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Die Entwicklung des Christusdogmas.
Eine psychoanalytische Studie
zur sozialpsychologischen Funktion der Religion

Erich Fromm
(1930a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Die Entwicklung des Christusdogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialpsychologischen Funktion der Religion, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften, Wien (Internationaler Psychoanalytischer Verlag), Band 16 (1930), S. 305-373. Wieder veröffentlicht 1965 in dem Band Das Christusdogma und andere Essays, beim Szczesny Verlag in München und 1980 in Band VI (S. 11-68) der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt).

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VI, S. 11-68.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1930 und 1980 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

1. Methodik und Problemstellung

Es ist eine der nicht unwesentlichen Leistungen der Psychoanalyse, dass sie die falsche prinzipielle Unterscheidung zwischen einer Sozialpsychologie und einer Psychologie des Individuums (Personalpsychologie) überwunden hat.[1] Freud hat einerseits betont, dass es eine Personalpsychologie, deren Objekt der isolierte, aus dem sozialen Zusammenhang gelöste Mensch ist, nicht gibt, weil es eben diesen isolierten Menschen in Wirklichkeit nirgends gibt. Er kennt keinen homo psychologicus, keinen psychologischen Robinson Crusoe, wie er etwa als ökonomischer der klassischen Nationalökonomie vorgeschwebt hat. Im Gegenteil ist ja eine der wesentlichsten Entdeckungen Freuds die, dass er die psychische Entwicklung des Individuums gerade aus seinen frühesten sozialen Beziehungen, denen zu Eltern und Geschwistern, verstehen gelernt hat.

Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne. (S. Freud, 1921c, S. 73.)

Anderseits aber hat Freud gründlich mit der Illusion einer Sozialpsychologie gebrochen, deren Objekt eine Gruppe als solche ist. Sowenig er einen isolierten Menschen als Objekt der Psychologie kennt, sowenig einen „sozialen Trieb“. Das, was man als solchen bezeichnet hat, ist für ihn „kein ursprünglicher und unzerlegbarer“ Trieb, sondern er sieht „die Anfänge seiner Bildung in einem engeren Kreis, wie etwa in der Familie“ (S. Freud, 1921c, S. 74) und er hat gezeigt, dass die in der Gruppe wirksamen psychischen Erscheinungen aus den im Einzelmenschen wirksamen psychischen Mechanismen heraus zu verstehen sind und nicht etwa aus einer „Gruppenseele“ als solcher.[2] [VI-014] Der Unterschied zwischen Personalpsychologie und Sozialpsychologie erweist sich als ein quantitativer, nicht als ein qualitativer. Die Personalpsychologie berücksichtigt alle Determinanten, die auf das Schicksal des Einzelnen eingewirkt haben und kommt so zu einem maximal vollständigen Bild von dessen individueller psychischer Struktur. Je mehr wir den Gegenstand der psychologischen Untersuchung verbreitern, d.h. je größer die Zahl der Menschen ist, deren Gemeinsamkeiten es rechtfertigen, sie als Gruppe zum Objekt einer psychologischen Untersuchung zu machen, desto mehr müssen wir an Umfang der Einsicht in das Ganze der seelischen Struktur des einzelnen Gruppenmitgliedes verzichten. In diesem Sinne etwa müssen wir „Psychologie des Kindes“ als Sozialpsychologie bezeichnen: Es wird hier eine Gruppe von Menschen untersucht, deren Schicksal in einer Reihe von Beziehungen, die psychologisch relevant sind, gemeinsam ist. Je mehr wir den Umfang des Objektes einschränken, also etwa durch Beschränkung auf die Psychologie des einzelnen oder mittleren Kindes, desto größer wird der Umfang unserer Einsicht in die Struktur des einzelnen Kindes dieser Gruppe. Dasselbe gilt für alle sozialpsychologischen Untersuchungen.

Je größer also die Zahl der Objekte einer psychologischen Untersuchung ist, desto geringer ist die Einsicht in die Ganzheit der psychischen Struktur des Einzelnen innerhalb der zu untersuchenden Gruppe. Wenn dies nicht erkannt wird, kommt es leicht bei der Beurteilung der Ergebnisse sozialpsychologischer Untersuchungen zu Missverständnissen. Man erwartet, etwas von der individuellen psychischen Struktur des einzelnen Gruppenmitgliedes zu hören, während die sozialpsychologische Untersuchung immer nur etwas über die allen Gruppenmitgliedern gemeinsamen psychischen Charaktere aussagen kann und die individuelle psychische Situation des Einzelnen diesseits jener Gemeinsamkeiten nicht berücksichtigt. Die Darstellung der besonderen psychischen Eigenart des Einzelnen kann niemals Aufgabe der Sozialpsychologie sein und ist immer nur möglich, wenn eine weitgehende Kenntnis des Lebensschicksals des Individuums vorhanden ist. Wenn also z.B. in einer sozialpsychologischen Untersuchung festgestellt wird, dass eine Gruppe eine Regression von einer vaterfeindlichen Einstellung zu einer passiv-gefügigen Haltung vornimmt, so bedeutet diese Aussage etwas anderes, als wenn in einer personalpsychologischen Untersuchung dies vom Einzelnen ausgesagt wird. Während es hier hieße, dass diese Regression für die gesamte Sohneseinstellung des Individuums gilt, heißt es dort, dass sie einen durchschnittlich allen Gruppenmitgliedern gemeinsamen Zug darstellt, der an bestimmter, näher anzugebender Stelle in Erscheinung tritt, aber im Leben des Einzelnen, neben anderen durch sein individuelles Schicksal bestimmten Tendenzen, gegebenenfalls eine untergeordnete Rolle spielen kann. Der Wert sozialpsychologischer Einsicht kann also nicht darin liegen, dass wir einen Einblick in die psychische Eigenart des einzelnen Gruppenmitgliedes bekommen, sondern nur darin, dass wir [VI-015] diese gemeinsamen psychischen Tendenzen feststellen, deren überragende Bedeutung darin liegt, dass sie als gemeinsame eine entscheidende Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung spielen.

Die Überwindung einer prinzipiellen Gegenüberstellung von Personal- und Sozialpsychologie, wie sie von der Psychoanalyse geleistet wurde, führt als Konsequenz zur Einsicht, dass die Methode einer sozialpsychologischen Untersuchung grundsätzlich und im wesentlichen keine andere sein kann als die, welche die Psychoanalyse bei der Erforschung der Psyche des Einzelnen anwendet. Es wird also gut sein, sich kurz auf das Wesentliche dieser Methode, insoweit es für unser Problem hier von Bedeutung ist, zu besinnen.

Freud geht davon aus, dass in der Verursachung der Neurosen – und dasselbe gilt für die Triebstruktur des Gesunden – mitgebrachte Sexualkonstitution und Erleben eine Ergänzungsreihe bilden.

An dem einen Ende der Reihe stehen die extremen Fälle, von denen Sie mit Überzeugung sagen können: Diese Menschen wären infolge ihrer absonderlichen Libidoentwicklung auf jeden Fall erkrankt, was immer sie erlebt hätten, wie sorgfältig sie das Leben auch geschont hätte. Am anderen Ende stehen die Fälle, bei denen Sie umgekehrt urteilen müssen, sie wären gewiss der Krankheit entgangen, wenn das Leben sie nicht in diese oder jene Lage gebracht hätte. Bei den Fällen innerhalb der Reihe trifft ein Mehr oder Minder von disponierender Sexualkonstitution mit einem Minder oder Mehr von schädigenden Lebensanforderungen zusammen. Ihre Sexualkonstitution hätte ihnen nicht die Neurose gebracht, wenn sie nicht solche Erlebnisse gehabt hätten, und diese Erlebnisse hätten nicht traumatisch auf sie gewirkt, wenn die Verhältnisse der Libido andere gewesen wären. (S. Freud, 1916-17, S. 360.)

Der konstitutionelle Anteil an der psychischen Struktur des gesunden oder kranken Menschen bleibt bei der psychischen Erforschung der Einzelnen für die Psychoanalyse – und beim heutigen Stande der Wissenschaft weitgehend für diese überhaupt – eine zu beachtende, aber unbekannte und nicht näher bestimmbare Größe. Das, worum sich die Psychoanalyse kümmert, ist das Erleben, und die Erforschung seines Einflusses auf die Triebentwicklung bei einer gegebenen psychischen Konstitution ist ihr Hauptziel. Sie weiß zwar, dass die Triebentwicklung des Einzelnen mehr oder weniger von seiner Konstitution bestimmt ist, diese Einsicht ist eine Voraussetzung der psychoanalytischen Arbeit, aber diese selbst gilt ausschließlich der Erforschung der Frage nach der Einwirkung des Lebensschicksals auf die Triebentwicklung. In der Praxis bedeutet das, dass für die psychoanalytische Methode eine maximale Kenntnis des Lebensschicksals des Einzelnen, vor allem seiner frühkindlichen Erlebnisse, aber durchaus nicht nur dieser, eine wesentliche Bedingung ist. Sie sucht den Zusammenhang zwischen der Spezifität der Schicksale und der Spezifität der Triebentwicklung. Da, wo man die Lebensschicksale des Einzelnen nicht weitgehend kennt, ist jede Analyse unmöglich. Man kann wohl bei bestimmten typischen Verhaltensweisen, denen bestimmte typische Schicksale erfahrungsgemäß zugeordnet sind, auf Grund eines Analogieschlusses die entsprechenden Schicksale vermuten, aber alle solche Analogieschlüsse enthalten doch einen mehr oder weniger großen Unsicherheitsfaktor, und es kommt ihnen nur eine sehr beschränkte wissenschaftliche Geltung zu. Die [VI-016] Methode der Psychoanalyse des Einzelnen ist also eine exquisit historische: Verständnis der Triebentwicklung aus der Kenntnis des Lebensschicksals.

Die Methode der Anwendung der Psychoanalyse auf Gruppen kann keine andere sein. Auch die gemeinsamen psychischen Haltungen der Angehörigen einer Gruppe sind nur zu verstehen aus den ihnen gemeinsamen Lebensschicksalen. Die psychoanalytische Sozialpsychologie kann nur eine ebenso historische Methode haben wie die psychoanalytische Personalpsychologie. So wie diese aus der Kenntnis der Lebensschicksale des Einzelnen seine Triebkonstellation zu verstehen sucht, kann auch die Sozialpsychologie nur durch die genaue Kenntnis des Lebensschicksals eine Einsicht in die Triebstruktur der zu untersuchenden Gruppe gewinnen. Dabei besteht für den notwendigen Umfang der Kenntnis der Lebensschicksale ihrer Objekte dieselbe quantitative Differenz, wie sie oben für den Umfang des sozialpsychologisch erforschbaren Sektors der Einzelseele dargelegt wurde. So wie die Sozialpsychologie nur Aussagen über die allen gemeinsamen psychischen Haltungen machen kann, bedarf sie auch nur der Kenntnis der allen gemeinsamen und für alle charakteristischen Lebensschicksale. Nicht mehr, aber bestimmt auch nicht weniger.

Wenn auch die Methode der Sozialpsychologie grundsätzlich keine andere ist als die der Personalpsychologie, so gibt es doch eine Differenz, auf die hinzuweisen notwendig ist.

Die psychoanalytische Forschung hat es vorwiegend mit neurotischen, d.h. kranken Individuen zu tun, die sozialpsychologische Forschung mit Massen, beziehungsweise gesellschaftlichen Gruppen von normalen, d.h. nicht neurotisch erkrankten Personen.

Der neurotische Mensch ist charakterisiert dadurch, dass es ihm nicht gelungen ist, sich psychisch der ihn umgebenden Realität anzupassen, sondern dass er durch Fixierung gewisser Triebregungen, bestimmter psychischer Mechanismen, die in einer frühen Periode seiner Kindheit einmal angepasst und entsprechend waren, in Konflikte mit der Realität kommt, die in der Neurose ihren Ausdruck finden. Die seelische Struktur des Neurotikers ist eben deshalb ohne die Kenntnis seiner frühkindlichen Erlebnisse fast ganz unverständlich, weil infolge seiner Neurose als Ausdruck seiner mangelnden Angepasstheit, beziehungsweise des besonderen Umfangs infantiler Fixierungen, auch seine Situation als Erwachsener im wesentlichen von jener Situation als Kind determiniert ist. Auch für den Normalen sind die frühkindlichen Erlebnisse von entscheidender Bedeutung. Sein Charakter (im weitesten Sinn) ist von ihnen bestimmt und in seiner Totalität ohne sie unverständlich. Aber weil er sich in viel höherem Maße seelisch an seine Realität angepasst hat als der Neurotiker, ist auch ein weit größerer Sektor seiner seelischen Struktur aus der realen Lebenssituation, in der er sich befindet, verständlich als bei diesem. Da die Sozialpsychologie nicht den Anspruch erhebt, die Totalität der psychischen Struktur des Gruppenmitgliedes zu verstehen, sondern nur die den Gruppenmitgliedern gemeinsamen psychischen Einstellungen, kann sie also, weil sie es mit Normalen, d.h. mit Menschen zu tun hat, auf deren seelische Situation die Realität einen ungleich höheren Einfluss hat als auf den Neurotiker, auch auf die Kenntnis der individuellen Kindheitserlebnisse der einzelnen Mitglieder der zu untersuchenden Gruppe verzichten und aus der Kenntnis der [VI-017] realen gesellschaftlich bedingten Lebenssituation, in die diese Menschen nach den ersten Kindheitsjahren gestellt sind, Verständnis für die ihnen gemeinsamen psychischen Haltungen gewinnen.

Die Problemstellung der sozialpsychologischen Untersuchung entspricht der Methodik. Sie will erforschen, in welcher Weise gewisse, den Mitgliedern einer Gruppe gemeinsame, psychische Haltungen ihren gemeinsamen Lebensschicksalen zugeordnet sind.[3] Sowenig es beim Einzelnen ein Produkt des Zufalls ist, ob diese oder jene Triebrichtung dominiert, ob der Ödipuskomplex diesen oder jenen Ausgang findet, ebenso wenig ist es ein Zufall, ob in der gesellschaftlichen Entwicklung, sei es im zeitlichen Ablauf bei der gleichen, sei es gleichzeitig bei verschiedenen Schichten, Veränderungen der psychischen Eigenart stattfinden. Das Problem der sozialpsychologischen Untersuchung ist es aufzuzeigen, warum solche Veränderungen stattfinden und wie sie sich aus dem gemeinsamen Lebensschicksal der Gruppenangehörigen verstehen lassen. Auch die sozialpsychologische Untersuchung rechnet dabei mit den Gegebenheiten der psychischen Konstitution ihrer Objekte und übersieht nicht, dass das Erleben nur die eine Seite der „Ergänzungsreihe“ darstellt. Aber in der Aufzeigung der Einwirkung des Lebensschicksals auf die psychische Struktur, beziehungsweise deren Rückwirkung auf das Lebensschicksal, besteht das eigentliche analytische Problem für die Sozialpsychologie ebenso gut wie für die Personalpsychologie.

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit einem eng umgrenzten Problem der Sozialpsychologie, mit der Frage nach den Motiven der Wandlung der Vorstellungen vom Verhältnis Gott-Vaters zu Jesus von der Zeit des Beginns des Christentums bis zur Formulierung des Nizänischen Dogmas im vierten Jahrhundert. Entsprechend den oben allgemein formulierten Prinzipien will diese Untersuchung aufzeigen, inwiefern die Veränderung gewisser Glaubensvorstellungen ein Ausdruck der psychischen Veränderung der dahinterstehenden Menschen ist und diese Veränderungen wiederum von den Lebensschicksalen dieser Menschen bedingt sind. Sie will die Ideen aus den Menschen und ihren Schicksalen, nicht die Menschen aus dem Schicksal ihrer Ideen verstehen und zeigen, dass das Vermächtnis der dogmatischen Entwicklung nur möglich ist bei genügender Kenntnis des Unbewussten, auf das die äußere Realität einwirkt und das seinerseits die Bewusstseinsinhalte determiniert.

Die Methode dieser Arbeit bringt es mit sich, dass der Darstellung der Lebensschicksale der zu untersuchenden Menschen, ihrer geistigen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Situation, kurz ihrer „psychischen Oberfläche“ ein verhältnismäßig großer Raum gewidmet sein muss. Wenn der Leser dies als ein Missverhältnis empfinden wird, so möge er daran denken, dass auch in einer psychoanalytischen Krankengeschichte der Darstellung des äußeren Schicksals, der Erlebnisse des Kranken, ein verhältnismäßig großer Raum zukommt. Wenn in dieser Arbeit die Darstellung der gesamten Kultursituation der zu analysierenden Massen und ihrer äußeren Schicksale noch entschiedener hervortritt als in der Schilderung der Realsituation in einer Krankengeschichte, so liegt es darin begründet, dass naturgemäß die historische Rekonstruktion, wenn sie nur einigermaßen ausführlich und plastisch sein soll, unvergleichlich komplizierter und umfangreicher ist als die Wiedergabe einfacher Tatsachen, wie sie sich im Leben eines Einzelnen zutragen. Wir glauben aber, dass [VI-018] dieser Nachteil in Kauf zu nehmen ist, weil nur so ein wirkliches analytisches Verständnis historischer Phänomene erzielt werden kann.

Diese Untersuchung behandelt einen Gegenstand, der von einem der prominentesten Vertreter der analytischen Religionsforschung, von Theodor Reik in seiner Studie Dogma und Zwangsidee (Th. Reik, 1927; vgl. 1919; 1923; ferner: E. Jones, 1931; A. J. Storfer, 1913) behandelt wurde. Die inhaltlichen Differenzen, die sich aus der verschiedenen Methodik mit Notwendigkeit ergeben, werden, wie die methodischen Differenzen selbst, erst am Schlusse dieser Arbeit kurz behandelt werden.

Es soll in dieser Arbeit die Veränderung bestimmter Bewusstseinsinhalte, der dogmatischen Vorstellungen, aus der Veränderung unbewusster seelischer Regungen erklärt und verstanden werden. Ganz entsprechend, wie wir das beim methodischen Problem getan haben, wollen wir uns auch hier in Kürze auf die für unsere Frage wichtigsten Ergebnisse der Psychoanalyse besinnen.

2. Die sozialpsychologische Funktion der Religion

Die Psychoanalyse ist eine Triebpsychologie[4], d.h. sie sieht die Lebensäußerungen des Menschen bedingt und bestimmt von Triebregungen, die sie als Ausfluss gewisser physiologisch verankerter, aber selbst nicht unmittelbar zu beobachtender Triebe ansieht. Freud hat zunächst, ganz entsprechend der populären Einteilung der Triebe in Hunger und Liebe, zwei Gruppen von Trieben angenommen, die als Motoren des menschlichen Seelenlebens wirksam sind: die Ich- oder Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe. Unter dem Eindruck der Tatsache des libidinösen Charakters, der auch den Selbsterhaltungstrieben innewohnt, und der besonderen Bedeutung destruktiver Tendenzen im seelischen Apparat des Menschen, hat er eine andere Gruppierung der Grundtriebe vorgenommen, den lebenserhaltenden (erotischen) die Zerstörungstriebe gegenübergestellt, ein Zusammenhang, auf den wir hier nicht näher einzugehen brauchen.[5]