Theodor Fontane
Meine Kinderjahre
Autobiographischer Roman
FISCHER E-Books
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Covergestaltung: bilekjaeger
Coverabbildung: Byron Company, »View of a Man overseeing Children playing on Playground«, New York, 1904/Bridgeman Berlin
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-401451-7
Nur auf kurze Zeit, denn noch im selben Jahre ging die Verlobung Louise Rogées zurück, weil diese mittlerweile Karl von Holtei kennengelernt hatte, dessen Gattin sie wurde. Mit ihrem ersten Verlobten, der sich neben der eminenten Holteischen Liebenswürdigkeit nicht zu behaupten wusste, würde sie wahrscheinlich glücklichere oder doch minder unglückliche Tage verlebt haben, aber das war damals nicht vorauszusehen und würde, wenn doch, mutmaßlich unbeachtet geblieben sein.
Durch einen Nebensächlichkeitsbeweis die Hauptsache beweisen zu wollen, dafür mag aus meinen Erlebnissen hier noch Folgendes als ein glänzendes Beispiel dienen. Ein Freund von mir besaß eine etwa anderthalb Fuß hohe Terrakotta-Statuette, hübsche Arbeit, die einige für das von Michel Angelo persönlich herrührende Modell zum »Moses« hielten, während dies von andern bestritten wurde. Nun befand sich an einer Stelle der Figur ein scharf in die Terrakottamasse abgedruckter Finger, derart scharf, dass die kleinen Rinnen und Rillen der Haut ganz deutlich erkennbar waren. Als es nun die Echtheit zu beweisen galt, sagte mein Freund: »Es kann kein Zweifel sein; Sie -sehen hier ganz deutlich den Finger.« Das war auch richtig; man sah den Finger, man sah nur nicht, dass es der Michel Angelosche Finger war. Trotzdem hab ich es, zunächst an mir selbst, dann aber auch an andern erlebt, dass dieser Beweis momentan für voll angesehn wurde. Ja, der Besitzer selber war, als er das erste Mal auf den Fingerabdruck hinwies, durchaus bona fide dabei verfahren und setzte erst später diese Art von Beweisführung als Spiel und -Jocosum fort.
Ein solches Hinüberrollen schwerer Geschütze von der einen Seite des Schiffs auf die andere hat sich im Kriege, zu Zwecken der Verteidigung, öfters zugetragen; einmal aber kam es auch mitten im Frieden vor und führte, weil unvorhergesehen, eine schreckliche Katastrophe herauf. Das war in den 70er oder 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Um diese Zeit lag der »Royal George« auf der Reede von Portsmouth und der Admiral veranstaltete an Bord dieses seines Flaggschiffes einen Ball, zu dem, außer der vornehmen Welt von Portsmouth, auch die jungen Offiziere der Kanal-Flotte geladen waren. Alles war Glanz und Glück. Aber mit einem Male, während man, so wenigstens wird angenommen, eben zu einem neuen Tanze antrat, senkte sich das Schiff, wenn auch zunächst nur langsam, nach links hinüber und ehe man das volle Gefühl der Gefahr noch haben konnte, schlug es um und versank lautlos. Die Kanonen der rechten Seite, die man versäumt hatte festzulegen, waren, als eine Brise von derselben Seite her heranwehte, durch ein sich schräg Legen des Schiffs nach links hinübergerollt und hatten das Unglück herbeigeführt. – Ein halbes Jahrhundert und mehr hatte den Vorfall in Vergessenheit geraten lassen, als die mittlerweile seitens der Taucherkunst gemachten Fortschritte zu dem Versuche führten, das Schiff wieder zu heben oder wenigstens den Wertinhalt desselben wieder ans Licht zu schaffen. Ich lebte gerade damals, 1858, in England und verfolgte diese Versuche mit dem höchsten Interesse. Die Taucher waren selbstverständlich die Helden des Tages. Ihr beständiges Sichbewegenmüssen unter den geputzten Balldamen in der Salonkajüte, hatte manches, was auf die Nerven fiel, aber eine ganz bestimmte Szene, die vorkam, war doch noch von etwas besonders Schreckhaftem begleitet. Es galt, als man mit dem Leichteren fertig war, zuletzt noch die Hinaufschaffung der Geschütze, die denn auch dadurch bewerkstelligt wurde, dass die Taucher eine von oben her herabgelassene Eisenkette um die Rohre legten und dann das Zeichen zum Aufziehen gaben. Einem der Taucher war dies schon etliche Male geglückt, als er aber damit fortfuhr und sich eben wieder mit dem Umlegen der Kette beschäftigte, sah er, dass ein ungeheurer Seefrosch, der sich in dem mächtigen Geschützrohr einquartiert hatte, seinen Kopf neugierig vorstreckend, ihn mit seinen Riesenfroschaugen ziemlich missmutig ansah. Er erschrak heftig, aber voll Geistesgegenwart den Kanonenwischer packend, der noch auf der Lafette lag, stieß er den Neugierigen in seine Wohnung zurück, ließ den Wischer wie einen Verschlusspfropfen drin stecken und gab, während er sich rittlings auf die Kanone schwang, das Signal, auf das hin nun die Hebemaschine sowohl ihn, wie das Geschütz selbst und den gefangenen Seefrosch nach oben zog.
In eigentlichen Künstlerfamilien ist ein forterbendes Sich-Betätigen auf ihrem eigensten, also künstlerischen Gebiet eine Durchschnittserscheinung; die -Keans, die Kembles, die Devrients weisen Schauspieler und immer wieder Schauspieler auf, die Vernets immer wieder Maler. Die Scherenbergs aber, und darin liegt die Besonderheit ihres Falles, waren zunächst immer wieder Kaufleute; sie wurden nicht durch Verhältnisse, die sie bei ihrer Geburt schon vorfanden, in die Kunst eingeführt, sondern hatten sich den Eintritt in dieselbe meist erst durch Überwindung aller möglichen Schwierigkeiten zu erobern.
Ich habe in vorstehendem den Grund für meine geteilten Sympathien in -einem gewissen Ordnungssinne gesucht, in einem an die Zahl, bez. die Machtüberlegenheit zu stellenden natürlichen Anspruch. Und es liegt in der Tat so. Wenn sich zwei Jungen auf der Straße schlagen und der ganz Kleine siegt über den ganz Großen, so freuen wir uns über den Kleinen, ärgern uns aber über den Großen dermaßen, dass die dem Kleinen zugute kommende Freude sehr erheblich beeinträchtigt wird. Also noch einmal, wir ziehen aus dem Machtverhältnis ganz bestimmte Konsequenzen. Aber vielleicht spielt in dieser Frage auch noch ein anderes, aufs Moralische hin angesehn ganz gleichgültiges Moment mit, dessen trotzdem hier gedacht werden muss: die Macht der rein äußerlichen Erscheinung. Friedrich Wilhelm III., als es sich um den Einzug in Paris handelte, wollte von der Heranziehung des Yorckschen Corps, das doch die Hauptsache getan hatte, zu diesem Einzugszwecke nichts wissen, weil die Hosen der Landwehrleute zu sehr zerrissen waren. Manche hatten gar keine Hosen mehr und deckten ihre Blöße nur noch mit ihrem Mantel. Der König ist oft dafür getadelt worden, ich meinerseits aber habe mich immer auf seine Seite gestellt. Das Ästhetische hat eben auch sein Recht, mitunter sogar ein weit- und tiefgehendes, trotzdem ich nicht verkenne, dass dabei schließlich ein Dorfspitz herauskommen kann, der wohlgekleidete Lumpe passieren lässt und ehrliche Leute, die gerad um ihrer Tugenden willen in Lumpen gehn, anbellt. Bedarf das der Abstellung, muss das aus unserer Seele heraus, so müssen wir nach ganz anderen, von der Erscheinung ab-sehenden Prinzipien erzogen werden und es lernen, unter allen Umständen immer nur das Eigentliche, den Kern der Sache zu befragen. Davon sind wir aber vorläufig noch weit ab.
Wilhelm Krause, dem zuliebe der Hauslehrer überhaupt gehalten wurde, war ein bildhübscher Junge, aber sehr zart und von jenen roten Backen (»wie gemalt«), die kein langes Leben prophezeien. Und so kam es auch. Mit kaum 20 Jahren schickte man ihn nach Malaga, von dessen Klima man sich Gutes für seine Gesundheit versprach. Er war sehr musikalisch und nahm an Bord des Schiffes, auf dem er die Reise machte, seinen schönen Kistingschen Flügel mit. Dieser Flügel nun war, bei Ankunft in Malaga, wegen zu enger Türen und Treppen nicht gleich unterzubringen und stand eine Stunde lang oder länger auf der Straße, was viel Volk herbeilockte. Jedem sollt’ er sagen, was es mit dem Kasten eigentlich sei, worauf er die prompteste Antwort gab, indem er den Flügel aufschlug und darauf spielte. Das Volk war entzückt, so dass sich sagen lässt, dieser glückliche Zufall habe ihn, von Anfang an, zu einer populären Figur gemacht. Er erholte sich anscheinend auch gesundheitlich, nahm an allem teil und schrieb reizende Briefe, die Willibald Alexis, ein Freund des Krauseschen Hauses, herausgegeben hat. Aber sein Leiden war schon zu weit vorgeschritten und so starb er denn bereits im Sommer 1842. Als der Begräbnistag da war, war gerade Prinz Adalbert, auf seiner Brasilienfahrt, im Hafen von Malaga gelandet und nahm, in freundlicher Erinnerung an die im Krauseschen Hause verlebten Tage, Veranlassung, sich mit seinen Offizieren an der Trauerfeierlichkeit zu beteiligen.
Als mir es feststand, mein Leben zu beschreiben, stand es mir auch fest, dass ich bei meiner Vorliebe für Anekdotisches und mehr noch für eine viel Raum in Anspruch nehmende Kleinmalerei mich auf einen bestimmten Abschnitt meines Lebens zu beschränken haben würde. Denn mit mehr als einem Bande herauszutreten, wollte mir nicht rätlich erscheinen. Und so blieb denn nur noch die Frage, welchen Abschnitt ich zu bevorzugen hätte.
Nach kurzem Schwanken entschied ich mich, meine Kinderjahre zu beschreiben, also »to begin with the beginning«. Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre »stecke der ganze Mensch«. Ich habe diesen Satz bestätigt gefunden und wenn er mehr oder weniger auf Allgemeingültigkeit Anspruch hat, so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten. Entgegengesetzten Falls verbliebe mir immer noch die Hoffnung, in diesen meinen Aufzeichnungen wenigstens etwas Zeitbildliches gegeben zu haben: das Bild einer kleinen Ostseestadt aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts und in ihr die Schilderung einer noch ganz von Refugié-Traditionen erfüllten Französischen-Colonie-Familie, deren Träger und Repräsentanten meine beiden Eltern waren. Alles ist nach dem Leben gezeichnet. Wenn ich trotzdem, vorsichtigerweise, meinem Buche den Nebentitel eines »autobiographischen Romanes« gegeben habe, so hat dies darin seinen Grund, dass ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpelliert werden möchte. Für etwaige Zweifler also sei es Roman!
Th. F.
An einem der letzten Märztage des Jahres 1819 hielt eine Halbchaise vor der Löwen-Apotheke in Neu-Ruppin und ein junges Paar, von dessen gemeinschaftlichem Vermögen die Apotheke kurz vorher gekauft worden war, entstieg dem Wagen und wurde von dem Hauspersonal empfangen. Der Herr – man heiratete damals (unmittelbar nach dem Kriege) sehr früh – war erst dreiundzwanzig, die Dame einundzwanzig Jahr alt. Es waren meine Eltern.
Ich gebe zunächst eine biographische Skizze beider.
Mein Vater Louis Henri Fontane, geb. am 24. März 1796, war der Sohn des Malers und Zeichenlehrers Pierre Parthélemy Fontane. Was dieser, mein Großvater, als Maler leistete, beschränkte sich vorwiegend auf Pastell-Kopien nach englischen Vorbildern, als Zeichenlehrer aber muss er tüchtig gewesen sein, denn er kam zu Beginn des neuen Jahrhunderts an den Hof und wurde mit dem Zeichenunterricht der ältesten königlichen Prinzen betraut. Dies leitete sein Glück ein. Königin Luise wohnte gelegentlich dem Unterrichte der Kinder bei und alsbald an dem gewandten und ein sehr gutes Französisch sprechenden Manne Gefallen findend, nahm sie denselben als Kabinettssekretär in ihren persönlichen Dienst. Vielleicht geschah es auch auf Vorschlag des um jene Zeit überaus einflussreichen Kabinettsrats Lombard, der dabei den Zweck verfolgen mochte, seine auf ein Bündnis mit Frankreich hinarbeitende Politik durch bei Hofe verkehrende Persönlichkeiten verstärkt zu sehen. Die Gegner waren von dieser Ernennung wenig erbaut und der national gesinnte Gottfried Schadow, damals noch nicht der »alte Schadow«, schrieb in sein Tagebuch: »ein Herr Fontane, seines Zeichens Maler, ist Kabinettssekretär der Königin geworden; er malt schlecht, aber er spricht gut französisch.« Ob Pierre Barthélemy, mein Großvater, in seiner Stellung Einfluss geübt oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis, jedenfalls, wenn ein solcher Einfluss da war, war er von kurzer Dauer; denn dem Sturze Lombards, der nicht lange mehr auf sich warten ließ, folgte die Katastrophe von Jena, der Hof, flüchtig werdend, ging nach Königsberg und Pierre Barthélemy, dessen Dienste keine weitere Verwendung mehr finden konnten, erhielt, in Berlin zurückbleibend, wohl als eine Art Abfindung, das Amt eines Kastellans von Schloss Nieder-Schönhausen. Dorthin übersiedelte er nun und von hier aus besuchte mein Vater, drei Jahre lang, also wahrscheinlich bis Herbst 1809, das Gymnasium zum Grauen Kloster. Es waren harte Schuljahre, denn der weite, wenigstens anderthalb Stunden lange Weg nach Berlin erforderte, dass jeden Morgen um spätestens sechs Uhr aufgestanden werden musste. »Winters froren wir bitterlich und es wurde erst besser, als wir, mein älterer Bruder und ich, blaue mit postorangefarbenem Kattun gefütterte Mäntel als Weihnachtsgeschenk erhielten. Aber es erwuchs uns daraus keine reine Freude. Jedesmal wenn sich der Wind in den mit einem gleichfarbigen Kattun gefütterten großen Kragen setzte, stand uns der postorangefarbene Kragen wie ein Heiligenschein zu Häupten und der Spott der Straßenjungen war immer hinter uns her.« Es war dies eine Lieblingsgeschichte meines Vaters, der an ihr bis in sein Alter hinein festhielt und nichts davon wissen wollte, wenn ich ihm lachend von meinen eigenen, dem Vorstehenden sehr verwandten Schicksalen erzählte. »Ja, Papa«, begann ich dann wohl, »so bin ich, als ich so alt war wie du damals, auch gequält worden. Mama ließ mir um jene Zeit, ich war eben mit ihr in Berlin angekommen, Rock, Weste und Beinkleid aus einem milchfarbenen Tuchstoff machen, es war ein billiger Rest, und in der Klödenschen Schule hieß ich dann, ein ganzes Jahr lang, der ›Antiquar aus der alten Post‹. Der trug nämlich gerade solchen milchfarbenen Anzug und war überhaupt eine Karikatur.« »Kann schon sein«, schmunzelte mein Vater, »so was ist mitunter erblich; aber Postorange war doch schlimmer, dabei muss ich bleiben. Es schrie förmlich in die Welt hinein.«
Von guter Schülerschaft konnte bei den zwei Meilen Wegs, die jeden Tag zurückgelegt werden mussten, nach eignem Zeugnis meines Vaters, nicht wohl die Rede sein. Es darf aber aus dem Umstande, dass er zeitlebens selbst von einer mangelhaften Schulbildung sprach, nicht auf eine Trauer über diesen Tatbestand geschlossen werden. Beinah das Gegenteil. Er hielt es nämlich, wie viele zu jener Zeit, mit gesundem Menschenverstand und Lebekunst, oder, wie es in unserer Haussprache hieß, mit »bon sens« und »savoir faire« und war, ganz vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, nie dazu zu bringen, sich zu willfähriger Anerkennung der »homines literati« aufzuraffen. Es gab das, wenn er seinen sogenannten »ehrlichen Tag« hatte, den Tag also, wo er aus seiner sonstigen Politesse herausfiel, mitunter recht verlegene Situationen für uns Kinder, im großen und ganzen aber bin ich ihm doch das Zeugnis schuldig, dass er, den ihm persönlich zu Gesichte kommenden Studierten gegenüber, in neunzehn Fällen von zwanzigen immer im Rechte war. Und es konnte dies auch kaum anders sein. Er war – weil er viel Zeit hatte, leider zu viel, was für ihn verhängnisvoll wurde – von Beginn seiner Selbständigkeit an, ein überaus fleißiger Journal- und Zeitungsleser und weil er sich nebenher angewöhnt hatte, wegen jedes ihm unklaren Punktes in den Geschichts- und Geographiebüchern, besonders aber im Konversationslexikon nachzuschlagen, so besaß er, auf gesellschaftliche Konversation hin angesehn, eine offenbare Überlegenheit über die meisten damals in kleinen Nestern sich vorfindenden Ärzte, Stadtrichter, Bürgermeister und Syndici, die, weil sie sich tagaus tagein in ihrem Berufe quälen mussten, sehr viel weniger Zeit zum Lesen hatten. Erlitt er mal eine Niederlage, so gab er diese freimütig zu, ja, pries sogar seinen Sieger, blieb aber dabei, dass es ein Ausnahmefall sei.
Und nun zurück zum Herbst 1809, wo mein Vater als Lehrling in die Berliner Elephanten-Apotheke eintrat. Diese Apotheke befand sich schon damals, wie heute noch, am oberen Ende der Leipziger Straße, jedoch nicht genau an gegenwärtiger Stelle, sondern eben dieser Stelle gegenüber, an der durch Leipziger- und Kommandantenstraße gebildeten Ecke. Bis vor wenig Jahren sah man noch den Elephanten, in Höhe des ersten Stocks, aus dem großen Eckpfeiler heraustreten, jetzt ist er fort und nur die zahlreich über den Parterrefenstern angebrachten und an Elephantenrüsseln hängenden Gaslaternen erinnern noch an die frühere Geschichte des Hauses.
In eben dieser Elephanten-Apotheke war mein Vater viertehalbjahr lang und verlebte diese Zeit mutmaßlich nicht gut und nicht schlecht, was ich daraus schließe, dass er über diesen Lebensabschnitt nie sprach. Vielleicht hatte dies Schweigen aber auch seinen Grund einfach in den großen Ereignissen, die folgten, so dass ihm für die voraufgegangenen Jahre von Durchschnittscharakter kein rechtes Interesse blieb. Herbst 1813 wäre seine Lehrzeit zu Ende gewesen, indessen König Friedrich Wilhelms des Dritten Aufruf an sein Volk kürzte diese Zeit um ein volles halbes Jahr, denn unter den sich freiwillig zum Eintritt Meldenden war auch mein Vater, damals noch nicht voll siebzehn Jahre alt. Über die nun folgende Kriegszeit habe ich ihn oft sprechen hören, meist durch mich veranlasst, der ich nicht genug davon hören konnte. »Du warst also wohl sehr patriotisch, lieber Papa.« – »Nein, höchstens Durchschnitt. Offen gestanden, ich machte nur so mit. Wenn man siebzehn Jahr alt ist, erscheint einem ein freies Soldatenleben hübscher als ein Lehrlingsleben. Und wie’s im Liede heißt ›eine jede Kugel trifft ja nicht‹. Aber wenn ich auch anders hätte denken wollen, ich hatte keine rechte Wahl. In dem Tuchgeschäfte von Köppen und Schier, dessen du dich, weil du ja selber in der Burgstraße gewohnt hast, vielleicht noch entsinnst, trat damals eine adlige Dame ein und wurde von einem hübschen jungen Manne mit blondem Schnurrbärtchen bedient. ›Ich wundere mich, Sie hier hinter dem Ladentisch zu sehn.‹ – ›Ich nicht, meine gnädigste Frau; ich stehe hier lieber als anderswo. ‹ – ›Das seh ich‹, antwortete die Dame und dem hübschen Blondin eine Ohrfeige gebend, verließ sie das Lokal. Das war so die Stimmung damals und weil ich dergleichen nicht gern erleben wollte, wurd’ ich als freiwilliger Jäger eingekleidet und empfing eine Büchse.« Diese sogenannte »Büchse«, die später in den Flurwinkeln unsrer verschiedenen Wohnungen verrostet und verstaubt umherstand, war eine Flinte von allergewöhnlichster Beschaffenheit, was übrigens keine weitre Bedeutung hatte, da mein Vater, seinem eignen Zeugnis nach, auch mit einer gezogenen Büchse nicht getroffen haben würde. Anfang April verließ er mit etwa fünfzig andern Freiwilligen Berlin und zog auf Sachsen zu, wo sich die kriegerischen Ereignisse bereits vorbereiteten. An Spitze dieser fünfzig stand ein Hauptmann von Kesteloot, ein vortrefflicher Soldat aus der alten Armee. Ausbildung und Führung waren ihm anvertraut. Am ersten Tage rückte man spät nachmittags in Trebbin ein; die meisten waren fußkrank, humpelten und sahen sehr niedergedrückt aus. Kesteloot ließ sie noch einmal antreten und sagte: »Wenn unser allergnädigster König und Herr darauf angewiesen ist, mit Ihnen den Kaiser Napoleon zu schlagen, so tut er mir schon heute leid.« Der Zustand der kleinen Truppe verbesserte sich aber und man erreichte die Umgegend von Leipzig in leidlicher Verfassung. Vier Wochen später, am 2. Mai, war die blutige Schlacht bei Groß-Görschen. Die freiwilligen Jäger wurden einem Garde-Bataillon eingereiht und machten in diesem die Schlacht mit. Mein Vater erhielt eine Kugel in den Tornister, die, nach Durchbohrung eines kleinen Wäschevorrats, in den Pergamentblättern einer dicken Brieftasche steckenblieb. Diese Brieftasche, mit der Kugel darin, hab ich mir oft zeigen lassen.
»Du musst wissen, mein lieber Sohn, es war kein Schuss von hinten; wir stürmten einen Hohlweg, auf dessen Rändern, rechts und links, französische Voltigeurs standen. Also Seitenschuss.« Das unterließ er nie zu sagen; er war vollkommen unrenommistisch, aber darauf, dass dies ein »Seitenschuss« gewesen sei, legte er doch Gewicht.
Der Schlacht bei Groß-Görschen folgte die bei Bautzen und dieser wiederum eine Reihe kleinerer Scharmützel und Gefechte. »Die waren dir nun wohl vollkommen gleichgültig?«, fragte ich. – »Kann ich durchaus nicht sagen.« – »Ich dachte, dass die Macht der Gewohnheit …« – »Diese Macht der Gewohnheit ist im Kriege, wenigstens nach meiner persönlichen Erfahrung, von keinerlei Trost und Bedeutung. Eher das Gegenteil. Man sagt sich, wer drei oder viermal heil durchgekommen ist, hat Anspruch, das fünfte Mal dran glauben zu müssen. Eine Karte, die viermal gewonnen, hat immer Chance, das fünfte Mal zu verlieren.«
Nach dem Waffenstillstande, bei Wiederausbruch der Feindseligkeiten, hatte sich meines Vaters Stellung erheblich geändert; er war inzwischen, ich weiß nicht, ob auf seinen Betrieb oder auf Antrag seines Vaters, aus dem Heere zurückgezogen und einer Feldlazarett-Apotheke zugewiesen worden. In dieser machte er nun den Rest des Krieges mit, sprach aber nie davon.
Sommer 1814 war er wieder in Berlin und begann nun in verschiedene Stellungen einzutreten, oder wie der Fachausdruck lautet, zu »konditionieren«. Zuerst in Danzig, das er, mit der damaligen Fahrpost, wie er gern erzählte, in sechs Tagen und sechs Nächten erreichte. Die dort zugebrachte Zeit blieb ihm, durchs Leben, eine besonders liebe Erinnerung. Seinem Danziger Engagement folgten ähnliche Stellungen in Berlin selbst, bis 1818 die Zeit für ihn da war, sich zum Staatsexamen zu melden. Als er in den Vorbereitungen dazu war, lernte er, unter Verhältnissen, über die ich auf den nächsten Seiten berichten werde, meine Mutter kennen und verlobte sich mit ihr.
Meine Mutter, Emilie Labry, wurde den 21. September 1797 als älteste Tochter des Seidenkaufmanns Labry, Firma Humbert u. Labry, geboren. Handelsobjekt der Firma waren nicht gewebte Seidenstoffe, sondern Seidendocken, worauf meine Mutter Gewicht legte. Sie hielt die Docken für vornehmer als Zeug nach der Elle. Ob und wie weit sie darin recht hatte, kann ich nicht sagen, aber dessen entsinne ich mich deutlich, dass sie, vielleicht weil sie in hohem Maße den Sinn für Repräsentation hatte, von den Lebensgewohnheiten ihres Vaters, und zwar viel viel mehr als von seinem Charakter oder sonstigem Tun, mit einem gewissen freudigen Respekte sprach. Wenn wir als Kinder, und auch später noch als Halberwachsene, mit ihr bei Josty Schokolade tranken und dabei die kleinen, bräunlich gerösteten Korianderbisquits, die so leicht zerkrümeln und abbrechen, vorsichtig eintunkten, unterließ sie nie, zu uns zu sagen: »Ja, seht Kinder, solche Korianderbisquits, daran hing auch euer Großvater Labry. Aber aus Schokolade machte er sich nichts. Er trank vielmehr jeden Tag um elf und um sechs ein Glas französischen Rotwein und aß dazu nichts als zwei solcher Bisquits, immer mit den zierlichsten Handbewegungen und war überhaupt sehr mäßig. Ihr habt nichts davon geerbt, weder die Handbewegungen noch die Mäßigkeit.« Letzteres war nun allerdings sehr richtig, denn ich berechnete, während sie so sprach, wie viele Tassen ich wohl würde trinken können.
Meine Großmutter mütterlicherseits, also die Mutter meiner Mutter, war eine geborene Mumme, von deren Familie ich nicht weiß, ob sie nicht, trotz ihres deutschklingenden Namens, doch vielleicht mit zur Colonie gehörte. Jedenfalls bildeten die Beziehungen zu den Mummes einen besonderen Stolz meiner Mutter, vielleicht nur deshalb, weil »Onkel Mumme« Rittergutsbesitzer auf Klein-Beeren war und unter anscheinend glänzenden Verhältnissen lebte. Ich entsinne mich, dass er, neben allerhand Chaisen und Halbchaisen, auch einen Char à banc mit langen, kirschroten Sammetpolstern besaß und in diesem weithin leuchtenden Prachtstück, wenn wir in Berlin zu Besuch waren, nach Klein-Beeren hinaus abgeholt zu werden bedeutete uns allen, aber am meisten meiner Mutter, ein hohes Fest, nicht viel anders, wie wenn wir zu Hofe gefahren wären. Später schlief das alles ein. Ich glaube Onkel Mummes Stern verblasste.
Das erwähnte Seidendocken-Geschäft befand sich, wenn ich recht berichtet bin, in der Brüderstraße und hier verblieb auch die Labrysche Familie, als das Haupt derselben, mein Großvater Labry, bei sehr jungen Jahren (kaum vierzig Jahre alt) gestorben war. Die Witwe bezog ein in der Nähe des Petriplatzes gelegenes Haus, darin sie mehrere Jahre lang die erste Etage bewohnte, denn ihre Mittel waren für damalige Zeit nicht unbedeutend. In eben dieser Wohnung erlebte meine Mutter den Brand der Petrikirche, ein Ereignis, das einen großen Eindruck auf sie machte und bis in ihre letzten Lebensjahre hinein einen bevorzugten Gesprächsstoff für sie bildete. Sie entsann sich jedes Kleinsten, das dabei vorgekommen war. Ihre damals schon kränkelnde Mutter starb wenige Jahre später und da die von vieler Not begleiteten Kriegszeiten nicht Zeiten waren, in denen Familienangehörige sich der Verwaisten annehmen konnten, so kamen die jüngeren Kinder in das französische Waisenhaus und nur meine Mutter in ein Pensionat, wozu die Zinsen ihres Vermögens vollkommen ausreichten. Sie wurde bald ein Liebling des Kreises, den sie vorfand, und hatte den vollsten Anspruch darauf, denn sie war jederzeit gütig und hülfebereit. Erst in meinen alten Tagen ist mir der Sinn für ihre Superiorität aufgegangen. Als ich selber noch jung war, erschien mir vieles in ihrer Haltung, besonders meinem Vater gegenüber, zu hart und zu herbe, später indes habe ich einsehen gelernt, wie richtig alles war, was sie tat, vor allem auch was sie nicht tat, und beklage jetzt jeden gegen sie gehegten Zweifel. Sie war dem ganzen Rest der Familie, der damaligen wie der jetzigen, weit überlegen, nicht an sogenannten Gaben, aber an Charakter, auf den doch immer alles ankommt. Ihre ganz südfranzösische Heftigkeit, die mitunter geradezu ängstliche Formen annahm, war vielleicht nicht immer zu billigen, aber doch schließlich nichts andres als eine beneidenswerte Kraft, sich über Pflichtverletzung und unsinnige Lebensführung tief empören zu können, und ich muss es als ein großes Unglück ansehen, dass diese mir jetzt klar zu Tage liegenden Vorzüge von uns allen zwar immer gewürdigt, aber in ihrem vollen Wert und Recht nie ganz erkannt wurden. Ich werde in weiterem vieles zu berichten haben, das diese Worte bestätigt.
Das schon erwähnte Pensionat, in das meine Mutter, achtzehn Jahre alt, eintrat, war das der Madam Lionnet und unter den verschiedenen Freundinnen, die sie hier fand, stand Louise Rogée obenan, damals schon eine sehr beliebte, fast gefeierte Schauspielerin, aber wie’s scheint, in der Pension verblieben. Eines Tages hieß es, Louise Rogée habe sich verlobt und zwar mit einem jungen Architekten, dem ältesten Sohne des Kabinettssekretärs Pierre Barthélemy Fontane. Die Nachricht bestätigte sich und auf einem der gelegentlichen Besuche, die Louise Rogée, jedesmal von einer Pensionsfreundin begleitet, im Hause ihres künftigen Schwiegervaters machte, lernte meine Mutter den zweiten Sohn Pierre Barthélemys kennen – meinen Vater. Man fand rasch Gefallen aneinander und da die Verhältnisse glücklich lagen, kam es sehr bald zur Verlobung und das Haus meines Großvaters sah auf kurze Zeit zwei Brautpaare unter seinem Dache.[1]
Der Verlobung meines Vaters folgte das Staatsexamen, damals nicht viel mehr als eine Form, und an das glücklich bestandene Examen schloss sich, beinah unmittelbar, der Ankauf der Neu-Ruppiner Apotheke. Am 24. März, dem Geburtstage meines Vaters, war Hochzeit und drei Tage später traf das junge Paar in seiner neuen Heimat ein.
In ihrer Ruppiner Apotheke verlebten meine Eltern die ersten sieben Jahre ihrer Ehe, vorwiegend glückliche Jahre, trotzdem sich schon damals das zeigte, was dieses Glück früher oder später gefährden musste. Von diesen sieben Jahren werde ich hier zu berichten haben; aber ehe ich zu Darstellung des wenigen übergehe, was ich aus jener Zeit noch weiß, möchte ich, wozu mir das vorige Kapitel nicht Gelegenheit bot, hier noch einiges über den französischen Ursprung meiner Eltern, über ihre Heimat und Abstammung sagen dürfen.
Nicht weit von der Rhonemündung, auf dem etwa zwischen Toulouse und Montpellier gelegenen Gebiet, stoßen von Westen her die Vorlande der Gascogne, von Norden und Osten her die Ausläufer der Cevennen zusammen und auf diesem verhältnismäßig kleinen Stück Erde, wahrscheinlich im jetzigen Departement Hérault oder doch an seiner Peripherie, waren meine Vorfahren, väterlicher- wie mütterlicherseits, zu Hause. Nächste Nachbarn also. Weil sich indessen auf diesem engen Räume zwei grundverschiedene Volksstämme berühren, so darf es nicht sonderlich überraschen, dass »mes ancêtres«, trotz räumlicher Nachbarschaft, dieser Stammesverschiedenheit entsprachen, eine Verschiedenheit, die, völlig unbeeinflusst durch die inzwischen erfolgte Verpflanzung ins Brandenburgische, sich auch noch in meinen Eltern zeigte: mein Vater war ein großer stattlicher Gascogner voll Bonhommie, dabei Phantast und Humorist, Plauderer und Geschichtenerzähler, und als solcher, wenn ihm am wohlsten war, kleinen Gasconnaden nicht abhold; meine Mutter andrerseits war ein Kind der südlichen Cevennen, eine schlanke, zierliche Frau von schwarzem Haar, mit Augen wie Kohlen, energisch, selbstsuchtslos und ganz Charakter, aber, wie schon in dem Einleitungskapitel erzählt, von so großer Leidenschaftlichkeit, dass mein Vater, halb ernst halb scherzhaft von ihr zu sagen liebte: »Wäre sie im Lande geblieben, so tobten die Cevennenkriege noch.«
Dies passte jedoch, wie gleich hier bemerkt werden mag, nur ganz allgemein auf ihr leidenschaftliches Temperament, nicht etwa auf ihren Religionseifer. Von diesem hatte sie keine Spur, war vielmehr eminent ein Kind der Aufklärungszeit, in der sie geboren, trotzdem sie, weil sie das Genfertum für vornehmer hielt, mit einem gewissen Nachdruck versicherte: »Wir sind reformiert.«
Gascogne und Cevennen lagen für meine Eltern, als sie geboren wurden, schon um mehr als hundert Jahre zurück, aber die Beziehungen zu Frankreich hatten beide, wenn nicht in ihrem Herzen, so doch in ihrer Phantasie, nie ganz aufgegeben. Sie repräsentierten noch den unverfälschten Colonistenstolz. Weil sie aber stark empfinden mochten, dass mit ihren nachweisbaren Ahnen, die bei den Fontanes als Zinngießer, potiers d’etain, bei den Labrys als Strumpfwirker, faiseurs de bas, feststanden, nicht viel Staat zu machen sei, so ließen sie die amtlich geführte, kolonistische Stammtafel fallen und suchten statt dessen, auf gut Glück, nach vornehmen französischen Vetterschaften, also nach einem wirklichen oder eingebildeten Familienanhang, der, in der alten Heimat zurückgeblieben, sich mittlerweile zu Ruhm und Ansehn emporgearbeitet hatte.
Mein Vater hatte es darin leichter als meine Mutter, weil er wenigstens innerhalb seines Namens bleiben konnte. Zu Paris lebte nämlich, bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts, Louis de Fontanes, seinerzeit Großmeister der Universität und Unterrichtsminister, der, unter Napoleon, bei den verschiedensten feierlichen Gelegenheiten, immer die großen Casualreden gehalten hatte, ein sehr kluger, sehr feiner, sehr vornehmer Herr, dessen Familie, wie man in allen Büchern nachlesen konnte, wirklich im südlichen Frankreich, wenn auch nicht zwischen Toulouse und Montpellier zu Hause war. Dieser wurde nun ohne weiteres als Vetter erklärt, wobei der Umstand, dass er sich mit einem »s« schrieb, als besondrer und ausschlaggebender Beweis der Familienzugehörigkeit angesehen wurde. Unsre Familie wusste nämlich aus Tradition, dass auch mein Großvater, der Kabinettssekretär der Königin, sich, bis etwa zu Beginn des Jahrhunderts, »Fontanes« geschrieben und dann erst, aus unaufgeklärtem Grunde, das »s« weggelassen habe. Diese Tradition wurde durch allerhand Schriftstücke bestätigt, mein Vater aber ging weiter und nahm, weil es ihm so passte, den durch die Schriftstücke geführten Beweis des Nebensächlichen zugleich als Beweis für die Hauptsache, mit andern Worten, die bewiesene Namensvetterschaft als bewiesene Blutsverwandtschaft. Was übrigens als ein glänzender Coup gelten konnte. Denn hätten wir noch »Fontanes« geheißen, wodurch wir dem Großmeister, wenn auch nicht um viel, so doch immerhin um ein »s« näher gekommen wären, so wäre der den Rest der Sache mit einschmuggelnde Nebenbeweis von vornherein weggefallen.[2]
dass mein Vater solche Phantasie-Beziehungen pflegte, durfte nicht Wunder nehmen; er war, wie schon oben kurz angedeutet, durch sein ganzes Leben hin der Typus eines humoristischen Visionärs und erging sich gern in mitunter grotesken Ausmalungen, über die er dann auch wieder zu lachen verstand. Aber dass meine ganz auf Verständigkeit und beinah Nüchternheit gestellte Mutter ihm in allem, was altfranzösische Verwandtschaft anging, nicht bloß nacheiferte, sondern ihn darin wo möglich noch übertrumpfte, das durfte füglich überraschen. Es war das einer jener halb rätselhaften Widersprüche, wie sie sich in jeder Menschennatur vorfinden. Indessen, worin immer auch der Grund gesucht und gefunden werden möge, Tatsache bleibt es, dass sich meine Mutter – die, wenn dies Thema zur Verhandlung kam, selbst den sonst so gefeierten »Onkel Mumme« fallenließ – für ganz nahe verwandt mit dem Kardinal Fesch hielt, der, bis zur Wiederherstellung des bourbonischen Königtums, Erzbischof von Lyon war. Kardinal Fesch, geboren zu Ajaccio und erst 1839 in Rom gestorben, war der Stiefbruder der Lätitia Bonaparte, also nicht mehr und nicht weniger als der Onkel Napoleons, durch dessen Beistand er denn auch seine große Laufbahn machte. Mit Hülfe welcher Überlieferung es meiner Mutter gelungen war, diese vornehme Verwandtschaft festzustellen, habe ich nie in Erfahrung gebracht; ich weiß nur, dass es ein Schauspiel für Götter war, wenn wir, selbst noch in späteren Lebensjahren, beide Eltern, wie auf den meisten andern Gebieten, so auch auf diesem, sich mehr oder weniger ernsthaft befehden sahen, gewöhnlich unter voraufgehender Feststellung der Rangverhältnisse zwischen einem Großmeister der Universität und einem Kardinal-Erzbischof. Dass wir Kinder dem allem sehr kritisch gegenüberstanden, braucht nicht erst versichert zu werden.
Ich fahre nun in meiner eigentlichen Erzählung fort.
Am 27. März 1819 waren meine Eltern in Ruppin eingetroffen, am 30. Dezember selbigen Jahres wurde ich daselbst geboren. Es war für meine Mutter auf Leben und Sterben, weshalb sie, wenn man ihr vorwarf, sie bevorzuge mich, einfach antwortete »er ist mir auch am schwersten geworden«. In dieser bevorzugten Stellung blieb ich lange, bis, nach achtzehn Jahren, ein Spätling, meine jüngste Schwester, geboren wurde, bei der ich Pate war und sie sogar über die Taufe hielt. Das war eine große Ehre für mich, ging aber mit meiner Dethronisierung durch eben diese Schwester Hand in Hand. Als jüngstes Kind rückte sie selbstverständlich sehr bald in die Lieblingsstellung ein.
Ostern 1819 hatte mein Vater die Neu-Ruppiner Löwenapotheke in seinen Besitz gebracht, Ostern 1826, nachdem noch drei von meinen vier Geschwistern an eben dieser Stelle geboren waren, gab er diesen Besitz wieder auf. Dieser frühe Wiederverkauf des erst wenige Jahre zuvor unter den günstigsten Bedingungen, man konnte sagen »für ein Butterbrot« erstandenen Geschäfts, wurde später, wenn das Gespräch drauf kam, immer als verhängnisvoll für meinen Vater und die ganze Familie bezeichnet. Aber mit Unrecht. Das »Verhängnisvolle«, das sich viele Jahre danach – glücklicherweise auch da noch in erträglicher Form, denn mein Papa war eigentlich ein Glückskind – einstellte, lag nicht in dem Einzelakte dieses Verkaufs, sondern in dem Charakter meines Vaters, der immer mehr ausgab, als er einnahm, und von dieser Gewohnheit, auch wenn er in Ruppin geblieben wäre, nicht abgelassen haben würde. Das hat er mir, als er alt und ich nicht mehr jung war, mit der ihm eigenen Offenheit viele, viele Male zugestanden. »Ich war noch ein halber Junge, als ich mich verheiratete«, so hieß es dann wohl, »und aus meiner zu frühen Selbständigkeit erklärt sich alles.« Ob er darin recht hatte, mag dahingestellt sein. Er war überhaupt eine ganz ungeschäftliche Natur, nahm ihm vorschwebende Glücksfälle für Tatsachen und überließ sich, ohne seiner auch in besten Zeiten doch immer nur bescheidenen Mittel zu gedenken, der Pflege »nobler Passionen«. Er begann mit Pferd und Wagen, ging aber bald zur Spielpassion über und verspielte, während der sieben Jahre von 1819 bis 26, ein kleines Vermögen. Der Hauptgewinner war ein benachbarter Rittergutsbesitzer. Als mir dreißig Jahre später der Sohn dieses Rittergutsbesitzers eine kleine Summe Geld lieh, sagte mein Vater: »Das stecke nur ruhig ein, sein Vater hat mir ganz allmählich zehntausend Taler in Whist en trois abgenommen.« Vielleicht war diese Zahl zu hoch gegriffen, 18261827