Charles R. Cross

DER HIMMEL

ÜBER NIRVANA

Kurt Cobains

Leben und Sterben

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Schmid

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www.hannibal-verlag.de

Impressum

Titel der Originalausgabe:

Charles R. Cross – Heavier Than Heaven, A Biography of Kurt Cobain

Copyright © 2001 by Charles Cross

Published by Arrangement with Charles Cross

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, D-30827 Garbsen

3. Auflage 2013

© 2013 der deutschen Ausgabe:

Koch International GmbH/Hannibal, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

Lektorat: Josef Winkler

Titelfoto: Michael Lavine

Ebook: Thomas Auer, www.buchsatz.com

ISBN: 978-3-85445-424-3

Auch erhältlich als Hardcover: ISBN 978-3-85445-222-5

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ­geschützt und darf ohne eine schriftliche Genehmigung nicht verwendet oder reproduziert werden. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen und die Einspeicherung und Ver­arbeitung in elektronischen Systemen.

Meiner Familie,

Christina und Ashland

Inhalt

Vorbemerkung

Prolog: Heavier Than Heaven

New York, New York, 12. Januar 1992

1. Zunächst mit lautem Geschrei

Aberdeen, Washington, Februar 1967 bis Dezember 1973

2. Ich hasse Mom, ich hasse Dad

Aberdeen, Washington, Januar 1974 bis Juni 1979

3. Knaller des Monats

Montesano, Washington, Juli 1979 bis März 1982

4. Prairie Belt Sausage Boy

Aberdeen, Washington, März 1982 bis März 1983

5. Dieser Wille des Instinkts

Aberdeen, Washington, April 1984 bis September 1986

6. Habe ihn nicht genug geliebt

Aberdeen, Washington, September 1986 bis März 1987

7. Soupy Sales in my Fly

Raymond, Washington, März 1987

8. Wieder auf der Highschool

Olympia, Washington, April 1987 bis Mai 1988

9. Zu viele Menschen

Olympia, Washington, Mai 1988 bis Februar 1989

10. Wenn Rock ’n’ Roll illegal ist

Olympia, Washington, Februar 1989 bis September 1989

11. Bonbons, Hundebabys, Liebe

London, England, Oktober 1989 bis Mai 1990

12. Lieb dich so sehr

Olympia, Washington, Mai 1990 bis Dezember 1990

Bildstrecke

13. Die Richard Nixon Library

Olympia, Washington, November 1990 bis Mai 1991

14. Amerikanische Flaggen verbrennen

Olympia, Washington, Mai 1991 bis September 1991

15. Jedes Mal beim Schlucken

Seattle, Washington, September 1991 bis Oktober 1991

16. Putz dir die Zähne

Seattle, Washington, Oktober 1991 bis Januar 1992

17. Ein kleines Monster im Kopf

Los Angeles, Kalifornien, Januar 1992 bis August 1992

18. Rosenwasser, Windelgeruch

Los Angeles, Kalifornien, August 1992 bis September 1992

19. Diese legendäre Scheidung

Seattle, Washington, September 1992 bis Januar 1993

20. In einem herzförmigen Sarg

Seattle, Washington, Januar 1993 bis August 1993

21. Ein Grund zum Lächeln

Seattle, Washington, August 1993 bis November 1993

22. Das Cobain-Syndrom

Seattle, Washington, November 1993 bis März 1994

23. Wie Hamlet

Seattle, Washington, März 1994

24. Engelshaar

Los Angeles, Kalifornien/Seattle, Washington, 30. März bis 6. April 1994

Epilog

Ein Leonard-Cohen-Jenseits, Seattle, Washington, April 1994 bis Mai 1999

Quellenangaben

Dank

Credits

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Vorbemerkung

Kaum anderthalb Kilometer von wo ich wohne steht ein Haus, das mir eisige Schauer über den Rücken zu jagen vermag – ein Hitchcock-Film ist nichts dagegen. Der flache graue Bau ist umgeben von einem hohen Maschendrahtzaun – eine ungewöhnliche Sicherheitsvorkehrung für eine Mittelschichtgegend voller Wohnhäuser und Sandwichshops. Drei Geschäfte sind in dem Haus hinter dem Zaun untergebracht: ein Haarsalon, eine Versicherungsfiliale und „Stan Baker, Shooting Sports“. Hier kauften am 30. März 1994 Kurt Cobain und ein Freund eine Flinte der Marke Remington. Der Inhaber des Geschäfts sagte später einem Reporter, er habe sich gewundert, wieso sich zu der Zeit jemand ausgerechnet eine solche Waffe zulegen sollte, wo doch keine „Jagdsaison“ gewesen sei.

Jedes Mal, wenn ich an Stan Baker’s vorbeifahre, überkommt mich dieses Gefühl, das man mit Orten hat, an denen man einmal Zeuge eines ­schrecklichen Unfalls geworden ist. Und in gewisser Weise passt das sogar. Die Kette von Ereignissen nach Kurts Einkauf in dem Waffengeschäft lässt mir nicht nur keine Ruhe, sie weckt darüber hinaus in mir das Verlangen, Fragen nachzugehen, auf die es, wie ich sehr wohl weiß, schon ihrer Natur wegen keine Antworten geben kann. Spirituelle Fragen, die Frage nach dem Anteil des Wahnsinns im künstlerischen Genie, den verheerenden Wirkungen des Drogenkonsums auf die Seele und vom Verlangen, die Kluft zwischen innerem und äußerem Menschen zu verstehen. Fragen, wie sie sich von Sucht, Depression oder Selbstmord gezeichneten Familien nur allzu real stellen. Für derart vom Schicksal ins Dunkel gestürzte Familien – meine eigene nicht ausgenommen – kann das Verlangen, solche unbeantwortbaren Fragen zu stellen, zu einem Fluch werden.

Sosehr solche Mysterien Nahrung für dieses Buch waren, die Saat dazu war bereits Jahre früher ausgebracht, in meiner Jugend nämlich, als mit den ­Päckchen vom Columbia Record and Tape Club Monat für Monat die Erlösung in die Kleinstadt in Washington kam, in der ich aufwuchs: Rock ’n’ Roll. Es waren nicht zuletzt diese Päckchen mit Platten, derentwegen ich irgendwann meine ländliche Heimat verließ, nach Seattle zog und Autor und Redakteur bei einem Musik­magazins wurde. Ein paar Jahre später, in einem anderen Winkel des Bundesstaats, bescherte derselbe Plattenklub Kurt Cobain eine ähnliche Transzendenz, nur entschied er sich für eine Karriere als Musiker. Unsere Wege kreuzten sich 1989, als mein Magazin, als erstes überhaupt, eine Titelstory über Nirvana brachte.

Es war einfach, Nirvana gern zu haben. Denn egal, wie groß und berühmt sie wurden, sie kamen einem doch immer wie Underdogs vor, und ganz besonders galt das für Kurt. Er begann sein Künstlerleben damit, in einem Wohntrailer Illustrationen von Norman Rockwell, Amerikas berühmtestem Illustrator des zwanzigsten Jahrhunderts und Schöpfer vor allem nostalgischer Kleinstadtszenen, zu kopieren, und entwickelte bald ein Talent fürs Geschichtenerzählen, das schließlich auch mitverantwortlich für die besondere Schönheit seiner Musik werden sollte. Als Rockstar schien er immer ein Außenseiter, ich persönlich jedoch habe immer die Art geschätzt, wie er seinen Halbwüchsigenhumor mit der Bärbeißigkeit eines Oldtimers zu kombinieren verstand. Wenn man ihn in Seattle sah – und seine alberne Mütze mit den Ohrenklappen war praktisch nicht zu übersehen –, war klar, dass man hier ein Original vor sich hatte in einer Branche, in der es herzlich wenige wirkliche Originale gibt.

Während ich an diesem Buch saß, gab es so einige Augenblicke, in denen dieser Humor das einzige Leuchtfeuer in dieser Sisyphusarbeit war. Heavier Than Heaven entstand im Lauf von vier Jahren, mithilfe von vierhundert Interviews, Schränken von Akten und hunderten von Musikaufnahmen, ganz zu schweigen von all den schlaflosen Nächten und endlosen Fahrten zwischen Seattle und Aberdeen. Meine Recherchen führten mich an Orte – physische wie emotionelle –, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie je betreten würde. Es gab Augenblicke von Euphorie, wie etwa als ich zum ersten Mal das unveröffentlichte „You Know You’re Right“ hörte, einen Song, der meiner Ansicht nach zu Kurts besten gehört. Aber auf jede freudige Entdeckung kamen Momente schier unerträglichen Kummers, wie etwa als ich Kurts Abschiedsbrief in der Hand hielt, den ich in einer herzförmigen Schachtel neben einer Locke seines blonden Haars aufbewahrt sah.

Ich hatte mir mit Heavier Than Heaven zum Ziel gesetzt, Kurt Cobain zu ehren, indem ich seine Lebensgeschichte – die Geschichte jener Locke und dieses Abschiedsbriefs – erzähle, ohne mir ein Urteil darüber anzumaßen. Ein Ansatz, den mir allein die großzügige Unterstützung durch Kurts engste Freunde, seine Familie und die Leute aus seiner Band ermöglichte. So gut wie jeder, den ich interviewen wollte, teilte schließlich auch seine Erinnerungen mit mir; Ausnahmen waren nur einige Leute, die sich mit dem Gedanken tragen, ihre Geschichten selbst aufzuschreiben, und ich wünsche ihnen damit allen Erfolg. Kurts Leben war ein verwirrendes Puzzle, umso komplexer, als er so viele Teile dieses Puzzles versteckt hielt, eine Aufsplitterung, die gleichzeitig Folge der Sucht wie auch Nährboden dafür war. Manchmal hatte ich den Eindruck, einen Spion zu studieren, einen geschickten Doppelagenten, versiert in der Kunst, dafür zu sorgen, dass kein Einzelner Einsicht in sämtliche Details seines Lebens bekam.

Eine Freundin von mir, selbst eine ehemalige Drogenabhängige, schilderte mir einmal die „No talk“-Regel, die in Familien wie der ihren galt: „Bei uns“, sagte sie, „bekam man gesagt: ‚Fragt nicht, redet nicht, sagt es keinem.‘ Ein richtiger Schweigekodex, und all die Geheimnisse und Lügen führten bei mir zu einem überwältigenden Gefühl von Scham.“ Dieses Buch ist für all jene, die den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, schmerzliche Fragen zu stellen und sich von den Schatten der Vergangenheit zu lösen.

– Charles R. Cross, Seattle, Washington, April 2001

Prolog

HEAVIER THAN HEAVEN

New York, New York , 12. Januar 1992

Heavier Than Heaven – Mit diesem Slogan bewarben britische Konzertveranstalter 1989 Nirvanas Tour mit der Band Tad. Er bezog sich sowohl auf Nirvanas „heavy“ Sound als auch auf den schwergewichtigen Tad-Sänger Tad Doyle.

Zum ersten Mal sah er den Himmel genau sechs Stunden und siebenundfünfzig Minuten nach dem Augenblick, in dem eine ganze Generation sich kollektiv in ihn verknallt hatte. Es war das erste Mal, dass er starb, und nur der erste von vielen kleinen Toden, die folgen sollten. Die leidenschaftliche und rück­haltlose Hingabe der Generation, die ihn ins Herz geschlossen hatte, war die Art Liebe, von der man von Anfang an weiß, dass sie einem das Herz brechen wird und nur wie eine griechische Tragödie enden kann.

Wir schreiben den 12. Januar 1992, ein klarer, aber frostiger Sonntagmorgen. Die Temperatur in New York sollte im Lauf des Tages auf ganze sechs Grad klettern, aber um sieben Uhr morgens, in der kleinen Suite des Omni-Hotels in Manhattan, stand das Quecksilber noch um die Null. Man hatte das Fenster offen gelassen, wegen des Zigarettengestanks, und der Morgen hatte dem Zimmer auch noch den letzten Rest von Wärme geraubt. Das Zimmer selbst sah aus wie nach einem Orkan: Überall lagen Klamotten verstreut, Kleider, Hemden, Schuhe, wie nach einem Schlussverkauf für Blinde. Vor der Flügeltür der Suite stapelte sich ein halbes Dutzend Tabletts mit den Resten der Mahlzeiten der letzten paar Tage: angebissene Brötchen und ranzige Käsescheiben, eine Hand voll winterträger Taufliegen schwebte über welkem Salat. Der Anblick war nicht eben typisch für ein Viersternehotel, aber das Hotelpersonal war nun einmal aus dem Zimmer verbannt worden. Auf dem Schild draußen vor der Tür hieß es nicht mehr nur „Do not disturb!“ – jemand hatte daraus „Do not EVER disturb! Wir ficken gerade!“ gemacht.

An diesem Morgen konnte davon keine Rede sein. Auf dem überdimensionalen Bett schlief die sechsundzwanzigjährige Courtney Love. Sie trug einen viktorianischen Unterrock, eine echte Antiquität, und ihr langes blondes Haar war über das Kissen drapiert wie das einer Märchenprinzessin. Die Falten im Laken neben ihr zeigten, dass dort kürzlich noch jemand gelegen hatte. Und wie in der Eingangsszene eines Film noir befand sich eine Leiche im Raum.

„Ich bin um sieben aufgewacht, und er war nicht im Bett“, erinnerte sich Love. „Ich hatte noch nie solche Angst.“

Die Person, die im Bett fehlte, war der vierundzwanzigjährige Kurt Cobain. Kaum sieben Stunden zuvor hatte Kurt mit seiner Band Nirvana bei Saturday Night Live gespielt. Ihr Auftritt in der Sendung sollte eine Wasserscheide in der Geschichte des Rock ’n’ Roll werden: Zum ersten Mal war eine Grunge-Band live im landesweiten Fernsehen zu sehen gewesen. Am selben Wochenende hatte Nirvanas Major-Label-Debütalbum Nevermind Michael Jackson vom ersten Platz der Billboard-Charts verdrängt und war damit Amerikas meistverkaufte LP. Der Erfolg war zwar nicht über Nacht gekommen, die Band war ja immerhin schon vier Jahre zusammen, die Art und Weise jedoch, wie Nirvana die Musikbranche überrascht hatten, war beispiellos. Praktisch als Unbekannte hatten sie im Vorjahr die Hitparaden gestürmt; „Smells Like Teen Spirit“ war 1991 der bekannteste Song überhaupt, mit einem Gitarrenriff, das den Beginn einer neuen Dekade im Rock ’n’ Roll einläutete.

Und noch nie hatte es einen Rockstar gegeben wie Kurt Cobain. Mehr Antistar als Prominenter, weigerte er sich sogar, sich in einer Limousine zu NBC chauffieren zu lassen, und was immer er tat, er verlieh ihm dieses gewisse Secondhandladen-Flair. Bei Saturday Night Live trug er dieselben Sachen wie die vergangen beiden Tage auch: Converse-Tennisschuhe, Großvaterstrickweste, das T-Shirt einer obskuren Band und Jeans mit zerfetzten Knien. Die Haare hatte er sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen und obendrein noch mit Erdbeer-Kool-Aid gefärbt, sodass die verfilzten Zotteln wirkten, als wären sie voll getrock­neten Blutes. Noch nie in der Geschichte des Live-Fernsehens, so wirkte es, hatte jemand so wenige Gedanken auf Erscheinungsbild und Hygiene verschwendet.

Kurt war ein komplizierter Misanthrop, voller Widersprüche, und was gelegentlich nach einer zufälligen Revolution aussehen mochte, wies allenthalben Spuren einer sorgfältigen Inszenierung auf. In Interviews betonte er immer wieder, wie sehr er es verabscheue, auf MTV rauf und runter gespielt zu werden, auf der anderen Seite rief er wiederholt seine Manager an und beschwerte sich, der Sender zeige seine Videos nicht ansatzweise oft genug. Besessen, um nicht zu sagen zwanghaft, plante er jeden Zug seiner Karriere, jeden musikalischen Schritt. Er notierte sich Ideen in seinen Tagebüchern schon Jahre, bevor er sie schließlich in die Tat umsetzte, aber wenn ihm dann die Ehren zuteil wurden, um die ihm gewesen war, tat er, als wäre es ihm schon zu unangenehm, dafür auch nur aus dem Bett zu steigen. Er war einer, der anderen seinen Willen aufzwang, gleichzeitig aber von einem schier übermächtigen Selbsthass zerfressen war. Sogar die, die ihn am besten kannten, hatten das Gefühl, ihn im Grunde überhaupt nicht zu kennen; die Ereignisse jenes Sonntagmorgens waren für dieses Gefühl die beste Bestätigung.

Nachdem Saturday Night Live im Kasten war – die Party danach schenkte er sich mit der Begründung, so etwas sei „nicht sein Stil“ –, gab Kurt einem Rundfunkjournalisten ein zweistündiges Interview. Erst um vier Uhr morgens war sein Arbeitstag schließlich beendet. Und es war nach allem Dafürhalten ein erfolgreicher Tag gewesen: Er war der musikalische Stargast von Saturday Night Live gewesen, sein Album stand auf Platz eins, und „Weird Al“ Yankovic hatte kurz vor der Sendung um die Erlaubnis gebeten, eine Parodie von „Teen Spirit“ aufnehmen zu dürfen. Zusammengenommen markierte das sicher den Höhepunkt von Kurts kurzer Karriere, die Art von Anerkennung, von der die meisten Künstler nur träumen und wie sie Kurt selbst als Teenager durch die Fantasie gegeistert war.

Während seiner Jugend im Südwesten von Washington hatte Kurt nicht eine einzige Folge von Saturday Night Live versäumt und gegenüber seinen Freunden an der Junior High School geprahlt, eines Tages werde er auch ein Star. Ein Jahrzehnt später war er der meistgefeierte Mann im Rock ’n’ Roll. Nach nur zwei Alben pries man ihn als den größten Songwriter seiner Generation. Noch zwei Jahre zuvor hatte er sich um einen Job als Hundezwingerreiniger beworben, und man hatte ihn nachhause geschickt.

In jenen Stunden vor Sonnenaufgang jedoch empfand er weder Genug­tuung, noch war ihm nach Feiern zumute; wenn überhaupt, hatte all die Aufmerksamkeit sein übliches Unbehagen nur noch verschärft. Er fühlte sich krank; er litt von Haus aus an einem, wie er sich ausdrückte, „periodischen brennenden Übelkeitsschmerz“ im Magen, und der Stress machte das alles noch schlimmer. Durch den Erfolg und den Ruhm schien es ihm nur noch schlechter zu gehen. Kurt und seine Verlobte Courtney Love waren das meistdiskutierte Paar im Rockgeschäft, und einige dieser Diskussionen drehten sich um Drogenmissbrauch. Kurt hatte immer gedacht, die Anerkennung seines Talents würde für die emotionalen Schmerzen, die sein frühes Leben gezeichnet hatten, heilsam sein; der Erfolg hatte diesen Glauben nicht nur Lügen gestraft, Kurt schämte sich mehr denn je seiner Drogensucht, die in nicht geringerem Maß am Eskalieren war als seine Popularität.

In jenen frühen Morgenstunden im Hotelzimmer hatte Kurt sich mit einem Tütchen „China White“-Heroin eine Spritze zurechtgemacht und sich einen Schuss gesetzt. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, schließlich ­drückte er sich seit einigen Monaten regelmäßig Heroin, in der letzten Zeit zusammen mit Courtney, die in den zwei Monaten, die sie nun mit ihm zusammen war, auch damit angefangen hatte. In jener Nacht jedoch, während Courtney schlief, hatte Kurt sich – aus purem Leichtsinn oder absichtlich – eine gefährlich hohe Dosis verabreicht. Die Überdosis verlieh seiner Haut eine aquagrüne Färbung, führte zum Atemstillstand und ließ seine Muskeln so hart wie Koaxialkabel werden. Er rutschte vom Bett, landete mit dem Gesicht in einem Haufen Klamotten und lag dann da wie von einem Serienkiller vergessen.

„Das waren nicht einfach nur die Folgen einer Überdosis“, erinnerte sich Love. „Er war wirklich tot! Wenn ich nicht um sieben aufgewacht wäre … Ich weiß nicht, vielleicht habe ich es einfach irgendwie gespürt. Die ganze Sache war so abgefuckt. So was von krank, total psycho.“ Völlig außer sich, machte sich Love an eine Reihe von Wiederbelebungsmaßnahmen, die ihr bald zur Gewohnheit werden sollten: Sie schüttete ihrem Verlobten kaltes Wasser ins Gesicht und schlug ihm in den Solarplexus, um seine Lungen wieder zum Pumpen zu bringen. Als diese ersten Versuche keinen Erfolg zeitigten, begann sie von vorn, wie ein entschlossener Sanitäter, der das Opfer eines Herzanfalls bearbeitet. Nach einigen Minuten hörte Courtney ein Japsen – Kurt hatte wieder zu atmen begonnen. Sie bearbeitete ihn weiter mit kaltem Wasser und bewegte seine Arme und Beine. Minuten später saß er da, sprach mit ihr, und obwohl er nach wie vor völlig zugeknallt war, trug er ein selbstzufriedenes Grinsen zur Schau, fast so, als erfüllte ihn seine Leistung mit Stolz. Es war seine erste beinahe tödliche Überdosis gewesen. Und das an dem Tag, an dem er zum Star geworden war.

Im Lauf eines einzigen Tages war Kurt in den Augen der Öffentlichkeit geboren, in seiner ganz privaten Finsternis gestorben und durch die Kraft der Liebe wieder zum Leben erweckt worden. Eine außergewöhnliche Leistung, unglaublich, ja fast unmöglich. Aber ebendies ließe sich von einem gut Teil von Kurt Cobains überdimensionalem Leben sagen, angefangen damit, woher er kam.

–1–

ZUNÄCHST MIT LAUTEM GESCHREI

Aberdeen, Washington, Februar 1967 bis Dezember 1973

Wenn er etwas will, macht er zunächst mit lautem Geschrei darauf aufmerksam, und wenn das nicht hilft, verlegt er sich aufs Heulen.

– Auszug aus einem Bericht seiner Tante über den fünfzehn Monate alten Kurt Cobain.

Kurt Donald Cobain erblickte das Licht der Welt am 20. Februar 1967 in einem Krankenhaus auf einem Hügel über Aberdeen, einer Kleinstadt in Washing­ton, dem Staat im nordwestlichsten Zipfel der USA. Seine Eltern wohnten zwar im benachbarten Hoquiam, aber dass in seinem Pass als Geburtsort Aberdeen stand, ist durchaus passend: Drei Viertel seines Lebens sollte er in einem Umkreis von zehn Meilen um die Klinik verbringen und dieser Landschaft zeitlebens zutiefst verbunden bleiben.

Wer an jenem verregneten Montag aus dem Grays Harbor Community Hospital blickte, sah ein Land von herber Schönheit, das Wälder, Berge, Flüsse und einen mächtigen Ozean zu einem gewaltigen Panaroma vereint. Bewaldete Hügel säumen den Schnittpunkt dreier Flüsse kurz vor dem nahe gelegenen Meer. Und genau in der Mitte liegt Aberdeen, mit neunzehntausend Einwohnern damals der größte Ort im Grays Harbor County. Gleich im Westen liegt das kleinere Hoquiam, wo Kurts Eltern Don und Wendy einen winzigen Bunga­low bewohnten. Und im Süden, auf der anderen Seite des Flusses, liegt Cosmo­polis. Von hier stammt die Familie seiner Mutter, die Fradenburgs. Wenn es nicht gerade regnet, was selten vorkommt in einer Gegend mit über zwei Meter Niederschlag im Jahr, kann man die neun Meilen nach Montesano sehen, wo Kurts Großvater herkam, Leland Cobain. Eine ziemlich kleine Welt also, und Kurt sollte ihr berühmtester Spross werden.

Die Aussicht von dem dreigeschossigen Krankenhaus beherrscht der sechstgrößte Hafen an der Pazifikküste der USA. Im Fluss darunter, dem Chehalis, trieben damals so viele Baumstämme, dass man sich vorstellen konnte, auf ihnen über die zwei Meilen breite Bucht zu spazieren. Im Osten liegt das Zentrum von Aberdeen, wo die Geschäftsleute über das unablässige Rumpeln der Holztransporter klagten, das ihnen ihrer Ansicht nach die Kundschaft vertrieb. Es war eine arbeitsame Stadt, und Arbeit hatte hier fast ausschließlich mit den Douglasfichten zu tun, die auf den umliegenden Bergen geschlagen wurden. Siebenunddreißig Sägewerke, Schindel- und Zellstofffabriken gab es in Aberdeen, deren Schornsteine das höchste Haus der Stadt mit seinen gerade mal sieben Stockwerken bei weitem überragten. Direkt unterhalb des Hügels, auf dem das Krankenhaus stand, befand sich der gigantische Schlot der Rayonier Mill, der höchste dieser Türme, der sechzig Meter in den Himmel ragte und die ewige Wolke aus Zellstoffteilchen nährte, die über Aberdeen lag.

Aber so betriebsam Aberdeen auch sein mochte, zur Zeit von Kurts Geburt ging das Geschäft bereits langsam, aber stetig zurück. Der Landkreis war einer der wenigen im Staat mit rückläufiger Bevölkerung, da den Arbeitslosen nichts anderes übrig blieb, als ihr Glück anderswo zu versuchen. Die Holzindustrie hatte die Folgen sowohl der Konkurrenz aus Übersee als auch der radikalen Überbewirtschaftung ihrer Forste zu spüren begonnen. Die Zeichen dieser Überbeanspruchung waren längst allenthalben sichtbar. Die nackten Hügel vor der Stadt erinner­ten an die ersten Siedler, die sich bereits am Kahlschlag versucht hatten, wie man in einem lokalen Geschichtsbuch erfährt. Die Arbeitslosigkeit forderte einen fins­teren Zoll: Alkoholismus, Gewalt in den Familien und die Selbstmordrate nahmen zu. 1967 gab es siebenundzwanzig Wirtshäuser, im Zentrum stand eine ganze Reihe Häuser leer, von denen einige einmal Bordelle gewesen waren, die Ende der 1950er-Jahre geschlossen worden waren. Aberdeen war für seine Hurenhäuser so berühmt gewesen, dass das Magazin Look die Stadt 1952 als einen der „Brennpunkte in Amerikas Kampf gegen die Sünde“ bezeichnete.

Gelindert wurden diese Probleme allenfalls durch die enge soziale Verbundenheit der Gemeinschaft, an der sie nagten: Man half sich unter Nachbarn, die Eltern engagierten sich in den Schulen, und die Familienbande innerhalb der verschiedenen Einwanderergruppen blieben stark. Es gab mehr Kirchen als Kneipen, und wie in vielen amerikanischen Kleinstädten Mitte der Sechzigerjahre ließ man dort Kindern auf Fahrrädern freien Lauf. Für den heranwachsenden Kurt war die ganze Stadt ein einziger Hinterhof.

Wie meist bei Erstgeburten war auch Kurts Ankunft ein Grund zum Feiern – für die Eltern wie für den den ganzen erweiterten Familienkreis. Kurt hatte sechs Onkel und Tanten mütterlicherseits, zwei Onkel väterlicherseits, dar­über hinaus war er der erste Enkel für beide Großelternseiten. Zwei große Familien waren da zusammengekommen: Von den Karten, die Kurts Mutter nach seiner Geburt drucken ließ, brauchte sie allein schon fünfzig für die unmittelbare Verwandtschaft. Am 23. Februar verkündete eine Zeile in der Rubrik „Geburten“ der Aberdeen Daily World dem Rest der Welt Kurts Ankunft: „To Mr. and Mrs. Donald Cobain, 2830½ Aberdeen Avenue, Hoquiam, February 20, at Community Hospital, a son.“

Kurt wog bei der Geburt knapp sieben Pfund, und seine Haare waren so dunkel wie sein Teint. Innerhalb von fünf Monaten sollte er blond werden, und auch seine Haut sollte sich aufhellen. Die Familie seines Vaters hatte französische und irische Wurzeln, sie war 1875 aus Skey Townland im irischen County Tyrone nach Amerika emigriert; von dieser Seite hatte Kurt das kantige Kinn. Von den Fradenburgs, der Familie seiner Mutter, die deutscher, irischer und englischer Abstammung war, bekam er die rosigen Bäckchen und die blonden Locken mit auf den Weg. Das bei weitem Auffälligste an ihm waren jedoch seine himmelblauen Augen, über deren Schönheit sich sogar die Schwestern im Krankenhaus gar nicht beruhigen konnten.

Es waren die Sechzigerjahre, in Vietnam tobte ein Krieg, aber von den Meldungen in den Nachrichten einmal abgesehen, nahm Aberdeen sich eher wie eine amerikanische Stadt der Fünfziger aus. An dem Tag, als Kurt zur Welt kam, stand in der Aberdeen Daily World die große Nachricht über einen amerikanischen Sieg in Quang Ngai neben den Zahlen der lokalen Holzwirtschaft und Anzeigen von JCPenney, wo anlässlich eines Sonderverkaufs zu George Washingtons Geburtstag Flanellhemden für zwei Dollar und achtundvierzig Cent zu haben waren. Am Nachmittag war in Los Angeles Wer hat Angst vor Virginia Woolf? für dreizehn Oscars nominiert worden, aber im Autokino von Aberdeen lief Girls on the Beach.

Kurts Vater Don war einundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Automechaniker bei der Chevron-Tankstelle in Hoquiam. Er sah gut aus und war athletisch, aber sein Flattop-Haarschnitt und die Buddy-Holly-Brille verliehen ihm etwas Linkisches. Kurts Mutter Wendy war neunzehn und im Gegensatz zu Don eine klassische Schönheit, die ein bisschen aussah und sich kleidete wie Marcia Brady aus der Fernsehserie The Brady Bunch (Drei Mädchen und drei Jungen). Die beiden hatten sich auf der Highschool kennen gelernt, wo Wendy den Spitznamen „Breeze“ getragen hatte. Im Juni zuvor, kurz nach ihrem Highschoolabschluss, war Wendy schwanger geworden. Don hatte sich unter einem Vorwand den Wagen seines Vaters geliehen, und die beiden waren nach Idaho gefahren, wo man ohne die Einwilligung der Eltern heiraten konnte, was sie dann auch taten.

Zum Zeitpunkt von Kurts Geburt wohnte das junge Paar in einem winzigen Häuschen im Hinterhof eines anderen Hauses in Hoquiam. Don machte an der Tankstelle Überstunden, während Wendy sich um das Baby kümmerte. Kurt schlief in einer weißen Korbwiege mit einer knallgelben Schleife obendrauf. Geld war knapp bei den jungen Eheleuten, aber einige Wochen nach der Geburt des Kleinen hatten sie genügend zusammengekratzt, um aus dem winzigen Häuschen in ein größeres in der Aberdeen Avenue 2830 zu ziehen. „Die Miete da war nur um fünf Dollar im Monat höher“, erinnerte sich Don, „aber fünf Dollar waren damals ein Haufen Geld.“

Wenn sich die späteren Probleme der Familie damals schon in irgendetwas andeuteten, dann in ihren permanenten finanziellen Schwierigkeiten. Obwohl Don seit Anfang 1968 die Tankstelle leitete, verdiente er gerade mal sechstausend Dollar im Jahr. Die meisten ihrer Nachbarn und Freunde arbeiteten in der Holzwirtschaft, wo die Jobs den Arbeitern körperlich einiges abverlangten – laut einer Studie war die Branche „tödlicher als ein Krieg“ –, aber dafür waren sie auch besser bezahlt. Die Cobains strampelten sich entsprechend ab, innerhalb ihres Budgets zu bleiben, aber was Kurt anbelangte, sorgten sie dafür, dass er stets ordentlich gekleidet war, und ließen immer wieder Geld für professionelle Fotografen springen. In einer Serie von Bildern aus dieser Zeit trägt Kurt einen grauen Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte und wirkt mit seinem Babyspeck und den Pausbäckchen wie der kleine Lord Fauntleroy. Auf einem anderen trägt er eine blaue Anzugjacke mit passender Weste und einen Hut, der eher zu Philip Marlowe gepasst hätte als zu einem Jungen von anderthalb Jahren.

Im Mai 1968, Kurt war fünfzehn Monate alt, schrieb Wendys vierzehnjährige Schwester Mari im Hauswirtschaftsunterricht einen Aufsatz über ihren Neffen: „Meistens kümmert sich seine Mutter um ihn“, schrieb Mari. „[Sie] zeigt ihm ihre Zuneigung, indem sie ihn auf den Arm nimmt, ihn lobt, wenn er es verdient hat, und indem sie an vielen von seinen Aktivitäten teilnimmt. Er reagiert auf seinen Vater, indem er lächelt, wenn er ihn sieht, und er hat es gern, wenn sein Vater ihn auf den Arm nimmt. Wenn er etwas will, macht er zunächst durch lautes Geschrei darauf aufmerksam, und wenn das nicht hilft, verlegt er sich aufs Heulen.“ Außerdem weiß Mari zu berichten, Kurts Lieblingsspiel sei „Kuckuck“ gewesen und dass er mit acht Monaten den ersten Zahn bekam. Sein erstes Dutzend Wörter war „Coco, Momma, Dadda, Ball, Toast, bye-bye, hi, Baby, mich, Liebe, Hotdog und miez“.

Unter Lieblingsspielzeug listet Mari eine Mundharmonika, eine Trommel, einen Basketball, Autos, Laster, Bauklötze, einen Spielzeugfernseher, ein Telefon und ein Holzgebilde auf, mit dem seine Mutter Nähte flach klopfte. Über Kurts Tagesablauf schreibt sie: „Auf Schlaf reagiert er mit Heulen, wenn man ihn dazu ins Bettchen legt. Er interessiert sich derart für die Familie, dass er sie nicht verlassen will.“ Abschließend meinte die Tante: „Er ist ein glückliches, lächelndes Baby, und seine Persönlichkeit entwickelt sich so wegen der Aufmerksamkeit und der Liebe, die er erfährt.“

Wendy war eine aufmerksame Mutter; sie las Bücher über den Lernprozess, sie kaufte Lernkarten mit Wörtern und Buchstaben darauf und sorgte, mit Unterstützung ihrer Brüder und Schwestern, dafür, dass es Kurt an nichts fehlte. Die ganze Großfamilie feierte den Kleinen mit vereinten Kräften, und Kurt blühte auf unter all der Aufmerksamkeit. „Ich kann unmöglich in Worte fassen, wie viel Freude und Leben Kurt in die Familie brachte“, erinnerte sich Mari. „Er war ein kleines quirliges Bündel Leben. Er hatte schon als Baby Charisma. Er war lustig, und er war gescheit.“ Wenn seine Tante nicht dahinter kam, wie man sein Bettchen tiefer stellte, war der Anderthalbjährige clever genug, es selbst zu verstellen.

Wendy war so hingerissen von den Faxen ihres Sohnes, dass sie immer wieder eine Super-Acht-Kamera mietete und Filme mit dem kleinen Kurt schoss – eine Ausgabe, die die Familie sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Einer dieser Filme zeigt einen selig lächelnden kleinen Jungen an seinem zweiten Geburtstag beim Anschneiden der Torte. Er schien für seine Eltern der Mittelpunkt des Universums zu sein.

Bereits an seinem zweiten Weihnachtsfest zeigte Kurt Interesse an der Musik. Die Fradenburgs waren eine musikalische Familie – Wendys älterer Bruder Chuck spielte in einer Band, die sich The Beachcombers nannte; Mari spielte Gitarre, und Großonkel Delbert verdiente sein Geld als irischer Tenor – er hatte sogar in einem Film mitgespielt, The King of Jazz. Wenn die Cobains in Cosmopolis auf Besuch waren, saß Kurt fasziniert bei den Familien-Jamsessions dabei. Seine Onkel und Tanten nahmen ihn sogar beim Singen auf: „Hey Jude“ von den Beatles, Arlo Guthries „Motorcycle Song“ und den Titelsong der Fernsehserie The Monkees. Schon als Kleinkind hatte Kurt Spaß daran, seine eigenen Liedertexte zu basteln. Als er einmal – er war vier – mit Mari vom Park zurückkam, setzte er sich an das Familienklavier und klimperte ein einfaches Liedchen über ihr Abenteuer. „Wir waren im Park und haben Bonbons gekauft“, sang er vor sich hin. „Ich war völlig baff“, erinnerte sich Mari. „Ich hätte das Tonband anmachen sollen – das war wahrscheinlich sein erster Song.“

Kurz nach seinem zweiten Geburtstag legte Kurt sich einen imaginären Freund zu, den er Boddah nannte. Schließlich machten sich seine Eltern Sorgen um seine Bindung zu dem Phantomkameraden, und als ein Onkel nach Vietnam musste, erzählten sie dem Kleinen, Boddah sei mit ihm eingezogen worden. Aber so ganz kaufte Kurt ihnen diese Geschichte nicht ab. Als er drei Jahre alt war, spielte er mit dem Tonbandgerät seiner Tante herum, das zufällig auf „Echo“ gestellt war. Als Kurt das Echo hörte, fragte er: „Redet diese Stimme mit mir? Boddah? Boddah?“

Im September 1969 – Kurt war zweieinhalb Jahre alt – kauften Don und Wendy sich ihr erstes eigenes Haus. Die Nummer 1210 East First Street in Aberdeen war ein zweigeschossiges Häuschen mit gut neunzig Quadratmeter Wohnfläche, dazu Garten und Garage. Sie bezahlten siebentausendneunhundertfünfzig Dollar dafür. Das Gebäude aus den Zwanzigerjahren befand sich in einer Gegend, die gelegentlich schon mal abschätzig als Verbrecherviertel bezeichnet wurde. Nördlich des Häuschens schob sich der Wishkah River, der bei Hochwasser immer wieder einmal über die Ufer trat, in die Bucht. Im Südosten lag ein bewaldeter Steilhang, den die Einheimischen „Think of Me Hill“ nannten – um die Jahrhundertwende hatte dort eine Zigarrenreklame der Marke Think of Me gestanden.

Es war ein Mittelschichthaus in einer Mittelschichtgegend – „White trash, der auf Mittelschicht machte“, sagte Kurt später über die Gegend. Im Erd­geschoss befanden sich Wohn- und Esszimmer, die Küche sowie das Schlafzimmer von Wendy und Don. Das Obergeschoss hatte drei Zimmer: ein kleines Spielzimmer und zwei Kinderzimmer, von denen eins für Kurt bestimmt war. Das andere war für Kurts Geschwister eingeplant – Wendy hatte diesen Monat erfahren, dass sie zum zweiten Mal schwanger war.

Kurt war drei, als seine Schwester Kimberley zur Welt kam. Schon als Säugling sah sie ihrem Bruder bemerkenswert ähnlich: Sie hatte dieselben hypnotischen blauen Augen, dasselbe flachsblonde Haar. Als Kimberley aus der Klinik nachhause gebracht wurde, bestand Kurt darauf, sie ins Haus zu tragen. „Er war so was von vernarrt in sie“, erinnerte sich sein Vater. „Und zuerst waren die beiden wirklich ein Herz und eine Seele.“ Der Altersunterschied von drei Jahren war ideal, Kimberleys Wohlergehen wurde ein Hauptgesprächsthema von Kurt. Hier lag der Ursprung eines Charakterzugs, der Kurt sein ganzes Leben lang mitbestimmen sollte: die Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen und dem Kummer anderer – ein Einfühlungsvermögen, in das er sich bisweilen übermäßig hineinsteigern konnte.

Die beiden Kinder veränderten den Alltag im Hause Cobain grundlegend, und das bisschen Freizeit, das den Eltern geblieben war, wurde von Besuchen bei der Familie und Dons Interesse am Sport aufgefressen. Don spielte den Winter über in einer Basketballliga, im Sommer spielte er Baseball; ein gut Teil ihres sozia­len Umgangs bestand darin, zu Spielen oder Partys nach den Spielen zu gehen. Über den Sport lernten die Cobains auch Rod und Dres Herling kennen und freundeten sich mit ihnen an. „Sie waren gute Leute mit Familiensinn, die viel mit ihren Kindern unternahmen“, erinnerte sich Rod Herling. Im Vergleich zu Altersgenossen in den Sechzigerjahren waren sie auffallend spießig: Nicht einer in ihrem Freundeskreis rauchte Pot, und auch Alkohol gab es bei den beiden kaum.

Eines Abends im Sommer waren die Herlings auf eine Kartenspielpartie bei den Cobains zu Besuch, als Don ins Wohnzimmer kam: „Ich habe eine Ratte erwischt“, sagte er. Ratten waren in Aberdeen nichts Ungewöhnliches, so tief gelegen und feucht, wie die Gegend war. Don befestigte ein Fleischermesser an einem Besenstiel, schon hatte er einen primitiven Speer. Der fünfjährige Kurt war sofort Feuer und Flamme und folgte dem Vater in die Garage, wo der Nager in einer Mülltonne saß. Don sagte Kurt, er solle Abstand halten, aber einem neugierigen Kerlchen wie ihm war das unmöglich. Er rückte langsam näher und hatte schließlich das Hosenbein des Vaters in der Hand. Rod Herlings Plan sah vor, dass er den Deckel der Mülltonne anheben würde, damit Don die Ratte aufspießen konnte. Herling hob den Deckel, Don warf den Besenstiel, verfehlte die Ratte jedoch, und der Speer bohrte sich in den Boden. Während Don den Spieß vergeblich herauszuziehen versuchte, kletterte die Ratte – ruhig und leicht verwirrt – den Besenstiel hinauf, huschte über Dons Schulter, seinen Rücken hinab und lief über Kurts Füße nach draußen. Das Ganze passierte in Sekundenbruchteilen, aber die Kombination von Dons Gesichtsausdruck und Kurts weit aufgerissenen Kulleraugen ließ die Gruppe in heulendes Gelächter ausbrechen. Stundenlang konnten sie sich nicht beruhigen, und der Vorfall hielt Einzug in die Familiengeschichte: „He, weißt du noch, wie Dad die Ratte aufspießen wollte?“ Keiner lachte lauter als Kurt, aber als Fünfjähriger fand er so gut wie alles zum Schießen. Er hatte ein schönes Lachen, das klang, als kitzelte man ein Baby, und es war ständig hören.

Im September 1972 kam Kurt in den Kindergarten der Robert Gray Elementary, der Grundschule, die nur drei Straßen vom Haus entfernt war. Wendy ging am ersten Tag mit ihm zur Schule, danach war er auf sich allein gestellt; die Gegend um die First Street war längst sein Revier geworden. Seine Lehrer kannten ihn als frühreifen, neugierigen Schüler mit einem Snoopy auf der Brotbox. In seinem Zeugnis stand in jenem Jahr: „Ein wirklich guter Schüler.“ Und schüchtern war er auch nicht. Als zum Anschauungsunterricht ein Bären­junges in die Schule gebracht wurde, war Kurt eines der wenigen Kinder, die sich damit fotografieren ließen.

Kunsterziehung war mit Abstand sein bestes Fach. Schon als er fünf war, zeigte sich deutlich, dass er künstlerisch außergewöhnlich begabt war. Die Bilder, die er malte, wirkten bereits völlig realistisch. Tony Hirschman, der Kurt im Kindergarten kennen lernte, war von dem Geschick seines Klassenkameraden beeindruckt: „Er konnte einfach alles zeichnen. Einmal haben wir uns Bilder von Werwölfen angeschaut, und danach hat er einen gezeichnet, der genauso aussah wie die auf dem Foto.“ Noch im selben Jahr zeichnete Kurt eine Reihe von Bildern mit den Comicfiguren Aquaman, Micky Maus, Pluto und dem Kiemenmann aus dem Schrecken vom Amazonas. Wenn es Geschenke gab, bekam er von der Familie Mal- und Zeichenutensilien, sein Zimmer sah langsam, aber sicher aus wie ein Atelier.

Zuspruch in diese Richtung erfuhr Kurt vor allem durch seine Großmutter väterlicherseits, Iris Cobain. Sie sammelte Norman-Rockwell-Memorabilia, hauptsächlich die Teller der Franklin Mint mit Rockwells Illustrationen für die Saturday Evening Post. Sie selbst kopierte Rockwells Arbeiten als Stickereien, und ein Druck seines berühmtesten Bildes – „Freedom from Want“, der Archetyp einer amerikanischen Thanksgiving-Szene – hing an der Wand ihres Wohnwagens in Montesano. Iris brachte Kurt sogar dazu, eines ihrer Lieblings­hobbys aufzunehmen: Sie kratzte mit Zahnstochern Rockwells Bilder in die Hüte frisch gepflückter Pilze. Nach dem Trocknen der großen Pilze blieben diese „Radierungen“ erhalten, wie bei einer Elfenbeinschnitzerei.

Iris’ Mann, Kurts Großvater Leland Cobain, hatte sein Leben lang Straßenwalze gefahren, was ihn den Großteil seines Gehörs gekostet hatte. Er hatte selbst keine künstlerische Ader, aber er brachte Kurt die Arbeit mit Holz bei. Leland war ein eher schroffer, verdrießlicher Typ, und als sein Enkel, der eine besondere Schwäche für Disney-Figuren hatte, ihm eines Tages eine selbst gezeichnete Micky Maus zeigte, beschuldigte Leland ihn, sie nur durchgepaust zu haben. „Hab ich nicht“, sagte Kurt. „Und ob du die durchgepaust hast“, antwortete Leland. Dann gab er Kurt ein frisches Blatt Papier und einen Bleistift. „Hier“, forderte er ihn auf, „zeichne mir doch noch eine, zeig mir, wie du’s gemacht hast.“ Der Sechsjährige setzte sich hin und zeichnete ihm, ganz ohne Vorlage, einen nahezu perfekten Donald Duck. Und dann gleich noch einen Goofy. Mit einem breiten Grinsen guckte er Leland an – er freute sich nicht weniger darüber, es seinem Großvater gezeigt zu haben, als über die gelungene Zeichnung seiner geliebten Ente.

Kurts Kreativität erstreckte sich zunehmend auf die Musik. Obwohl er nie Klavierstunden hatte, konnte er einfache Melodien nach Gehör nachspielen. „Schon als kleines Kind“, erinnerte sich Schwester Kim, „konnte er sich hin­setzen und einfach etwas spielen, was er im Radio gehört hatte. Er konnte künstlerisch ausdrücken, was in ihm vorging, ob auf Papier oder durch Musik.“ Um ihn weiter zu ermutigen, kauften Don und Wendy ihm ein Micky-Maus-Kinderschlagzeug, auf das Kurt eindrosch, wenn er nachmittags aus der Schule kam. Er mochte diese Plastiktrommeln, aber noch lieber waren ihm die ­echten Drums zuhause bei seinem Onkel Chuck, weil sich darauf mehr Lärm machen ließ. Er hängte sich gern Tante Maris Gitarre um, obwohl ihr Gewicht ihn schier in die Knie zwang. Er schrubbte darauf herum und erfand Liedchen dazu. Im gleichen Jahr kaufte Kurt sich seine erste Platte, Terry Jacks’ zuckrige Ballade „Seasons In The Sun“.

Für sein Leben gern blätterte er die LP-Sammlungen seiner Onkel und Tanten durch. Einmal – er war sechs – war er zu Besuch bei Tante Mari und grub sich durch ihre Plattensammlung auf der Suche nach einem Beatles-Album – die Beatles waren eine seiner Lieblingsbands. Plötzlich schrie Kurt auf und kam wie in Panik zu seiner Tante gerannt. Er hielt ihr Yesterday And Today von den Beatles hin, das Album mit dem berühmt-berüchtigten „Butcher“-Cover. Es zeigt die Pilzköpfe in Fleischerkitteln mit malträtierten Puppen- und Fleischteilen; Capitol nahm das Cover mit dem Foto, das noch nicht einmal für diesen Zweck bestimmt war, rasch wieder vom Markt. „Mir wurde klar, wie empfänglich er schon in diesem Alter für Eindrücke war“, erinnerte sich Mari.

Auch auf die zunehmenden Spannungen zwischen seinen Eltern reagierte der Jungen sensibel. Nicht dass während seiner ersten Lebensjahre viel gestritten worden wäre, aber Hinweise auf eine stürmische Liebe zwischen Don und Wendy gab es auch nicht gerade. Wie so viele Paare, die jung heiraten, hatten die beiden sich einfach in die Umstände gefügt. Ihre Kinder wurden zum Mittelpunkt ihres Lebens, und was immer an romantischer Liebe vor der Geburt der Kinder da gewesen sein mochte, es ließ sich nicht wieder entfachen. Don verzagte nahezu wegen der ständigen Finanzprobleme; Wendy hatte mit den Kindern alle Hände voll zu tun. Immer öfter kam es zu Streitereien, schließlich schrien sie sich auch vor den Kindern an. „Du hast keine Ahnung, wie ich mich abschufte!“, hielt Don Wendy vor, und sie konterte mit demselben Anwurf.

Trotz allem hatte Kurts frühe Kindheit auch eine Menge Freude zu bieten. Im Sommer machte die Familie Ferien in einer Blockhütte der Fradenburgs in dem an der Pazifikküste gelegenen Örtchen Washaway Beach. Im Winter ging es zum Schlittenfahren. In Aberdeen selbst schneite es eher selten, man musste dazu weiter in den Osten, in die Hügel hinter der Holzstadt Porter zum Fuzzy Top Mountain, fahren. Diese Ausflüge zum Rodeln folgten immer ein und demselben Muster. Sie parkten und luden Dons und Wendys kufenlosen Eskimoschlitten, Kims silberne Plastikrutsche und Kurts modernen Flexible Flyer aus. Dann machte man sich bereit für die Abfahrt. Kurt nahm grundsätzlich Anlauf wie ein Weitspringer, bevor er sich den Hang hinabstürzte. Unten angekommen winkte er seinen Eltern zu – das Signal, dass er die Abfahrt überlebt hatte. Der Rest der Familie kam hinterher, dann machte man sich gemeinsam wieder an den Aufstieg. Dieser Zyklus wiederholte sich stundenlang, bis die Dunkelheit hereinbrach oder Kurt vor Erschöpfung umkippte. Auf dem Weg zurück zum Auto mussten die Eltern versprechen, am nächsten Wochenende wieder mit ihm herzufahren. Für Kurt waren diese Ausflüge später die glücklichsten Erinnerungen an seine Kindheit.

Als Kurt sechs war, ging die Familie zusammen in ein Fotostudio in der Stadt und ließ ein formelles Weihnachtsporträt von sich machen.

Wendy sitzt auf diesem Bild in der Mitte auf einem übergroßen Holzstuhl mit hoher Lehne und trägt ein viktorianisches Kleid mit gerüschten Ärmel­säumen. Ein Spot hinter ihr umgibt sie mit einem weichen Schein. Sie trägt ein schwarzes Samthalsband, das schulterlange rotblonde Haar ist sorgfältig gekämmt und in der Mitte gescheitelt, keine Strähne sitzt schief. In ihrer vollkommenen Körperhaltung und der Art, wie sie die Hände über die Stuhl­lehnen hängen lässt, sieht sie wie eine Königin aus.

Die dreijährige Kim sitzt auf dem Schoß der Mutter. In ihrem langen weißen Kleid und den schwarzen Lacklederschuhen wirkt sie wie eine Miniaturausgabe ihrer Mama. Sie starrt direkt in die Kamera und sieht aus, als wolle sie jeden Augenblick losheulen. Don steht hinter dem Stuhl, nahe genug, um nicht aus dem Rahmen zu fallen, scheint aber nicht so recht bei der Sache. Er lässt die Schultern etwas hängen, und sein Lächeln wirkt eher gedankenverloren als echt. Er trägt ein helles lila Hemd mit überdimensionalem Kragen und eine graue Weste, eine Aufmachung, in der man sich Steve Martin oder Dan Aykroyd in einem ihrer verrückten Sketches in Saturday Night Live vorstellen könnte. Dem Blick nach scheint er weiß Gott wo zu sein, als überlege er, wie er sich bloß vor diese Kamera zerren lassen konnte, wo er doch auf dem Sportplatz sein könnte.

Kurt steht links vor dem Vater, einen Schritt weg vom Stuhl. Er trägt eine gestreifte blaue Hose mit passender Weste und ein feuerwehrrotes Hemd, das ihm etwas zu groß ist, jedenfalls ragen die Hände nicht ganz aus den Ärmeln. Als der Entertainer in der Familie lächelt er nicht nur, er lacht. Er wirkt bemerkenswert glücklich – ein kleiner Junge, der am Samstag einen Riesenspaß mit seiner Familie hat.

Es ist eine auffallend gut aussehende Familie und eine, die von der Ausstrahlung her amerikanischer nicht sein könnte – ordentliche Frisuren, strahlend weiße Zähne und die sorgfältig gebügelte Kleidung stilisiert wie in einem Sears-Katalog von Anfang der Siebzigerjahre. Bei näherem Hinsehen jedoch enthüllt sich aber eine Dynamik, die selbst dem Fotografen schmerzlich aufgefallen sein musste: Es ist ein Familienporträt, aber kein Porträt einer Ehe. Don und Wendy berühren einander nicht; es ist nicht der geringste Hinweis auf Zuneigung zwischen den beiden zu sehen, sie scheinen nicht einmal auf demselben Foto zu sein. So wie Kurt vor seinem Vater steht und Kim auf Wendys Schoß sitzt, könnte man eine Schere nehmen und das Foto – nebst Familie – einfach mitten durchschneiden. Man bekäme zwei separate Familien, jeweils ein Erwachsener und ein Kind, nach Geschlechtern getrennt – die viktorianischen Kleider auf der einen Seite, die Jungs mit den breiten Kragen auf der anderen.