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Marco Leuenberger und Loretta Seglias (Hrsg.)

Versorgt und vergessen

Marco Leuenberger und Loretta Seglias (Hrsg.)

Versorgt und vergessen

Ehemalige Verdingkinder erzählen

Vorwort von Elisabeth Wenger
Mit einem Epilog von Franz Hohler

Fotos von Paul Senn

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Herausgeber und Verlag danken folgenden Stiftungen und Institutionen für die finanzielle Unterstützung des Forschungsprojektes »Verdingkinder, Schwabengänger, Spazzacamini und andere Formen der Fremdplatzierung und Kinderarbeit in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert« und des vorliegenden Buches:

Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung

Akademischen Gesellschaft, Basel

sowie allen weiteren Spendern.

© 2008 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch

Umschlagfoto: Paul Senn, Verdingmädchen beim Besuch des Armeninspektors, Kanton Bern, 1940 (s. auch S. 309). FFV, Kunstmuseum Bern, Dep. GKS. © GKS.

ISBN 978-3-85869-572-7

3. Auflage 2009

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Armut und Kinderarbeit in der Schweiz

Armin Stutz*: »Und einfach immer dieser Hunger, dieser Hunger«

Christoph Grädel*: »Der kleinen Schwalbe geht es wie uns, uns haben sie auch aus dem Nest geworfen«

Hans Unglück*: »Den Lohn musste ich zuhause abgeben, das war damals üblich«

Werner Bieri*: »Es verfolgt mich bis heute. Es wurde nie mehr gut«

Ernst Wessner: »Damals war man froh, wenn einer weniger am Tisch saß«

Schulbesuch und Berufslehre galten als Nebensache

Elsa Schweizer-Dürrenberger: »Ich bin ja ein Kind der Sünde gewesen«

Emil Weber*: »Meine Mutter hat sich nicht getraut, mit dem Lehrer zu sprechen«

Josef Anderhalden: »In der Schule haben sie mich immer ganz allein zuhinterst hingetan«

Joseph Baumeler: »Mein Patron hat gesagt, ich sei da zum Arbeiten, nicht um in die Schule zu gehen«

Marie Bachmann-Pauli: »Ich musste den ganzen Winter mit denselben Kleidern in die Schule gehen«

Gesetzliche Entwicklung des Pflegekinderwesens

Alice Alder-Walliser: »Alle sagten, ich solle ein Buch darüber schreiben, aber dazu habe ich keine Lust«

Doris Gasser: »Ich musste ein Leben lang lernen, sein zu dürfen«

Ernst Fluri: »Er schimpfte mich en fuule Siech und stieß mir die Mistgabel in den Hintern«

Katharina Klodel: »Im Kern waren sie himmeltraurig«

Margaretha Hirzel: »Weit weg von zuhause und dort arbeiten, wo es viele Leute hat«

Kindswegnahme und Fremdplatzierung

Christian Röthlisberger: »Das bringt Minderwertigkeit, wenn man merkt: ›Aha, die lachen einen nur aus‹«

Elisabeth Götz: »Das Schlimme war, so abgestellt zu werden«

Martha Mosimann: »Ich war einfach zum Arbeiten da«

Nelly Haueter: »Du kannst nichts, du bist nichts und wirst nichts«

Ruth Windler: »Da kam ich vom Regen in die Traufe«

Entwurzelung, Isolation und Schweigen

Heidy Hartmann: »Dieses Ausgeschlossensein, kein Körperkontakt, außer Schlägen!«

Marianne Lauser*: »Ich habe oft überlegt, wie ich mich kaputt machen könnte«

Werner Binggeli: »Der Kuhstall war mein Wohnzimmer«

Alfred Ryter: »Dieses Heimweh – niemand hörte uns, niemand nahm uns wahr«

Hedwig Wittwer-Bühler: »Ich hatte eine wunderbare Jugend«

Verdingt und erniedrigt – Formen der Diskriminierung

Christine Hauser-Meier*: »Ich galt als faul und taugte zu nichts. Wenn du das immer hörst, dann glaubst du es«

Elfie Stiefmaier-Vögeli: »Chrampfen wie ein armer Hund«

Elmar Burri*: »Die warme Stube hat einfach gefehlt«

Resi Eggenberger*: »Ich hasste meine Mutter so«

Roger Hostettler: »Ich machte immer die mindere Arbeit«

Gewalt und Machtmissbrauch

Barbara Roth*: »Also, es sind schon schlimme Zeiten gewesen«

Max Schmid: »Der Körper könnte sich vielleicht an die Schläge gewöhnen, aber die Seele gewöhnt sich nie daran«

Walter Zürcher*: »Ich habe nicht rebelliert, das hätte ja nichts genützt«

Hans Crivelli: »Das möchte ich nie mehr erleben«

Hugo Hersberger: »Das stundenlange Warten, bis er heimkam und mich prügelte …«

Widerstand, Flucht und Momente des Glücks

Ferdinand Tauscher*: »Also viel Freizeit habe ich nicht gehabt, zwei Jahre lang«

Herbert Rauch*: »Mich haben sie ja genommen, um etwas zu verdienen, sonst für nichts«

Johann Rindisbacher: »Arbeitete ich viel, bekam ich Schläge, arbeitete ich nicht, bekam ich auch Schläge«

Martha Knopf: »Hin- und hergeschoben«

Rosmarie Schmid: »Ich hatte nichts von meinem Leben«

Erinnern und erzählen – Historisch-sozialwissenschaftliche Zugänge zu lebensgeschichtlichen Interviews

Schlusswort

Epilog von Franz Hohler: Der Vater meiner Mutter

Anmerkungen

Bildnachweise und Originallegenden

Literaturverzeichnis

Autorinnen und Autoren

Glossar

Paul Senn und die Verdingkinderproblematik

Vorwort

Im vorliegenden Werk sprechen vierzig Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über ihr Schicksal als Verding- und Pflegekind. Sie sind das Sprachrohr für Hunderttausende von Leidensgenossen, die über Jahrhunderte hinweg als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, geschlagen und nicht selten sexuell missbraucht wurden. Verdingte Kinder, das waren junge Menschen, die viel zu oft ein liebloses und tristes Dasein fristeten, ohne jegliche menschliche Wärme und Anteilnahme. Diese Kinder standen, verachtet und geächtet, an letzter Stelle der gesellschaftlichen Rangliste.

Heimleiter und Pflegefamilien sahen sich als sozial engagierte Menschen. Dies war ein krasser Widerspruch zu den weit verbreiteten Misshandlungen an den ihnen anvertrauten Kindern, doch das sah selten jemand, wollte niemand sehen. Lehrer schwiegen, obwohl sie wie alle übrigen Dorfbewohner das Unrecht sahen. Die Kirche schwieg und unterstützte dadurch diese fragwürdigen Machenschaften. Das Bodenpersonal Gottes stellte sich auf die Seite der Behörden und Pflegeeltern, obwohl die geistlichen Würdenträger die tatsächlichen Verhältnisse und Begebenheiten kannten.

Es gab auch Pflegefamilien, die ihre Schützlinge gut behandelten, das muss fairerweise gesagt sein. Dennoch: Statt einer helfenden Hand, einem Menschen, der ihnen zugetan war und sie begleitete, erlebten viele Kinder einen Alltag voller Schläge und Angst. Für die erlittene Schmach wurde von ihnen auch noch Dankbarkeit erwartet. Sie kannten nur Diskriminierung, Spott und den Schmerz, den ihre kleinen Seelen Tag für Tag erlitten. Den Kindern wurden so lange Schuldgefühle eingebläut, bis sie sich für das erlittene Unrecht tatsächlich schuldig fühlten; bis sie davon überzeugt waren, eine normale Kindheit nicht verdient zu haben.

Gesprochen über das erlebte Unrecht wurde nicht, denn man schämte sich. Kinder, die von ihrem Leid erzählten, wurden als Lügner hingestellt. So schwiegen sie und verloren mit der Zeit das Vertrauen in ihre Umwelt. Ihnen blieb oft keine andere Wahl, als bis zum Schulaustritt und manchmal bis zur Volljährigkeit bei ihren Peinigern auszuharren. Wenn sie Glück hatten, waren sie danach frei. Wenn nicht, wurden sie weiterhin entmündigt oder gar weggesperrt. Wen kümmerte es? Noch heute traut sich die Mehrzahl der Betroffenen nicht, zu reden. Einige haben ihren Mut zusammengenommen und über ihr Schicksal gesprochen. Immer wieder verlangten dann aber die Familien, dass die Aussagen nicht veröffentlicht werden, und zwar aus Rücksicht auf die Familie. Wer aber nahm und nimmt Rücksicht auf die Betroffenen?

Wer die Kinder- und Jugendzeit ohne Liebe und Wärme und ohne soziale Kontakte durchlitten hat, wer misshandelt, missbraucht, geschlagen wurde, der fällt als junger Erwachsener in ein tiefes Loch, da er nie gelernt hat, Konflikte und Probleme zu lösen. Wie auch? Er war ja stets der Schuldige und er wird auch als Erwachsener so lange schuldig sein, bis er sich die nötige Achtung verschafft und eine gehörige Portion Selbstwertgefühl entwickelt. Es braucht jedoch viel Kraft und Mut, um Verdrängtes an die Oberfläche kommen zu lassen und zu verarbeiten.

Mangelnde Liebe und Wärme, gepaart mit unmenschlicher Behandlung in der Kindheit, ließ viele Betroffene an ihrem Schicksal scheitern. Unzählige sahen später keine Zukunftsperspektiven und nahmen sich das Leben. Vielen fehlte im Erwachsenenalter die Kraft und der Wille, sich zur Wehr zu setzen und sich von ihren Peinigern zu distanzieren.

Man möge mir die harten Worte und den Sarkasmus nachsehen und verstehen, was in mir vorgeht, wenn ich höre und sehe, wie herzlos und berechnend mit Menschen umgegangen wurde. Ich erlaube mir diese klaren Worte, da ich selber ein Pflegekind war, das von den Pflegeeltern an Bauern weiterverdingt wurde. Auch ich habe für meinen Lebensunterhalt hart gearbeitet. Auch ich bin misshandelt und sexuell missbraucht worden und habe als erwachsene Frau Licht ins Dunkel zu bringen versucht. Doch mir wurde – wie vielen meiner Leidensgenossinnen und -genossen – die Einsicht der Akten mit fadenscheinigen Ausreden verwehrt. Viele Gemeinden ließen diese Unterlagen einfach verschwinden. Immer noch gibt es Gemeinden, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben und nicht eingestehen, dass jahrhundertelang großes Unrecht an Kindern verübt wurde. Es geht nicht darum, einzelnen Menschen eine Schuld zuzuweisen. Die Peiniger leben nicht mehr, und ihre Nachkommen schämen sich oft für das, was uns angetan wurde. Wir können aber auch nicht schönreden, was damals war.

Man mag mir entgegenhalten, es sei eine andere Zeit gewesen. Das mag wohl stimmen, aber wir sprechen hier von Menschen, ihrer Würde, und von Respekt. Alle Kinder verdienen es, mit Respekt, Achtung und Ehrfurcht behandelt zu werden, und das gilt ganz besonders für die heutige Zeit. Vonseiten der Bundesbehörden kam bis zum heutigen Tag nicht ein einziges Wort der Entschuldigung an die Betroffenen für das erlittene Unrecht. Eine Entschuldigung wäre eine Geste des guten Willens und ein Eingeständnis des begangenen Unrechts. Sie würde den verstorbenen und noch lebenden Verdingkindern ihre Würde zurückgeben.

Wir können dieses soziale Drama der letzten Jahrhunderte nicht ungeschehen machen, aber es ist unser aller Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich solche Grausamkeiten nicht wiederholen. Wir sind alle aufgerufen, der Realität ins Auge zu blicken. Jede und jeder von uns ist angehalten, Missstände zu melden und anzuprangern. Wo sind die Menschen, die hinsehen und etwas unternehmen? Frauen und Männer, die sich einsetzen, sind nach wie vor rar. Wegsehen ist auch heute noch bequemer, denn Zivilcourage erfordert Mut und kann unbequem sein. Es gilt hinzusehen und den Finger auf den wunden Punkt zu legen.

Bis heute fehlt eine umfassende Gesetzgebung und Kontrolle zum Schutz fremdplatzierter Kinder in der Schweiz. An der Vergangenheit können wir nichts mehr ändern, doch wir können die Zukunft gestalten. Möge der Tag kommen – und das ist mein größter Herzenswunsch – an dem alle Kinder dieser Welt zusammen mit ihren Eltern in Liebe, Wärme und Geborgenheit aufwachsen dürfen.

Ich danke den Historikerinnen und Historikern der Arbeitsgruppe des Forschungsprojekts. Dank großem Einsatz von Frauen und Männern, die die Aussagen der Betroffenen gesammelt haben, und dank Forscherinnen und Forschern, die nicht lockerließen, konnte dieses Werk entstehen. Dieses Buch ist für all diejenigen, die die Würde des Menschen als unantastbar betrachten.

Ich freue mich, dass ich als Betroffene die Ehre hatte, das Vorwort zu diesem einzigartigen Werk zu schreiben. Ich möchte mich für das mir entgegengebrachte Vertrauen herzlich bedanken.

Elisabeth Wenger

Einleitung

Marco Leuenberger

»Versorgt und vergessen« – mit diesen Worten sind nicht etwa Gegenstände gemeint, die – aus Unachtsamkeit oder bewusst – irgendwo verlegt worden sind, sondern es geht um Individuen. Menschen, die vielleicht, ohne dass wir es wissen, in unmittelbarer Nachbarschaft oder in der eigenen Familie zu finden sind. Ihr persönliches Schicksal sieht man ihnen nicht an, obwohl es – bedingt durch eine schweizerische Besonderheit – Hunderttausende von Betroffenen gibt, die in der Schweizer Geschichte bedauerlicherweise bisher kaum Erwähnung gefunden haben: Die Rede ist von den Verdingkindern.

Es brauchte die Neugier einer britischen Journalistin, welche im Sommer 1999 über das Verdingkinderwesen in der Schweiz recherchierte.1 Einer damals in London wohnhaften ehemaligen Schweizer Radiokorrespondentin fiel der entsprechende Artikel auf, der sie nach ihrer Rückkehr in die Schweiz zu eigenen Nachforschungen anregte. Ihr Beitrag im Magazin des Tages Anzeigers2 weckte das Interesse einer breiten Öffentlichkeit an diesem Themenbereich, der in der Folge ab Ende 2003 über Monate hinweg in den Schweizer Medien prominent vertreten war.

Zeitgleich trafen sich im Bahnhofbuffet in Olten in unregelmäßigen Abständen Historikerinnen und Historiker und interessierte Personen, welche die Absicht bekundeten, sich diesem unaufgearbeiteten Stück Schweizergeschichte anzunehmen. Ein aus diesem Kreis unter der Leitung der Professoren Ueli Mäder und Heiko Haumann eingereichtes Nationalfondsprojekt ist im Dezember 2004 teilweise bewilligt worden.3 Im Rahmen dieses Projektes wurden in den Jahren 2005 bis 2008 die mündlichen Lebensberichte von über 270 ehemaligen Verding- und Heimkindern gesammelt, die sich auf entsprechende Aufrufe in verschiedenen Medien hin gemeldet und bereit erklärt hatten, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Die gesammelten Lebensberichte reichen von der Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre.

Eine Auswahl aus diesen Gesprächen liegt hier nun vor. Dabei geht es den Autorinnen und Autoren nicht darum, besonders krasse Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit zu bringen, sondern einem breiten Spektrum von Verdingkinderschicksalen Raum zu geben und in den Kontext der damaligen Lebensverhältnisse und Geisteshaltung zu stellen. Auch wenn die genaue Anzahl der fremdplatzierten Kinder in der Schweiz nie mehr ermittelt werden kann, muss davon ausgegangen werden, dass bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus jährlich Zehntausende von Kindern nicht bei den eigenen Eltern aufwachsen konnten.

Unzählige Waisen- und Scheidungskinder, aber auch uneheliche und sogenannte milieugeschädigte Kinder wurden von den Behörden oft einfach abgeholt und ungefragt vorwiegend auf Bauernhöfe verteilt, oder von verzweifelten, verarmten Eltern weggegeben. Bei einem großen Teil dieser fremdplatzierten Kinder stand deren Arbeitsleistung im Vordergrund. Fremdplatzierte Kinder, die sozusagen als Dienstboten betrachtet und als Arbeitskraft eingesetzt wurden, werden unter anderem als Verdingkinder bezeichnet.4

Das Ausmaß der Arbeitsleistung und seine soziale Stellung unterscheiden denn auch ein verdingtes Kind von einem Pflegekind. In der Diskussion über die Fremdplatzierung gilt es daher zu unterscheiden, welche Absicht dahinter stand und aus welchen Motiven Pflegefamilien ein Kind aufgenommen haben. Im vorliegenden Buch geht es in erster Linie um Kinder, die sich Kost und Logis vorwiegend mit ihrer Arbeitsleistung verdienen mussten. Auf spezielle Ausprägungen des Verdingkinderwesens, wie sie im Raum Ostschweiz /Österreich mit den sogenannten Schwabengängern und Tessin/Oberitalien mit den Spazzacamini anzutreffen waren, wird hier nicht eingegangen.

Dieses Buch versteht sich als Würdigung einer bisher in der Geschichtsschreibung der Schweiz weitgehend ignorierten und verschwiegenen Minderheit. Es geht darin vor allem um Einzelschicksale; das Buch ist aber auch der Versuch, sich einigen thematischen, immer wiederkehrenden Aspekten der Fremdplatzierung sowie den damaligen (Lebens)Gewohnheiten in der Schweiz zu nähern. Ein Teil der Lebensberichte ist auf Wunsch der Betroffenen mit einem – teilweise selbst gewählten – verfremdeten und speziell gekennzeichneten Namen (*) versehen. Neben Name und Jahrgang ist dem Titel der jeweiligen Lebensberichte zu entnehmen, in welchem/n Kanton/en die Fremdplatzierungen erfolgten. Das Vorwort stammt aus der Feder einer betroffenen Person, Elisabeth Wenger. Das Buch schließt mit einem Epilog von Franz Hohler.

Lesende werden bei den vierzig ausgewählten Lebensberichten auf Analogien und wiederkehrende Themen stoßen. Jeweils fünf Lebensberichte werden von einem Hintergrundtext begleitet, wobei die behandelte Materie freilich in weiteren Lebensberichten und Hintergrundtexten wiederzufinden ist. Marco Leuenberger, Liselotte Lüscher und Ueli Mäder stellen in den Kapiteln 1, 2 und 7 in den Bereichen Armut, Kinderarbeit, Schule, Berufsbildung und Macht(missbrauch) die Fremdplatzierung in den Kontext der damaligen Lebensverhältnisse sowie des heutigen Forschungsstandes.

Die Lebensberichte illustrieren die damalige (All)Macht der Behörden und das Gefühl des Ausgeliefertseins seitens der Kinder und deren Familien. Die Kapitel 3 und 4 von Mirjam Häsler und Katharina Moser erläutern die damals geltenden gesetzlichen Vorschriften und Handlungsweisen sowie Normen und Sitten in der Schweiz.

Aus den Schilderungen von Verdingkindern ergeben sich stereotype Leidensmuster. In den verschiedenen Biografien treten viele Missstände oder gar Ungeheuerlichkeiten zutage, die aufmerksamen Zeitgenossen bekannt waren. Loretta Seglias und Sabine Bitter widmen sich in den Kapiteln 5, 6 und 8 den verschiedenen Ausprägungen von Erniedrigung und den Folgen von Entwurzelung und Isolation.

Die Erzählungen geben die Sicht von Betroffenen wieder, wie sie rückblickend ihre Fremdplatzierung erlebt haben. Die befragten Personen haben von sich aus den Wunsch geäußert, ihre Lebensgeschichte mitzuteilen. Bei der Lektüre und bei der Interpretation von lebensgeschichtlichen Erzählungen sind verschiedene Aspekte zu beachten. Heiko Haumann und Ueli Mäder widmen sich im Kapitel 9 dieser Thematik. Die nun ausgewählten Lebensberichte sind nicht repräsentativ, weil sich die Betroffenen freiwillig gemeldet haben und es sich dabei insbesondere um Personen handelt, die sich wissentlich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt und ihr Schicksal/Leben gemeistert haben.

Diese Feststellung ist umso beachtenswerter, als Verdingkinder vielfach aus bedürftigen Familien stammten und durch mangelhafte Schul- und Berufsbildung von vornherein nur eine kleine Chance hatten, in ihrem Leben aus dieser Bedürftigkeit auszubrechen. Obwohl viele Kinder die wohl angeborene Fähigkeit besitzen, schwierige Lebenssituationen unbeschadet zu überstehen, ist gleichzeitig bekannt, dass viele ehemalige Verding- und Heimkinder in ihrem Leben gescheitert sind oder dieses wegen abscheulicher Kindheitserlebnisse sogar vorzeitig freiwillig verlassen haben. Die Lebensberichte solcher Personen fehlen gezwungenermaßen.

Die Autorinnen und Autoren wollen mit diesem Buch einen Einblick in eine bisher weitgehend unbeachtete Schweiz leisten und wollen deutlich machen, dass eine fundierte historische Aufarbeitung dringend nötig ist. Damit verknüpft ist die Hoffnung, endlich ein wenig Licht ins Dunkel der Geschichte einer bisher schweigenden und verschwiegenen Minderheit zu bringen. Dieses Buch richtet sich mithin an direkt Betroffene, deren Nachfahren und weitere Interessierte, will aber auch auf die Lücken auf dem Wissensgebiet der Fremdplatzierung aufmerksam machen. So gibt es bis heute keinen einzigen Kanton, in welchem die Geschichte der Fremdplatzierung historisch aufgearbeitet ist. Leider.

Zu großem Dank verpflichtet sind wir neben all denjenigen Personen, welche bereitwillig aus ihrem Leben erzählt haben, den Professoren Ueli Mäder und Heiko Haumann sowie für die tatkräftige Mithilfe von vielen Studierenden der Universität Basel und weiteren Interessierten, ohne die dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Die Porträts stammen denn auch von vielen verschiedenen Verfassern, welche sich mit diesem Thema auseinandergesetzt und persönlichen Kontakt mit Betroffenen gehabt haben. Ebenso bedanken wir uns bei den verschiedenen Geldgebern, welche das Forschungsprojekt und diese Publikation finanziell unterstützt haben. Das Kunstmuseum Bern hat uns ermöglicht, das Buch mit Bildern von Paul Senn zu illustrieren. Dessen Bilder von Benachteiligten und Randständigen – auch von Verdingkindern – sind bereits über die Schweiz hinaus bekannt.5

Armut und Kinderarbeit in der Schweiz

Marco Leuenberger

Zeiten der Not

Das Verdingkinderwesen in der Schweiz ist eng mit dem Begriff der Armut verknüpft. Im Kontext der Zeit ist damit die ungenügende Versorgung mit lebenswichtigen Gütern wie Essen, Obdach oder Kleidung zu verstehen, im Gegensatz zur neuen Armut, worunter Mangel an Lebensqualität verstanden wird.

Tatsächlich führten viele Menschen in der Schweiz auch im 20. Jahrhundert ein sehr kärgliches und entbehrungsreiches Leben. Die Furcht vor elementarem Mangel prägte das Lebensgefühl weiter Bevölkerungskreise in der Stadt und auf dem Land.1 Während des Ersten Weltkrieges und speziell in den beiden letzten Kriegsjahren 1917/18 führten durch Militärdienst bedingte Erwerbsausfälle sowie Teuerung und Inflation zu großer Not. So mussten im Juni 1918 über fünfzehn Prozent der Schweizer Bevölkerung behördlich unterstützt werden.2 Der Strukturwandel in der Landwirtschaft, die großen Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit (1921/22 und 1932 bis 1939) sowie der Zweite Weltkrieg ließen in breiten Kreisen der Bevölkerung Not und Armut anwachsen.

Ärmere Handwerker-, Arbeiter- und Bauernfamilien lebten in bescheidenen Verhältnissen. Elektrizität oder fließendes Wasser wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst nach und nach installiert. Der Wohnraum war bei den oft vielköpfigen Familien knapp, und nicht selten schliefen die Kinder zu zweit oder zu dritt im selben Bett in ungeheizten Zimmern. Die Möglichkeiten bezüglich Ernährung, Bildung oder Hygiene waren eingeschränkt. Kinder armer Eltern blieben häufig von bestimmten sozialen Aktivitäten ausgeschlossen und konnten kaum am öffentlichen Leben teilnehmen. Die Verarmung war bisweilen derart gravierend, dass selbst die Grundbedürfnisse knapp befriedigt werden konnten.3 Tausende bewegten sich an der Grenze des Existenzminimums oder sogar darunter. So erstaunt es nicht, dass es Lebensberichte von Zeitzeugen gibt, die in den Krisenjahren der 1920er- und 1930er-Jahre von ihren Eltern zum Betteln ausgeschickt wurden oder wie Ernst Wessner, Werner Bieri und Armin Stutz zuhause Hunger litten.

Gelegenheiten, um Rücklagen für Notzeiten zu machen, gab es angesichts der knappen Ressourcen selten. Eine Krankheit, ein Unfall oder ein anderes unerwartetes finanziell belastendes Ereignis konnten das fragile ökonomische Gleichgewicht einer Familie schnell aus dem Lot bringen. Deshalb wurde beispielsweise ein Arztbesuch manchmal möglichst hinausgezögert, bis es zuweilen zu spät war oder ein lebenslanges Leiden resultierte. Verschärfend kam für Bedürftige hinzu, dass einzelne Armutsrisiken wie Krankheit, Unfall oder auch Arbeitslosigkeit noch kaum mit Versicherungen minimiert waren und namentlich die Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV/IV) erst 1948 eingeführt wurde. Nicht von ungefähr führten Unfall oder Tod eines oder beider Elternteile – neben der unehelichen Geburt zwei der Hauptgründe für die Verdingung von Kindern – regelmäßig zum Auseinanderbrechen der Familiengemeinschaft. Die bürgerliche Familie mit dem Familienvater als alleinigem Ernährer war das Ideal einer oberen Mittelschicht, welches für einen Großteil der Bevölkerung nicht zutraf.

Die Familie als Arbeitsgemeinschaft

Vergleichbar mit heutigen Entwicklungsländern, zwang unsagbare Not auch in der Schweiz viele Eltern, ihre Kinder frühzeitig in den Arbeitsprozess einzugliedern. Die Kinder waren für das Funktionieren der familiären Produktionsgemeinschaft unentbehrlich. Die Arbeit wurde je nach Alter und Stärke zugeteilt. Die Kinder ermöglichten damit der Familie ein zusätzliches und oft dringend notwendiges Einkommen. Kinder armer Familien wurden auch häufig tagsüber auf Bauernhöfen beschäftigt, um sie zumindest »ab der Kost« zu haben. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hatten daher Kinder aus bedürftigen Familien »mit vier, fünf Jahren bei den Feldarbeiten mitzuhelfen«4.

Kinderarbeit war somit nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Eine Alternative gab es nicht. Symptomatisch lautet denn auch eine immer wiederkehrende Aussage: »Es isch früecher haut eifach e so gsi!« (Es war früher eben einfach so). So war es durchaus nichts Außergewöhnliches, wenn – Ernst Wessner und Hans Unglück bringen es ebenfalls zum Ausdruck – die Kinder ohne Lehre gleich nach der obligatorischen Schulpflicht in der Landwirtschaft oder in einer Fabrik eine Stelle antraten und ihre Einkünfte bis zur Volljährigkeit (mehr oder weniger freiwillig) ihren Eltern überließen. Je ärmer die Familie war, umso größer und wichtiger war der Beitrag der eigenen Kinder.

Daraus darf indessen nicht automatisch der Schluss gezogen werden, dass alle in solchen Verhältnissen aufgewachsenen Kinder unglücklich waren. Eltern konnten durch Zuwendung, Wärme und durch die Vermittlung eines Zusammengehörigkeitsgefühls gewisse Aspekte der Armut durchaus kompensieren. Viele Betroffene erinnern sich trotz aller Armut an eine glückliche Kindheit.

Unzureichende Vorschriften

Das im Jahr 1877 erlassene eidgenössische Fabrikgesetz brachte zwar unter anderem das generelle Verbot von Kinderarbeit unter vierzehn Jahren in der Industrie. In der Landwirtschaft hingegen, wo eine Großzahl der Verdingkinder und Kinder bedürftiger Eltern eingesetzt wurden, wurde die Arbeit nie gesetzlich geregelt. Erst mit der Revision des Kindesrechts von 1978 hätte der gesetzliche Schutz auch für die Verdingkinder gegolten. (Siehe auch »Gesetzliche Entwicklung«, S. 81.)

Beschwerden über allzu lange Arbeitszeiten für Kinder waren zwar häufig: Immer wieder wurde geklagt, dass die im Vergleich zur Fabrikarbeit prinzipiell gesündere Beschäftigung in der Landwirtschaft durch die lange Arbeitszeit gerade ins Gegenteil verkehrt werde.5 Bestrebungen zur Arbeitszeitregelung in der Landwirtschaft setzten indessen erst spät ein.6 All die Vorstöße blieben Makulatur, zu verschieden waren die Interessen, zu groß war der Widerstand in landwirtschaftlichen und hausindustriellen Kreisen gegen einen solchen Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Eine Regelung scheiterte nicht zuletzt auch an der föderalistischen Einrichtung der obligatorischen Schulpflicht.

Erschwerend kam für Verdingkinder hinzu, dass Fürsorgekreise seit der Reformation harte Arbeit für arme Kinder propagierten. Nicht das Wohlergehen des Kindes, des Individuums, stand im Vordergrund, sondern das Wohlergehen des Staates. Arbeitsamkeit, Fleiß und Tüchtigkeit galten bis ins 20. Jahrhundert als erstrebenswerte Erziehungsziele, insbesondere für fremdplatzierte Kinder. Die im 19. Jahrhundert gängige Vorstellung der selbstverschuldeten, genetischen oder durch Faulheit bedingten Armut ist auch im 20. Jahrhundert im Umgang mit Verdingkindern noch stark spürbar.7 Fürsorgekreise sahen in der Sozialdisziplinierung ein Mittel, um bei Unterschichten bürgerliche Verhaltensweisen und Arbeitsdisziplin durchzusetzen.8 Die Arbeit war das Mittel, mit dem sich das arme Kind in die bürgerliche Gesellschaft integrieren sollte. Man ging vom Grundsatz aus, dass die Kinder so viel wie möglich zu ihrem Unterhalt beitragen sollten. Mit seiner Arbeitsleistung erbrachte es einen aktiven Beitrag zum Funktionieren dieser Gesellschaft, es zahlte der Gesellschaft gleichsam die Aufwendungen zurück, die sie für seine Ausbildung leisten musste. Viele Pflegeverhältnisse waren daher von rückständigen Erziehungs-, Moral- und Strafvorstellungen geprägt.

Während heutzutage bei der Bekämpfung der Armut sogenannte kompensatorische Maßnahmen ins Auge gefasst werden, indem zum Beispiel die schulische Leistung der in Armut aufwachsenden Kinder gefördert wird, trat dieser Aspekt bei den Verdingkindern klar in den Hintergrund. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts standen nicht mehr nur rein finanzielle Aspekte im Blickfeld, sondern man begann sich zunehmend um das leibliche und geistige Wohl des Kindes zu kümmern.

Der Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft von Kindern im Allgemeinen und von Verdingkindern im Besondern scheint erst dann bedrohliche Formen angenommen zu haben, als die Landwirtschaft durch die Abwanderung von Arbeitskräften unter dem zunehmenden Dienstbotenmangel zu leiden begann.9 Wiederkehrende Klagen lassen darauf schließen, dass mit der Verknappung von Arbeitskräften in der Landwirtschaft bereits seit anfangs des 19. Jahrhunderts die Anforderungen an die Kinder stiegen und die Kinderarbeit in diesem Erwerbszweig ein nie erreichtes Ausmaß annahm. Die Schicht der Verdingkinder stellte dabei seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl für die Behörden als auch für landwirtschaftliche Kreise jenes Reservoir dar, aus dem die Lücken im Dienstbotenstand aufgefüllt werden sollten. Landwirtschaftliche Kreise interessierten sich stark für die armengenössigen Kinder. Dies hatte aber weniger mit Wohltätigkeit als mit dem Bedarf an Hilfskräften in der Landwirtschaft zu tun.

Das Leben auf dem Hof

Wurde nun also ein Verdingkind in eine Handwerker- oder – weit häufiger – in eine Bauernfamilie platziert, so war ihm diese Welt oft nicht völlig fremd. Auch die angetroffenen Wohn- und Lebensverhältnisse waren für viele Verdingkinder durchaus mit denjenigen zuhause vergleichbar. Trotzdem gibt es viele Anzeichen, die auf die Härten dieses Übergangs hinweisen. Beklagt wurden dabei nicht die verlangte Arbeitsleistung, sondern physische und insbesondere psychische Misshandlungen. Nicht von ungefähr zieht sich die mangelnde oder fehlende Zuwendung wie ein roter Faden durch die Gespräche mit ehemaligen Verdingkindern. Zu oft fanden sich die Betroffenen in der neuen Familiengemeinschaft auf der untersten sozialen Stufe wieder: Arm sein hieß für sie nicht nur, materiellen Mangel zu leiden, sondern bedeutete auch, keine Macht zu haben und rechtlos zu sein.

Das Verdingkind musste sich unterordnen, es konnte von allen Familienmitgliedern eingesetzt werden und hatte dauernd verfügbar zu sein. Deswegen wurde es wohl auch öfter identitätsneutral »Bub« oder »Meitschi« gerufen. Schwierig wurde es für die Verdingkinder insbesondere dann, wenn sie andere Verhältnisse gewohnt waren oder in einzelnen Bereichen unzureichend versorgt oder gar überanstrengt und misshandelt wurden. Wie den Lebensberichten zu entnehmen ist, war das Spektrum groß: So gab es Verdingkinder, die den Wohnbereich überhaupt nicht betreten, sich lediglich im Stall sowie in der Küche aufhalten durften oder aufs Schlimmste misshandelt und ausgebeutet wurden. Andere wurden von ihren Pflegeeltern wie eigene Kinder behandelt und aufgezogen.

Verdingkinder wurden nicht selten mit der wohlmeinenden Absicht in einen landwirtschaftlichen Betrieb fremdplatziert, um dort wenigstens mit genügend und abwechslungsreicher Nahrung versorgt zu sein. Zudem sollten sie – um einer Entfremdung gegenüber den eigenen Familienangehörigen entgegenzuwirken – in ähnlichen Verhältnissen wie zuhause aufwachsen können. Die Realität sah indessen häufig anders aus. Dementsprechend standen Butter, Eier oder Fleisch, wenn überhaupt, auch dort nur an Sonn- oder an Feiertagen auf dem Tisch. Immer wieder erinnern sich Zeitzeugen daran, wie aus der Not heraus selbst ekelerregende Speisen – zum Beispiel mit Maden durchsetztes Fleisch – auf den Tisch kamen und verspeist wurden oder werden mussten. Ein Ausdruck dafür, dass auch die Pflegefamilien oft selbst in schwierigen ökonomischen Verhältnissen lebten und darauf angewiesen waren, möglichst sparsam zu leben. Dieser Umstand und die einseitige Ernährung, die hauptsächlich aus Rösti, Milch und Brot bestand, führte immer wieder dazu, dass Verdingkinder auch dort mangelernährt waren und wie Hans Crivelli gar Hunger leiden mussten. Und auch hier wurde bei der Bekleidung oder bei Arztbesuchen gespart.

Auch wenn aufgrund fehlender entsprechender Untersuchungen keine gesicherten Daten vorliegen, scheinen die Verdingkinder zumindest im 20. Jahrhundert vorwiegend in kleineren oder mittleren Bauernbetrieben platziert worden zu sein, in welchen die eigenen Kinder entweder noch zu klein und nicht arbeitsfähig waren oder diese den Hof bereits verlassen hatten. Dabei hatten sich die Verdingkinder den Rhythmen der bäuerlichen Lebenswelt unterzuordnen. Waren sie noch klein, so wurden sie zum Viehhüten, zu leichteren Feldarbeiten und zu Hütediensten von Kleinkindern angehalten. Wurden sie größer, ersetzten sie in der Regel einen Knecht oder eine Magd.

In zahlreichen Berichten ehemaliger Verdingkinder wird denn auch überlangen, harten Arbeitstagen Ausdruck verliehen, bei welchen die Arbeit zwischen vier, fünf Uhr morgens oder noch früher begann und nach der Schule bis acht oder zehn Uhr abends dauerte. Das hing insbesondere auch damit zusammen, dass die Mechanisierung der Landwirtschaft erst nach dem Zweiten Weltkrieg flächendeckend einsetzte und vorher praktisch alle Arbeiten von Hand verrichtet wurden. Folglich mussten die Verdingkinder während der Erntezeit dem Hof zur Verfügung stehen. Schulferien waren den arbeitsintensivsten Zeiten des Bauernjahres angepasst und waren somit zum Arbeiten da. Verdingkinder hatten daher im Allgemeinen einen viel zu kurzen und wenig erholsamen Schlaf, und ihre Arbeitszeit ging weit über die damaligen Empfehlungen der Behörden hinaus.10 Neuere Studien belegen, dass arme und überanstrengte Kinder psychisch und physisch in der Regel weniger gesund sind als ihre wohlhabenderen Altersgenossen.11

Freizeit gab es dementsprechend für Verdingkinder kaum. Deshalb waren sie vom Ausschluss an sozialen Kontakten und Aktivitäten nochmals stärker betroffen, als sie es in der eigenen Familie ohnehin schon gewesen sind. Eine Reise zu Familienangehörigen war aus finanziellen und zeitlichen Gründen vielfach nicht möglich, weswegen viele Verdingkinder ein isoliertes Dasein fristeten. Sie waren im bäuerlichen Betrieb in erster Linie billige Arbeitskräfte. Dadurch hatte das Verdingkinderwesen insbesondere für den Kanton Bern, in welchem sich rund ein Viertel sämtlicher Verdingkinder der Schweiz aufhielt, eine wirtschaftliche Seite, die nicht zu unterschätzen ist und einer grundlegenden Änderung in der Versorgung der Verdingkinder möglicherweise im Wege stand.

Die eidgenössische Betriebszählung von 1929 sprach von »großen Beständen an Kinderarbeitskräften« insbesondere in kleineren Betrieben im Kanton Bern,12 wo Kinder unter fünfzehn Jahren knapp zwanzig Prozent aller ständigen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft ausmachten. Selbst wenn man dazu auch die Kinder der Bauernfamilien zählt, kann man die hohe Zahl an Verdingkindern in der Landwirtschaft erahnen. Die Situation hatte sich zehn Jahre später nur unwesentlich verändert.13 Vielmehr stieg in den folgenden Jahren durch den Zweiten Weltkrieg der Bedarf an möglichst kostenlosen Arbeitskräften noch einmal an. Verschiedene Todesfälle und Skandale 1945/46 führten schließlich zu einer ersten Wahrnehmung in der Bevölkerung.14 Eine direkte Folge davon war die Gründung der Pflegekinder-Aktion Zürich 1948 und zwei Jahre später der schweizerischen Pflegekinder-Aktion.

Armin Stutz*, 1927, Luzern

»Und einfach immer dieser Hunger, dieser Hunger«

Armin Stutz ist zusammen mit mehreren Dutzend Kindern in einem Waisenhaus im Kanton Luzern aufgewachsen. Verschiedene Erlebnisse haben ihn tief geprägt und belasten ihn heute noch. Im Waisenhaus herrschte Zucht und Ordnung. Schläge wurden zur Gewohnheit, und gleichzeitig wurde jeden Abend der Rosenkranz gebetet. Armin Stutz erinnert sich genau daran, wie am Morgen das Gesicht der Kinder, die nachts das Bett nässten, mit den nassen Leintüchern eingerieben wurde. Über das Essen im Waisenhaus mag er gar nicht sprechen, so schlecht war dieses.

Betreut wurden die Kinder von Ingenbohl-Schwestern. Eine davon ließ sich von den Knaben befriedigen; der sexuelle Missbrauch gehörte zur Tagesordnung. »Eine junge, eine ganz junge [Schwester]. Sie hat uns, wenn wir einzeln im Zimmer waren, in den Bettchen, am Schwänzchen gesaugt. Und wir mussten ihr unter den Ding fassen. Sie hat die hellen Strumpfhosen herunter gezogen. An das kann ich mich noch gut erinnern.« Am Sonntag kam jeweils der Pfarrer mit dem Fahrrad oder der Kutsche, um die Messe zu lesen. »Er hat sich im Zimmer der Schwestern umgezogen und wir sind schauen gegangen, wenn die Nonnen und der Pfarrer nackt im Zimmer waren. Mehr sage ich nicht.«

Da das Waisenhaus gleichzeitig als Bürgerheim diente, lebten auch zahlreiche pflegebedürftige Erwachsene dort. Zudem wurden auch verarmte Personen, die im Kanton Luzern beheimatet waren, aus der ganzen Schweiz in dieses Haus abgeschoben. Die in der Fremde arbeitslos gewordenen Personen wurden von der Polizei gefesselt abgeliefert.

Die Kinder mussten mitanhören, wenn der Meisterknecht verstorbene Insaßen an den Füßen die Treppe hinunterschleifte und bis zur Beerdigung ins Leichenhäuschen brachte: »Der Meisterknecht hat fast jede Woche einmal oder zweimal einen von oben hinunter geschleift, an den Beinen. Es hat jeweils ‹täg-täg› gemacht, mit dem Kopf, wenn [der/die Verstorbene auf den Stufen] aufschlug.« Im Sommer wurden die Kinder in den Erntezeiten barfuß auf die Stoppelfelder geschickt, um Ähren zu sammeln. Die Kinder, die am meisten sammelten, wurden mit einem angefaulten Apfel belohnt.

Nach der ersten Klasse, als er nach weitläufiger Meinung alt genug war, um zu arbeiten, kam Armin Stutz zu einem mausarmen Bauern, der selbst mehrere Kinder hatte. Er erinnert sich, dass in der Region jeder Bauer, der etwa vier oder fünf Kühe hatte, einen Verdingknaben oder ein Verdingmädchen aus einer armen Familie hatte. Der Bauer besaß nur ein paar Kühe und wenige Obstbäume, sonst nichts. Alles war Handarbeit, und Armin Stutz stand bereits um fünf Uhr auf und erledigte vor der Schule verschiedene Arbeiten. Der Hof war so abgelegen, dass der Knabe im Winter über Mittag in der Schule bleiben durfte und dort eine Milchsuppe erhielt. Das Brot, das dort übrig blieb, musste er jeweils den Kindern des Bauern mitbringen.

Armin Stutz spielte hier regelmäßig den Postboten für das Betreibungsamt. Der Bauer konnte nicht einmal das Futter für die Hühner bezahlen, sodass der Geflügelhalter diese konfiszierte. Auch Armin Stutz war gezwungen, sich das Essen heimlich zu beschaffen und hin und wieder etwas zu stehlen.

Nach ein paar Jahren wurde Armin Stutz einem anderen Bauern zugeteilt, bei dem er es noch schlimmer traf. Auch hier litt er Hunger, obwohl diese Familie alles andere als arm war: Der Pflegevater war als Groß- und Gemeinderat eine angesehene Person. Trotzdem wurde an allen Ecken und Enden gespart. Armin Stutz musste beispielsweise am Sonntag vor der Kirche die Zigarrenstummel der männlichen Kirchgänger einsammeln, woraus in der Pflegefamilie der Pfeifentabak gewonnen wurde. Der Knabe erlebte dort die Kriegsjahre, die zusätzliche Entbehrungen brachten. Während er das Vieh hütete, suchte er Eicheln, die auf dem Ofen getrocknet und aus denen eine Art Kaffee gebraut wurde. Zum Glück für ihn lebte noch ein ehemaliges Verdingmädchen aus einer armen Familie als Magd auf dem Hof. Sie versorgte ihn heimlich mit Schweinekartoffeln oder Kastanien. »Und einfach immer dieser Hunger, dieser Hunger. Wir mussten immer dem Essen nachrennen. Manchmal ging ich, was ich [mich fast nicht zu sagen getraue], wenn [das Mädchen] die Schweine gefüttert hat, zum Schweinetrog hinunter und habe eine Hand voll Ware hinausgenommen.« Auch mit den hygienischen Verhältnissen stand es dort nicht zum Besten. Armin Stutz erinnert sich: »Auf dem Küchentisch, an dem alle zusammen gegessen haben, hatte es dicke Spalten, und man sah jeweils die Maden herumkriechen.« Armin Stutz ekelte sich auch, wenn auf dem Ofen die Apfelschnitze zwischen den verschwitzten Socken getrocknet wurden.

Seine Pflegemutter habe ihm genügend zu essen gegeben, doch ihre Söhne bezeichneten Armin Stutz immer als »Zuchthäusler«, »Waisenhäusler« oder »Armenhäusler« und verweigerten ihm genügend Nahrung. Für alles Mögliche benutzten sie ihn als Sündenbock. Wenn etwa eine Arbeit nicht rechtzeitig zu Ende gebracht werden konnte oder ein totes Reh die Mähmaschine blockierte, wurde die Wut an Armin Stutz ausgelassen und er wurde mit der Peitsche geschlagen. »Wenn es regnete und wir mit der Ladung Gras nicht mehr hinauskamen, musste ich jeweils stoßen. Und wenn wir nicht vorwärts kamen, hat er mich mit der Peitsche geschlagen. Ich hatte Striemen über den ganzen Rücken.« Die Söhne, insbesondere der Jüngste, machten sich einen Spaß daraus, Armin Stutz zu plagen. Wenn der Schnapsbrenner auf dem Hof war, zwangen sie ihn, übermäßig Schnaps zu trinken. Wenn er betrunken war, schleiften sie ihn in den Stall und ließen ihn dort liegen. Eine Lieblingsbeschäftigung des jüngsten Sohnes war die Jagd mit dem Gewehr auf Ratten und Krähen, die er Armin Stutz, teilweise halb lebendig, unters Bett legte. Armin Stutz war andauernd Opfer von allerlei Schabernack und Erniedrigungen, denen er wehrlos ausgeliefert war.

Einen Beamten, der einmal zum Rechten geschaut hätte, hat er nie gesehen. Das Übel war, dass sich der Pflegevater als Waisenvogt eigentlich persönlich um das Wohl der Verdingkinder in der Gemeinde hätte kümmern müssen. Den übrigen Verdingkindern, die in der Region auf abgelegenen Höfen ihr Dasein fristeten, erging es ähnlich wie Armin Stutz. Als er sich einmal darüber beklagte, dass ihm einer der Söhne immer wieder den Pullover mit Sägemehl füllte und versteckte, erhielt er als Antwort lediglich Schläge. Die nicht mehr auf dem Hof lebenden erwachsenen Kinder der Pflegefamilie, die ab und an zu Besuch kamen, interessierten sich ebenso wenig für sein Wohlergehen. Dafür gab es in der Familie gewalttätige Streitereien. Armin Stutz erinnert sich an einige Vorfälle, bei welchen der Sohn mit dem Sturmgewehr auf den Vater gewartet hatte und ihn erschießen wollte.

Das Leben von Armin Stutz war geprägt von harter, endloser Arbeit. Um vier oder halb fünf Uhr morgens wurde er von einem Sohn unsanft geweckt, indem ihm dieser die Matratze umdrehte. Armin Stutz musste Gras mähen oder rechen, im Stall helfen und die Milch in die Käserei bringen. Während des Krieges, als die Männer im Militärdienst waren, übernahm er zusätzlich deren Arbeit.

Auch die Schulkameraden plagten ihn und nahmen ihm beispielsweise seine Butterbrote ab, die er vom Waisenhaus für gewisse Dienstleistungen erhielt. Und wenn das nicht mehr möglich war, bekam er als ehemaliger »Waisenhäusler« einfach eine Tracht Prügel. Armin Stutz hatte es auch in der Schule nicht einfach. Da er nie Aufgaben machen konnte, saß er nach vier Jahren immer noch in der Reihe der Erstklässler. Er wurde gar nie gefördert. Während des Unterrichts schickte ihn der Lehrer regelmäßig nach draußen, um sein Fahrrad zu putzen. Als Lohn erhielt der Knabe einen Bleistift. Andererseits wurde er für jede Kleinigkeit mit aller Härte bestraft, indem er mit dem Rohrstock auf die Hände geschlagen wurde oder draußen mit ausgestreckten Armen während Minuten bewegungslos knien musste. »Und die anderen haben geklatscht und hatten Freude.«

Der nächste Lehrer war fürsorglicher. Dieser hatte erkannt, dass Armin Stutz zu wenig Schlaf bekam und ließ ihn während des Unterrichts schlafen. Eines Tages, im Winter, bezahlte ihm dieser Lehrer sogar ein Paar Holzschuhe, weil Armin Stutz barfuß in die Schule kam. Diese Schuhe musste er vor seinen Pflegeeltern verstecken. Er hatte lediglich ein Paar Holzschuhe für die Stallarbeit, die jedoch schon fast durchgescheuert waren. Die restliche Arbeit – etwa Viehhüten bei kalter Witterung im Herbst – wurde barfuß verrichtet, sodass, »sobald eine Kuh gepinkelt hat, [ich] die Füße hingehalten [habe].« Armin Stutz behalf sich auch mit alten Lumpen; Socken hatte er nämlich auch keine.

Im Dorf war wohlbekannt, unter welchen Umständen er und das Mädchen auf dem Hof lebten, doch niemand stand ihnen bei. Armin Stutz konnte sich auch nie jemandem mitteilen. Ein einziges Mal tat er es, als er nach den Schulferien vom Lehrer aufgefordert wurde, seine Ferienerlebnisse in einem Aufsatz niederzuschreiben. Nach anfänglichem Zögern beschrieb Armin Stutz seinen harten Arbeitsalltag und die Misshandlungen. Daraufhin konfrontierte der Lehrer die Familie damit, worauf der älteste Sohn den Knaben halb tot schlug. Er züchtigte ihn mit dem Lederriemen derart heftig, dass er eine Wunde davontrug, die sich bis heute immer wieder öffnet. Jahre später – bei der Rekrutierung – vermutete man, er habe einmal eine Schussverletzung erlitten. Geändert hat sich nach diesem Vorfall nichts, aber Armin Stutz schwieg fortan. Als das ehemalige Verdingmädchen von einem der Söhne geschwängert wurde, versetzte der Pflegevater sie stillschweigend in einen anderen Kanton.