Tiefe Wasser

Für E.B.H. und Tina

eigenen Charakter, weil niemand daran glaubt …«

Pjotr Stepanowitsch in

Dostojewskijs ›Die Dämonen‹

Vic tanzte nicht, allerdings nicht aus den Gründen, die sich die meisten Nichttänzer dafür zurechtlegen. Er tanzte schlicht deshalb nicht, weil seine Frau gern tanzte. Seine verstandesmäßige Erklärung für diese Haltung war dürftig, und er nahm sie sich keinen Moment lang ab, obwohl sie ihm jedesmal in den Sinn kam, wenn er Melinda tanzen sah: sie wirkte unerträglich albern, wenn sie tanzte. Sie machte das Tanzen zu einer peinlichen Angelegenheit.

Er wurde sich, allerdings nur sehr am Rande, bewußt, daß sie ganz kurz in sein Gesichtsfeld wirbelte; nur weil er mit jedem Detail ihrer äußeren Erscheinung vertraut war, hatte er überhaupt gemerkt, daß sie es war. Ruhig hob er sein Glas Scotch mit Wasser und nippte daran.

Er saß mit nichtssagendem Gesichtsausdruck in krummer Haltung auf der gepolsterten Bank, am Antrittspfosten der Mellerschen Treppe, starrte auf das wechselnde Muster der Tänzer und nahm sich vor, wenn er heute nacht nach Hause kam, noch einen Blick auf seine Kräuterkästen in der Garage zu werfen, um festzustellen, ob der Fingerhut schon aufgegangen war. Er zog im Augenblick mehrere Arten von Kräutern, denen er halb soviel Licht und Wasser zukommen ließ, wie sie normalerweise bekamen, um ihr Wachstum zu hemmen und so ihren Duft zu steigern.

Victor Van Allen war sechsunddreißig, von annähernd mittlerer Größe, neigte eher zu einer kompakten Rundlichkeit als zu Korpulenz und hatte dichte, drahtige Augenbrauen, die unschuldige blaue Augen überwölbten. Sein braunes Haar war glatt, kurz geschnitten und wie seine Augenbrauen dicht und struppig. Sein Mund war ebenfalls von mittlerer Größe und normalerweise am rechten Winkel heruntergezogen – ob in schiefer Entschlossenheit oder humorvoll, war Ansichtssache. Es war der Mund, durch den sein Gesicht etwas Zweideutiges bekam – denn man konnte auch eine gewisse Bitterkeit hineindeuten –, weil seine blauen Augen – groß, intelligent und abgeklärt – keinerlei Hinweis darauf lieferten, was er dachte oder empfand.

In den letzten Sekunden hatte der Geräuschpegel um ungefähr ein Dezibel zugenommen, und als Reaktion auf die lateinamerikanische Musik, die seit kurzem spielte, wurde nun ausgelassener getanzt. Der Lärm beleidigte sein Ohr, aber er blieb trotzdem sitzen, obwohl er den Flur entlang in das Arbeitszimmer seines Gastgebers hätte spazieren und dort in den Büchern hätte schmökern können, wenn er Lust dazu gehabt hätte. Er hatte genügend getrunken, um ein schwaches, rhythmisches Summen in seinen Ohren auszulösen, das er als gar nicht so unangenehm empfand. Vielleicht sollte man auf einer Party oder überhaupt bei jeder Zusammenkunft, wo es Alkohol gab, seinen Konsum dem zunehmenden Lärmpegel anpassen. Den

Unwillkürlich konzentrierte sich sein Blick auf das plötzlich sich herausbildende Muster: eine Conga-Reihe. Und ebenso unwillkürlich machte er Melinda ausfindig, die jemandem ein unbekümmertes Fang-mich-doch-Lächeln über die Schulter zuwarf, und dieser Jemand über ihrer Schulter, ja fast schon in ihrem Haar, war Joel Nash. Vic seufzte und nahm einen Schluck. Für einen Mann, der letzte Nacht bis drei und die Nacht davor bis fünf getanzt hatte, hielt sich Mr. Nash sehr gut.

Vic fuhr zusammen, als er eine Hand auf seinem linken Ärmel spürte, aber es war nur die alte Mrs. Podnansky, die sich zu ihm herbeugte. Er hatte schon fast vergessen, daß sie da war.

»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, Vic. Macht es Ihnen wirklich nichts aus, ihn selbst abzuholen?« Das gleiche hatte sie ihn schon vor fünf oder zehn Minuten gefragt.

»Aber nein«, sagte Vic lächelnd und stand mit ihr zusammen auf. »Ich komme morgen so gegen Viertel vor eins vorbei.«

Genau in diesem Moment beugte sich Melinda über Mr. Nashs Arm zu ihm hin und sagte, obwohl sie Vic ansah, Mrs. Podnansky fast ins Gesicht: »Na, du Miesepeter!

Mr. Nash bedachte Vic mit einem glücklichen, leicht beschwipsten Lächeln, während er mit Melinda davontanzte. Wie sollte man dieses Lächeln nennen? fragte sich Vic. Kameradschaftlich. Das war das Wort. So hatte es wirken sollen. Vic wandte bewußt den Blick von Joel ab, obwohl er gerade einem bestimmten Gedankengang nachhing, der mit dem Gesicht des anderen zu tun hatte. Es war nämlich weniger Joels Verhalten – heuchlerisch, leicht verlegen, unreif –, das ihn irritierte, als vielmehr dessen Gesicht. Diese jungenhaften Pausbacken, das hübsch gewellte, hellbraune Haar, die regelmäßigen Züge, die die Frauen, die ihn mochten, als nicht zu regelmäßig bezeichnen würden. Die meisten Frauen fanden ihn vermutlich gutaussehend: Mr. Nash, der ihm gestern nacht sechs-, achtmal sein leeres Glas gereicht und dabei vom Sofa zu ihm aufgeblickt hatte, als schämte er sich dafür, daß er noch etwas trank, daß er noch eine Viertelstunde blieb, dabei hatte in seiner Miene eine gewisse naßforsche Frechheit überwogen. Bis jetzt, dachte Vic, hatten Melindas Freunde wenigstens mehr Verstand oder weniger Frechheit besessen. Joel Nash würde allerdings nicht für immer in der Gegend sein. Er war Vertreter der Furness-Klein Chemical Company in Wesley, Massachusetts, und nur für ein paar Wochen hier, um an einer Schulung über die neuen Produkte der Firma teilzunehmen. Hätte er vorgehabt, sich in Wesley oder Little Wesley häuslich niederzulassen, würde er, da hatte Vic keinen Zweifel, über kurz oder lang Ralph Gosdens Platz

Vic blickte auf und sah Horace Meller vor sich stehen. »Hallo, Horace. Suchst du einen Sitzplatz?«

»Nein, danke.« Horace war ein schmächtiger Mann, mittelgroß, mit grauen Schläfen, einem schmalen, empfindsamen Gesicht und einem ziemlich buschigen schwarzen Schnurrbart. Sein Mund unter dem Schnurrbart trug das höfliche Lächeln des nervösen Gastgebers. Horace war immer nervös, obwohl die Party so gut lief, wie man sich das als Gastgeber nur wünschen konnte. »Was tut sich in der Druckerei, Vic?«

»Wir machen gerade den Xenophon fertig«, antwortete Vic. Bei dem Lärm konnten sie sich nicht besonders gut unterhalten. »Warum schaust du nicht einmal abends vorbei?« In der Druckerei, meinte Vic. Er war stets bis sieben da und ab fünf allein, weil Stephen und Carlyle um fünf nach Hause gingen.

»Ja, mache ich«, sagte Horace. »Hast du noch zu trinken?«

Vic nickte.

»Bis dann«, sagte Horace und entfernte sich.

Sobald er gegangen war, spürte Vic eine Leere. Eine Peinlichkeit. Etwas Ungesagtes, und er wußte auch, was das war: Horace hatte taktvollerweise davon abgesehen, Mr. Joel Nash zu erwähnen. Hatte nicht gesagt, Joel sei nett oder willkommen, hatte sich nicht näher nach ihm

Sein Glas in der Hand, erschien Joel Nash, der in seinem breitschultrigen weißen Jackett leicht schwankend vor ihm aufragte. »Guten Abend, Mr. Van Allen«, sagte er mit gespielter Förmlichkeit und ließ sich auf den Platz plumpsen, auf dem eben noch Mrs. Podnansky gesessen hatte. »Wie geht es Ihnen?«

»Ach, wie üblich«, sagte Vic lächelnd.

»Zwei Dinge wollte ich Ihnen sagen«, sagte Joel mit plötzlichem Enthusiasmus, als wären sie ihm gerade eben erst eingefallen. »Das eine ist, daß ich gebeten worden bin, noch ein paar Wochen länger hier zu bleiben – von meiner Firma –, deshalb hoffe ich, ich kann mich bei Ihnen beiden für die große Gastfreundschaft revanchieren, die Sie mir in den letzten Wochen erwiesen haben, und –«, Joel verstummte mit einem jungenhaften Lächeln und zog den Kopf ein.

Melinda hatte eine natürliche Begabung dafür, Leute wie Joel Nash zu finden, dachte Vic. Kleine Geistesverwandtschaften. »Und das zweite?«

»Aber was?« half Vic nach, der sich plötzlich stocknüchtern und von Nashs betrunkenem Gefasel angewidert fühlte.

»Na ja, viele Männer hätten mir schon für weniger eins übergezogen – weil sie dächten, da wäre mehr. Ich könnte es ohne weiteres verstehen, wenn Sie sich ein bißchen ärgern würden, aber das tun Sie nicht. Soviel sehe ich. Eigentlich will ich bloß sagen, daß ich Ihnen dankbar bin, daß Sie mir nichts auf die Nase geben. Nicht, daß es dafür irgendeinen Grund gäbe. Sie können ja Melinda fragen, wenn Sie irgendwelche Zweifel haben.«

Das war natürlich genau diejenige, die man fragen mußte. Vic starrte den anderen mit ruhigem Gleichmut an. Die richtige Antwort, dachte er, war gar keine Antwort.

»Jedenfalls wollte ich sagen, daß ich Sie für hochanständig halte«, fügte Nash hinzu.

Joel Nashs Affektiertheit in der Wortwahl berührte Vic peinlich. »Ich weiß Ihre Ansicht zu schätzen«, sagte er mit schmalem Lächeln, »aber ich vergeude meine Zeit nicht damit, anderen Leuten eins auf die Nase zu geben. Wenn ich jemanden wirklich nicht mag, bringe ich ihn um.«

»Sie bringen ihn um?« Mr. Nash lächelte sein fröhliches Lächeln.

»Ja. Sie erinnern sich doch noch an Malcolm McRae, oder?« Vic wußte, daß Joel über Malcolm McRae Bescheid wußte, weil Melinda gesagt hatte, sie habe Joel alles über

»Ja«, sagte Joel Nash aufmerksam.

Sein Lächeln war schmaler geworden. Es war nurmehr ein Schutzmechanismus. Melinda hatte ihm zweifellos erzählt, daß Mal ziemlich in sie verknallt gewesen war. Das verlieh der Geschichte stets zusätzliche Würze.

»Sie veräppeln mich«, sagte Joel.

In diesem Augenblick erkannte Vic an den Worten und dem Gesicht des anderen zweierlei: daß Joel Nash bereits mit seiner Frau geschlafen und daß seine, Vics, vollkommen gelassene Haltung in Gegenwart der beiden einen ziemlichen Eindruck gemacht hatte. Er hatte Joel Angst eingejagt – und zwar nicht erst jetzt, sondern schon verschiedentlich abends zu Hause. Vic hatte nie irgendwelche Anzeichen herkömmlicher Eifersucht gezeigt. Leute, die sich unorthodox verhalten, dachte Vic, sind per definitionem zum Fürchten. »Nein, ich veräpple Sie nicht«, sagte Vic seufzend und klaubte eine Zigarette aus seinem Päckchen, das er anschließend Joel hinhielt.

Joel Nash schüttelte den Kopf.

»Er wurde ein bißchen dreist, wie man so sagt – bei Melinda. Sie hat Ihnen vielleicht davon erzählt. Aber es war weniger das als seine ganze Art, die mich geärgert hat. Seine Anmaßung und daß er sich ständig bis zur Bewußtlosigkeit betrank, so daß die Leute ihn bei sich übernachten lassen mußten. Und seine widerliche Knickerigkeit.« Vic steckte seine Zigarette in die Zigarettenspitze und klemmte sie sich zwischen die Zähne.

»Ich denke doch. Nicht, daß es eine Rolle spielt.«

»Sie haben Malcolm McRae wirklich umgebracht?«

»Wer denn sonst?« Vic wartete, aber es kam keine Antwort. »Melinda hat mir gesagt, Sie hätten ihn gekannt oder von ihm gehört. Was war Ihre Theorie? Ich würde sie gerne hören. Theorien interessieren mich. Manchmal mehr als Tatsachen.«

»Ich habe keine Theorien«, sagte Joel abwehrend.

In der Art, wie Mr. Nash mittlerweile auf der Bank saß, nahm Vic ein Sich-Zurückziehen, eine gewisse Furcht wahr. Vic lehnte sich zurück, hob und senkte seine buschigen braunen Augenbrauen und stieß den Rauch gerade vor sich aus.

Es trat Schweigen ein.

Mr. Nash war dabei, verschiedene Bemerkungen zu erwägen, wie Vic wußte. Er wußte sogar, welche Art von Bemerkung er machen würde.

»Wenn man bedenkt, daß er mit Ihnen befreundet war«, begann Joel, wie von Vic vorausgesehen, »finde ich es nicht sehr komisch von Ihnen, über seinen Tod Witze zu machen.«

»Er war nicht mit mir befreundet.«

»Aber mit Ihrer Frau.«

»Das ist nicht ganz dasselbe, wie Sie zugeben müssen.«

Mr. Nash brachte ein Nicken zustande. Dann ein schiefes Lächeln. »Ich finde es trotzdem einen ziemlich schlechten Scherz.« Er stand auf.

»Tut mir leid. Vielleicht kann ich das nächste Mal Besseres bieten. Ach so, einen Moment noch!«

»Melinda weiß nichts davon«, sagte Vic, nach wie vor lässig an den Antrittspfosten der Treppe gelehnt. »Es wäre mir recht, wenn Sie ihr nichts davon sagen.«

Joel lächelte und winkte im Weggehen mit der Hand. Die Hand war schlaff. Vic sah ihm nach, wie er auf die andere Seite des Wohnzimmers ging, in die Nähe von Horace und Phil Cowan, die sich miteinander unterhielten. Aber Joel machte keine Anstalten, sich zu ihnen zu gesellen. Er blieb für sich und rauchte eine Zigarette. Wenn Mr. Nash morgen früh aufwachte, würde er immer noch glauben, es sei ein Scherz gewesen, dachte Vic, aber ihm würden auch leise Zweifel kommen, genügend jedenfalls, um einigen Leuten einige Fragen darüber zu stellen, wie denn Vic Van Allens Verhältnis zu Malcolm McRae gewesen sei. Und verschiedene Leute – Horace Meller zum Beispiel und sogar Melinda – würden ihm sagen, daß Vic und Mal sich nie besonders gut verstanden hatten. Und die Cowans oder Horace oder Mary Meller würden, wenn er nachhakte, zugeben, daß zwischen Mal und Melinda etwas gewesen sein mußte, natürlich nichts als ein kleiner Flirt, aber –

Malcolm McRae war leitender Angestellter in der Werbung gewesen, kein sonderlich wichtiger, aber er hatte etwas widerwärtig Überhebliches und Gönnerhaftes an sich gehabt. Er war der Typ gewesen, den Frauen faszinierend nennen und den Männer gemeinhin verabscheuen. Hochgewachsen, schlank und makellos, mit einem länglichen, schmalen Gesicht, aus dem Vics Erinnerung nach nichts als eine große Warze auf der rechten Wange, wie die von Abraham Lincoln, hervorstach, obwohl doch, wie er sich

Vic lehnte sich noch etwas entspannter an den Antrittspfosten, streckte die Beine von sich und rief sich mit besonderem Vergnügen ins Gedächtnis zurück, wie Mal auf dem Golfplatz hinter Melinda gestanden und ihr, die Arme um sie geschlungen, gezeigt hatte, wie man einen bestimmten Schlag ausführte, den sie von vornherein besser als er hätte hinkriegen können, wenn sie gewollt hätte. Oder dieses andere Mal, so gegen drei Uhr morgens, als Melinda sich mit einem Glas Milch neckisch in ihr Bett zurückgezogen und Mal ins Zimmer gebeten hatte, um sich mit ihm zu unterhalten. Vic war stur im Wohnzimmer sitzen geblieben und hatte so getan, als lese er, entschlossen, aufzubleiben, solange Mal bei ihr im Zimmer war, ganz gleich, wie spät es wurde. Intellektuell waren sie überhaupt nicht miteinander zu vergleichen, Mal und Melinda, und Mal hätte sich zu Tode gelangweilt, wenn er sie jemals einen halben Tag für sich allein gehabt hätte. Aber da waren ja noch die kleinen Verlockungen des Sex gewesen. Da war immer Melindas kleiner Köder, der ungefähr so aussah: »Ach, Vic? Ich liebe ihn schon, doch, doch, ganz bestimmt, nur eben nicht auf diese Weise. Ach, das ist schon seit Jahren so. Er will in der Beziehung auch nichts von mir, also – «, und das mit einem seelenvollen Blick aus grünbraunen Augen. Mal war nach ungefähr zwanzig Minuten wieder aus Melindas Zimmer gekommen. Vic war sich sicher, daß nie etwas zwischen

Ein paar Augenblicke lang stellte sich Vic vor, Mal wäre in jener Nacht in Melindas Zimmer zurückgekommen, nachdem er, Vic, in sein Zimmer auf der anderen Seite der Garage gegangen war, und er hätte davon gewußt, hätte sorgfältig den Mord geplant, wäre unter einem Vorwand nach New York gefahren und mit einem Fallfenstergewicht unter dem Mantel zu Mal gegangen (der Mörder müsse ein Freund oder Bekannter gewesen sein, hatte es in den Zeitungen geheißen, weil Mal ihn offensichtlich ohne weiteres eingelassen habe) und hätte ihn erschlagen. Leise und effizient, ohne Fingerabdrücke zu hinterlassen – sowenig wie der wirkliche Mörder –, wäre dann noch in derselben Nacht nach Little Wesley zurückgefahren und hätte, falls er je danach gefragt worden wäre, als Alibi angegeben, er habe zur Tatzeit im Grand Central einen Film gesehen, einen Film, den er natürlich irgendwann tatsächlich gesehen haben müßte.

»Victor-r?« Mary Meller beugte sich zu ihm herab. »Was grübelst du denn so?«

Victor lächelte und stand langsam auf. »Gar nicht. Du siehst heute abend richtig süß aus.« Er meinte ihr pfirsichfarbenes Kleid.

»Danke. Können wir uns nicht irgendwo in ein Eckchen setzen, und du unterhältst dich mit mir?« fragte ihn

»Wie wäre es mit der Klavierbank?« schlug Vic vor, weil sie der einzige Platz in Sichtweite war, auf dem zwei Leute nebeneinandersitzen konnten. Im Augenblick wurde nicht getanzt. Er ließ sich von Mary an der Hand nehmen und zur Klavierbank ziehen. Er hatte das Gefühl, daß Mary nicht unbedingt mit ihm reden wollte, sondern lediglich versuchte, eine gute Gastgeberin zu sein und mit jedem zu plaudern, und daß sie sich ihn bis zum Schluß aufgehoben hatte, weil er auf Partys ziemlich schwierig war. Vic machte das nichts aus. Ich habe keinen Stolz, dachte er stolz. Er sagte das oft zu Melinda, weil es sie ärgerte.

»Worüber hast du denn so lange mit Mrs. Podnansky geredet?« fragte ihn Mary, als sie sich gesetzt hatten.

»Über Rasenmäher. Ihrer muß geschärft werden, und sie findet, bei Clarke’s hätten sie’s beim letzten Mal nicht anständig gemacht.«

»Und da hast du dich angeboten, könnte ich wetten. Ich weiß nicht, was die Witwen der Gemeinde ohne dich täten, Victor Van Allen! Ich frage mich nur, wo du die Zeit für alle deine guten Taten hernimmst!«

»Ich habe reichlich Zeit«, sagte Vic geschmeichelt und mußte unwillkürlich lächeln. »Ich finde Zeit für alles. Das ist ein wunderbares Gefühl.«

»Zeit, um all die Bücher zu lesen, deren Lektüre wir anderen immer wieder verschieben!« Sie lachte. »Ach, Vic, ich hasse dich!« Nach einem kurzen Blick in die Runde ihrer feiernden Gäste wandte sie sich wieder Vic zu. »Ich hoffe, dein Freund Mr. Nash amüsiert sich heute abend. Will er

Mr. Nash, stellte Vic fest, amüsierte sich nicht mehr sonderlich. Er stand nach wie vor für sich und betrachtete brütend ein Muster in dem aufgerollten Teppich zu seinen Füßen. »Nein, ich glaube, er bleibt nur ungefähr eine Woche«, sagte Vic in beiläufigem Ton. »So eine Art Geschäftsreise.«

»Du kennst ihn also nicht sehr gut.«

»Nein. Wir haben ihn gerade erst kennengelernt.« Es paßte Vic nicht, die Verantwortung mit Melinda zu teilen. Melinda hatte ihn eines Nachmittags in der Bar des Lord Chesterfield Inn kennengelernt, wo sie fast jeden Tag gegen halb sechs hinging, und zwar mehr oder weniger eigens zu dem Zweck, Leute wie Joel Nash kennenzulernen.

»Nimm’s mir nicht übel, mein lieber Vic, daß ich dich für ausgesprochen langmütig halte.«

Vic warf ihr einen flüchtigen Blick zu und erkannte an ihren angestrengt blinzelnden, feucht werdenden Augen, daß ihr der Alkohol zu schaffen machte. »Ach, ich weiß nicht.«

»Doch, wirklich. Du bist wie jemand, der langmütig wartet, und eines Tages – tust du dann etwas. Nicht, daß du direkt explodierst, aber – na ja, du sagst einfach deine Meinung.«

Das war ein so undramatischer Schluß, daß Vic lächeln mußte. Langsam rieb er sich mit dem Daumen eine juckende Stelle an der Schmalseite der Hand.

»Und da ich schon drei Gläser getrunken habe und sich eine solche Gelegenheit vielleicht nicht mehr ergibt, möchte ich dir außerdem sagen, daß ich dich ziemlich wunderbar

Warum eigentlich, fragte sich Vic, glaubten Frauen, sogar Frauen, die aus Liebe geheiratet hatten, ein Kind bekommen hatten und ein recht glückliches Eheleben führten, daß ihnen ein Mann lieber wäre, der keine sexuellen Ansprüche an sie stellte? Es war so etwas wie ein sentimentaler Rückgriff auf die Jungfräulichkeit, eine alberne, törichte Phantasie ohne jede faktische Stichhaltigkeit. Sie wären die ersten, die gekränkt wären, wenn ihre Männer sie in dieser Beziehung vernachlässigten. »Leider bin ich verheiratet«, sagte Vic.

»Leider!« spottete Mary. »Du liebst sie über alles, das weiß ich! Du küßt den Boden unter ihren Füßen. Und sie liebt dich auch, Vic, vergiß das nie!«

»Ich möchte nicht«, sagte Vic und fiel ihr damit beinahe ins Wort, »daß du mich für so gut hältst, wie du das nennst. Ich habe auch meine kleine böse Seite. Ich zeige sie bloß nicht.«

»Das glaube ich!« sagte Mary lachend. Sie beugte sich zu ihm hin, und er roch ihr Parfüm, in dem er eine Mischung aus Flieder und Zimt wahrnahm. »Noch etwas zu trinken, Vic?«

»Siehst du? Sogar was das Trinken angeht, bist du ein guter Mensch! – Was hat dich denn an der Hand gebissen?«

»Eine Bettwanze.«

»Eine Bettwanze! Du lieber Himmel! Wo hast du dir die denn geholt?«

»Im Green Mountain Hotel.«

Mary öffnete ungläubig den Mund; dann kreischte sie vor Lachen. »Was hast du denn dort gemacht?«

»Ach, ich habe sie schon vor Wochen bestellt. Ich habe gesagt, falls Bettwanzen auftauchen, dann will ich sie haben, und schließlich habe ich sechs zusammenbekommen. Hat mich fünf Dollar an Trinkgeldern gekostet. Sie leben jetzt in meiner Garage in einem Glaskasten mit einem Stück Matratze drin, auf dem sie schlafen können. Ab und zu lasse ich mich von einer beißen, weil ich will, daß sie ihren normalen Lebenszyklus durchlaufen. Mittlerweile habe ich schon zwei Gelege Eier.«

»Aber warum?« wollte Mary kichernd wissen.

»Weil ich einem Entomologen, der in einer Fachzeitschrift einen Artikel geschrieben hat, einen Irrtum in seiner Beschreibung ihres Fortpflanzungszyklus nachweisen will«, antwortete Vic lächelnd.

»Was für einen Irrtum?« fragte Mary fasziniert.

»Och, einen nebensächlichen Punkt, der mit der Inkubationszeit zu tun hat. Ich bezweifle, ob das überhaupt für irgendwen von Interesse ist, allerdings müßten Hersteller von Insektiziden –«

»Vi-ic?« nuschelte Melindas rauchige Stimme. »Darf ich?«

»Du möchtest spielen? Schön!« sagte Mary erfreut.

Um das Klavier herum gruppierte sich ein Quintett von Männern. Melinda glitt auf die Bank, und wie ein Vorhang fiel eine Garbe glänzendes Haar herab und verbarg ihr Gesicht vor jedem, der, wie Vic, rechts von ihr stand. Und wenn schon, dachte Vic, wer kannte ihr Gesicht besser als er? Und er wollte es ohnehin nicht sehen, weil es nicht schöner wurde, wenn sie trank. Vic schlenderte davon. Das Sofa war jetzt frei. Zu seinem Mißvergnügen hörte er Melindas wild trillernde Einleitung zu »Slaughter on Tenth Avenue«, das sie schauderhaft spielte. Sie spielte plump, falsch, und eigentlich war es peinlich, dennoch hörten die Leute zu, und es hatte keinen Einfluß auf ihr Urteil über sie. In gesellschaftlicher Hinsicht war es weder ein Plus noch ein Minus. Wenn sie ins Schwimmen geriet und ein Stück mit einem Lachen und einem kindisch-frustrierten Händewedeln abbrach, bewunderten ihre aktuellen Bewunderer sie trotzdem. Bei »Slaughter« allerdings würde sie nicht ins Schwimmen kommen, denn da konnte sie jederzeit zu »Three Blind Mice« überleiten und sich wieder fangen. Vic setzte sich in eine Ecke des Sofas. Bis auf Mrs. Podnansky, Evelyn Cowan und Horace stand alles um das Klavier herum. Melindas scharfe Attacke auf das Hauptthema rief bei ihren männlichen Zuhörern Entzückenslaute hervor. Vic betrachtete Joel Nashs über das Klavier gebeugten Rücken und schloß die Augen. In gewissem Sinn

Schließlich ertönte Applaus, der rasch wieder verstummte, als Melinda mit »Dancing in the Dark«, einer ihrer besseren Nummern, begann. Vic schlug die Augen auf und sah, daß Joel Nash ihn geistesabwesend und dennoch angespannt und ziemlich verschreckt anstarrte. Vic schloß erneut die Augen. Er hatte den Kopf zurückgelegt, als lauschte er verzückt der Musik. In Wirklichkeit überlegte er, was jetzt wohl in Joel Nashs alkoholbenebeltem Gehirn vor sich ging. Vic sah sich selbst auf dem Sofa, die Hände friedlich auf dem Bauch verschränkt, das runde Gesicht zu einem entspannten Lächeln verzogen, das Joel Nash mittlerweile rätselhaft vorkommen mußte. Vielleicht hat er’s ja getan, dachte Nash vermutlich. Vielleicht ist er deshalb so nonchalant in bezug auf Melinda und mich. Vielleicht ist er deshalb so seltsam. Er ist ein Mörder.

Melinda spielte etwa eine halbe Stunde, bis sie »Dancing in the Dark« wiederholen mußte. Als sie vom Klavier aufstand, wurde sie gedrängt weiterzuspielen, am lautesten von Mary Meller und Joel.

»Wir müssen nach Hause. Es ist spät«, sagte Melinda. Sie ging oft unmittelbar nach einer Einlage am Klavier. Im Vollgefühl des Triumphs. »Vic?« Sie schnippte mit dem Finger in seine Richtung.

Er stand gehorsam vom Sofa auf. Er sah, wie Horace ihm ein Zeichen gab. Horace hatte davon erfahren, vermutete Vic. Er ging zu ihm hinüber.

»Was hast du deinem Freund Mr. Nash denn da erzählt?« fragte Horace mit belustigt schimmernden Augen.

Horace’ schmale Schultern bebten vor unterdrücktem Gelächter. »Ich mache dir nicht den geringsten Vorwurf. Ich hoffe nur, er erzählt es nicht herum.«

»Es war ein Witz. Hat er es denn nicht so verstanden?« fragte Vic und tat dabei so, als meinte er es ernst. Er und Horace kannten einander gut. Horace hatte ihm oft gesagt, er müsse »wegen Melinda mal ein Machtwort sprechen«, und Horace war der einzige Mensch aus Vics Bekanntenkreis, der sich das je getraut hatte.

»Ich habe den Eindruck, er hat es ziemlich ernst genommen«, sagte Horace.

»Soll er ruhig. Soll er es ruhig herumerzählen.«

Horace lachte und klopfte Vic auf die Schulter. »Paß auf, daß du nur ja nicht ins Gefängnis kommst, mein Alter!«

Melinda schwankte leicht, als sie zum Wagen hinausgingen, und Vic nahm sie sanft am Arm, um sie zu stützen. Sie war fast so groß wie er und trug stets flache Sandalen oder Ballerinenschuhe, allerdings nicht so sehr seinetwegen, dachte Vic, sondern weil sie bequemer waren und weil Melinda damit größenmäßig besser zu durchschnittlich großen Männern paßte. Trotz ihres leicht unsicheren Gangs spürte Vic die amazonenhafte Kraft in ihrem hochgewachsenen, festen Körper, die animalische Vitalität, die ihn mit sich zog. Sie steuerte mit dem durch nichts zu beeindruckenden Impetus eines Pferdes, das in den Stall zurückwill, auf den Wagen zu.

»Was hast du heute abend eigentlich zu Joel gesagt?« fragte Melinda, als sie eingestiegen waren.

»Nichts.«

»Wann?«

»Immerhin habe ich dich mit ihm reden sehen«, beharrte sie schläfrig. »Worüber habt ihr geredet?«

»Über Bettwanzen, glaube ich. Oder war das Mary, mit der ich über Bettwanzen geredet habe?«

»Herrgott!« sagte Melinda gereizt und schmiegte ihren Kopf so unpersönlich an seine Schulter, als wäre er ein Sofakissen. »Du mußt etwas zu ihm gesagt haben, weil er sich anders verhalten hat, nachdem er mit dir geredet hatte.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Es geht nicht darum, was er gesagt, sondern darum, wie er sich verha-a-a-alten hat«, sagte sie schleppend. Dann schlief sie ein.

Sie hob den Kopf, als er in der Garage den Motor abstellte, stieg dann wie schlafwandelnd aus, sagte »Nacht, Schatz« und ging durch die Tür in der Seitenwand der Garage, die ins Wohnzimmer führte.

Die Garage war groß genug für fünf Autos, obwohl sie nur zwei hatten. Vic hatte sie so bauen lassen, damit er einen Teil davon als Werkstatt nutzen, sein Werkzeug und seine Pflanzenkästen, seine Schneckenterrarien oder was immer sonst gerade Gegenstand seines Interesses oder seiner Experimente war und Platz brauchte, in mustergültiger Ordnung aufbewahren konnte und trotzdem noch genug Platz zum Herumlaufen hatte. Er schlief in einem Zimmer, das gegenüber der Tür zum Wohnzimmer von der Garage abging und nur über diese eine Tür zu erreichen war. Ehe er hineinging, beugte er sich über die Kräuterkästen. Der Fingerhut war aufgegangen – sechs oder acht blaßgrüne

Drei Tage nach der Party bei den Mellers kam Joel Nash auf einen Cocktail zu ihnen, aber er blieb nicht zum Essen, obwohl Vic ihn einlud und Melinda ihn drängte. Er sagte, er sei schon verabredet, obwohl man ihm deutlich ansah, daß das nicht stimmte. Er verkündete lächelnd, daß er nun doch keine zwei Wochen mehr bleibe, sondern schon kommenden Freitag abreise. Überhaupt lächelte er an diesem Abend öfter als sonst und verschanzte sich hinter den Witzen, die er unentwegt riß. Für Vic war das ein Anzeichen dafür, wie ernst Mr. Nash seine Warnung genommen hatte.

Nachdem er gegangen war, warf Melinda Vic erneut vor, er müsse etwas gesagt haben, was Joel gekränkt habe.

»Was hätte ich denn sagen können?« fragte Vic unschuldig. »Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, daß du etwas gesagt haben könntest, was ihn gekränkt hat? Oder etwas getan oder nicht getan?«

»Das wüßte ich«, sagte Melinda schmollend. Dann machte sie sich noch einen Drink, anstatt wie üblich Vic darum zu bitten.

Sie würde den Verlust von Joel Nash leicht verschmerzen, dachte Vic, weil sie ihn noch nicht lange kannte und weil er als Vertreter ohnehin nicht sehr lange in der Gegend

Ralphs Heuchelei widerte Vic an. Ständig schnitt er Themen an, von denen er meinte, daß sie Vic interessierten, obwohl er selbst sich für nichts anderes als das interessierte, was auch die Durchschnittsfrau interessierte, und hinter dieser Fassade von Freundschaft versuchte Ralph zu verbergen, daß er eine Affäre mit Melinda hatte. Er, Vic, störte

Daß Melinda es nun schon seit über drei Jahren so trieb, hatte Vic in Little Wesley in den Ruf gebracht, eine

Auch Melinda war seltsam gewesen, sonst hätte er sie niemals geheiratet. Ihr den Hof zu machen und sie dazu zu überreden, ihn zu heiraten, war etwa der Zähmung eines Wildpferdes gleichgekommen, nur daß er unendlich viel subtiler hatte vorgehen müssen. Sie war dickköpfig und verwöhnt gewesen, der Typ, der aus disziplinarischen Gründen von einer Schule nach der anderen fliegt. Melinda war von fünf Schulen geflogen und mit einundzwanzig, als Vic sie kennenlernte, der Ansicht gewesen, im Leben gehe es nur darum, sich zu amüsieren – und das glaubte sie immer noch, obwohl ihr Aufbegehren damals etwas Bilderstürmerisches und Phantasievolles gehabt hatte, das Vic anzog, weil sie ihm darin ähnelte. Mittlerweile kam es ihm so vor, als hätte sie diese Phantasie restlos eingebüßt und ihre Bilderstürmerei bestehe nur noch darin, teure Vasen gegen Wände zu werfen. Die letzte heile Vase war aus Metall, und ihr Cloisonné wies mehrere Dellen auf. Melinda hatte zuerst kein Kind haben wollen, dann doch, dann wieder nicht, und schließlich, nach vier Jahren, als sie sich endgültig dafür entschieden hatte, auch eines auf die Welt gebracht. Die Geburt war, wie Vic von dem Arzt erfahren hatte, nicht so schwer gewesen wie durchschnittliche Erstgeburten, doch Melinda hatte sich vor und nach der Tortur laut beklagt,

Als Beatrice ungefähr zwei Jahre alt war, begann Melinda eine Affäre mit Larry Osborne, einem jungen und nicht sonderlich hellen Lehrer an einer Reitschule nicht weit von Little Wesley. Davor hatte sie sich monatelang in einer Art schmollend-verwirrtem Gemütszustand befunden, doch wenn Vic versucht hatte, sie dazu zu bringen, über ihre Probleme zu reden, hatte sie nie etwas gesagt. Nach Beginn ihrer Liaison mit Larry wurde sie heiterer, fröhlicher und netter zu Vic, zumal als sie sah, wie gelassen er es nahm. Vic

Vic investierte fünfzig Dollar und zwei Stunden Zeit, um die Situation mit einem Psychiater in New York durchzusprechen. Der Psychiater war der Meinung, daß Melinda, da sie selbst den Rat eines Psychiaters verschmähe, nur Unglück über Vic bringen und schließlich eine Scheidung herbeiführen werde, sofern er ihr gegenüber nicht bestimmt auftrete. Es verstieß gegen Vics Prinzipien, als Erwachsener anderen Erwachsenen gegenüber bestimmt aufzutreten. Auch wenn Melinda sich nicht wie eine Erwachsene benahm, hatte er dennoch vor, sie weiter als solche zu behandeln. Der einzige neue Gedanke, auf den ihn der Psychiater brachte, war, daß Melinda, wie so viele Frauen, die ein Kind bekommen, womöglich mit ihm als Mann und Gatte »fertig« sei, nun da er ihr zu einem Kind verholfen habe. Es war ziemlich komisch, sich Melinda als derart einfach gestrickten mütterlichen Typ vorzustellen, und Vic mußte jedesmal lächeln, wenn er an die Äußerung des Psychiaters dachte. Vics Erklärung lautete, daß schlichte Widerborstigkeit sie dazu bewogen hatte, ihn abzuweisen: Sie wußte, daß er sie immer noch liebte, also wollte sie ihm die Befriedigung versagen, ihm zu zeigen, daß er seinerseits geliebt wurde. Vielleicht war Liebe ja auch das falsche Wort. Sie mochten einander sehr, sie waren voneinander abhängig, und wenn einer ausging, vermißte ihn der andere, dachte Vic. Es gab kein Wort für das, was er für Melinda empfand, für diese Mischung aus inniger Zuneigung und Abscheu. Was der Psychiater ihm sonst noch über die »unerträgliche

Während Melindas fünfmonatiger Affäre mit Larry Osbourne zog Vic vom Schlafzimmer in ein Zimmer, das er sich etwa zwei Monate nach Beginn der Affäre eigens auf der anderen Seite der Garage hatte bauen lassen. Sein Umzug war so etwas wie ein Protest gegen die Stupidität ihrer Affäre (das war so ziemlich alles, was er jemals an Larry kritisiert hatte, dessen Stupidität), doch nach ein paar Wochen, als er sein Mikroskop und seine Bücher bei sich im Zimmer hatte und feststellte, wie angenehm es war, nachts aufstehen zu können, ohne sich sorgen zu müssen, daß er Melinda störte, und die Sterne zu betrachten oder seine Schnecken zu beobachten, die nachts aktiver waren als am Tag, kam Vic zu dem Schluß, daß er dieses Zimmer dem Schlafzimmer vorzog. Als Melinda mit Larry Schluß machte – oder er mit ihr, wie Vic vermutete –, zog Vic nicht wieder ins Schlafzimmer, weil Melinda nicht zu erkennen gab, daß ihr daran lag, und weil er mittlerweile selbst ohnehin nicht wieder dort einziehen wollte. Er war mit dieser Regelung zufrieden und Melinda offenbar auch. Sie war nicht mehr ganz so heiter wie zu Larrys Zeiten, fand aber binnen weniger Wochen einen neuen Liebhaber – Jo-Jo Harris, einen jungen Mann mit ausgeprägter Überfunktion der Schilddrüse, der in Wesley einen kurzlebigen

Vic wußte, daß manche Leute glaubten, Melinda bleibe nur des Geldes wegen bei ihm, und vielleicht spielte das bei Melinda auch eine gewisse Rolle, doch Vic hielt das für unwichtig. Vic war dem Geld schon immer gleichgültig gegenübergestanden. Nicht er hatte sein Einkommen verdient, sondern sein Großvater. Daß Vics Vater und er selbst Geld besaßen, verdankte sich nur dem Zufall ihrer Geburt, warum also sollte Melinda als seine Frau nicht ebenso ein Recht darauf haben? Vic hatte ein jährliches Einkommen von 40000 Dollar, und das seit seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Vic waren Andeutungen zu Ohren gekommen, Melinda werde in Little Wesley nur geduldet, weil er so beliebt sei. Aber das wollte er nicht glauben. Nüchtern betrachtet war sie durchaus liebenswert, solange man von ihr keine Konversation erwartete. Melinda war großzügig, nahm nichts übel und brachte Stimmung in jede Party. Natürlich billigte niemand im Ort ihre Affären, doch war das alte Little Wesley – wo die Leute wohnten, die in seinem neueren, vier Meilen entfernten Ableger Wesley, einer Art Bürostadt, arbeiteten – frei von jeder Prüderie, so als täten dort alle, was sie konnten, um nicht in den Ruch des Neuengland-Puritanismus zu kommen. Bislang hatte jedenfalls niemand Melinda gemieden.