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Gisbert Haefs

Ein Feuerwerk für Matzbach

Matzbach exklusiv bei KBV:

Acht Neuauflagen und zwei Neuerscheinungen

Mord am Millionenhügel

Und oben sitzt ein Rabe

Das Doppelgrab in der Provence

Mörder und Marder

Matzbachs Nabel

Kein Freibier für Matzbach

Schmusemord

Ein Feuerwerk für Matzbach

Finaler Rettungskuss

Zwischenfälle

Gisbert Haefs, Jahrgang 1950, lebt und schreibt in Bonn; als Übersetzer/Herausgeber verantwortlich für Borges, Kipling, Brassens, Dylan u. a., als Autor haftbar für Erzählungen, historische Romane (Hannibal, Troja, Raja, Die Rache des Kaisers, Das Labyrinth von Ragusa u. a.) und Krimis (»Matzbach«).

Gisbert Haefs

Ein Feuerwerk für Matzbach

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Die Originalausgabe erschien
2003 als Goldmann-Krimi

Aus: Jakob Grunewald, Willkürliche Biogramme,4 2002*

» ... wurde Baltasar Matzbach als ›Universaldilettant‹ bezeichnet, der sich in die Gefilde der Kriminalistik verirrt habe. Das Etikett ... beklebt einen, der von vielen Dingen zu viel weiß, um sie ernst zu nehmen, zu wenig, um von ihnen ernstgenommen zu werden, und genug, um Experten zu bluffen und Laien zu amüsieren. ... Ein Bekannter mutmaßte auch, B. M. leide (?) an Elephantiasis der Seele. Interessanter sind jedoch andere Aspekte, so z. B. Matzbachs verwegene Verfressenheit; wie zu Zeus Sein Donner und zu Jehovah Sein Zorn gehört zu Baltasar Sein Wanst. Immerhin kann er es sich seit vielen Jahren leisten, Hecht zu essen und zum folgenden Fleischgang einen Grand Cru zu trinken. Er wuchs nach dem Verscheiden seiner Eltern bei Verwandten auf und studierte später Philosophie und Atomphysik. Dabei erfand er etwas für ein Betatron, so kompliziert, daß er es selbst schon längst nicht mehr erklären kann, aber das Patent wird international verwendet und wirft einiges ab; anschließend wandte Matzbach sich der Musik zu und komponierte ein bißchen, darunter einen vollendet schwachsinnigen Schlager, der noch immer läuft und zwei- bis dreimal pro Jahr neu aufgenommen wird, und so schickt die GEMA ihm bisweilen einen freundlichen Scheck. Ein Hauptgewinn im Lotto sorgte 1962 dafür, daß Baltasar aus dem Gröbsten heraus war. Er investierte klug und ergab sich der sinnlosen Bildung, wobei er von den exakten zu den diffusen Gebieten überging; so stammt aus seiner Feder ein in Fachkreisen geschätztes Werk über Monotheistische Strömungen des inselkeltischen Druidentums.* Einige Jahre hielt er sich an der bretonischen Nordküste auf, bevor die touristische Völkerwanderung sie verwüstete, und weilte dort als Mäzen und Manager junger Künstler, Veruntreuer von frühen Touristinnen und Privatdozent gegen Okkultismus. Dabei verfaßte er zwei weitere Standardwerke: Schamanistische Einflüsse in die Analekten des Konfuzius* und Sexualpathologische Aspekte der Psychokinese.* Und tat zahllose weitere unsinnige Dinge, die ausnahmslos zu Gold wurden (er habe, behauptet er, in dieser Beziehung etwas durchaus Eselhaftes an sich). Jahrelang verdiente er sich ein regelmäßiges Zubrot mit seinem Kummerkasten Fragen Sie Frau Griseldis; außerdem droht irgendwann die Veröffentlichung seines geheimen Hauptwerks Der Leichnam in der Weltliteratur. (Die Mutmaßung, seine detektivischen Aktivitäten seien nur ein Vorwand dafür oder umgekehrt, ist nicht von der Hand zu weisen.) ...«

* Alle Titel erschienen im Verlag für Enzyklopädische Geisteswissenschaften (Edinburgh – Simla – Wachtendonk – Córdoba – Beaune).

1. Kapitel

Selbstbezichtigungen nützen nur dem, der sie ignoriert.

B. MATZBACH

Ich«, sagte Matzbach, »bin nicht schwul, und das ist gut so.« »Als ob das in Ihrem Alter noch eine Rolle spielte.« Der Mann leerte sein Kölschglas und blinzelte durch den Qualm von Matzbachs Macanudo. »Außerdem geht’s darum gar nicht.«

»Bisher haben Sie nur gesagt, Sie suchten eine Frau, oder so ähnlich.« Matzbach schlürfte an seinem überheißen Milchkaffee. »Was soll ich denn sonst zu diesem ›so ähnlich‹ sagen? Frauen, hörte ich, sind in ihrer Art so ziemlich das Beste.«

»Ich habe Sie angerufen, weil ich eine bestimmte Frau suche.«

Die Tür zum Bahnsteig öffnete sich; neben der Mitteilung, der IC Soundsoviel werde voraussichtlich dreißig Minuten später eintreffen, quoll eine ältere Dame ins Lokal, geführt von einem Pudel an roter Lederstrippe, umfangen von einer Mischung aus Kampfer und Patchouli, verfolgt von einem Rollkoffer. Sie ließ das Gepäckstück einen Moment los, wedelte sich einen Weg durch den Zigarrenrauch, warf Matzbach einen malmenden Blick zu und ging weiter in Richtung Tresen.

»Nichtrauchen können Sie draußen, gnädiges Fräulein«, sagte Matzbach laut. »Ich bin aber duldsam. – Eine bestimmte Frau? Ist sie Ihnen abhanden gekommen?«

»Könnte man so sagen.«

»Beim Fundbüro gibt’s doch jetzt sicher eine Frauenbeauftragte. Und Quoten für feminine Verlustobjekte. Lustverlustobjekte.« Er drehte den Aschekegel im dafür vorgesehenen Ziergefäß ab. »Außerdem«, sagte er, »habe ich am Telefon Ihren Namen nicht ganz verstanden. Und warum bestellen Sie mich ausgerechnet hierhin?«

»Benno Vogelsang«, sagte der Mann. »Aber unmusikalisch. Zweiundfünfzig, zur Zeit ledig. Okay? – Noch ein Kölsch, bitte! – Und das Bahnhofslokal erschien mir deswegen passend, weil Sie doch gesagt haben, Sie müßten um elf im Kölner Süden sein.«

»Ts ts ts.« Matzbach zwinkerte. »Ich glaube eher, Sie wollten Ihren Morgendurst stillen. Nachdurst, was?«

»Könnte ich auch woanders. Nee, ich wollte Ihnen entgegenkommen.« Mit der Rechten fuhr er sich über die von einem grauen Haarkranz umstandene Teilglatze; dabei schien sein Zeigefinger liebkosend auf der zentral angebrachten Warze zu verweilen.

Baltasar verschob die Frage, ob die Tonsur durch einen Nagel mit Warzenkopf daran gehindert werde, über das Gesicht zu rutschen. »Mein Wagen«, sagte er, »steht im Parkhaus. Irgendwann in den nächsten zwanzig Minuten werde ich ihn besteigen und ihm die Sporen geben, daß er mich nach Köln trage.«

Der Barmann/Kellner brachte das nächste Kölsch; als er gegangen war, sagte Vogelsang:

»Wär die Bahn nicht doch besser?«

»Ich boykottiere.« Matzbach hob die Zigarre. »Die neuen Nahverkehrszüge sind das unbequemste, was ich seit den Holzbänken der dritten Klasse in Andalusien in den Sechzigern je behockt habe. Außerdem darf man da nicht mehr rauchen.«

»Gar nicht?«

»Hah. Die Ignoranz des unbetroffenen Nichtrauchers, wie? Zensur und Inquisition werden erst dann wahrgenommen, wenn’s einen selbst betrifft.«

Vogelsang grinste flüchtig. »Ich hab zwar mitgekriegt, daß man gegen Verspätungen, marode Strecken, verpaßte Anschlüsse und so das Allheilmittel gefunden hat, nämlich auf Bahnhöfen nicht zu rauchen. Aber in den Zügen?« Er trank einen Schluck. »Prost, auf die Bahn. Aber die Bahnsteige sind wirklich sauberer geworden.«

Matzbach knurrte.

»Beißen Sie?«

»Noch nicht. Für die Sauberkeit hätte es vermutlich gereicht, Aschenbecher zu montieren; die gab’s bisher auf Bahnsteigen nicht. Außer, neuerdings, in den Strafecken für Raucher. Ich glaube, das hat alles mehr mit Volksbeglückung und Umerziehung zu tun. Die Despotie der Gutmenschen.«

»Und Sie sind schwer erziehbar?«

»Sonst wäre ich Beamter geworden, oder Politiker, und Sie hätten mich nicht anrufen können. Jedenfalls nicht, um eine Frau für Sie zu suchen. Was ist das für eine Weibergeschichte? Und wie sind Sie auf mich gekommen?«

»In welcher Reihenfolge soll ich antworten?«

»Am liebsten durcheinander.« Matzbach lächelte. »Ich liebe chaotische Reihungen. Da kann ich mir selbst aussuchen, was ich wie verstehen möchte. Ein bißchen gedanklich schweifen, wissen Sie? Ich bin intellektuell eher Zigeuner.«

»Sinti oder Roma?«

»Das sind Plurale, und ich bin nur eine Person. Nein; Zigeuner.«

»Nicht besonders korrekt, was?«

Matzbach seufzte. »Ich wiederhole mich ungern – ich bin weder Beamter noch Politiker, darf also selber denken. ›Sinti‹ heißt ›Gefährten‹, ›Roma‹ heißt ›Menschen‹ – sind wir das nicht alle? Oder keiner? Oder wie? Und warum soll ich mit fremdsprachigen Klötzchen spielen, wenn ich eigene habe? Myanmar sagen, wenn ich Burma meine? Kennen Sie einen einzigen Franzosen, der beleidigt wäre, wenn Sie auf Deutsch ›Frankreich‹ sagen statt ›la France‹, und wollen Sie jetzt die Selbstbezeichnungen aller Bewohner des Globus in deren Sprache verwenden? Tibetisch lernen, nur um nicht ›Tibeter‹ zu sagen und die Tyrannen in Peking besser zu ärgern?«

»Netter Monolog.« Vogelsang nickte, wie um etwas zu bekräftigen. »Also, die Frau hat links sechs Zehen. Und Sie wurden mir von einem Bekannten empfohlen; dem haben Sie mal geholfen, als sein Onkel ermordet worden war.«

»Sechs Zehen links?« Matzbach klatschte in die Hände. »Das ist kein Problem. Bekanntlich sind wir ein Volk von Barfüßern; man braucht also nur die Augen aufzuhalten. Und – toter Onkel?«

»Carlo Neumann, Onkel von Tobias.«

»Oh ihr Götter!« sagte Matzbach. »Lang, lang ist’s her.* Und irgendwie eine schlimme gegenwärtige Erinnerung.«

Vogelsang blinzelte.

»Um Ihrige gestische Frage zu beantworten – der Onkel war Professor der Philosophie. Seine hinterlassene Bibliothek war Teil des Honorars, und die verfolgt mich immer noch.«

»Verfolgt? Rennen Ihnen die Bücher nach?«

»Ich werde sie nicht los. Zuerst hatte ich sie in den weiten Gemächern eines umgebauten Bauernhofs untergebracht. Welcher einer Dame gehörte. Welcher es eines Tages gefiel, mich und meine Bücher, oder umgekehrt, nicht länger zu ertragen. Welche Wirrsal mich dazu brachte, die Scharteken in einem Antiquariat zu verstecken, an dem ich beteiligt bin. Welches sich in Köln aufhält und alsbald von mir gehütet werden will, da der eigentliche Bücherhüter Ferien macht. Und da stehen die meisten der Philo-Werke immer noch. Jemand hat sie mir mal abgekauft, aber nach Aushändigung der Kaufsumme auf die Bücher verzichtet.«

»Klingt wie schlechte Saison für Bildung, oder?«

Matzbach stöhnte leise. »Sowohl immer schon als auch hin und weder noch.«

»Warum behalten Sie sie nicht einfach?«

»Ich habe zu wenig Platz. Ich bin ohnehin ein Ein-Mann-Slum.«

Vogelsang verschluckte sich und hustete Kölsch.

»Hat die Frau Sie verlassen, weil Sie ihr beim Kölschtrinken immer auf den Extrazeh gespuckt haben? Oder warum suchen Sie sie?« Matzbach wischte sich den rechten Handrücken, der als Schirm gedient hatte, und betrachtete die Spritzer auf seiner Zigarre.

»Da muß ich länger ausholen.«

»Tun Sie das. Ich meine, das ist ein nettes Gespräch, gutes Wetter, ich habe auch schon schlechteren Milchkaffee getrunken; aber bevor ich einen Auftrag annehme – falls ich das überhaupt will –, müßte ich mehr wissen. Was wollen Sie, was versprechen Sie sich davon, derlei. Schließlich könnte es ja sein, daß Sie die Frau umbringen wollen, und ich soll sie für Sie suchen.«

Vogelsang lächelte ein wenig gequält. »Umbringen wollte ich sie vor, ah, fünfundzwanzig Jahren.«

Es war eine längere Geschichte, voll von amour fou und den Echos titschender Tränen. Matzbach lauschte aufmerksam und betrachtete dabei das hagere Gesicht des Mannes. Für zweiundfünfzig Jahre, fand Baltasar, sah Vogelsang schlecht aus. Ausgezehrt, urlaubsreif, rekonvaleszent; andererseits mochte er einfach der Typ sein, der immer so aussieht. Tränensäcke beweisen nicht, daß ihr Träger ewig heult, und hohle Wangen garantieren dem, der Backenstreiche austeilt, keineswegs prächtigen Hall. Und während er lauschte, sagte er sich, daß Elegien ausgefeilt sein müssen (diese war es nicht), um wirklich zu rühren, und daß von allen Arten Kitsch, der auf Gemeinplätzen feilgeboten wird, nur einer uns wirklich interessiert, nämlich der jeweils eigene.

Zu allem Überfluß hieß die weiland junge Dame, die den frühen Vogelsang zu heftigem Trällern aufgewiegelt hatte, auch noch Marion Wiegeler. Der ältere Vogelsang, der nurmehr matt zwitscherte, wollte nun, ehe die Vergreisung nach ihm langte, einen Schlußstrich unter seine Reminiszenzen ziehen – »kein neues Kapitel anfangen, sondern das Buch endgültig zuklappen«, wie er mit mannhaft gedämpfter Stimme sagte.

Am Ende der länglichen Rede zog er etwas aus der Tasche und hielt Matzbach die Handfläche hin. »Hier.«

Es war ein goldiger Ring mit einem beinahe rechteckigen grünen Stein – vermutlich teuer, wenn nicht gar kostbar, wie der an Edelsteinen und anderen Formen kristalliner Kohle uninteressierte Matzbach annahm. Er beschloß, daß es kein Stein, sondern Glas zu sein habe.

»Inwiefern hier?« sagte er.

»Den Ring habe ich mit Blut und einem gebrochenen Bein bezahlt und ihr geschenkt – damals. Als sie mich entlassen hat, sagen wir das mal so, da hat sie ihn mir zurückgegeben.«

Matzbach betrachtete das Schmuckstück. »Blut und Beinbruch, Schweiß und Tränen? Und jetzt wollen Sie ihn ihr zurückgeben?«

»Den Ring; und die Erinnerungen, die daran hängen. Ich will beides nicht länger mit mir herumschleppen.«

»Sie könnten ihn doch einfach in den Rhein werfen, als Schmuck für den Ringzeh der jüngsten Rheintochter.«

Vogelsang blickte, wie Baltasar fand, eher weihleidig denn wehmütig. »Ich glaube, Sie nehmen mich nicht so richtig ernst.«

»Ernst genug, um Ihr absurdes Anliegen ernsthaft zu erwägen.«

»Schön. Ich meine, nett von Ihnen. Was würde so was denn bei Ihnen kosten? Wenn Sie sich detektivisch damit abgäben?«

»Weiß ich nicht.« Matzbach kratzte sich den Kopf. »Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Ob ich das als richtigen Auftrag ansehe, so was für ernsthafte Dreckdecktiefe. Oder als Beschäftigungstherapie für einen gelangweilten Menschen.«

»Gelangweilten Ein-Mann-Slum?« Vogelsang konnte plötzlich wieder grinsen.

»So ebbes, ja. Hm. Ich müßte aber noch mehr wissen.«

Vogelsang zückte sein linkes Handgelenk. »Müssen Sie nicht nach Köln?«

»Eigentlich schon. Also, wissen Sie was? Als Anzahlung übernehmen Sie einfach meinen Milchkaffee. Und wir müssen uns noch mal zusammensetzen und plaudern. Ein paar Fragen, oder so ähnlich.«

Vogelsang winkte der mobilen Service-Abteilung des Lokals. »Wenn Sie mit der Bahn fahren würden, könnte ich Sie ja bis Köln begleiten.«

»Wenn ich mit der Bahn führe, könnten Sie das; Sie könnten es aber auch mit dem Auto. Wohin wollen Sie denn heute noch?«

Vogelsang runzelte die Stirn; die Warze weiter oben rutschte einen Millimeter nach hinten. »Eigentlich eine Idee. Ich will nirgendwo hin, aber ich könnte ja mitfahren, und Sie setzen mich in Köln-Süd oder Köln-West am Bahnhof ab. Plaudern und zurückfahren, gewissermaßen.«

*Vgl. Kein Freibier für Matzbach

2. Kapitel

Die gräßlichen Erzählungen des Unweisen über seine Kindheit erklären dem leidenden Lauscher die Unbill seiner Gegenwart und lassen ihn des Berichters hinfälliges Alter herbeiwünschen.

FELIX YÜ

Im Parkhaus blieb Vogelsang neben Matzbachs DS stehen, mit einem halb skeptischen, halb entzückten Ausdruck.

»Das also ist Ihr Gefährt.«

»Klingt wie eine Feststellung; oder war das eine Frage?«

»Feststellung. Ich habe den Wagen schon ein paarmal in der Nähe des Antiquariats gesehen, und Yü hat mir davon erzählt.«

»Ah.« Matzbach schloß auf; über das Wagendach hinweg sagte er: »Sie kennen Yü? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Ach, ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen.«

»Dann fallen Sie jetzt mit der Tür ins Auto. Woher kennen Sie denn den guten Felix?«

»Wir sind gewissermaßen Kollegen.«

Felix Yü, in Europa geborener Chinese, inzwischen 40 Jahre alt, hatte als Kellner, Koch, Leibwächter, Kampfsportlehrer, Hilfsschreiner (bei einem Sargtischler) und Hobbywinzer gearbeitet, dann mit Matzbach ein schwimmendes Restaurant auf dem Rhein geleitet und betrieb nun seit Jahren mit seiner Freundin Daniela Dingeldein zusammen ein Antiquariat, in dem auch ein wenig Geld von Baltasar steckte. Dazu gewisse Bücher.

»Inwiefern Kollegen?« sagte Matzbach beim Einsteigen.

Im Wagen, nach geziemenden Ausrufen der Begeisterung über die Empfindungen, die durch Ledersitze und allgemein »ein Gefühl von de luxe« bewirkt wurden, erzählte Vogelsang dann den nächsten Teil der Geschichte.

Die entschwundene Dame, sechs Zehen links, hatte sich immer für pittoreske Verwachsungen interessiert; unter anderem, sagte Vogelsang, habe sie Bücher und Bilder gesammelt, allerlei Kuriosa dieser Art sowie das betreffend, was man politisch unkorrekt »Monstrositäten« nennen könne. Was ihn, in jungen Jahren, dazu gebracht habe, sich der Orthopädie zu verschreiben – »praktisch, wissen Sie, nicht als Mediziner.«

»Sie haben also Einlagen und Krücken und Prothesen gebastelt?«

»Im Prinzip ja.«

Irgendwann habe dies jedoch begonnen, ihn zu langweilen – oder zu überfordern, je nachdem. Als auch dieses handwerklich anspruchsvolle Metier immer mehr elektronisch korrumpiert wurde, habe er die Lust daran verloren.

»Außerdem, ehrlich gesagt, mochte ich mich nicht – tja, umerziehen lassen. Weiterbilden, wenn Sie so wollen. Ich hatte einfach keine Lust, mich mit einem Computerfreak zusammenzutun, der in die Prothesen, die ich nach seinen Berechnungen hätte anfertigen müssen, dann die Steuerung einbaut.«

»Kann ich irgendwie verstehen. Und was haben Sie gemacht?«

»Ich hatte, wegen Marions Zeh, Sie wissen schon, auch irgendwann angefangen, alles mögliche Zeug zu sammeln.«

»Könnten Sie da ein bißchen genauer werden?«

Vogelsang holte tief Luft und sprudelte los. Matzbach behielt so schnell nicht alles, speicherte aber immerhin Objekte wie zweiköpfige Schlangen in Alkohol, menschliche Nasen mit drei Löchern, balsamierte Hände mit zwei Daumen, mißgebildete Tierföten, alte Prothesen jeder Art, ägyptischen Zahnersatz ...

Wäre der Verkehr nicht relativ dicht gewesen, hätte Baltasar das Steuer losgelassen, um zu klatschen; so stieß er nur beifälliges Gackern aus und sagte: »Kapitän Ahabs Walbein? Karnickel mit Hasenscharte? Dackel mit Wolfsrachen? Mumien mit Bißspuren von Dracula? So was?«

Vogelsang hüstelte. »Nicht ganz, aber fast. Menschenwürde, heißt es, gilt auch für Tote, deshalb ist vieles, was den einen oder anderen interessieren könnte, absolut verboten. Und natürlich macht so ein Verbot gewisse Dinge, die ohnehin rar sind, noch ein bißchen teurer.«

»Lassen Sie mich raten.« Matzbach schnalzte. »Sie haben solche hübschen Dinge gesammelt, und als Sie keine Lust mehr hatten, neue Krücken herzustellen, haben Sie alle alten, die Sie kriegen konnten, gesammelt und einen Laden aufgemacht?«

Vogelsang grunzte leise. »Hat Yü Ihnen denn nie von meinem Laden erzählt?«

»Nein; wir unterhalten uns nicht über wichtige Dinge. Alte Freunde, wissen Sie; bei uns zählt die Qualität des Schweigens mehr als die Vielfalt der Themen, über die man schweigen könnte.«

»Aua.«

Nachdem der Schmerz abgeklungen war, erzählte Vogelsang von dem Laden – Antikes & Curiosa –, den er seit vielen Jahren in Ehrenfeld betrieb.

»Hat Yü mir nie von erzählt«, sagte Matzbach. »Ich bin aber auch nicht so oft in Köln, und wenn, dann meistens in der Südstadt, um nachzusehen, was meine Philosophen im Antiquariat gerade so denken.«

»Das hatte natürlich alles einen Nebenzweck. Oder Hauptsinn? Egal. Jedenfalls habe ich am Anfang gedacht – gehofft –, daß Marion, die ja an so was sehr interessiert war, irgendwann vorbeikommen würde, zufällig, und dann ...« Er schnaubte.

»Sie ist aber nie vorbeigekommen? Hm. Wo, wenn ich das wissen darf, hat sich denn Ihre weiland gefährliche Liaison zugetragen?«

»In Düsseldorf.«

»Und?«

»Im Düsseldorfer Telefonbuch gibt es keine Marion Wiegeler; jedenfalls nicht die richtige.«

»Und bundesweit?«

»Mann, soll ich jede einzelne Dame dieses Namens anrufen und fragen, ob sie zufällig diejenige ist, die mich nicht mehr sehen will?«

»Das wäre doch was.« Matzbach kicherte. »Aber sagen Sie mal, warum haben Sie den Laden denn nicht in Düsseldorf aufgemacht? Vielleicht lebt sie wohl noch da, hat inzwischen dreimal geheiratet, drei andere Namen vorzuweisen und sammelt immer noch Föten in Aspik.«

»Sie ist nach dem Trennungskrach aus Düsseldorf weggezogen.«

»Wissen Sie wohin?«

»Nein; aber wohin gehen Düsseldorfer, wenn sie sich verbessern wollen? Nicht nach Mettmann oder Neuß, sondern nach Köln, nicht wahr? Beziehungsweise neuerdings nach Berlin.«

»Für solche Reden sind zwischen Kö und Altstadt schon Dutzende umgebracht worden.«

»Was Sie nicht sagen.«

Baltasar trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. »Woher stammen Sie eigentlich? Düsseldorfer sind Sie ja wohl nicht.«

»Aus einem Kaff im Bergischen, an dessen Namen ich mich nicht erinnern mag.«

»Solche Dörfer gibt es auch in der Mancha, hörte ich. Und die Dame? Kam die auch daher?«

»Aus der Mancha? Oder aus dem Bergischen?«

»Wie es Ihnen beliebt.«

»Weder noch. Die kam aus Düsseldorf – wie gesagt, wenn Düsseldorfer sich verbessern können ...«

»... trennen sie sich von Leuten aus namenlosen Käffern im Bergischen. Ich weiß. Nur dem, der strebend sich bemüht, helfen wir beim Umzug. Warum wollen Sie sich denn nicht an den Namen Ihres Geburtsorts erinnern?«

»Es war scheußlich da.« Vogelsang schwieg einen Moment. »Die Kindheit auf dem Dorf, wissen Sie. Bigotte Eltern, ein bigotter Pfarrer, bigotte Bauern ringsum, dazu Schiefer und Kühe und die eine oder andere Dröppelminna, mit der ich damals nichts anfangen konnte.«

»Wieso nicht?«

»Na, ich war meistens zu jung, um Kaffee zu trinken. Und als ich alt genug gewesen wäre, wollte ich aus reinem Protest einen Samowar haben und Tee trinken.«

»Also bigott rundum. Und dann haben Sie sich, bigott oder nicht, das Bein gebrochen und den Ring gefunden?«

»Und behalten, als eine Art Talisman.«

»Wie alt waren Sie da eigentlich? Als Sie sich das Bein gebrochen haben, meine ich.«

»Sechzehn. Den Ring, wie gesagt, habe ich später Marion geschenkt. Sinnbild für mein halbverlorenes und halbgerettetes Leben, wenn Sie so wollen.«

»Will ich nicht, aber da Sie es so eingerichtet haben, kann ich ja nichts machen. Und dieses Heimatnest ...«

»Heißt Klitterbach, wenn Sie’s unbedingt wissen müssen.« Vogelsang ächzte. »Brennt im Mund, der Name; fast als hätte ich mir die Zunge verbrüht.«

»Metaphysische Dröppelminna, sozusagen? Hm. Klitterbach ... Kommt mir so vor, als ob ich den Namen schon mal gehört hätte.«

Vogelsang lachte gepreßt. »Vielleicht schauen Sie gelegentlich in einen Atlas. Oder lesen Sie Revolverblätter?«

»Erstes ja, zweites ungern. Warum?«

»Inzwischen sind die bigotten Bauern da durch mindestens genau so bigotte Yuppies ersetzt. Vor ein paar Wochen gab’s da eine Säuglingsentführung; ist ziemlich fett in der hiesigen Revolverpresse gewesen.«

»Ah ja, doch.« Matzbach nickte heftig. »Jetzt, da Sie es sagen. Stimmt. Ein gleich nach der Geburt aus der Wiege geraubtes Knäblein, oder so ähnlich?«

»Wie ›Frau oder so ähnlich‹?«

»Genau. Ist das Kindlein denn inzwischen aufgetaucht?«

»Nein. Die Eltern haben, glaube ich, fünfzig- oder inzwischen sogar hunderttausend als Belohnung ausgesetzt.«

»Wenn Sie aber nichts von dem Dorf wissen wollen ...«

»Ich habe geschworen, bis zu meinem Tod nie wieder einen Fuß in das Nest zu setzen.«

»Dann überrascht es mich, daß Sie so gut Bescheid wissen. Von wegen Säugling und bigotte Yuppies und so.«

»Das mit dem Säugling stand in den Zeitungen. Vor allem in einer. Und ein freier Fernsehsender, halb lokal, hat ausgiebig darüber berichtet.«

»Sie sammeln also nicht nur Curiosa, sondern sehen zwischendurch auch kuriose Sender?«

»O Mann.« Vogelsang seufzte, kommentierte seinen Ausruf aber nicht weiter. »Und das mit den bigotten Yuppies ... Das ist ganz einfach. Es handelt sich vor allem um schöne neue Menschen aus der schönen neuen Medienwelt.«

»Vulgo Colonia.«

»Ziemlich vulgo, ja. Medien, Innenarchitekten, Windeldesigner, Stadtflüchtlinge, die als Ökobauern das neue Jahrtausend unerträglich machen wollen. Lauter derartiges Volk. Kriegt man in Köln mit. Was meinen Sie, wie viele Kunden ich habe, die ihren neuen alten Schreibtisch, den sie bei mir kaufen, nach Klitterdings geliefert haben wollen.«

»Und? Liefern Sie?«

»Nicht persönlich. Entweder müssen die schönen Menschen alles selber hinschaffen, oder ich schicke ihnen eine Spedition auf den Hals. Rechnung bezahlt Empfänger.«

Matzbach summte mißtönend vor sich hin, bis sie den Kölner Südverteiler erreichten. »Na schön«, sagte er dann. »Ich übernehme. Diese Nummer ist so bescheuert, daß ich nicht widerstehen kann. Marion Wiegeler, sechs Zehen, inzwischen verstorben oder ausgewandert oder qua Heirat anders benamst, einen Ring überbringen. Soll ich ihr etwas ausrichten, wenn ich sie finde?«

»Sagen Sie ihr, alles sei vergeben, vergessen, abgehakt. In dem Augenblick, da sie den Ring wieder in Besitz nimmt, wird meine Seele gesund. Sie brauchen ihr nicht zu sagen, wo ich zu finden bin.«

»Wo sind Sie denn zu finden? Ich meine, so in den nächsten Tagen? Falls ich noch Fragen habe?«

»Nirgends.«

»Wollen Sie sich ins Nirwana verflüchtigen?«

»Will ich nicht. Den August über ist sowieso nichts los, deshalb mache ich den Laden dicht und fahre in Urlaub.«

»Ferien.«

»Ist doch das gleiche. Dasselbe.«

»Mitnichten. Urlaub setzt ›Urlaubnis‹ voraus; als freier Monstrositätenhändler brauchen Sie keine Erlaubnis von der obersten Heeresleitung; also machen Sie Ferien, die Sie sich selbst erlauben.«

»Dann eben Eigen-Urlaub. Ich bin am ersten September wieder da. Wenn Sie also Fragen haben ...« Er hob die Schultern.

»Klitterbach«, murmelte Baltasar. »Säugling. Hunderttausend. Schade, daß Ihre Marion nicht in Klitterbach wohnt.«

»Ich nehme an, da sie nichts mehr von mir wissen wollte, wird sie wahrscheinlich eher nach Timbuktu gehen als ausgerechnet in meinen Geburtsort. Ich fürchte, Sie werden weiter weg suchen müssen, nicht im Bergischen.« Plötzlich lachte Vogelsang. »Aber wenn Klitterbach Sie interessiert ... warum eigentlich?«

»Vielleicht kann ich ja den Säugling finden und die hunderttausend kassieren – Mark oder Euro, nebenbei?«

»Euro.«

»Gut. Die würde ich dann als Honorar für Ihren Fall nehmen.«

»Üppig, oder? Wobei wir beim Geld wären. Was wollen Sie haben?«

»Sie meinen, falls ich den Säugling nicht finde? Hm.« Matzbach kaute auf der Unterlippe. Dann lachte er leise. »Wie gesagt, die Nummer ist so bescheppert, daß ich zunächst mal aus reinem Vergnügen darüber nachdenken werde. Sagen wir – fünfhundert für die ersten anfallenden Spesen? Und im September melden Sie sich wieder, ja?«

Vogelsang nickte. Aus der Innentasche seines Jacketts zog er eine Brieftasche und steckte fünf Hunderter in die Brusttasche von Matzbachs Hemd.

»Da«, sagte er. »Und was ich noch sagen wollte. Falls Klitterbach Sie interessiert. Neulich hatte ich einen Kunden – Verkäufer, zur Abwechslung –, der neben ein paar alten Möbeln und einem ausgestopften Dachs ein paar Bücher loswerden wollte. Die hab ich Yü gebracht. Eins war dabei, von einem Typen namens Montanus, das ist ›der Bergische‹. Heißt Helden vom Niederrhein oder so, obwohl der ja eigentlich nordwestlich des Bergischen Landes liegt. Egal, jedenfalls erzählt der ein paar nette Geschichten über Klitterbach zur napoleonischen Zeit.«

»Mal sehen, ob es noch im Laden ist. Wo soll ich Sie denn absetzen?«

Vogelsang deutete allgemein voraus. »Chlodwigplatz oder da herum; da kann ich in die Straßenbahn steigen.«

Kurz vor dem Ende der Bonner Straße räusperte Matzbach sich. »Schade, daß Sie wegfahren. Ich hätte gern mal Ihre Curiosa gesehen. Außerdem habe ich bestimmt in den nächsten Tagen noch Fragen.«

»Die müssen Sie sich aufheben, bis ich wieder da bin. Und den Laden können Sie gern im September heimsuchen; ich zeige Ihnen auch alles, was ich unter der Theke oder in Geheimkammern habe. Von wegen Gesetz; Sie verstehen.«

»Von Gesetzen verstehe ich nichts, sonst könnte ich nicht arbeiten. Aber sagen Sie mir noch eins: Wo haben Sie sich denn damals das Bein gebrochen und den Ring gefunden?«

Vogelsang war schon halb ausgestiegen; über die linke Schulter sagte er: »Sie stehen im Halteverbot.«

»Trotzdem.«

»Wie Sie meinen. Ich bin in einen alten Schacht gefallen; hat zwei Tage gedauert, bis man mich gefunden hat. Und da unten drin lag der Ring. Halb im Dreck, natürlich. Aber machen Sie sich keine Hoffnungen, falls Sie jetzt Ringe suchen wollen. Der Schacht ist damals zugemauert worden.«

3. Kapitel

Berg- und Haselmaus, Relle und Rellmaus; Bille und Bilge oder auch Bilich und Bilg; Roll und Rassel, Ratze und Grauel ... Ziesel, Zeisel und Zeiselratze ... Zeismaus und ... Schlaf- und Speiszeist. Doch die Römer, gebildet wie sie waren zu einer Zeit, wo sie sich mit unserer Schrotmaus abgaben, taten es nicht unter einer lateinischen Bezeichnung ... glis-glis ... Eigentümlichkeiten des Gebisses kommen hier weniger in Betracht, doch darf ich vielleicht erwähnen, daß die Backzähne unseres Schläfergastes Kauflächen und schöne ornamentale Schmelzfalten aufweisen, die sich vorzüglich zum sogenannten Kunden eignen würden, wie manch ein Roßtäuscher es am zu alten Gaule kundig übt. Wer indessen verfiele schon auf den Gedanken, einen Gräuel zu kunden, zumal heutigentags, wo er kaum noch eine Handelsware auf dem Pelztier- oder Wildpretmarkt ist?

ALBERT VIGOLEIS THELEN

Wie üblich gab es keinen Parkplatz. Matzbach fuhr dreimal um den Block und ließ die DS schließlich zwei Straßen vom Antiquariat entfernt stehen. Murrend und knurrend marschierte Baltasar an den Läden und Kneipen der Südstadt vorbei, wich streunenden Lehrern aus (›Ferien‹, dachte er; ›ah nein, Urlaub – oder haben Schüler Ferien und Lehrer Urlaub?‹) und fand zu seinem Entzücken einen Zettel an der Tür des Antiquariats – Du Arsch wann machst du auf?

»Am liebsten gar nicht«, sagte er laut. In Gedanken setzte er hinzu: ›Eigentlich will Yü das Ding längst verkaufen und mit seiner Daniela nach Kanada ziehen. Oder war’s Düsseldorf?‹

Im Briefkasten steckte neben der üblichen vermischten Werbung, die Matzbach unbeachtet in den Papierkorb warf, und der gut sieben Wochen vor den Wahlen unausweichlichen Parteienreklame ein Telegramm. Nach der respektvollen Anrede – »Blödmann mach dein Handy an« – folgte dort die Mitteilung, daß die Reisenden Yü & Kebse am nächsten Tag, und zwar abends, vom Flughafen abgeholt zu werden begehrten. Der Chinese hatte als Schlußsatz angehängt: »Uns dürstet nach der Labung Eures Antlitzes, dessen Erquicklichkeit uns allzu lange erspart blieb.«

Matzbach pfiff leise. »Respekt, habe die Ehre«, murmelte er. Wer auch immer auf Barbados für Telegramme nach Deutschland zuständig war, hatte Yüs Formulierungen wohl kaum verstanden, aber fehlerfrei getippt.

In der Küche – eher Abstellkammer mit Tisch und kleineren Gerätschaften – löffelte Matzbach die für acht Tassen nötige Menge Kaffeebohnen (Blue Mountain) in die mit einem großen vertikalen Schwungrad versehene Handmühle, füllte den Schnellkocher mit Wasser für maximal sieben Tassen und mahlte, während das Wasser zu singen begann. Wie immer war es eine Art Wettrennen; als er den gemahlenen Kaffee mit einer kleinen Prise Salz angereichert und in die Emaillekanne geschüttet hatte, begann das Wasser zu kochen. Matzbach sagte: »Ätsch, gewonnen« und goß.

Hinter ihm räusperte sich jemand. »Gewonnen? Sind Sie sicher?«

Matzbach drehte sich um. »Hab ich wieder vor lauter Gemahle die Klingel nicht gehört?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Der mittelalte, korpulente Mann im teuren Nadelstreifer schüttelte den Kopf. »Sie haben nichts gehört, ja, aber den Grund müssen Sie schon selber ermitteln.«

»Womit kann ich dienen?«

»Ein paar Auskünfte. Erstens, warum Sie es sich derart kompliziert machen. Kaffee kann man gemahlen kaufen, Kaffeemaschinen sind nicht ganz neu, auch Filter sind schon länger im Handel. Und zweitens suche ich ein Buch.«

Matzbach kniff die Augen zusammen. »Erstens schmeckt vorgemahlener vakuumverpackter Kaffee wie Rattenkacke; elektrische Mühlen werden heiß und lassen die leckeren ätherischen und sonstigen Öle verdampfen oder verdunsten; Kaffeemaschinen sind langweilig, und mindestens die Hälfte der Dinge, die schmecken, bleibt in Filtertüten hängen. Wenn man sich schon richtig teuren Kaffee leistet, sollte man ihn auch richtig machen. Zweitens: Was für ein Buch?«

Der Kunde strich sich über den kahlen Schädel und zupfte seine metallic-orange Krawatte zurecht. »Erstens danke für die Belehrung; was ist das für ein teurer Kaffee? Und haben Sie nicht, wenn Sie es ganz ernst meinen, die Eierschale vergessen? Möglichst mit einem kleinen Rest Eiweiß, am liebsten ein bißchen angegammelt? Zweitens gab es doch mal Filter, die ohne Papier auskamen – gibt es die denn gar nicht mehr? Drittens weiß ich das mit dem Buch nicht so ganz genau. Es ging da um Ratten, glaube ich, oder ähnliche Nagetiere.«

Matzbach nahm den Deckel von der Emaillekanne, blickte ins dampfende Innere, steckte einen langstieligen Löffel hinein und rührte um.

»Ah«, sagte der Kunde; wieder zerrte er an seinem Schlips. Die Hamsterbäckchen darüber wackelten possierlich. »Damit sich der Kaffee setzt, nicht war? Und hinterher, wenn er sich gesetzt hat, heißt er Satz, wie?«

»Viertens ja.« Matzbach legte ein kleines Drahtsieb auf die Öffnung einer Thermoskanne und goß den Kaffee langsam hindurch. »Erstens Jamaica Blue Mountain, Monsieur. Die Eierschale habe ich nicht vergessen, ich hatte nur leider keine zur Hand, gleich ob mit oder ohne Eiweißrest, sei dieser vergammelt oder frisch. Zweitens weiß ich, was Sie meinen, ja; da gab es mal einen Filter, eine Art Trichter, wie die heutigen Filteraufsätze, aber mit einem Drahtsiebchen unten. Welches in einem kleinen Riegel steckte. Welcher am anderen Ende ungesiebt war. Wenn der Kaffee sich ausreichend gesetzt hatte, schob oder zog man das Riegelchen in die versiebte Position, so daß der fertige Kaffee ohne Aromaverlust rieseln mochte. Ich nehme an, die Firma Melitta hat das Patent aufgekauft und die restlichen Exemplare verschrottet, damit der Absatz an Filtertüten nicht leidet. Drittens ist das mit Ratten irgendwie unpräzise. Die Rättin? Von Menschen und Mäusen? Louis der lüsterne Lemming? Hamster Harald und die Schattenschröpfer?«

»Schattenschröpfer?« Der Mann ließ die Krawatte los und seufzte. Es klang beinahe wollüstig. »Das ist ein schöner Beruf! Haben Sie heute schon Schatten geschröpft? Wie viele denn?«

»Ich nicht.« Matzbach nahm die Thermoskanne und stellte sie auf ein Tablett, das bereits einen Becher, braunen Zucker und ungerührte Schlagsahne trug. »Ich bin zu alt für solche euphemistischen Tätlichkeiten. Machen Sie bitte mal den Weg frei?«

Der Kunde ging rückwärts in den Laden; Matzbach folgte ihm und setzte das Tablett auf den Tisch, der die Kasse erduldete. Jedenfalls kam es Baltasar so vor: eine elektronische Kasse auf einem Louis-XV-Möbel, das einmal das Boudoir einer Dame geziert haben mochte, falls diese zuweilen beim Ankleiden schreiben wollte.

»Aber das war es nicht.« Der Mann mit dem erlesenen Krawattengeschmack ließ die Mundwinkel sacken. »Irgendwas anderes. Ich glaube, das Tier war kleiner. Und – öhh, verpennt?«

»Ein kleines verpenntes Tier? Nagetier?«

»Erlauben Sie mal, mein Herr.« Jetzt klang der Kunde entrüstet. »Auch Nagetiere haben ein Recht auf Schlummer.«

»Zweifellos.« Baltasar goß Kaffee in seinen Becher, tat Sahne und Zucker dazu, hob stöhnend die Hände, ging zurück in die Kramnische und kam mit einem Löffel zurück. »Wollen Sie auch was?«

»Kaffee? Igitt, nein, ich will mich doch nicht vergiften. Und das Tier hat, glaube ich, vor allem Reis genagt. Das Buch heißt nämlich Risibisi oder so ähnlich.«