.

»Und was willst du von uns?«, fragte Mysty.

»Euch dafür danken, dass ihr mir die Arbeit abgenommen habt. Eigentlich habe ich euch gleich töten wollen, aber dann kam mir eine bessere Idee. Schließlich scheinen wir den gleichen Auftrag zu haben ...«

»Ach ja? Und was ist deiner?«, fragte McCullough.

»Dafür zu sorgen, dass das Gefängnis, in dem Mainica jahrhundertelang dahinschmachten musste, zerstört wird.«

»Du irrst dich«, antwortete Mysty. »Die Magie, mit der wir den Abgrund versiegelt haben, ist jederzeit widerrufbar. Selbst wenn du uns tötest, beherrscht jedes Mitglied der Magischen Bruderschaft diesen Zauber.« Er bluffte, aber der Dämon fiel darauf nicht herein.

»Nun, dann muss ich eben jeden einzelnen deiner Brüder töten.«

Als wäre das das Stichwort, sprang das Untier plötzlich vor. Es war weit schneller, als es der massige Körperbau vermuten ließ. McCullough riss die Pistole hoch, aber vor seinen Augen schmolz der Lauf der Waffe wie flüssiges Eisen. Verblüfft starrte er sie an und verlor wertvolle Sekunden.

Neben ihm blies Mysty in sein Didgeridoo. Die magischen Töne, die er dem Instrument entlockte, zeigten sofort Wirkung. Die Luft schien zu vibrieren. Der Lauf des Monsters verlangsamte sich, als würde es gegen ein unsichtbares Hindernis ankämpfen.

Auch McCullough zögerte nicht länger. Er beschwor seine Runenmagie. Die Zeichen, die nur für ihn sichtbar waren, bauten sich vor ihm auf wie eine Wand. Der angreifende Dämon prallte mit voller Wucht dagegen. Kurz schien es, als würde er die Runen durchbrechen können, doch dann sank er zu Boden. Dutzende von tödlichen Runen gruben sich in sein Fell, durchbohrten den darunterliegenden Panzer und strömten in seine Blutbahnen. Das Untier schrie und wälzte sich vor Schmerz.

McCullough wandte sich Finn Rosnick zu. Das heißt, er wollte es, aber eine Flammenlanze schoss aus dessen ausgestreckter Hand und versengte McCulloughs rechte Wange. Aufheulend ging der Schotte zu Boden und presste den Kopf in den Schnee. Dennoch war der Schmerz unerträglich. Der Geruch verbrannten Fleisches hing in der Luft.

Er wurde kurz ohnmächtig, und als er die Augen wieder öffnete, war der Kampf bereits entschieden. Er lag auf dem Rücken und spürte, wie die Wärme aus ihm wich. Finn Rosnick stand hoch aufgerichtet über ihm. Er war es, der ihm die Wärme entzog. Doch kurz, bevor der Schotte für immer die Augen schloss, ließ der Magier von ihm ab.

»Du und dein Musicus, ihr wart mir zwei willkommene Spielkameraden. Ich denke, ich werde das Spiel noch etwas verlängern. Für euch zumindest. Oder ist es dir lieber, wenn ich dich sofort töte?«

McCullough spürte, wie eine feurige Faust in seiner Brust wütete, so als würde er von innen verbrennen. Schreiend bäumte er sich auf.

Dann war der Schmerz vorüber. Von einer Sekunde zur anderen. »Nein, ich glaube, ich lasse euch am Leben. Genießt den Schmerz, ihr zwei.«

Und damit wandte er sich um und ging fort. Seine Kreatur Yomachi folgte ihm.

Es dauerte etliche Minuten, ehe McCullough genug Kraft gesammelt hatte, um sich langsam zu ergeben. Seine Kleidung war bereits am Boden festgefroren. Sie riss, als er aufstand.

Neben ihm im Schnee lag Mysty. Das Didgeridoo stak in seiner Brust und nagelte ihn am Boden fest. Den Blick hatte er himmelwärts gerichtet, dorthin, woher auch seine magischen Melodien stammten. Ein unergründliches Lächeln lag auf seinen schmalen Lippen. Er lebte noch. Als sich McCullough zu ihm hinunterbeugte, flüsterte er: »Du schaffst es. Ich weiß es, Bruder!«

Eine Blutfontäne quoll ihm aus dem Mund.

McCullough schloss ihm die Augenlider.

Obwohl er selbst dem Tod näher war als dem Leben, verbrachte er die folgenden Stunden damit, Steine herbeizuschleppen, um seinen Bruder darunter zu begraben.

Dann verließ er die Stätte des Grauens.

Er schleppte sich südwärts. Die kargen Vorräte waren aufgebraucht, also ernährte er sich von Käfern, die er unter den Baumrinden fand, Wurzeln und einer toten Ratte. Sein Ziel war Chatanga. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg.

Wie schon auf dem Hinweg hatte er wieder das Gefühl, von unsichtbaren Blicken verfolgt zu werden. Immer wieder sah er sich um, weil er einen Verfolger auf seinen Fersen fürchtete. Finn Rosnick hatte ihn zwar am Leben gelassen, aber er war kein Wohltäter. Er war ein Dämon. Und als solcher unberechenbar und grausam. McCullough schloss nicht aus, dass er nur mit ihm spielen wollte – wie eine Katze mit der Maus, bevor sie ihr Opfer mit einem letzten Tatzenhieb von seinen Leiden erlöste.

Auf den einsamen Stunden seiner Wanderung fiel McCullough noch eine weitere Möglichkeit ein, warum sein Gegner ihn am Leben ließ. Aber er hoffte inständig, dass sie nicht zutraf.

Die Kälte drohte ihn von innen aufzufressen. Er spürte, wie sie seinen Verstand zu lähmen begann. Daher glaubte er zunächst an eine Vision, als er schon von Weitem das Hindernis auf seinem Weg sah. Es entpuppte sich als Hirsch. Das Tier war noch nicht lange tot. An den Bissspuren erkannte McCullough, dass einmal mehr Yomachi zugeschlagen hatte.

Also hatte er sich nicht geirrt! Sie waren noch immer in der Nähe. Misstrauisch spähte er um sich, aber die weiß bedeckte Landschaft lag so einsam wie zuvor da. Ein eisiger Wind wehte von Norden und wirbelte den Schnee an manchen Stellen auf, sodass es aussah, als würden Gespenster einen Tanz aufführen. Aber von Finn Rosnick und seinem Schoßtierchen war weit und breit nichts zu sehen.

McCullough konzentrierte sich wieder auf den Hirsch. Seine linke Hand war bereits steif, also konnte er nur mit der Rechten arbeiten. Er zog das Messer und schnitt einen großen Fleischbrocken aus dem Kadaver heraus. Das Fleisch war sogar noch etwas warm. Er schlug seine Zähne hinein und schlang gierig die blutigen Fetzen hinunter. Danach musste er sich übergeben.

Dennoch fühlte er sich gestärkt. Es war, als würde die proteinreiche Nahrung seine Knochen wieder wärmen. Sogar die linke Hand konnte er wieder etwas bewegen.

Er schnitt so viele Fleischbrocken heraus, wie er in seinem Rucksack verstauen konnte. Dann enthäutete er das Tier. Es begann bereits zu erstarren. Aber schließlich hatte er das blutdurchtränkte Fell herausgelöst und legte es sich um.

Schließlich wanderte er weiter.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er wusste noch nicht einmal, ob er noch lebte, ob er wach war oder nur träumte, als er die schwarzen Schatten von Häusern in der Ferne sah. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden. Die Temperatur sank zusehends.

Mit letzter Kraft wankte er auf die Häuser zu.

Hinter den Frontfenstern des ersten Hauses am Stadtrand von Chatanga brannte Licht. Wie ein Ertrinkender taumelte McCullough auf die Haustür zu. Bevor er klopfen musste, stellte er fest, dass die Tür nur angelehnt war. Er stieß sie auf und rief in den hell erleuchteten Korridor hinein: »Hallo, ist hier jemand?«

Niemand antwortete ihm. Wahrscheinlich saßen die Bewohner dieses Hauses vor dem Fernseher und hörten ihn nicht. Ausgeflogen schienen sie jedenfalls nicht zu sein. Als er das karg eingerichtete Wohnzimmer betrat, glühte dort ein Elektroofen und verbreitete bullige Hitze.

Auf dem Tisch lag ein Handy.

McCullough griff danach und wählte die einzige Nummer, die er sich den ganzen Weg wie ein Mantra immer wieder ins Gedächtnis gerufen hatte. Er betete, dass der Ruf durchgehen möge.

Es dauerte zwei Minuten, ehe sich jemand meldete.

Es war der Meister der Magischen Bruderschaft in Edinburgh.

Mit letzter Kraft berichtete McCullough, was vorgefallen war. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

Jemand betrat das Wohnzimmer. Als McCullough sich umdrehte, erkannte er Finn Rosnick, der ihn mit kalten, roten Augen anstarrte.

»Das hast du gut gemacht«, sagte er. »Deine Brüder wissen nun, was sie hier erwartet: der Tod. Jetzt benötige ich dich nicht mehr.«

Ehe McCullough etwas erwidern konnte, schob sich ein riesiges weißes Monstrum an Rosnick vorbei in das Zimmer.

Jason McCullough hatte das Ende seines Weges erreicht.

 

 

2. Kapitel

 

Gegenwart

»Wir schaffen es nicht zu den Autos!«, sagte ich. Der Schneesturm, der uns entgegenblies, machte es fast unmöglich, auch nur einen Schritt weiterzukommen. »Wir müssen uns in der Herberge verschanzen!«

Salamanda schüttelte den Kopf. Ich sah die Panik in ihren Augen. »Dort wird Mainica uns aufstöbern. Nein, wir müssen in Bewegung bleiben. Wir müssen zu den Autos zurück, damit wir möglichst schnell flüchten können!«

Um uns herum tobte das Chaos. Nicht nur der Schneesturm macht uns zu schaffen. Er war nur der Vorbote. Wenn uns Mainica erst gefunden hatte, würde sie uns töten. Erbarmungslos, kaltblütig, ohne Gnade.