Dankwart Mattke / Luise Reddemann / Bernhard Strauß

Keine Angst vor Gruppen!

Gruppenpsychotherapie
in Praxis und Forschung

Unter Mitarbeit von Claus Fischer

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Impressum

Leben Lernen 217

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2009 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Hemm & Mader, Stuttgart

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89077-8

ISBN-epub: 978-3-608-10392-2

ISBN-pdf: 978-3-608-20306-6

Das E-Book basiert auf der aktuellen Auflage 2011 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1.Grundlagen der Gruppenpsychotherapie: Sozialpsychologie und Gruppendynamik.
(D. Mattke)

1.1Sozialpsychologie der Gruppe

1.2Gruppendynamik

1.3Gruppenforschung als Aktionsforschung

1.4Weitere Entwicklung der Gruppendynamik

1.5Sozialpsychologie und Gruppendynamik vereint?

1.6Gruppendynamik und Gruppentherapie auch vereint?

1.7Wirkfaktoren in Gruppen und allgemeine Gruppentheorie

2.Die Gruppentherapien unter besonderer Berücksichtigung der Grundprinzipien psychodynamischer Gruppenpsychotherapie.
(D. Mattke)

2.1Psychodynamische und verhaltenstherapeutische Gruppen – Unterschiede und Gemeinsamkeiten

2.2Verhaltenstherapeutische Gruppentherapien

2.3Psychodynamische Gruppentherapie

2.4Die formale Veränderungstheorie der psychodynamischen Gruppentherapie

2.5Interventionstechnik in der psychodynamischen Gruppentherapie: Klarifizieren, Konfrontieren, Interpretieren im Prozess der »Psychologischen Arbeit« in der Gruppe

2.6Zusammenfassung und Gegenüberstellung der beiden Therapieverfahren

3.Durchführung einer psychodynamischen Gruppenpsychotherapie
(D. Mattke)
Indikation – Selektion – Komposition – Prognose – Phasen der Gruppenentwicklung – prozessorientierte Gruppenleitung – Interventionstechnik

3.1Indikationskriterien oder wie wähle ich Patienten für eine Gruppe aus?

3.2Inwieweit kann der Faktor Patienteneigenschaften bei der Auswahl der Patienten und der Indikationsstellung für eine Gruppentherapie helfen?

3.3Gruppenprozesse, formale Veränderungstheorie psychodynamischer Gruppentherapie und strukturelle Eigenschaften der vorgesehenen Gruppe

3.4Therapeutenmerkmale

3.5Kontraindikationen und Nebenwirkungen

3.6Klinische Empfehlungen und Ausblick

3.7Phasen der Gruppenentwicklung

3.8Leitlinien für eine prozessorientierte Gruppenleitung und Interventionstechnik

4.Gruppen in Organisationen
Wandlungen in der Praxis und Konzeptualisierung stationärer Gruppen und Teams
(D. Mattke)

4.1Klinische Vignette – Gruppengefühle eines Klinik-Chefs 143

4.2Reflexion der Wurzeln

4.2.1Gruppendynamische Gruppen

4.2.2Die psychotherapeutische Gruppe oder die therapeutische Kleingruppe auf einer Station

4.2.3Teamgruppen

5.Evidenzbasierte Gruppenpsychotherapie: Ergebnisse der Gruppenpsychotherapieforschung
(B. Strauß)

5.1Effektivität ambulanter Gruppenpsychotherapie

5.2Behandlungseffekte stationärer Gruppenpsychotherapie 192

5.3Forschung zum Gruppenprozess und zur Gruppendynamik 199

5.4Therapeutische Beziehungen in Gruppentherapien

5.5Bindung und Gruppenprozesse

5.6Zusammenfassung

6.Gruppentherapie in der Traumabehandlung – die Gruppe als Ressource nutzen
(L. Reddemann)

6.1Einleitung: Wozu ein eigenes Kapitel zur Gruppentherapie traumatisierter PatientInnen?

6.2Allgemeines zu Diagnostik und Therapie traumatisierter PatientInnen

6.3Ressourcen- und Resilienzorientierung

6.4Ressourcenorientierte Gruppenpsychotherapie nach dem Bielefelder Modell

6.5Qigong – eine körperorientierte Gruppe in der Traumatherapie
(C. Fischer)

Literatur

Unseren Kindern und Enkeln

Vorwort

»Mir schlägt das Herz bis zum Halse, bevor ich in einer Gruppe etwas sage!« Wer kennt so etwas nicht? So dürfte es auch unseren Patientinnen und Patienten gehen, wenn diese in Gruppen behandelt werden, und so geht es aber auch vielen Therapeutinnen und Therapeuten, insbesondere jenen mit wenig Gruppenerfahrungen. Aber auch erfahrene Gruppenleiter kennen ängstliche Empfindungen, wenn sie neue Settings erproben oder wenn Gruppen sich einfach unvorhergesehen entwickeln.

Bekanntlich signalisieren Angstgefühle Gefahr, sie gehören zum evolutionären Repertoire menschlicher Entwicklung und lösen überlebenswichtige Schutzreflexe aus. Freud und andere wiesen darauf hin, dass Angst als die Geburtsstätte des Ichs gelten könne und erst zur Wahrnehmung innerer Gefahren befähige. Diese Gefahren können in Psychotherapien benannt, erkannt, erzählt und exploriert werden. Hierfür benötigen wir wie auch unsere Patientinnen und Patienten eine sichere Basis, die uns Schutz vor äußeren und inneren Gefahren bietet. Für die Gestaltung einer Gruppentherapie heißt dies, einen angstgemilderten Übergangsraum zu gestalten, in dem unsere Therapien/ Gruppen gedeihen können. Im Sinne einer Ressourcen-orientierten Psychotherapie können dann auch freudige Erwartungen und Erfahrungen den Gruppenprozess fördern.

Zunächst waren wir drei Autoren unabhängig voneinander in verschiedensten Kontexten um eine zusammenfassende Darstellung von praktischen und wissenschaftlichen Aspekten aktueller versorgungsorientierter Gruppenpsychotherapie angefragt worden. Letztlich ist es dann ein Gruppen- und Kooperationsprojekt geworden mit wie folgt verteilten Rollen: Luise Reddemann fokussiert wie Dankwart Mattke in seinen Kapiteln vermehrt die Praxis, während Bernhard Strauß in seinem Kapitel die Frage beantwortet, welche wissenschaftliche Evidenz für Gruppentherapien und gruppentherapeutische Prozesse vorliegen.

Zusammengebracht hat uns ein Weiterbildungsprogramm unter dem Motto »Keine Angst vor Gruppen«, das von Dankwart Mattke und Bernhard Strauß konzipiert mit externen Referenten zu störungsorientierten Gruppenansätzen durchgeführt wird. So kam Luise Reddemann in das Projekt als Expertin für die Gruppenbehandlung von Traumafolgestörungen. Die Idee des Weiterbildungscurriculums »AsTiG« (Allgemeine und störungsorientierte Techniken institutioneller Gruppentherapie), die dann zur Konzeption des Buches »Keine Angst vor Gruppen« führte:

  1. Viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, insbesondere in stationären oder teilstationären Einrichtungen, sind mit der Durchführung klinischer Gruppenpsychotherapien konfrontiert, ohne hierfür besonders ausgebildet zu sein.
  2. Für psychologische Psychotherapeuten und Fachärzte ist es üblich, im Rahmen der Ausbzw. Weiterbildung klar auf einzeltherapeutische Kompetenz und Erfahrung zu setzen. Nur eine Minderheit versucht, sich auch in der Durchführung von Gruppenpsychotherapien zu qualifizieren. Sie beklagen, dass Programme, die in gruppenpsychotherapeutischen bzw. -analytischen Instituten dazu angeboten werden, sehr zeitaufwendig und zu wenig versorgungsorientiert seien. (Ein Beleg dafür könnte das geringe Angebot an krankenkassenfinanzierten Gruppenpsychotherapien sein, die sich auf einem Niveau um 1% der psychotherapeutischen GKV-Leistungen bewegen. Dies trotz einer über 50 %igen Honorarerhöhung im EBM 2000 plus!)

Wir möchten sowohl mit dem Curriculum als auch mit dem Buch diese Lücke schließen.

Wir vermitteln einen systematischen Zugang zum Gruppensetting, zur Gruppendynamik und zum Einsatz störungsorientierter Sichtweisen in Gruppenbehandlungen, Luise Reddemann ihre Sicht der Behandlung von komplexen traumatischen Störungen als ein Beispiel einer störungsorientierten Konzeption von Gruppenpsychotherapie.

Weitere störungsorientierte Ansätze im Rahmen des AsTiG-Curriculum waren und sind: Somatoforme Schmerzstörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Psychotische Störungen, Essstörungen, Angststörungen, Substanzenabhängigkeit, Depressive Störungen. Zwar konnten wir diese störungsorientierten Behandlungsprogramme nicht alle in das Buch aufnehmen. Interessierte Leser finden aber genügend Hinweise auf Behandlungsmanuale, die sie genauer studieren können.

Wir hoffen, mit unserem Buch »Keine Angst vor Gruppen« Kolleginnen und Kollegen anzusprechen, die gruppenpsychotherapeutische Ansätze kennenlernen und durchführen wollen. Wir wünschen uns aber auch, andere (z. B. interessierte Laien), die sich für die Dynamik von Gruppen interessieren, in den Bann der Gruppenarbeit zu ziehen und die Angst vor Gruppen reduzieren zu lernen. Wenn man sich mit diesem Setting näher beschäftigt, wird die Angst in Gruppen wahrscheinlich immer präsent sein. Dies ist aber vielleicht gerade im Sinne ihrer o. g. Funktion eine Voraussetzung dafür, Gruppen lebendig und reflexiv im Sinne einer Ressourcen orientierten Psychotherapie gestalten zu können.

Dankwart Mattke, Luise Reddemann, Bernhard Strauß

München / Köln / Jena im Winter 2008 / 2009

1. Grundlagen der Gruppenpsychotherapie: Sozialpsychologie und Gruppendynamik

Dankwart Mattke

Wie kann die Frage »Was ist eine Gruppe?« beantwortet werden?

Vorweg ein paar persönliche Gruppenerfahrungen außerhalb therapeutischer Ziele. Ich komme gerade von einer Fernreise zurück, hatte »Angst« vor der Begegnung mit einer mir bisher fremden Kultur und Zivilisation. Die ersten Tage verbrachte ich »dyadisch« mit einem Freund in der Hauptstadt des Landes. Das war sehr angenehm, ja bequem und geschützt. Dann war ich über zwei Wochen auf mich gestellt, habe je nach Ort und Kontext ad hoc Tagestouren gebucht. Damit war ich im Umgang mit der Angst vor dem Fremden in Gruppenkontexten gelandet. Und zwar in drei ziemlich klar abgrenzbaren Formaten:

Reisegruppe Typ 1:   8 bis 10 Personen per Bus, Bahn, per pedes

Reisegruppe Typ 2: 12 bis 20 Personen, Bus, Schiff, per pedes

Reisegruppe Typ 3: 20 und mehr Personen, bis zu 45 in einem Fall, sonst wie oben

Typ 3 war die häufigste Form an den Zentren des touristischen Interesses. Es gab eine bisweilen geradezu paramilitärische Führung (»Bitte in 4er-Reihen hintereinander aufstellen«), Interaktionen in der Gruppe kaum, außer zu Nebenmann oder -frau im Bus oder in einer Tisch- (Sub-)gruppe zum Lunch, funktionell und stereotyp (z. B. where are you from? How long do you stay?). Zugespitzt: entindividualisiert und eingereiht hatte ich am wenigsten Angst. Fühlte mich sogar wohl und touristisch effizient, wenn auch angestrengt und bemüht, manchmal rein akustisch, das Wichtigste mitzukriegen.

Typ 1: Nach ganz kurzer Zeit wusste jeder, wer zur Gruppe gehört. Nach ca. 1 Stunde Zuhören und Zusehen, was die Reiseleitung zu sagen und zu zeigen hatte, begannen sich 2er-Paare oder kleine 3er-Subgruppen zu bilden, sich vorzustellen, auszutauschen, und zwar nicht nur über das gerade Gesehene oder Gehörte. Ich kann mich noch jetzt an Gespräche erinnern. Manchmal wurden am Tagestourende auch Adressen ausgetauscht. Seitens der Reiseleitung war zu beobachten: Die kleinen Subgruppen wurden mehr persönlich angesprochen, die Reisegruppe als Ganzes war Ziel bei Erklärungen und Erläuterungen zum Ort, Monument, Geschichte. Ein freies Gruppengespräch gelenkt oder beobachtet von der Leitung gab es nicht. (Das wäre dann in einer Therapiegruppe oder frei diskutierenden Seminargruppe anders.)

Typ 2: Diese mittlere Gruppe war mir fast die liebste. Es ging beides: persönliche Ansichten auszutauschen, mal ein Stück zufällig zusammen zu gehen, dann wieder angesprochen oder aktiv ausgesucht mit jemand anderem. Den Ausführungen der Reiseleitung konnte ich entspannt folgen ohne akustischen Hörstress. Nach der Mitte des Tages wusste man, wer zur Gruppe gehörte, wartete, wenn nötig, auch mal aufeinander. Auch in diesem Format gab es mal kleinere Subgruppen, die sich aber meist schnell auflösten. Nachträglich habe ich das Gefühl, in diesen Gruppen am meisten »gelernt« zu haben, was den touristischen Stoff angeht, erinnere mich jedoch nicht mehr so sehr an spezielle Interaktionen mit anderen Mitreisenden.

Diesen drei Gruppenformaten werden Sie immer wieder begegnen: in diesem Buch, an Ihrem Arbeitsplatz, auf Reisen. Wo immer Sie sich in Gruppen bewegen oder neu mit Gruppen konfrontiert sind, werden Sie eine kurze affektive, vegetativ spürbare Reaktion bei sich wahrnehmen, das Erregungsniveau steigt, manchmal dann schon psychologischer als »Angst« spürbar. Es ist wie eine Arousal-Reaktion, ein Alarmsignal, sich auf etwas Neues einzustellen.

Generell signalisieren uns Angst- wie Schmerzgefühle Gefahren. Sie gehören zu unserem evolutionär erworbenen Repertoire. Angst ist der Affekt, dem die Wahrnehmung des anderen oder etwas ganz anderem als ein möglicherweise gefährliches oder gefährdendes Objekt vorausgeht, Gefahr kann dabei auch der gefürchtete Verlust einer gewünschten oder benötigten Beziehung sein. Als Reaktionen sind Flucht, Unterordnung, Lähmung oder Angriff und Kampf möglich. Aber Angst kann auch die Geburtsstätte des Ich (Sigmund Freud) sein, vornehmlich in der Wahrnehmung von inneren Gefahren. Wenn dies gelingt, entstehen neue Spielräume im Umgang mit Angst. An die Stelle der Automatik von Flucht vor oder Kampf gegen die Angst treten Wahrnehmung und reflexiveres Handeln.

Wo und wie immer, Sie werden Ihre »Angst vor und in Gruppen« zwar wahrnehmen, sich aber schneller orientieren können, adäquater reagieren, intervenieren, wenn Sie etwas über gruppendynamische Gesetzmäßigkeiten wissen.

Fangen wir kurz an damit, indem Sie sich Ihre ambulante oder stationäre therapeutische Kleingruppe als Reisegruppe vorstellen. Stellen Sie sich vor, Sie sind jetzt der Reiseleiter und spüren die Erwartungen und Projektionen einer kleinen Gruppe von zu Beginn zwar fröhlichen, aber auch ängstlich gespannten »Touristen«.

Dagegen, wenn Sie eine »Morgenrunde« auf Ihrer Station oder gar eine sog. Großgruppe oder große Gruppe auf Ihrer Station/Abteilung zu leiten haben (Typ 2 oder 3 meiner Reisegruppen), werden Sie eine ganz andere Gruppendynamik und damit Angst und Erregungsniveau bei sich wie mit und in der Gruppe spüren.

Beim Typ 2 könnten Sie sich noch eine gut vorbereitete und nach bestimmten Regeln ablaufende Seminarstunde vorstellen. Aber es ist die schiere Zahl der Anwesenden, wenn diese über 30 steigt, dass Sie die geballte Energie der großen Gruppe spüren werden. Je nach Kontextbedingungen, das werden wir in Kapitel 4 sehen, werden Sie mit Ihren psychosomatischen Selbstwahrnehmungen ganz anders umgehen wollen, die Gruppe leiten und intervenieren.

Diese kurze Skizze hat Sie, so hoffe ich, nun neugierig gemacht, mehr im Detail über Sozialpsychologie (S. 1 – 15) und Gruppendynamik (S. 16 – 25) zu erfahren und wie diese Grundlagen zu einer allgemeinen Gruppentheorie für therapeutische Anwendungen führen könnten (S. 26 – 31).

Die Vorstellung der beiden aktuell in der Richtlinien-Psychotherapie zugelassenen Verfahren: Verhaltenstherapie und Psychodynamische Psychotherapie, wird dann in Kapitel 2 erfolgen.

Die allgemeinen Wirkfaktoren, von denen wir heute annehmen, dass sie für therapeutische Veränderungsprozesse in Gruppen genutzt werden können, werden dann in Kapitel 3 insbesondere an den Grundprinzipien psychodynamischer Gruppentherapie illustriert. Dabei wird im Detail auf die Interventionstechnik in psychodynamischen Gruppen eingegangen.

1.1 Sozialpsychologie der Gruppe

Nahezu alle Aktivitäten in unserem Leben wie arbeiten, lernen, beten, diskutieren, sich unterhalten, entspannen, spielen u. Ä. finden in realen oder vorgestellten Gruppen statt. Gruppen sind die Bausteine der menschlichen Gesellschaften. Kulturelle Kräfte erreichen nicht direkt das Individuum, sondern werden wirksam durch Gruppen, zu denen die Individuen gehören. »Gruppen« zu verstehen bedeutet von daher, uns selbst zu verstehen, andere Menschen und die Gesellschaften, in denen wir leben.

Trotz oder wegen dieser basalen Bedeutung von »Gruppe« umhüllt diesen Begriff etwas Geheimnisvolles. Es haftet dem Bild von Gruppe meist etwas Ungenaues, nicht zu Fassendes an. Wir stimmen leicht zu, wenn behauptet wird, dass Gruppen existenziell für menschliches Leben sind. Aber was heißt das, wenn wir sagen, dass phylogenetisch die Gruppe vor der Familie auftrat? Wenn wir hören und lesen, unsere Vorfahren hätten sich vor wilden Tieren, Feinden und Naturkatastrophen geschützt, indem sie sich in Gruppen zusammengeschlossen haben? Neurobiologisch formuliert: »Es ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der vergangenen zehn Jahre, dass ein großer Teil unseres Gehirns auf die Verarbeitung sozialer Reize ausgerichtet ist« (Christian Keysers 2007). Irgendwann in der Evolution muss es ein Überlebensvorteil geworden sein, so etwas wie ein »soziales Gehirn« entwickelt zu haben. Ein einzelnes Gehirn kann ebenso wenig existieren wie ein einzelnes Neuron. Menschen und Säugetiere würden sterben ohne soziale Beziehungen.

Die Ubiquität von Gruppen erinnert an einen Ausspruch von Cicero: »Ein Mensch wundert sich nicht über das, was er häufig und immer sieht, obwohl er nichts weiß über Grund und Ursprung dessen.« Vielleicht könnten Ubiquität und Selbstverständlichkeit von Gruppen unser Verständnis von ihnen verschleiern oder mindestens behindern? Wir sind so sehr gewohnt, in und mit Gruppen zu leben, dass wir ihren Einfluss kaum reflektieren. Die Neurowissenschaften beginnen nun damit, sind aber auf die Fragestellungen für ihre Untersuchungen und eine sinnvolle Interpretation ihrer Ergebnisse in unserem Fall aus der Sozialpsychologie angewiesen:

»Was ist also eine Gruppe?«

Lässt sich intuitiv verstehen, dass Personen, die zufällig zum gleichen Zeitpunkt über einen Platz gehen, kaum als eine soziale Gruppe gelten können?

Wenn in der Sozialpsychologie von Gruppe die Rede ist, werden etwa folgende Bedingungen genannt:

Die Mitglieder

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Abbildung 1.1: Tabelle nach Sader, 2000, S. 39

Lindgreen (1973) definiert in seiner Einführung in die Sozialpsychologie:

»Wenn zwei oder mehr Personen in irgendeiner Beziehung zueinander stehen, bilden sie eine Gruppe« (Seite 347).

Olmsted (1959) definiert in einer Einführung in die Kleingruppenforschung:

»Eine Gruppe kann definiert werden als eine Mehrheit von Individuen, die in Kontakt miteinander stehen, aufeinander reagieren und in wesentlichen Punkten Gemeinsamkeiten erleben« (Seite 21).

Und schließlich McDavid und Harari (1968) ebenfalls in einem Lehrbuchtext:

»Eine sozialpsychologische Gruppe ist ein organisiertes System von zwei oder mehr Individuen, die so miteinander verbunden sind, dass in einem gewissen Grade gemeinsame Funktionen möglich sind, Rollenbeziehungen zwischen den Mitgliedern bestehen und Normen existieren, die das Verhalten der Gruppe und aller ihrer Mitglieder regeln« (Seite 237).

Nach keiner dieser drei Definitionen handelt es sich um eine Gruppe, wenn zwei einander Fremde nebeneinander auf einer Straße gehen. Werden diese beiden Personen zusammen von einem Dritten für eine Spende angesprochen, so sind sie nach Lindgreen eine Gruppe, nach Olmsted und McDavid und Harari jedoch nicht. Bitten wir fünf Studenten, die einander unbekannt sind, gemeinsam zu einem sozialpsychologischen Experiment in einen Raum und verlesen eine Instruktion, so sind die fünf nach Lindgreen und Olmsted eine Gruppe, nicht hingegen nach McDavid und Harari. Erst, wenn die Teilnehmer eine Weile miteinander zu tun gehabt haben, sich Ansätze von Rollendifferenzierungen gebildet und gemeinsame Normen entwickelt haben, erst dann würden alle drei zitierten Autoren übereinstimmend von »Gruppe« sprechen.

Czogalik und Enke (1997) sind der Meinung, dass von Gruppe gesprochen werden kann, wenn ein gemeinsames Ziel vorhanden ist, eine Binnenstruktur sich entwickelt hat und eine gemeinsame Grenze gegenüber anderen sozialen Interaktionssystemen existiert.

Fassen wir zusammen: Es bringt nicht weiter, einschlägige Literatur und Definitionen zusammenzutragen, um sich dann für die häufigste, einleuchtendste oder die von bedeutenden Wissenschaftlern stammende Definition zu entscheiden. Aber: Wird durch dieses Eingeständnis die Frage nicht geradezu zwingend: »Was ist denn nun eine Gruppe wirklich?« Manfred Sader (2000) schlägt darum vor: »Wir sollten … akzeptieren, dass der Begriff der Gruppe ein Konstruktbegriff ist, den wir an die Phänomene um uns herum herantragen, um etwas Ordnung in unsere Gedanken und Wahrnehmungen zu bekommen« (Seite 38). Es sei darum völlig legitim, sich innerhalb gewisser Grenzen von Sprachgebrauch und Zweckmäßigkeit je nach Lage der Dinge zu entscheiden, wie Gruppen definiert werden. Je nach Arbeitsbereich oder Anwendungsfeld, je nach Forschungsinteresse und je nach der Methode werden so unterschiedliche Definitionen nützlich sein. Für den Kontext dieses Buches heißt das:

1.1.1 Welche Grundannahmen zu Gruppen brauchen wir oder sollten wir klären, um mit weniger Angst Gruppentherapie machen zu können?

Eine Schwierigkeit bei der Verwendung des Gruppenbegriffes liegt auch darin, dass der Begriff nicht nur rein beschreibend, wie ich es hier versucht habe, für eine Anzahl von Menschen benutzt wird, sondern auch wertend. Es werden mit der Umgangssprache zeitabhängige kulturelle Deutungsmuster transportiert, z. B.: Wenn Teilnehmer von Selbsterfahrungsgruppen nach einigen Tagen fragen, ob sie denn nun wirklich eine Gruppe seien, wenn Assoziationen von grenzenloser Offenheit und Aufrichtigkeit anklingen, rückhaltlose Zuverlässigkeit und selbstlose Hilfsbereitschaft untereinander implizit als erforderlich für eine »echte Gruppe« unterstellt werden, dann ist offenbar von mehr und von anderem die Rede als von einer Konfiguration einzelner Personen mit Ansätzen zu Rollendifferenzierungen und gemeinsamen Normen.

Ansprüche solcher Art lassen sich dadurch belegen, dass man in Gruppen bestehende Schwierigkeiten auf ihre Gründe hin attribuieren lässt. Weinberg et al. (1981) haben dies bei insgesamt 125 Gruppen getan, die über 8 Wochen hinweg beobachtet wurden. Der am häufigsten attribuierte Grund war »mangelnde Gruppenkohärenz« (wir sind eben keine gute Gruppe), gefolgt von »Führungsproblemen« (unser Leiter taugt nichts). Andere Gründe (zu schwierige Aufgaben, falsche Zielsetzung, äußere Umstände) wurden bei Weitem seltener genannt.

Es würde sehr weit führen, Gründe für hohe Ansprüche an »Gruppen« zu diskutieren. Der Sache nach ist anzunehmen – es wurde mit dem Hinweis auf die phylogenetische Verankerung von Gruppenerleben bereits angedeutet –, dass die Sehnsucht der Menschen aller Zeiten nach Geborgenheit, Wärme, Zugehörigkeit und Sicherheit in einem überschaubaren (gruppalen?) Rahmen immer schon und möglicherweise heute besonders deutlich hervortritt und dass diese Bewertung stark durch emotional-affektive und irrationale Züge geprägt wird und kulturelle Deutungsmuster transportiert werden.

An der indischen Westküste habe ich die Fischer beobachtet. Wenn sie ihren Fang an Land gebracht und auf die wartenden Marktleute verteilt hatten, setzten sie sich in einem Kreis zusammen und erzählten ihre Geschichte der Nacht und des frühen Morgens. Sie saßen immer im Kreis. Nie habe ich gesehen, dass sie ein Halbrund oder eine Reihung bildeten, um so zusammen aufs Meer schauen zu können. Überflüssig zu fragen, warum in einem Kreis, sie machen es seit Jahrhunderten so. Weil nur so jeder jeden sehen und hören kann? Weil sie sich so geschützter, sicherer, geborgener fühlen?

An den Verlaufsprotokollen von therapeutischen Gruppensitzungen ist gut zu belegen, dass Realisierungsversuche von überhöhten Konzepten, unreflektierte Übernahme kultureller Deutungsmuster (insbesondere in kulturell heterogenen Gruppen-Kontexten) zumeist rasch scheitern und in Missverständnissen, Misserfolgserlebnissen, Fremd- und Selbstvorwürfen enden. Die zumeist implizit vorhandenen Idealvorstellungen von dem »eigentlich richtigen« Zusammenarbeiten in einer Gruppe sind oft unrealistisch hoch, überfordern die Beteiligten und erzeugen Angst bei Therapeuten und Patientinnen. Die Tätigkeit von Gruppenleitung besteht dann häufig zu einem wesentlichen Teil darin, derartige Ansprüche zu thematisieren und dabei behilflich zu sein, sie in der Gruppe gemeinsam zu reflektieren und auf ein vernünftiges Maß zurückzuschrauben bzw. damit therapeutisch intervenierend zu arbeiten.

C. G. Jung (Jaffe et al., 1980) hat sich dazu wie folgt geäußert: »Auch eine kleine Gruppe ist regiert von einem suggestiven Gruppengeist, … die Gruppe erhöht das Ich, d. h., man wird mutiger, anmaßender, sicherer, frecher und unvorsichtiger, das Selbst aber wird vermindert und zugunsten des Durchschnitts in den Hintergrund gedrängt« (S. 451).

Ein ganz anderes Anwendungsfeld, in dem neuerdings häufig von Gruppenvorgängen die Rede ist, haben wir bei der Beschreibung der Vorgänge an der Börse oder der Konjunkturprognostik vor uns. So titelt die SZ vom 26. 3. 2006 in ihrem Leitartikel zur Wirtschaftspolitik »Wirtschaft im Überschwang: Menschen übertreiben gerne, vor allem wenn sie Gruppen sind. Und weil Märkte von Menschen gemacht werden, tendieren sie ganz besonders zum Übertreiben, im Guten wie im Schlechten.«

Nehmen wir diese Zitate zum Anlass zu einem Exkurs in die Historie grundlegender sozialpsychologischer Experimente zu Gruppenfragen.

1.1.2 Sind Gruppen risikofreudiger als Einzelne?

Sollen wir in unseren politischen und sozialen Entscheidungsprozessen wichtige und riskante Entscheidungen lieber durch Einzelne oder lieber durch Gruppen fällen lassen?

Am Sloan College des Massachusetts Institute of Technology wurde im Jahr 1961 eine Magisterarbeit erstellt, die den Titel hatte: »Ein Vergleich von individuellen und Gruppenentscheidungen unter Einbeziehung von Risiko«. Es wurde über folgendes Experiment berichtet:

Experiment: Sind Gruppen risikofreudiger als Einzelne?

Einer Gruppe von Studenten höheren Semesters wurde zunächst im Einzelversuch ein Fragebogen vorgelegt, bei dem sich die Studenten in lebensnahen Situationen (z. B.: ein Mann mit einer schweren Herzerkrankung hat die Wahl, entweder seine alltägliche Lebensführung ernstlich einzuschränken oder aber sich einer schwierigen Operation zu unterziehen, die ihn völlig wiederherstellen kann, im ungünstigen Fall aber tödlich endet) sich jeweils für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden sollten. Diese Situationen waren so geschildert, dass in jedem Fall einem bestimmten Erfolg ein bestimmtes Risiko gegenüberstand. Nachdem für jeden der Beteiligten im Einzelversuch eine Messgröße für Risikobereitschaft erhoben worden war, wurden Gruppendiskussionen zum jeweils gleichen Thema veranstaltet. Nach deren Beendigung wurde die Gruppe gebeten, die vorher vom Einzelnen getroffenen Entscheidungen als Gruppe zu wiederholen. Ergebnis: Gruppen erwiesen sich als wesentlich risikofreudiger als Einzelne.

Dieser Sachverhalt wurde »Risikoschub-Phänomen« (risky shift) getauft. Die ursprüngliche Magisterarbeit von Stoner ist niemals veröffentlicht worden. Cartwright (1973) hat aber die wissenschaftliche Geschichte dieses Phänomens zusammengetragen.

Inhaltliche Bedeutung und gesellschaftliche Konsequenz eines solchen Befundes liegen auf der Hand: Ständig werden von Einzelnen und von Gremien Entscheidungen getroffen, in unserem persönlichen Alltag wie in der Industrie, im Bildungswesen wie in der Politik. Viele dieser Entscheidungen sind ein Abwägen zwischen Risiken. In vielen Fällen wäre es erwünscht, wenn nicht sogar dringend geboten, Entscheidungsprozesse so zu organisieren, dass das Risiko gering bleibt.

Wir alle erleben im Alltag, dass die Entscheidungsfreudigkeit im sicheren Rahmen einer Gruppe größer sein kann. Die Verantwortung für die Konsequenzen wird unter vielen aufgeteilt. Die dynamischen und risikofreudigen Mitglieder einer Gruppe mögen größeren Einfluss haben als die nachdenklichen und vorsichtigen. Imponiergehabe mag eine Rolle spielen und Sich-Durchsetzen. Diese unmittelbare Plausibilität mag auch für die Rezeption solcher Forschungsergebnisse bei fachfremden Kollegen eine günstige Vorbedingung sein. Allerdings gab und gibt es auch Kritik an dieser Form von sozialwissenschaftlicher Forschung:

Alle Experimente dieser Art werden im luftleeren Raum des psychologischen Laboratoriums durchgeführt mit rasch zusammengetrommelten »Gruppen« ohne gemeinsame Geschichte oder gemeinsame Zukunft. So nahe liegende Fragen wie die, ob es in einer Gruppe eine Norm für »nur nicht auffallen« oder aber für »Schwung, Mut und Tatkraft zeigen« gegeben hat, kann dabei nicht einmal gestellt werden. Schließlich sind die weitaus meisten Untersuchungen darauf angelegt zu prüfen, ob es das Risikoschub-Phänomen gibt, statt die sinnvollere Frage zu stellen: Unter welchen konkreten Bedingungen tritt das Risikoschub-Phänomen auf bzw. nicht auf?

Neben einer Fülle von unkritisch wiederholten Experimenten des geschilderten Ausgangsexperiments gibt es auch Autoren, die Bedingungsvariationen erprobten: So wiesen Moscovici und Zavalloni (1969) nach, dass Einstellungen – und so auch Einstellungen zum Risikoverhalten – typischerweise in der Psychologie an einzelnen Individuen untersucht werden, wobei vom raumzeitlichen Kontext und vom Bezugsrahmen solcher Aussagen fast durchweg abstrahiert wird. Diese Sterilität, so die Autoren, sei aber keine Besonderheit der Untersuchung des Risikoverhaltens, sondern durchziehe große Teile der Einstellungsforschung. Sie untersuchten dann selber die Veränderungen in der Einstellung französischer Schüler gegenüber General de Gaulle und gegenüber Amerikanern: Nach einschlägigen Gruppendiskussionen werden die Aussagen jeweils extremer. Die Autoren benannten dieses Phänomen Polarisation: Gruppenmitglieder verschieben nach Gruppendiskussionen ihre eigenen Punktwerte vom Mittelwert hin zu einer extremeren Position. Risikoschub, so folgern die Autoren, sei ein Spezialfall einer allgemeinen Tendenz, bei Aussagen über eigene Einstellungen nach Gruppendiskussionen extremere Aussagen zu machen. Entscheidungen hinsichtlich Einstellungsänderung, Gerichtsentscheidungen (besonders in Schöffengerichten), ethische Entscheidungen, Aussagen zur Personenwahrnehmung, Verhandlungen in den verschiedensten Inhaltsbereichen zeigen diese Art der Extremisierung nach Gruppendiskussionen (und bei Konflikten in therapeutischen Gruppen?). Wahrscheinlich würden wir auch nach einem allgemeinpsychologischen Alltagsverständnis diesen Ergebnissen zustimmen. Sie sind nach unseren Alltagserfahrungen plausibel.

Aber: Semin und Glendon (1973) konnten zeigen, dass in einem Team von Managern, die einzeln und in der Gruppe vergleichbare Entscheidungen produzieren sollten, folgende Ergebnisse zu finden waren: Für eine langfristig zusammenarbeitende und eingespielte Gruppe, die mit den getroffenen Entscheidungen weiterarbeiten muss, fand sich keine Polarisation bzw. Extremisierung nach Diskussion in der Gruppe. Auch dieses Ergebnis erscheint uns alltagspsychologisch plausibel und auch bei länger zusammenarbeitenden therapeutischen Gruppen hilfreich.

Zusammenfassend halten wir fest: Es wäre sicher nützlich und weiterführend, wenn stärkere Bemühungen üblich würden, inhaltliche Einzelphänomene bzw. einzelne Forschungsergebnisse auf ihre Rolle und ihren Stellenwert im größeren psychologischen Kontext zu überprüfen. Für die Sozialpsychologie der Gruppe bedeutet dies: Ob es sich um Fragen der Einstellung oder der Leistungsmotivation handelt, ob es um Lernen, Denken oder um den Einfluss von Normen auf das Verhalten geht, zumeist ist der einzelne Mensch dabei das Thema. Der Mensch wird aber als einzelnes und isoliertes Wesen kaum vorkommen, wie gar nicht oft genug im »Gruppenkontext« betont werden kann. Rein quantitativ spielen sich große Teile unseres Tagesablaufs in Gruppen ab, wie auch in unseren Handlungsabläufen (ohne eine gegenwärtig vorhandene Gruppe) der Bezug auf eine gedachte oder vorgestellte Gruppe häufig von entscheidender Bedeutung ist.

1.1.3 Gruppendruck, Konformität und Majoritätseinfluss

Einer Gruppe von 8 Personen wird in einem »Wahrnehmungsexperiment« (Asch, 1951: Studien zum Majoritätseinfluss) folgende Aufgabe gestellt:

Experiment: Majoritätseinfluss

Den Gruppenmitgliedern werden zwei optische Vorlagen gezeigt (vgl. Abbildung 2), und zwar gleichzeitig der ganzen Gruppe. Die eine Vorlage enthält eine gerade schwarze Linie (Standardreiz), die andere jeweils drei Linien unterschiedlicher Länge (Vergleichsreize). Die Aufgabe der Versuchspersonen (VP) ist es, die drei Vergleichsreize mit der Länge des Standardreizes zu vergleichen. Und zwar sollen die VP nacheinander entsprechend ihrer Sitzreihenfolge laut ihre Einschätzung nennen. Es werden nacheinander 12 Tafeln mit je 3 Vergleichslinien dargeboten. Der Standardreiz bleibt gleich. Der Trick des Experimentes ist: 7 der 8 Teilnehmer sind vom Versuchsleiter vorinstruiert. Sie haben den Auftrag, einheitlich in vorgegebener Art und Weise bei einem Teil der Beurteilungen falsche Vergleichslinien zu benennen. Im Anschluss an den Versuchsdurchgang werden die echten VP ausführlich befragt und anschließend über die Anlage, die Ergebnisse und den Sinn des Experimentes aufgeklärt.

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Abbildung 1.2: Optische Vorlage

Es handelt sich nicht um ein Wahrnehmungsexperiment. Thema ist vielmehr: Wie verhält sich ein Mensch, wenn er sich einer einheitlichen Gruppenaussage gegenüber befindet, die mit der eigenen Wahrnehmung nicht übereinstimmt? Das wesentliche Ergebnis, das oft reproduziert wurde, ist: Etwa ein Drittel der Teilnehmer schließt sich unter Gruppendruck wider besseren Wissens der Gruppenmeinung an.

Das Grundexperiment von Asch (1951) ist später von anderen Forschern in vielfältiger Weise wiederholt worden. So hat man etwa die Gruppengröße verkleinert und gefunden, dass die Größe der Mehrheit für den Effekt nicht wesentlich ist. Der Effekt setzt bei einer Mehrheit von etwa vier Teilnehmern mit voller Stärke ein. Vergrößert man die Mehrheit auf 8 oder sogar 16 Teilnehmer, so steigert das den Effekt nicht. Allerdings: Befindet sich auch nur eine weitere »echte« VP im Versuchsraum, so mindert das den Mehrheitseffekt beträchtlich, hebt ihn in etlichen Fällen sogar völlig auf.

Welche paradigmatischen Schlüsse bei der Suche nach einer Theorie der Gruppe könnten aus diesen Ergebnissen gefolgert werden und sind gefolgert worden?

  1. Alltagspsychologisch: Im Alltagsdenken und in der impliziten naiven Verhaltenstheorie der meisten Menschen ist der häufigste und beliebteste Erklärungsansatz: Jemand handelt in einer bestimmten Art und Weise, weil er bestimmte Eigenschaften hat. Im Asch-Experiment haben sich die verschiedenen VP ja nicht in gleicher Weise verhalten: Einige sind dem Gruppendruck erlegen, einige haben durchweg und unbeeinflusst ihre Wahrnehmungen mitgeteilt, einige haben sich während des Versuches uneinheitlich verhalten. Man ist versucht anzunehmen, dass die geistig Selbstständigen, die wenig Beeinflussbaren, die Aufrichtigen bei ihrer Meinung blieben und einfach sagten, »wie es ist«. Die Unselbstständigen, die Anpassungsbedürftigen, die an Ich-Schwäche-Leidenden, die Unaufrichtigen, die Suggestiblen sind dagegen dem Gruppendruck erlegen und haben sich rasch und willig wider besseres Wissen der offensichtlichen Mehrheitsmeinung angeschlossen.
  2. Diese Zurückführung des individuellen Handels auf Eigenschaften der Person ist nicht nur für die laienhafte Theorie zentral, auch die wissenschaftliche Psychologie hat ein Jahrhundert lang mit diesem Grundparadigma gearbeitet. Psychologie wird in dieser Sichtweise als eine Möglichkeit gesehen, mithilfe eines geschulten intuitiven Blicks, einer Handschriftenprobe oder mithilfe eines Testverfahrens Aussagen über Personen zu machen, und zwar in der Annahme, dass die Kenntnis von Eigenschaften einer Person für die Erklärung und Voraussage menschlichen Handelns und Verhaltens zentrale Bedeutung habe. An die Stelle dieses »Eigenschaftsdenkens« treten in den letzten Jahren interaktionistische (Gruppen-) Modelle, die die Kontextabhängigkeit menschlichen Verhaltens und Erlebens belegt haben.
  3. Der lerntheoretische Ansatz: Der lerntheoretische Ansatz bei der Interpretation des Experimentes würde davon ausgehen, dass alles Verhalten gelernt ist. Dieser Ansatz führt Handeln und Verhalten nicht auf Persönlichkeitseigenschaften zurück, sondern auf die Lerngeschichte der Person, auf bisher für Verhalten empfangene Verstärkungen und auf die Erwartung von neuen Verstärkungen durch Handeln und Verhalten. Dass im Experiment die VP sich unterschiedlich verhielten, ließe sich dann durch ihre bisherige Sozialisationsgeschichte erklären: Die meisten von uns haben für solche Situationen gelernt, dass Anpassung an die Meinung von anderen Leuten das einfachste Verfahren ist, Konflikten auszuweichen. Frühkindliche Erziehung und schulische Sozialisation sind nicht selten auf diese Richtung hin angelegt. Nur für relativ wenige Menschen sind häusliche Erziehung, Schule und andere Umwelteinflüsse insgesamt so positiv verlaufen, dass sie in Situationen wie dem Asch-Experiment unbefangene Aufrichtigkeit trotz gegenläufiger Aussagen aller Leute um sie herum für möglich und zweckmäßig halten. Lerntheoretische Paradigmen gelten heute in der Psychologie neben den kognitiven Ansätzen als die wesentlichen Paradigmen. Sie sind auch für viele der neueren Therapieansätze von großer Bedeutung.
  4. Kognitives Paradigma (Dissonanzen vermeiden): Man kann Handeln und Verhalten von Menschen in einer Situation, wie sie das Asch-Experiment darstellt, auch unter kognitionspsychologischen Gesichtspunkten sehen und dabei Denkstrukturen und Begriffe aus der Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Denkpsychologie benutzen. Der aktuelle Oberbegriff für alle Formen und Arten von aufnehmenden, speichernden und verarbeitenden Erkenntnisvorgängen ist der Begriff der »Kognition« geworden. Es ist üblich geworden, neben der Erforschung und Beschreibung einzelner kognitiver Prozesse auch überdauernde Orientierungs- und Organisationsschemata anzunehmen, die kognitive Strukturen genannt werden. Für das Verständnis des Asch-Experimentes könnte dies bedeuten: Wir Menschen tendieren dazu, relevante kognitive Elemente unserer Umgebung in Übereinstimmung zu bringen. Es stört, beeinträchtigt, beunruhigt uns, wenn wir in unseren Handlungs- und Erlebensfeldern Dissonanzen erleben. Entweder wir leugnen unsere Wahrnehmung, oder wir ignorieren die Aussagen der anderen. Manchmal wird die Dissonanz beseitigt durch Bemerkungen der VP wie: »Das liegt vielleicht an der Parallaxe« oder »Ich bin Brillenträger, vielleicht liegt das daran«.

Die Reihe möglicher Strukturierungen von Sachverhalten, Prozessen oder Forschungsergebnissen ließe sich natürlich noch fortsetzen. Wir können Asch-Befunde nach marxistischen, christlichen oder psychodynamischen oder anderen schulenspezifischen Paradigmen interpretieren. Es könnte z. B. ein Verstehen dadurch herbeigeführt werden, dass die Person des Versuchsleiters untersucht wird: Ein Versuchsleiter, der auf emotionale Bindung an die VP bedacht ist, könnte zur Identifikation mit ihm beitragen, eine Sichtweise, die aus der psychoanalytischen Forschungsgeschichte stammt. Sie basiert auf Freuds (1921) Annahme, dass Gruppenmitglieder sich über ihre Identifikation mit dem Gruppenleiter auch untereinander identifizieren und dadurch zur Gruppe werden. Gruppendruck könnte sich aufbauen in dem Bestreben, dem Gruppenleiter zu gefallen. Psychoanalytische und psychodynamische Paradigmen zum Verständnis von Gruppenprozessen werden uns im Kapitel zur »Gruppenpsychotherapie« noch näher beschäftigen.

1.1.4 Die Milgram-Experimente

Während es bei den Asch-Experimenten möglicherweise noch um irrelevante Laborbefunde gehen könnte, führt uns das berühmte Experiment von Stanley Milgram, das erstmals 1963 publiziert wurde und bis 1974 in weiteren 17 Versuchsreihen bestätigt wurde, direkt in eine Gesellschaftsrelevanz von hohem Stellenwert. Zum Zeitpunkt der Arbeiten von Milgram begann die öffentliche Diskussion über die Konzentrationslager in Deutschland, der Eichmann-Prozess fand gerade in Israel statt, und die Grausamkeiten amerikanischer Soldaten in Vietnam wurden diskutiert.

Das Experiment ist so angelegt, dass der »Schüler« so viele Fehler macht, dass alle Schalthebel von 15 bis 450 Volt, d. h. bis zu »Gefahr, bedrohlicher Schock«, in Aktion treten. Der »Schüler« hat ab etwa dem dritten Fehler deutliches Unbehagen zu zeigen, beim 4. Fehler, geahndet mit 120 Volt, zu signalisieren, dass die Schocks jetzt schmerzhaft würden, ist bei 270 Volt bei qualvollem Brüllen angekommen, nach 330 Volt hört man nichts mehr von ihm. (Es sei angemerkt, dass das Experiment dem »Schüler« ein schauspielerhaftes Verhalten abverlangt, der akustische Signale nach vorbereitetem Drehbuch bei vorgegebenen Voltzahlen zu geben hat.) Wenn der »Lehrer« über die Fortsetzung der Lernaufgabe unsicher wird oder aufhören will und sich dazu an den Experimentator wendet, hat dieser mit vorgegebenen (ebenfalls im Drehbuch enthaltenen) anspornenden Bemerkungen zu reagieren wie:

Milgram-Experiment

Es wurden per Zeitungsanzeige 500 Männer gesucht, die für 4 Dollar 1 Stunde lang an einem Experiment über Gedächtnisleistung teilnehmen sollten. Interessenten sollten zwischen 20 und 50 Jahre alt sein, Studenten und Oberschüler wurden ausgenommen. Unsere VP, vielleicht ein Maurer oder Busfahrer, wird von einem Versuchsleiter empfangen, der leidenschaftslos, ruhig und wenig streng wirkt und den grauen Kittel eines Technikers trägt. Ein weiterer Versuchsteilnehmer ist bereits anwesend, und es wird ausgelost, wer in dem Experiment die Rolle des »Schülers« und wer die Rolle des »Lehrers« spielen soll. Das Los bestimmt unsere VP zum »Lehrer«, er weiß nicht, dass bei der Auslosung »gemogelt« wurde und der andere Versuchsteilnehmer ein Gehilfe des Experimentators ist. Anschließend wird der »Schüler« im Nebenraum in eine Art elektrischen Stuhl geschnallt, und es werden Elektroden an den Handgelenken befestigt. Dann wird dem »Lehrer« im Nachbarraum der Schockgenerator vorgeführt, ein imponierendes Gerät mit 30 Kippschaltern, Blaulichtern, elektrischen Summern und an den einzelnen Kippschaltern Schilder von »leichter Schock« über »mittlerer Schock« bis »sehr schwerer Schock« und »Gefahr, Bedrohlicher Schock«. Dazu sind die Volt-Angaben angegeben in Stufen von 15 Volt bis 450 Volt. Die weitergehenden Voltzahlen von 420, 435 und 450 Volt tragen keine sprachlichen Bezeichnungen mehr. Der »Lehrer« bekommt nun die Instruktion, eine »Lernaufgabe« zu leiten. Er hat dem »Schüler« eine Reihe von Wortpaaren vorzulesen, anschließend den ersten Begriff eines Wortpaares mit vier anderen Begriffen vorzugeben. Die Aufgabe des »Schülers« ist es, richtige Wortpaare herauszufinden und durch Drücken eines Knopfes dem »Lehrer« zu übermitteln. Wenn die Antwort richtig ist, geht der »Lehrer« zum nächsten Wortpaar über. Bei falschen Antworten wird der »Schüler« dagegen mit einem Elektroschock bestraft, und zwar soll der »Lehrer« von Fehler zu Fehler den Schock um 15 Volt steigern.

Das Experiment ist erst zu beenden, wenn der »Lehrer« die höchste Voltzahl appliziert hat und mit dieser noch drei weitere Schocks ausgeteilt hat: Diese Lehrer-Versuchspersonen werden als »gehorsam« kategorisiert oder wenn die Lehrer-Versuchspersonen zu einem früheren Zeitpunkt von sich aus das Experiment abbricht, als »nicht gehorsam«.

Im Grundexperiment haben von 40 Teilnehmern 26 die höchste Voltstufe appliziert, der früheste Abbruch lag bei 300 Volt. Für Milgram sind also 26 von 40 Teilnehmern »gehorsam« gewesen, für unser Alltagsdenken aber alle 40 Teilnehmer. Denn auch schon die Fortsetzung bis zur Zahl von 300 Volt gegen den Willen des »Schülers« ist eine beträchtliche Gehorsamsleistung gegenüber dem Experimentator.

Das Milgram-Experiment hat bis in unsere Tage Aktualität behalten. Ich erinnere an die »Spiegel«-Ausgabe Nr. 11/2001 zum Thema »Die Psychologie von Herrschaft und Unterwerfung«. Im »Spiegel«-Artikel wird anlässlich des Filmes »Das Experiment« darüber berichtet, wie der Sozialpsychologe Phillip Zimbardo VPn in die Rolle von Wärtern und Gefangenen schlüpfen ließ und sie dann in einen simulierten Knast im Universitätskeller einsperrte. Der Auftrag an die Wärtergruppe, die per Los zusammengestellt wurde, wie für die Gefangenengruppe lautete: Sie sollten 14 Tage die Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Es dauerte kaum drei Tage, bis ein Terrorregime im Keller des Universitätsinstituts herrschte. Zimbardo fand in weit drastischerer Form als von ihm selbst erwartet seine Hypothese bestätigt: Nicht der Charakter, sondern die Umstände, der Kontext, bestimmen darüber, zu welcher Form der Grausamkeit ein Mensch fähig ist. Wo sich den Menschen die Möglichkeit bietet, andere ungestraft zu terrorisieren, tut er dies auch. Die experimentellen Daten wurden übrigens bis heute nicht publiziert mit der Begründung, das Experiment habe ja abgebrochen werden müssen. Immerhin hat Zimbardo über das »Stanford Prison Experiment« gerade (Juli 2008) einen Videofilm herausgebracht (Roller, 2008). Die Realität hat auch in diesem Fall das wissenschaftliche Experiment schon wieder überholt. Ich verweise auf Berichte und Bilder über die Folterszenen aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis im Irak.

Bisher wurden drei klassische Experimente aus der Sozialpsychologie zur Gruppenforschung vorgestellt. Zum Abschluss noch der Hinweis, dass es zwischenzeitlich sozialpsychologische Forschung gibt, die in komplexen Feldversuchen das Thema »Auflehnung gegen ungerechte Autorität« weiter untersucht hat. Inspiriert wurde diese Forschung u. a. durch Experimente von Serge Moscovici, der, angeregt durch die Pariser Studentenrevolten, 1969 eine Theorie des sozialen Einflusses von Minderheiten entwickelt hat.

Es gibt einen einzigen sehr groß angelegten sozialpsychologischen Feldversuch, der das Thema »Auflehnung gegen ungerechte Autorität« von einem deutlich prozessorientierten Standpunkt aus aufnimmt: Das Basisexperiment, das hier gemeint ist, wurde 1982 von Gamson, Fireman und Rytina durchgeführt. Die Versuchspersonen wurden ebenfalls über eine Anzeige in der Tageszeitung gefunden. Sie wurden zur Mitarbeit in vier Projekten gebeten, u. a. zu »Forschungen mithilfe von Gruppendiskussionen über Normen und Maßstäbe in der Gesellschaft«. Ergebnis des Experimentes war: Für den Widerstand gegen ungerechtfertigte Autoritäten einer Gruppe ist es erforderlich, dass ein oder zwei Mitglieder den Anfang machen. Auch unter den sehr gewährenden und freundlichen Umständen der MHRC-Experimente passierte das nur in dreiviertel der Gruppen. Es ist offensichtlich schwieriger, als man dies von außen vermuten würde, selbst unter relativ günstigen Bedingungen in einer Gruppe als Einzelner den vermeintlichen Konsens aufzukündigen. Das Hauptergebnis: Bevorzugt tun das solche Teilnehmer, die es gelernt haben, weil sie schon einmal in einer anderen Situation den Widerspruch probiert haben und damit erfolgreich waren. Die Autoren (Gamson et al., 1982) deklarieren nach diesen sehr elaborierten sozialpsychologischen Experimenten Missbrauch von Autorität als das primäre Thema des 20. Jahrhunderts – und im August 2008 hinzufügend: wohl auch immer noch des 21. Jahrhunderts. Nicht nur die Einübung von Gehorsam, sondern auch die Einübung von Widerstand gegen ungerechte Autorität wäre dann ein wichtiges und legitimes Lernziel in Schulen und Universitäten.

Denn, das können wir aus den einleitenden grundsätzlichen Überlegungen zum Gruppenbedürfnis und den sozialpsychologischen Forschungsergebnissen entnehmen:

Das tief verankerte menschliche Bedürfnis, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ermöglicht nicht nur Kooperation, sondern auch blinden Gehorsam und Machtmissbrauch.

1.2 Gruppendynamik

Wie soeben herausgestellt, führen Ergebnisse von Gruppenexperimenten nicht selten zu gesellschaftlichen Überlegungen. In der sozialpsychologischen Community wird u. a. die Ansicht vertreten, dass bereits der Effekt der Thematisierung zentral ist und wie oben angedeutet zu öffentlichen Debatten und ggf. zu Einstellungsänderungen, wie man hofft, führen kann. Die gruppendynamische Community geht nun einen Schritt weiter und macht die verändernde Wirkung von Gruppen zum Thema in den Gruppen selbst, in denen die jeweilige Untersuchung durchgeführt wird.

Berliner Schule