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S. Corinna Bille

Dunkle Wälder

Über dieses Buch

Blanca, eine Frau um die fünfzig, verbringt den Sommer in einem Chalet in den Walliser Bergen. Weit weg von den Menschen verlebt sie ihre Tage. Nur gelegentlich kommt ihr Mann aus dem Tal herauf, einzig Hund und Katze sind ihre Begleiter. Vor ihrem Auge erstreckt sich ein dichter, dunkler Wald. Sie beginnt, ihn zu erkunden, mit jedem Tag taucht sie tiefer ein, verirrt sich, verliert sich, verschmilzt mit der gewaltigen Natur. Dabei begegnet ihr Guérin, ein Knecht, der von Hof zu Hof wandert und sie fortan mit Geschenken aus dem Wald überrascht. Diese menschliche Urgestalt, roh und zart zugleich, erschreckt sie und zieht sie magisch an. Als Blanca eines Tages tot in ihrem Chalet aufgefunden wird, glaubt man gleich an ein Verbrechen.

Von Corinna Billes letztem Roman geht die hypnotische Kraft eines Traums aus. Vordergründig erzählt sie von Blumen, Pilzen, Bäumen, doch der Leser spürt, dass Unheimliches, ja eine zunehmende Todesahnung dahinter lauert. Dabei lotet sie die menschliche Einsamkeit zwischen nackter Angst und Momenten grenzenloser Freiheit aus und dringt in ihrer schlichten, direkten Sprache zum Wesentlichen vor.

S. Corinna Bille

Dunkle Wälder

Roman

Aus dem Französischen
von Hilde Fieguth

Mit einem Nachwort
von Maurice Chappaz

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Wer hat Blanca umgebracht?

Am 12. Oktober 1965 war auf der ersten Seite der Lokalzeitung zu lesen:

Schreckliches Drama auf den Maiensäßen von Lonaz

Blanca D., Gattin des im ganzen Kanton bekannten Antiquitätenhändlers Clemens D., ist gestern Abend in ihrem Ferienchalet ermordet worden. Der Ehemann, nun in höchster Verzweiflung, war für einige Stunden ins Dorf gegangen. Bei seiner Rückkehr habe er, wie er sagt, seine Frau erdrosselt vorgefunden. Man verdächtigt einen gewissen Guérin L., der sich in der Gegend herumtreibt.

Am 13. Oktober:

Neue Spur

Jetzt wurde ein junger Mann mit Namen B. M. verhaftet. Er hat mehrere Einbrüche auf den Maiensäßen von Lonaz gestanden. Ist er der Mörder?

Am 14. Oktober:

Das Verbrechen von Lonaz und kein Ende

Unten am Retzéberg wurde in einer Schlucht die mit Steinen bedeckte Leiche von Guérin L. gefunden; mit eingefallenen Schläfen, ein Stück Brot in der Tasche; der Tod muss den Sachverständigen zufolge vor mehreren Tagen eingetreten sein (siehe auch das Brot!).

Der Mord an der Dame von Lonaz wird rätselhafter.

Am 15. Oktober:

Eine kleine Stadt stellt sich Fragen

Der allseits bekannte und beliebte Antiquitätenhändler Clemens D., Gatte von Blanca D., die man erdrosselt in der Küche ihres Maiensäßes aufgefunden hat, wird nun selber des Mordes verdächtigt.

Vor Kurzem hat er auf seine Frau eine Lebensversicherung über dreihunderttausend Franken abgeschlossen.

Aber am 16. Oktober, als die Polizisten erneut zu den Maiensäßen von Lonaz hinaufstiegen, fanden sie einen merkwürdigen, an die Tür genagelten Basthut vor mit folgender Notiz:

Gott allein weiß, wer Blanca getötet hat

Sei gegrüßt, Bauer ohne Obdach!

Sei gegrüßt, kleiner Wolldeckendieb!

Sei gegrüßt, reich gewordener Ehemann!

Wer hat Blanca getötet?

Niemand wirds erfahren.

Der eine Polizist hielt es für einen Streich, der ältere hingegen wurde nachdenklich.

»Diese Schrift, die kommt mir bekannt vor«, sagte er schließlich. »Wo nur hab ich das große S so geschrieben gesehen? Dieser Schnörkel! Natürlich, das war doch in der Vorschule in Vermâle, wo wir das gelernt haben! Ja, bei der Lehrerin, der Héloïse, die immer gesponnen hat. Man sagte, die Verrückte, aber sie war mehr als verrückt und weniger als verrückt, sie war einfach seltsam.«

»Du kommst auf Ideen«, sagte der andere.

»Ha! Wenn das nicht Héloïse gewesen ist! Schreiben kann sie. Böse ist sie auch.«

Dann schlug er sich plötzlich an die Stirn:

»Die hat doch die ganze Fasanenzucht von Marcolin erdrosselt. Mit Schuhbändeln.«

»Aber warum denn?«

»Eifersucht.«

»So was …«

Der junge Polizist senkte den Kopf.

»Also gut, dann muss man das halt erzählen.«

I

Das Land

»Ja«, sagte der Mann, der den Jeep fuhr, »mein Vetter hatte eine Frau, die war so böse, dass er sie einmal in ein Zimmer zusammen mit einer Viper eingesperrt hat.«

»Fragt sich nur, wer von den beiden wohl gefährlicher war«, sagte Clemens.

»Wer wohl …«

»Ach ihr, immer müsst ihr schlecht von uns reden!«, beschwerte sich Blanca.

»Erst neulich hab ich in einer Telefonzelle einen Spruch gelesen«, sagte der Mann. »Wenn du heimkommst, schlag deine Frau. Schlag sie, auch wenn du nicht weißt, warum: Sie weiß, warum.«

Aber Clemens warf Blanca einen liebevollen Blick zu.

»Ach! Ihr immer!«

Sie lächelte ihrem Mann zu. Der Jeep klomm den Berg hoch. Auf ihren Knien: eine Tasche. Darin schien ein Düsentriebwerk zu sein. »Lass ihn Luft schnappen …«, sagte Clemens. Sie öffnete die Tasche ein bisschen (aber da war ja der Teufel drin) und machte sie wieder zu. »Lass ihn Luft schnappen …«, sagte ihr Mann noch einmal. »Aber nur ganz wenig, sonst springt er aus dem Jeep.« In dem Spalt zeigte sich ein kleines ziegelrosa Dreieck mit zwei schwarzen Löchern. Der Hund hingegen hielt sich regungslos unter ihren Beinen versteckt. Der Jeep fuhr jetzt hoch über der Ebene, man sah die Rhone und einen glitzernden Teich. Dann drehte sich die Straße um sich selbst, glitt in einen Kiefernwald, drehte sich wieder, verschwand in Schiefertunnels, tauchte wieder auf.

»Hier«, sagte der Fahrer, »hier am Abgrund hat einmal einer seinen Lieferwagen gestartet, hat Gas gegeben und ist im letzten Moment abgesprungen. Die Versicherung weigerte sich zu zahlen: Auf der anderen Seite hatte es jemand gesehen.«

»Soso«, sagte Blancas Mann.

Sie schaute den Abgrund hinunter, mindestens siebenhundert Meter senkrecht hinab, ein unermesslich weites Tal, an seinen Flanken in das weiße Lasso der Straßen gespannt; aber direkt unter ihnen lag noch ein kleines Tal mit düsteren Obstgärten.

»Das da unten wurde einmal aufgegeben wegen einer Ratteninvasion«, murmelte sie.

»Wann?«

»Ach, das vergessen wir lieber. Es ist lange her. Ich hab gehört …«

»Dieses Jahr werde ich mich auf das Sammeln von Wolfsbovisten verlegen«, sagte der Mann, der nicht zuhörte.

»Wolfsfürze, die riechen nach Apotheke!«, sagte Blanca.

»Man muss sie halt häuten. Diesen Frühling, an einem Glücksmorgen, habe ich unter Erlenblättern fünf Kilo Morcheln zusammengeharkt. Wissen Sie, dass hundert Gramm getrocknete Morcheln sechzehn Franken bringen?«

»Hundertsechzig Franken das Kilo«, rechnete ihr Mann.

»Na ja, ich mochte sie immer lieber frisch in der Pastete«, sagte sie.

»Aber getrocknet in Soße gekocht, zu unseren kleinen Birkhühnern …«, schwärmte der andere.

»Der Herr Renard ist aber ein feiner Koch!«, schmeichelte Clemens.

»Wenn Männer sich mal dranmachen, dann sind sie tüchtiger als wir«, gab Blanca zu. »Nicht umsonst heißt es ›Küchenchef‹. Aber bekanntlich verbrauchen sie das Dreifache. An Öl, Butter …«

Plötzlich ging der Reißverschluss auf, und der getigerte Kater schoss wie eine Kanonenkugel aus der Tasche. Mit aller Kraft hielt sie ihn zurück. Schon hatte er vorne unter der Windschutzscheibe die Öffnung entdeckt und drängte hin. Blancas Hände wurden zu zwei streichelnden Schraubstöcken, das genügte, um ihn zurückzuhalten. Sein Fell war feucht, er blickte verstört, aber das Kraulen unter dem Kinn und auf dem Kopf beruhigte ihn. Zwischen ihren herumwandernden Händen hielt sie das hochgereckte, schlüpfrige Köpfchen, ein Schlangenkopf. Wirklich schlangengleich, dazu noch das grau und schwarz gemusterte Fell. Vor der Abfahrt war ›Monsieur‹ außerordentlich nervös gewesen, seine Augen waren rund und weit aufgerissen, er hatte Blanca gekratzt. Sie und Clemens waren gezwungen gewesen, ihn in eine Tasche zu sperren.

»Na klar, wenn er was vom Kochen versteht«, sagte Clemens und grinste dabei. »Er wird ja wissen, wozu das gut ist.«

»Er hat Durst«, seufzte Blanca.

Sie hatten nun dem weiten Tal den Rücken gekehrt und fuhren hinauf auf die Bergschulter, wo ein Dorf mit einem runden, sehr trockenen Hügel lag, der von Kiefernwäldchen und kleinen Terrassenfeldern und Chalets bedeckt war. Der Jeep hielt einen Moment an und Blanca wollte dem Kater an einem Brunnen zu trinken geben, aber der hatte nichts anderes im Sinn als quer über die Gärten auszureißen, wo sich im Gras scheußliche tote Baumwurzeln hochreckten, die wohl Skulpturen sein sollten. Sie fing ihn ein. »Im Auto hat er schon immer Angst gehabt und sich unbehaglich gefühlt, während er sich vom Zug gern einwiegen lässt.« So lautete die Entschuldigung des Katers, die Blanca den Männern überbrachte, die sich eine Zeitung und Zigaretten gekauft hatten. Sie stiegen wieder ein.

Noch eine gute halbe Stunde mussten sie in die Höhe klettern, auf einer schlechten Straße, die von Alpendost mit kindskopfgroßen rosa Blüten gesäumt war. Der Kater betrachtete den Wald, Blanca sah in seiner grünen, sehr hellen Iris den dunklen Widerschein der Lärchen und Tannen. Ihr Basthut fiel ihr ein, den sie in den Anhänger hinter sich auf die Koffer und Kästen geworfen hatte, zusammen mit anderem Kleinkram: Nägeln, Stoffresten vom Schlussverkauf, ihrem Nähkorb, Gardinen mit Volant (schon fertig genäht, mussten nicht einmal mehr gebügelt werden), nur der Hut war weg. »Er muss davongeflogen sein!«

Aber nun sollte sies endlich sehen, ihr Chalet! Tausend Meter Stille vom letzten Nachbarn entfernt. Zuerst war sie nicht sehr begeistert gewesen. Aber Clemens hatte, so wie fürs Kindermachen, Bäumepflanzen und Möbelpolieren, eine Leidenschaft für Landbesitz, Häuser inbegriffen.

Ihr war eigenes Land nicht wichtig. Nein. In der Natur fühlte sie sich immer wohl, ob sie ihr gehörte oder nicht. Bei ihm war es das Gegenteil: Er wollte besitzen.

Sein ganzes Geld gab er dafür aus. Danach musste gespart werden. Blanca hatte das gar nicht lustig gefunden. Es war, als ob die Finger von Clemens zu zehn Schraubenschlüsseln geworden wären, die unaufhörlich den Fluss der Ausgaben eindämmten. Wäre sie gern entflohen? Unmöglich. Selbst die fünf Franken für den Zug oder fürs Kino fehlten. Sie musste betteln und schimpfen, ehe sie das bisschen Geld bekam. Und wenn einmal im Haus etwas glänzte, so waren das keine Münzen, die ausgeteilt wurden, sondern der blanke Widerschein dieser berüchtigten Schraubenschlüssel. Sie revoltierte. Aber nie lange, sie liebte das Glück. Und die Hände von Clemens, dem Antikschreiner, konnten den Hals seiner Frau streicheln wie den einer barocken Karaffe und stellten seltene Möbel her. Kurz und gut, sie bewunderte ihn.

Er hatte also gekauft. Viel Land und einsame Maiensäße in einem kleinen Tal. »Haute-Combe, tiefe Schlucht, wo die Wälder rutschen«, spotteten die Freunde. »Clemens besitzt einen Berg, aber seine Frau wird er verlieren«, wahrsagten die Freundinnen mit dem zweifelhaften Vergnügen, Blanca zu bedauern.

Clemens hatte sein ganzes Geld in sechs Hektar Wiesen und abschüssige Wälder gesteckt, in der wildesten Natur, die er finden konnte.

Sie kamen an. Aber von ihrem Land war noch nichts zu sehen, weil das schlechte Sträßchen mit seinen Löchern und Buckeln hier aufhörte. Es war gerade Platz zum Wenden, um zwischen den Tannen zurückzufahren. Sie griff den Henkel eines Korbs, mehrere Taschen, nahm den Kater unter den Arm und kletterte aus dem Jeep.

Nun stieg sie hinab, ihr Land war weiter unten. Noch sah sie es nicht, vorsichtig ging sie den Pfad hinunter, stemmte die Beine in den Boden und bremste mit dem Absatz. Bloß nicht den Kater loslassen! Unten, genau da, wo ihr Land anfing, bemerkte sie, obwohl sie die Augen gesenkt hielt, einen Mann.

Er hielt sich gerade wie ein seltsamer Engel, steckte in einem großen gestreiften Pullover und sah mit feindseliger Miene zu, wie sie herunterkam. Sie konnte erkennen, dass er sie scharf beobachtete und dass seine braunen dichten Haare oben auf dem Kopf in die Höhe standen. »Riquet mit dem Schopf«, dachte sie. Eingeschüchtert und betont höflich grüßte sie ihn:

»Guten Tag, Monsieur.«

II

Das Chalet

Aber er war schon nicht mehr da. Das Land lag vor ihr; sie hatte es erst ein einziges Mal gesehen, im Strahlenkranz des Herbstes, und das hatte genügt: Sie liebte es.

Auf der Wiesenlichtung wuchsen ein Dach und eine Wand aus rötlichem Lärchenholz in die Höhe. Das war das Chalet.

Es war noch unbewohnbar gewesen, als Clemens und sie einmal hier gewesen waren, um einige Bilder auszupacken und alles auszumessen; sie waren wieder gegangen, und der Schnee hatte den Berg zugedeckt.

Im Frühling hatten die Zimmerleute die Arbeit wieder aufgenommen, und noch heute, am 26. Juli, ihrem letzten Tag, waren sie da, und es brummte und klopfte im ganzen Chalet. Blanca stand an der Schwelle einer riesigen Lichtung zwischen Waldringmauern und spürte das irrsinnige Glück, das sie in ihrer Jugend gefühlt hatte. Landschaften verbrauchen sich wie Menschen, hier waren sie neu.

Der Kater machte plötzlich einen heftigen Satz und riss sich los, folgte ihr aber in einigem Abstand. Der Hund lief voraus und erschnupperte die neuen Gerüche. Unter einer großen Kiefer, der Königin aller Kiefern!, verzweigte sich der Weg. Sie betrat nun noch einen weiteren Abhang. Der Kater hatte sich hingesetzt, klein und angespannt, und schaute sie an. »Komm, Moravagine!« Er miaute, rührte sich aber nicht vom Fleck. Sie ging mit dem Hund weiter, dann drehte sie sich um: »Komm!« Der Kater, immer noch reglos, miaute wieder. Er hat Angst. Sie stellte ihre Taschen und den Korb ab und holte ihn. Er ließ sich packen. Dann war sie endlich da, begrüßte den Zimmermannsmeister und die Schreiner, die sie belustigt lächelnd empfingen.

Sie trat ein und setzte den Kater im ersten Zimmer auf das Sofa; er versteckte sich darunter. Sie brachte ihm zu trinken, aber er rührte nichts an, blieb versteckt, streckte nur ein paar Mal das Schnäuzchen hervor. Da überließ sie ihn sich selbst und stieg wieder hinauf, um Kartons zu holen. Ihr Mann und der Fahrer waren schon mehrmals vom Jeep quer über die Wiesen zum Chalet gelaufen.

Die Küche war noch eine Baustelle, Papier, Zeitungen und Plastikfolien waren zum Schutz auf dem Boden ausgelegt.

»Das sind gar keine Dielen, das ist ja Parkett!«, rief Blanca aus, als sie die rosig-goldgelben, leicht lackierten Lärchenbretter aufdeckte.

»Damit sie keine Wasserflecken bekommen«, sagte ein alter Maurer, der dazugekommen war.

»Endlich sind Sie da und schauen sich Ihr schönes Chalet an! Es hat Sie bis jetzt noch nicht oft gesehen.«

»Ja, wirklich, es ist schön, und solide dazu«, sagte Blanca bewundernd.

Zur Genüge kannte sie diese gemieteten Chalets, bei denen Fenster und Türen nicht richtig schließen, weil das Holz (schlechtes, frisches Holz) sich verzogen hat, und deren Dächer voller Regenrinnen sind.

»Und diese Augen …«, sagte der Maurer und strich über die Arvenknoten an der Wand, die in allen Rottönen schillerten. »Das ist gut geschlagen, gut zusammengefügt.«

»Lärche dunkelt schnell nach, das wirst du sehen«, sagte Clemens. Als sie die Baustelle zum ersten Mal gesehen hatte, war das Holz von einem Rosa, fast so blass wie die Lamellen des Wiesenchampignons, und nun war es schon bernsteinfarben; es würde noch braun werden und schließlich schwarz. Tief atmete sie durch den Lärm und Staub der Arbeiter hindurch den durchdringenden Duft der Waldbäume ein.

»Werden sie heute Abend fertig?«, fragte sie.

»Ja.«

»Es gibt sogar eine Treppe, um von einem Stock in den anderen zu kommen«, spöttelte ein Schreiner. »Ich kenne einen, der hat sich ein Chalet bauen lassen; er wohnte unten, seine Frau oben und keine Treppe dazwischen.«

»Auch keine Leiter?«

»Nichts. Er hat es so gewollt. Das Essen haben sie sich per Flaschenzug zukommen lassen.«

»Immer diese Ehegeschichten«, bekümmerte sich Blanca, und schon war sie nicht mehr so guter Dinge.

Am nächsten Morgen kam der alte Maurer wieder, der in einer kleinen Enklave auf ihrem Land wohnte, und blieb den ganzen Tag. Er kümmerte sich um die Feinarbeiten im Keller und an den zwei Kaminen. Und da Clemens ins Dorf gegangen war, um noch Sachen zu holen, musste sie ihm das Mittagessen kochen und allein mit ihm essen. Er hatte sein kleines Transistorradio mitgebracht und erzählte ihr, dass er lange Zeit in Frankreich gearbeitet hat und sogar an der Restaurierung des Schlosses von Versailles mitgewirkt hatte.

»Ja, ich habe das Petit Trianon, den Liebestempel, den Weiler der Königin und auch noch das Ballhaus restauriert.«

»Aha!«, sagte Blanca.

»Wegen des Krieges musste ich wieder heim, gleich hinter der Grenze wollten die Deutschen auf mich schießen. Zwei Tage lang hielt ich mich im Wald versteckt.«

»Soso!«, sagte Blanca.

»Ich kannte mich aus in Paris, hatte einen Freund dort. Wir sind ins Theater gegangen.«

»In welches?«

»In alle großen Theater. Das hat mir gefallen. Einmal haben wir ein Stück gesehen, da hat die Frau ihren Mann betrogen. Neben uns hat eine Frau die ganze Zeit geweint. Mein Freund hat gesagt: Bestimmt, weil die selber ihren Mann betrogen hat.«