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Inhalt

 

1. Poison

2. Berlin

3. We Are One Family

4. Karla

5. Die Bank

6. Annäherung

7. The Day After

8. Holy Church of Rave

9. Mayday

10. Abflug

11. Die Welt-Revolution

12. Mythen

13. Angriff

14. Gier

15. Eskalation

16. Chill-out bei Sabine

17. Realität

18. Love Parade

19. Glück

20. Die anderen

21. Exit

22. Festnahme

23. Absturz

24. Viktorias Hintern

25. Führerkoks

26. Liebe

27. Coming Home

Danke

1. Poison

Felix leerte sein Glas in einem Zug, schaute wieder zu der Frau am Ende des Tresens und fragte sich, warum er ausgerechnet sie gerade geheiratet hatte. Er musterte ihre schmalen Hüften, die geraden, schlanken Beine und zierlichen Fesseln, ihr Anblick gefiel ihm. Auch an den großen, dunklen Augen und den kleinen, festen Brüsten, die er unter ihrem Shirt erkennen konnte, war nichts auszusetzen. Aber dennoch. Sie blickte kurz zu ihm herüber, er nickte ihr zu, sie reagierte nicht. Felix zuckte mit den Schultern und bestellte einen neuen Jägermeister. Seine Frau lächelte spöttisch. Der Schnaps brannte scharf im Hals.

Das war eine Zwangshochzeit, dachte er, sie hat mich völlig überrumpelt, meine Schwäche und Euphorie eiskalt ausgenutzt. Dagegen muss man vorgehen können, gleich nach dem Aufstehen werde ich einen Anwalt einschalten und das genau prüfen lassen.

Er hatte nur einen Abend mit seinen Freunden in der alten Heimat Düsseldorf feiern wollen. Einen richtigen Absturz hatten sie geplant, aber doch nicht gleich so einen Lebensabsturz, dachte Felix. Alles war sehr schnell gegangen, er konnte sich nicht einmal mehr richtig an die Zeremonie erinnern, und wo waren nur die Papiere? Auf dem Tresen lag nichts, fahrig tastete er seine Hosentaschen ab, mit einem schnellen Blick kontrollierte er den Boden neben dem Barhocker – sie mussten irgendwo sein, die Dokumente, die sein Schicksal besiegelten.

Wie würde er diese Spontanvermählung bloß den anderen erklären? Er verstand ja nicht einmal selbst, wie es dazu hatte kommen können.


Felix fühlte eine Erschütterung, er hörte die schweren, neu einsetzenden Bässe und drehte sich um. Hunderte Arme reckten sich zum DJ, ein Kreischen und Tosen schwappte wellengleich durch den riesigen Raum, er sah leuchtende Gesichter überall, er spürte das aufgeregte Wummern der Herzschläge, und beinahe hätte er sich mitreißen lassen, aber nein, dachte Felix, es gibt keinen Grund mehr, fröhlich zu tanzen, jetzt, da ich an den schwersten Ketten hänge, weil ich mal eben heiraten musste. Aber schön, dass auf meiner Hochzeitsfeier alle Spaß haben, alle – außer mir.

Der Ohlsen stieß ihn an.

»Mund auf!«

Felix tat mechanisch, wie ihm geheißen, er spürte das kleine, raue Ding auf der Zunge, zermalmte es zwischen den Backenzähnen und leerte schnell das angebotene Glas Wasser, weil er den bitteren Geschmack nicht ertragen konnte. »Auf euern Ohlsen ist eben Verlass«, sagte der Freund und lachte hell auf. Der Ohlsen, dem nichts mehr schmeichelte, als wenn man ihn »Gröraz« nannte, den »Größten Raver aller Zeiten«, wie er sich einmal selbst getauft hatte, schlug Felix und Mike auf die Schultern. Wenn der so lacht, dachte Felix und betrachtete fasziniert den riesigen Ohlsenschen Mund und damit sogleich die irren Ohlsenschen Gesichts-Proportionen, sieht er aus wie Jack Nicholson als Joker im Batman-Film.

Die klatschnassen Gesichter der beiden Freunde strahlten ihn an. Sie ahnten nichts. Es war tatsächlich so schnell gegangen, dass selbst sie nichts mitbekommen hatten.

»Mike«, sagte Felix leise, »siehst du das Mädchen dahinten am Tresen?«

»Ja klar, süß, die gefällt dir wohl?«

Mike winkte zu ihr herüber und prostete ihr zu.

Felix fiel ihm in den Arm.

»Nicht, hör auf damit. Ich habe ein Problem.«

»Was denn für ein Problem?«

»Nicht so laut Mike, leise.«

Mike kam noch näher und wiederholte betont flüsternd die Frage:

»Was für ein Problem?«

So lustig fand der Mike seinen eigenen Auftritt, dass er kaum an sich halten konnte. Der erkennt in keinster Weise den wahren Ernst der Lage, dachte Felix, der ahnt noch nicht, in welch fürchterliche Sackgasse ich gelaufen bin.

»Mike, ich habe die eben geheiratet.«

»Was?«

»Ich habe die eben geheiratet, ich weiß auch nicht, wie es passiert ist.«

»Na dann, herzlichen Glückwunsch.«

Mike wollte sich wieder zum Ohlsen drehen, aber Felix hielt ihn fest.

»Mike, bitte, glaub mir, das ist kein Witz. Ich bin das Opfer einer Zwangshochzeit geworden. Ich bin am Ende. Du musst mir helfen.«

Der Freund blickte ihn ernst an.

»Zwangshochzeit, ja?«

»Genau.«

»Mit der da vorne am Tresen, ja?«

»Exakt!«

Endlich nahm Mike ihn ernst, Felix fühlte sich sofort etwas besser.

»Ohlsen!?«

Mike zog den Ohlsen zu sich.

»Ja?!«

»Sag mal, was drückst du Felix eigentlich den ganzen Abend für Sachen rein?«

»Wieso?«

»Weil Felix glaubt, er habe die Maus da vorne gerade geehelicht.«

Der Ohlsen lachte und küsste Felix unvermittelt auf die Stirn. Mike hielt ihn fest.

»Ohlsen, Felix glaubt wirklich, er sei mit der verheiratet.«

»Au weia. Wie wäre es mal mit ein bisschen Wasser zwischendurch?!«

»Mike, ich …!«

»Schon gut, Felix, keine Panik, das kriegen wir alles wieder hin. Wie heißt deine Frau?«

Felix sah, wie ihre Mundwinkel zitterten und sie die Lippen aufeinanderpressten, aber er brauchte die beiden Freunde jetzt, er hatte keine andere Wahl.

»Ich, tja, ich habe es vergessen, keine Ahnung, aber das heißt gar nichts, ich …«

Schon war Mike mit einem Satz bei dem Mädchen, gestikulierte mit Händen und Füßen, zeigte zu ihm herüber. Felix fühlte sich wie einbetoniert auf dem Hocker, sah, wie sie ihn anstarrte, dann lachten sie, Mike und seine Frau hatten Spaß, so viel war klar, jetzt wischte sie kopfschüttelnd mit der flachen Hand fröhlich vor ihrem Gesicht herum, sie hielt ihn für bescheuert, so viel war auch klar. Gerade frischvermählt, schon behandelte sie ihn wie einen Spinner. Da habe ich einen richtigen Volltreffer gelandet, dachte Felix, das kann ja eine lustige Ehe werden. Er wäre gerne auf der Stelle verschwunden, er wusste bloß nicht wie und wohin.

»Entwarnung, Felix«, sagte ein aufgeräumter Mike, »keine Heirat, keine Probleme, sie heißt Yvonne und kennt dich nicht, sie hat noch nie mit dir gesprochen, aber du würdest seit Stunden zu ihr rüberstarren. Eigentlich findet sie dich ganz süß, du hättest sie ruhig ansprechen können, aber du bist ihr vielleicht doch ein bisschen zu drüber.«

Jetzt verleugnet sie mich auch noch, meine eigene Frau, resümierte Felix kurz, es ist nicht zu fassen.


Die Schwierigkeiten hatten schon früher am Abend begonnen. Nach seinem letzten Bewerbungsgespräch bei einer Bank auf der Kö hatte er sich mit den alten Freunden in einem Fischrestaurant getroffen, um seine absehbare Wiederkehr aus London zu feiern, wo er seit dem Studium an der Börse arbeitete. Schon da hatte der Ohlsen immer wieder seine Pillen, die er nur »Hostien« nannte, verteilt. Die anderen wollten weitertrinken, aber Mike hatte ihn gedrängt, auf jeden Fall noch mit dem Ohlsen ins Poison am Hauptbahnhof zu kommen.

»Vergiss die anderen«, hatte Mike immer wieder gesagt, »die verstehen rein gar nichts, die haben keine Ahnung«, und Felix musste ihm sofort recht geben. Der Roloff und der Tom, die alten Weggefährten, rümpften nur die Nase, wenn von Techno oder House gesprochen wurde, und das mit so einer Inbrunst und so einem Hass, wie man ja sagen musste, dass Diskussionen darüber sinnlos waren. Sie hatten ihren 80er-Jahre-Punk-Wave-Geschmack konserviert wie die früh vergreisten Alt-68er ihre Rock-Grausamkeiten, dachte Felix, es war zwecklos.

Kurz nach ihrer Ankunft im Poison hatte Felix die anderen beiden verloren und war durch den Club geirrt, immer aufgeregter war er geworden durch die üppigen Ohlsenschen Gaben, für eine kurze Zeit hatte er gar nicht mehr gewusst, wo er überhaupt war, also hatte er einfach getanzt. Immer besser hatte er sich dabei gefühlt, ganz vertraut waren ihm die wiegenden Massen um ihn herum allmählich erschienen, und plötzlich wusste er wieder, wo er war und was das alles zu bedeuten hatte: Das ist natürlich das Bewerbungstanzen der Bank, bei der ich heute war, hatte er begeistert gedacht, nur wer hier mithält, bekommt den Job. Und irgendwo da oben sitzen die Geschäftsführer und beobachten uns, das ist ja toll, dass die so etwas veranstalten. Da musste er lachen und schmiss die Arme noch höher, und was für sagenhafte Frauen sich auch um diese Stelle bewerben, hatte er denken müssen und sich noch mehr gefreut.

Eine tanzte direkt neben ihm, in sich versunken, die Lider halb geschlossen, ihre Bewegungen waren von einer lässigen Ernsthaftigkeit, gar nicht sattsehen konnte er sich an ihrem Körper, der sich elegant an die Töne schmiegte. Ihr blondes Haar lag wie ein goldener Schleier auf ihrem Kopf, und je länger er sie betrachtete, desto stärker spürte er den Zauber der Gemeinsamkeit. Ihre Bewegungen waren harmonisch auf seine abgestimmt, er spürte es genau, es war die hohe Poesie des getrennt Zusammentanzens.

In einer ruhigeren Phase fragte er sie: »Und wann hast du deine Bewerbungsunterlagen eingereicht?«

Sie riss die Augen weit auf und rückte etwas von ihm ab.

Vielleicht hat sie mich nicht richtig verstanden, dachte Felix, und schob seinen Mund noch näher an ihr Ohr: »Vielleicht werden wir ja bald schon Kollegen, ich würde mich freuen!«

Da stieß sie ihn vor die Brust und sagte etwas, das sich anhörte wie: »Was willst du denn?« oder »Wie bist du denn drauf?!«

Verwirrt war er zur Theke geeilt – und gleich in die Zwangshochzeits-Falle gestolpert.


»Felix, verstehst du mich? Du bist nicht verheiratet, das ist alles Quatsch, die Frau will nichts von dir, mach dich mal locker und trink endlich mehr Wasser!«

»Bist du dir sicher?«

»Völlig. Du kannst mir vertrauen!«

»Echt?«

»Mann! Ja!«

Ausgelassen lachten Mike und der Ohlsen ihn an, er stimmte mit ein und drückte beide an seine Brust. Sie hatten ihn gerettet, seine Zukunft, einfach alles, nie hatte er sich ihnen näher gefühlt, er wollte sie nie wieder loslassen.

»Felix?!«

»Ja?«

»Weißt du was, du bist völlig überarbeitet, das ganze Börsending macht dich kaputt.«

»Was meinst du?«

»Vergiss das mit den Bewerbungen in Düsseldorf und in Frankfurt. Was willst du denn da alleine? Das hier ist doch die Welt, wie wir sie wirklich wollen!«

Mit ausladender Geste wischte Mike mit einem Arm durch den Raum über die Köpfe der Tanzenden und Schreienden.

»Tolle Ansage, Mike, ich bin im Gegensatz zu dir kein Student mehr, ich muss irgendwo arbeiten.«

»Aber dann komm wenigstens mit uns nach Berlin, der Ohlsen ist schon da, ich ziehe nächsten Monat hin. Hier gibt es das Poison, da haben wir hundert Poisons. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was da gerade los ist, die Stadt kocht und brodelt, neue Clubs überall, die Parade, die irrsten Locations, alle feiern tagelang durch, da müssen wir doch dabei sein, bevor es zu spät ist.«

»In Berlin gibt es keine Jobs und kein Geld!«

»Mann, irgend so einen Bankenjob wirst du da doch auch finden. Vor allem einen, der dich nicht mehr so stresst.«

»Und du ziehst da auch hin, wirklich?«

»Ja klar, was soll ich denn noch hier? Erst du weg, jetzt auch noch der Ohlsen?! Überleg’s dir.«

Noch ehe Felix darauf etwas antworten konnte, war Mike mit dem Ohlsen schon zum Dancefloor geeilt, den es als abgegrenzten Ort gar nicht mehr gab, mittlerweile wurde überall getanzt. Einige waren auf den Tresen gesprungen, auf den im Raum verteilten Podesten drängelten sich Dutzende und mussten sich gegenseitig festhalten, um nicht herunterzustürzen, auch auf den Balustraden gab es keine Stillsteher mehr, eine ungeheuere Hocherregungs-Energie hatte alle erfasst, und dann verstand Felix auch, warum: Deutlich vernahm er ein bekanntes, helles Pulsieren, gefolgt vom Einsetzen des vorwärtstreibenden Beats, der von den spitzen Schreien der ganzen Halle begraben zu werden drohte – die gesamte Poison-Besatzung bejubelte völlig außer sich die Wahl des DJs: der Klassiker »The Age of Love«.

Felix sprang automatisch auf, bestellt werden konnte an der Theke ohnehin nichts mehr, denn wie er rissen sie auch hinter der Bar die Arme hoch und gaben sich dem Stück hin, das mit seinen leicht sphärischen Trance-Tönen Felix sofort an den Sound der großen Londoner Clubs erinnerte, die – wie die Läden im Rheinland – keine Angst vor dem Pathos der Musik kannten.


Felix stolperte zur Toilette, Frauen oder Männer, das war jetzt egal, es gab nur ein großes Miteinander, bei allem und überall. Vor den Kabinen drängten sich Pärchen und kleine Grüppchen, niemand stand vor den Becken an, im Vorbeigehen sah er durch eine halb offene Tür Mike über einem halb nackten Rücken, ein Gesicht, das ihn an seine Ehefrau vom Tresen erinnerte, ein Rock in Kniehöhe, vielleicht war es auch eine Jeans, Mike lachte gackernd und schlug die Tür zu. Der Ohlsen stürzte mit zwei Jungen aus einer anderen Kabine und sog lautstark Luft oder was auch immer ein, mit den Fingern ein Nasenloch fest zugepresst. Felix sah sich im Spiegel, ein verschwitztes Gesicht, rote Flecken überall, die Haare standen kreuz und quer, ein Mädchen küsste ihn ohne Vorwarnung schwungvoll auf den Mund, sie mussten beide lachen.

Felix wurde in der Halle von der Masse verschluckt und ließ sich einfach treiben, schwitzend und glückselig sah er überall glühende Körper, von innen erleuchtet durch den hellen, alles durchdringenden Schein der Musik.

Er liebte die nervöse Energie, die entstand, wenn der Bass aussetzte, er konnte sich nicht sattsehen an der Fassungslosigkeit in den Gesichtern – Der DJ nimmt uns einfach unseren Bass weg! – gefolgt vom wissenden Lächeln der Tanzgemeinde, der Vorfreude auf den erwarteten Effekt, die zärtliche Wut auf den DJ, der sie zappeln lässt, der ihre Blutzufuhr lustvoll unterbricht, wie dann alle immer lauter und energischer, immer fordernder nach dem Bass rufen, wie aus dem einzelnen Verlangen ein kollektiver Aufschrei wird, wie der DJ den Höhepunkt immer weiter hinauszögert, bis sie ihn anflehen, dass er sie endlich wieder beglückt, die unerhörte Sekundenbruchteilstille, ja, bitte, gib ihn uns wieder, und dann lässt der DJ endlich den Bass wieder auf sie fallen, wie eine frohe, mächtige Botschaft, eine Botschaft, dachte Felix, die von weiterem Glück und Auflösung kündet und uns gnadenlos eingehämmert werden muss, damit wir sie auch wirklich alle und restlos verstehen.

Nicht weit von sich sah er Mike und den Ohlsen ohne Shirts auf einem Podest, ihre Oberkörper glänzten, die Scheinwerfer flackerten über ihre aufgerissenen Gesichter, mit den Fingern bohrten sie tief in die Luft, sie winkten ihn zu sich, er schüttelte bloß den Kopf und lachte. Wenn es doch immer so sein könnte.

»Das hier ist doch die Welt, wie wir sie wirklich wollen!« Mike hat recht, dachte Felix, überwältigt von der Schönheit des Sounds und dem Zauber der Körperlichkeit inmitten der vielen anderen.

Schon zu lange hielt er es in London nicht mehr aus, den Gestank und den Dreck, die irrsinnige Hatz dort überall und zu jeder Zeit, den Geldwahnsinn in der City und in jedem noch so klar wirkenden Kopf, die unsichtbaren Mauern an jeder Ecke – deswegen bewarb er sich ja überall in Deutschland. Wie ein Besessener hatte er sich anfangs in den Finanzdistrikt hineingewühlt, von der London School of Economics gleich zu einem der führenden Bankhäuser, die Nervosität der internationalen Finanzströme war die Energie, die ihn angestachelt hatte. Teil des globalen Spiels sein, um jeden Preis, so effizient und analytisch wie die anderen in den Trade Rooms von Barclays, der großen britischen Bank, das war sein Ziel gewesen, überlegte Felix und merkte, wie er vom Rand in die Mitte des Raumes gespült wurde. Und als die Summen immer größer und seine Augenringe immer tiefer wurden, wusste er von einem Tag auf den anderen nicht mehr, warum er das alles machte. Plötzlich waren die Zahlenkolonnen auf seinem Schirm nur noch lang und stumpf, fort war die Magie, übrig blieb eine große Kälte, eine unbestimmte Sehnsucht, die er immer seltener bis zu den last orders im Pub um die Ecke wegtrinken konnte. Kurse rauf, Kurse runter, wen interessierte das wirklich? Er hielt das hohle Geschnatter seiner Kollegen so wenig aus wie die nervenden Pilgerfahrten der Besucher aus Deutschland, die ein London suchten, das es für ihn gar nicht gab.

Vielleicht hatte Mike recht. Wenn er jetzt nach Frankfurt oder Düsseldorf gehen würde, alleine, was sollte da so großartig anders sein? In Berlin gäbe es wenigstens noch etwas anderes neben den Zahlen, eine bessere Welt.

Er würde darüber morgen ernsthaft nachdenken müssen.


Irgendwann setzte die Musik abrupt aus, komplett. Die Stille dröhnte, die Menge konnte es nicht glauben, das durfte doch nicht wahr sein, dass es so etwas noch gibt, Sperrstunde?!

Wie einen zähen Lavastrom trieb es die Entrückten und Enttäuschten auf den Vorplatz, da dämmerte es, grau und diffus erschien das Licht, wer fährt noch wohin, kann man da mit, was ist mit dem Tribehouse in Neuss, und was mit dem Ratinger Hof? Der Ohlsen tanzte vor dem Bahnhof einfach weiter zu der Musik in seinem Kopf, seine Arme flogen durch die Luft, er lachte sein Joker-Lachen, er küsste eine kleine Blonde, sie grinsten sich an – und waren plötzlich weg.

Schweigend fuhr Felix im Taxi mit zu Mike, in ihnen hallte das Erlebte nach.

In der Wohnung legte sich Felix sofort auf das Sofa, der Freund hörte den Anrufbeantworter ab.

»Mist, Tom hat angerufen, wo wir denn bleiben würden, wir waren verabredet um sieben.«

»Wann hat der angerufen?«

»Um viertel nach sieben.«

»Und wie viel Uhr haben wir jetzt?«

»Gleich acht.«

Felix richtete sich auf.

»Warum ruft der morgens um viertel nach sieben an? Der spinnt doch.«

»Felix?«

»Ja?«

»Es ist acht Uhr abends, wir waren um 19 Uhr verabredet.«

»Wie? Du hast doch eben gesagt …«

»Felix, es ist Samstagabend, nicht Samstagmorgen, wir sind gestern Abend ins Poison gegangen, verstehst du, das war vor 24 Stunden.«

Felix starrte ihn an.

»Ich habe dir doch gesagt, du musst mal ein bisschen entspannen. Überleg dir das mit Berlin. Übrigens ist Karla auch da. Die ist mittlerweile ein richtig bekannter DJ.«

»Karla? Meine Karla?«

Mike lachte.

»Genau, deine Karla. Und jetzt Gute Nacht.«

Felix schloss die Augen, kleine Blitze explodierten hinter geschlossenen Lidern, ein Bass wummerte von ferne.

Karla, dachte er, wie lange habe ich ihren Namen schon nicht mehr gehört. Fast hatte er die Gedanken an sie schon erfolgreich verdrängt.

Vielleicht war Berlin tatsächlich eine gute Idee.

2. Berlin

Felix fuhr an der Siegessäule vorbei Richtung Brandenburger Tor, das Radio bis zum Anschlag aufgedreht.

Natürlich war das ein Umweg, wenn man von Charlottenburg nach Kreuzberg wollte, wo Mike auf ihn wartete, aber keine andere Straße löste ein ähnliches Hochgefühl in ihm aus, diese Weite, diese Größe, und am Ende keine Mauer mehr, er trommelte mit den Fingern begeistert auf das Lenkrad. In den 80er Jahren hatte seine ältere Schwester auf dieser Strecke immer das Tape mit Fisher Z eingelegt, deren Hit »Berlin« war der Sound für das Roadmovie, in dem sie die Hauptrolle spielten, wenn sie die Hauptstadt besuchten. Jetzt brachten ihn die ruhigen Beats von Radio Fritz in die richtige Stimmung für den Abend. Mit Mike würde er den Ohlsen und ein paar Freundinnen abholen und dann in die Nacht starten.

Noch keine Sekunde hatte er seinen Umzug nach Berlin vor ein paar Wochen bereut. Die Entscheidung war praktisch schon nach jener Nacht in Düsseldorf gefallen und später auch dann nicht mehr von ihm angezweifelt worden, als Angebote von Frankfurter und Düsseldorfer Bankhäusern kamen.

Große Namen, große Gehälter, das interessiert mich alles nicht mehr, hatte er bloß gedacht, dahinter verbirgt sich auch nichts anderes als eine weitere große Zeit- und Lebensvergeudung.

»Das ist doch die Welt, wie wir sie wirklich wollen!« – dieser Mikesche Wahrheits-Satz ließ ihn nicht mehr los. Er wollte nicht mehr nur darüber lesen, wenn da draußen in jeder Sekunde, in jeder Minute der Nacht Geschichte geschrieben und frisches Erfahrungskapital angehäuft wurde, er wollte sich seinen Teil persönlich abholen.

Überraschend schnell hatte er in Berlin bei einem Institut einen Job als Berater für vermögende Privatkunden bekommen. London School of Economics, mehrere Jahre in der City, das hatte gleich mehrere Geschäftsleitungen beeindruckt. Seine Unlust und sein plötzlich ganz grundsätzliches Desinteresse an der Finanzwelt konnte er für die Dauer der Einstellungsgespräche unterdrücken. Sie wollen doch die Heuchelei und die Lügen, das ist Teil ihres Geschäftes, hatte er in den Direktorenzimmern nur gedacht, kein Zweifel darf ihre klägliche Weltsicht erschüttern, dafür bezahlen sie mich, das ist der Deal. Er brauchte Geld für die Expeditionen in die Welt, die er wirklich wollte, das war alles.

Er wohnte in einer kleinen Hinterhaus-Wohnung in der Mommsenstraße in Charlottenburg, die Freunden seiner Eltern gehörte, Mike und den Ohlsen hatte es nach Kreuzberg verschlagen, ins alte SO36.

In der Nähe des Schlesischen Tors sprang Mike auf der Skalitzer Straße vor seinem grauschwarzen Altbau in das Auto, zusammen fuhren sie in die Wiener Straße, wo der Ohlsen in einem Hinterhof im vierten Stock wohnte.


Langsam gingen sie die Holztreppe hoch, ausgetretene Stufen, im Geländer fehlte jede vierte Sprosse, ein scharfer Brandgeruch zog durch den Flur; Felix hatte schon vergessen, dass es das tatsächlich noch gab: Kohleöfen. Weil sich alle so auf den Osten fixieren, bekommt niemand mehr das Elend in Teilen des alten Berliner Westens, wie hier in Kreuzberg, richtig mit, dachte Felix.

Während jede ostdeutsche Winzgemeinde möglichst viel Geld für, wie man ja sagen musste, möglichst unnötige, schon bei ihrer Planung klar als Fehlinvestitionen erkennbare Ausgaben bekam, zerfielen im Gebiet der früheren Bundesrepublik die kaputten Bezirke in Städten wie Bremen oder Dortmund oder eben der Hauptstadt zu noch kaputteren Sozialruinen, an denen alle Geldströme vorbeiflossen und in denen hohe, zweistellige Erwerbslosenquoten als normal galten. Gerade hier in Kreuzberg sah es praktisch noch aus wie in den zugemauerten 80ern, deren Schrebergartenmentalität lediglich ein paar schwäbische Autonomentrottel hinterhertrauerten.

»Herzlich willkommen in Cape Canaveral, die Triebwerke werden in wenigen Sekunden gezündet, die Herren kommen gerade rechtzeitig zum Vorglühen!«

Mit frisch gefärbten, raspelkurzen, weißblonden Haaren, die er stolz vor Tagen angekündigt hatte, stand der Ohlsen grinsend im Flur, barfuß, mit freiem Oberkörper und einer Camouflage-Hose. Er umarmte sie, als hätten sie gerade einen Flugzeugabsturz überlebt und sich seit dem Unglück aus den Augen verloren. Im sogenannten Wohnzimmer, in dem außer einem alten Sofa praktisch nur zwei riesige Boxentürme und deckenhohe Regale mit einer aberwitzigen Zahl von Platten standen, begrüßten sie Tessi und Doro, des Ohlsens aktuell liebste Ausgehfreundinnen.

»Coole Frisur, Ohlsen, was sagt denn dein Chef dazu?«, fragte Felix den Freund, der sich vor einen provisorischen Tisch aus Holzplatte und Backsteinen gehockt hatte und mit größter Konzentration ein paar Lines Speed baute. Der Ohlsen sah kurz auf, entblößte seine schneeweißen Zähne und sagte: »Das ist mir ab heute völlig egal!«

Felix und Mike blickten sich kurz an. Was für einen Job der Ohlsen in Berlin genau machte, hatten sie nie richtig verstanden, irgendwas bei einer Druckerei, von einem Traumjob hatte er gesprochen, wie es ihn nur wenige gebe, Dienstwagen und Verantwortung inklusive, nirgendwo anders wolle er arbeiten, nur da könne er sein wahres Talent frei entfalten, hatte er öfters getönt, ohne sie je mit Einzelheiten zu behelligen, aber dass er dabei auch auf Kunden traf und sein Chef extremen Wert auf ein tadelloses, seriöses Äußeres legte, das war niemandem entgangen.

»Was soll das bedeuten, Ohlsen, du sprichst in Rätseln!«

Tessi und Doro kicherten, der Ohlsen zog eine Pulverwurst durch ein silbernes Röhrchen und sammelte die Staubreste mit seinem angeleckten Zeigefinger auf.

»Ich habe heute gekündigt, und zwar fristlos!«

Triumphierend funkelte er sie an, Doro und Tessi küssten ihn von links und rechts auf die Wange wie einen Tour-de-France-Etappensieger. Mike kniete neben dem sogenannten Tisch mit offenem Mund, Felix versuchte, die Botschaft in ihrer ganzen Endgültigkeit zu verstehen.

»Wie meinst du das denn, Ohlsen?«, fragte Felix und ärgerte sich sofort darüber. Wie sollte der das schon meinen, wie sollte man den doch recht überschaubaren Satz »Ich habe gekündigt« denn anders verstehen können, als dass der Ohlsen offensichtlich gekündigt hatte?

»Der Techno-Gott hat mir ein Zeichen gegeben und mir bedeutet, ich solle mich nicht mehr durch profanes Tun ablenken lassen, sondern auf das Wesentliche konzentrieren.«

»Zahlt der Techno-Gott dafür auch?«, hörte sich Felix fragen und dachte sogleich, dass er heute den Rekord für überflüssige Bemerkungen locker brechen würde.

»Mann, Felix, wir sind kurz davor, die Weltherrschaft zu übernehmen, Millionen tanzen und kaufen Platten, das ganze Land feiert Tag und Nacht, überall entstehen neue kleine Firmen und Imperien, eine ganz neue Welt, da werde ich ja wohl irgendwo auch ein bisschen Geld verdienen können.«

Felix nickte stumm, Mike schüttelte den Kopf ohne erkennbaren Sinn.

Der Ohlsen sprang elektrisiert auf die Holzplatte, breitete die Arme aus und rief in den Raum: »Wenn ich mich entscheiden muss zwischen einem Bad in der Wanne und Surfen vor Hawaii, überlege ich doch auch nicht lange. Hier in Berlin rauscht gerade die Welle, the Big One, wer jetzt nicht mitsurft, wird die verpasste Chance wie eine nässende Wunde durch sein ganzes Leben tragen und in verzehrender Melancholie dem Unwiederholbaren hinterhertrauern. Das aber gilt es um jeden Preis zu vermeiden, das ist ab sofort unser aller Lebensauftrag, deswegen sind wir doch hier!«

Alle starrten den Ohlsen an, der sich wie ein Redner vor dem römischen Senat in Positur geworfen hatte, eine Hand auf dem Herzen, einen Arm weit in den Raum gestreckt.

»Wir sind mitten in einem historischen Umbruch, im Auge des Orkans. Wir alle haben die Anfangsphase irgendwie verpasst, aber egal, umso dringlicher ist es jetzt, ab sofort keine Kompromisse mehr einzugehen! Wir müssen in das warme Wasser der Menschenmöglichkeiten springen und dort schwimmen bis ans Ende unserer Tage!«

Tessi, Doro, Mike und Felix applaudierten ihrem Ohlsen, dem Größten Raver aller Zeiten, der sich theatralisch verbeugte und Mike gönnerhaft sein silbernes Röhrchen übergab.


Die Ohlsenschen Worte beeindruckten Felix, die Konsequenz erinnerte ihn auf das unangenehmste an die eigene Inkonsequenz, wie er sie nur nennen konnte. Er schleppte sich jeden Morgen in die Bank, wo er Leidenschaft simulierte, sobald es gefordert war, während er sich doch nur acht oder zehn zähe Stunden nach der wahren Leidenschaft sehnte, die sie nachts suchten.

Felix betrachtete lächelnd den Freund, der vor innerem Aufruhr kaum noch wusste, wo er mit sich und seinen Gedanken hin sollte.

Wen er wieder alles kennengelernt hatte, wo sie unbedingt heute noch hingehen müssten, wen er schon informiert habe und auf welchen Gästelisten sie ganz oben stünden, gar nicht mehr aufhören konnte der Ohlsen, der sich alle paar Sekunden wiehernd, wie Felix es nur bezeichnen konnte, so animalisch waren die Ohlsenschen Lachlaute, auf die Schenkel schlug, den großen Ohlsenschen Mund weit geöffnet, die perfekten Zähne bis zum rosaroten Zahnfleisch entblößt. Tessi und Doro nickten und glucksten, von Zeit zu Zeit schüttelten sie mit hochgezogenen Augenbrauen die Köpfe oder knufften ihm in die Seite, als könnten sie ihren Gröraz von den allerübertriebensten Übertreibungen zurückhalten.

Es ist diese irre Energie, die er ausstrahlt, der elektrisierte und elektrisierende Optimismus, den der Ohlsen verbreitet, dachte Felix, der wie nichts anderes den Geist, den wir alle wollen, auf den Punkt bringt. Nichts an dem Ohlsen ist Argwohn, keine schwarze Wolke streift je seine Gedanken, jedes Gegeneinander und jede Konkurrenz sind ihm so fremd wie die Vorstellung, auch nur einen Abend zu Hause zu bleiben, geschweige denn, alleine zu Hause zu bleiben – der Ohlsen ist ein echter sozialer Hochofen, fiel Felix beim Anblick des freudig erregten Freundes mal wieder auf, bei ihm schmelzen alle Barrieren, jeder Menschen-Eisblock taut neben ihm auf, die Auflösung aller Grenzen ist seine Mission, ihr Überschreiten sein höchstes Glück.

In einem atemberaubenden Tempo hatte er sich von der Berliner Szene aufsaugen lassen und war bereits stadtbekannt. Und nicht nur hier, sondern mittlerweile praktisch in der ganzen Republik, wie sie anerkennend bemerkten – wovon sie im Übrigen auch sehr profitierten. Der Ohlsen stellte sie überall vor und nahm sie mit, egal, wo er hinging, sodass auch Mike und Felix nach wenigen Wochen nahezu alle kannten. Der Ohlsen war aber schon weiter. Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt, München, ihr Freund war einer der Mobilsten im bundesweiten Raver-Zirkus, bei jedem Festival dabei, bei jeder Party anwesend, mit jedem DJ befreundet.

Er war stets der Erste, der es auch morgens um fünf für eine fantastische Idee hielt, nur für eine Afterhour, die natürlich sensationell werden würde, wie man ihm aus zuverlässigster Quelle mehrfach versichert hatte, mal eben mit einem viel zu kleinen Auto und viel zu verstrahlten, eben erst kennengelernten Nachtgefährten von Berlin nach Frankfurt oder München zu rasen. Nie hatte er sich darum geschert, ob er am nächsten Tag arbeiten musste oder nicht, gewundert hatten sie sich alle schon oft genug, wie er dieses Doppelspiel körperlich und auch ganz praktisch überhaupt durchhielt. Sein Schritt war so gesehen, dachte Felix, tatsächlich der konsequenteste, wobei man nicht ausschließen konnte, dass er nicht wirklich freiwillig erfolgt war, aber das tat nichts zur Sache.

Aufgekratzt drängte der Ohlsen indessen zur Eile, man sei schon spät dran, der bevorstehende Termin sei von allergrößter Wichtigkeit. Flink leckte er letzte Reste aus dem Papiertütchen auf dem Tisch, steckte sich ein paar Geldscheine in die Tasche, schnappte sich seine Jacke vom Sofa und schob sie alle, unentwegt redend, zur Tür.


Auch im Wagen ließ sich der Ohlsen nicht von den scheppernden Boxen oder dem Desinteresse aller Insassen stören, sondern rauchte eine Zigarette nach der anderen und erklärte in einem fort die neusten Entwicklungen und Verästelungen der Berliner Szene, während sie zu einer Podiumsdiskussion tief im Ostteil der Stadt fuhren, die sie, wie er mehrfach betonte, unter gar keinen Umständen verpassen durften, weil da heute alle, wirklich alle wichtigen Figuren auftauchen würde. Der Pate selbst sei Teil der illustren Diskutanten-Runde, auch der Professor habe sich angemeldet, sowie einige wichtigtuerische Techno- und Paraden-Gegner, das müsse man sich unbedingt ansehen, wer etwas auf sich halte, sei da und nirgendwo anders.

Im Rückspiegel beobachtete Felix, wie sich ein hektischer Mike sehr intensiv mit Tessi unterhielt, die mit ihrer Freundin Doro als Promoterin bei einer Plattenfirma arbeitete. Sie hatten Kreuzberg noch nicht verlassen, als er eine Hand von Mike unter ihrem Shirt zu erkennen glaubte, bei einem weiteren flüchtigen Blick keine fünf Minuten später sah er die Körper der beiden schon hemmungslos ineinander verkeilt neben der entspannt nach draußen schauenden Doro.

Felix musste grinsen.


Eigentlich ist Mike ein großer Romantiker, dachte er, oder vielleicht musste man sagen, er war mal ein großer Romantiker. Jahrelang hatte er nur für seine Kunststudentin gelebt, Melissa. »Es war ein großer Donnerschlag vom ersten Augenblick an, Felix«, hatte er ihm damals gesagt: »Die Suche hat ein Ende, ich habe das Wünschenswerte gefunden, mein Liebesdurst hat eine Quelle entdeckt, die alles stillt.«

Mit so viel Zartheit hatte er noch nie von jemandem gesprochen, überlegte Felix, die ganze Welt war für Mike mit Melissa aus ihrer grauen Kruste gebrochen und verwandelte sich zu einer warmen Sonne, die ihn erhitzte und seine Leidenschaft befeuerte. Seine Gefühle waren so groß wie seine Leidensbereitschaft, er ließ sich nicht beirren. Nicht durch den Freund, den sie schon seit Jahren in einer anderen Stadt hatte, wie sich bald herausstellte, nicht durch das ewige Warten auf neue Gelegenheiten, das entwürdigende Versteckspiel, die Lügen, das Halbverborgene, zu dem sie ihn zwang. Wir gehören zusammen, was spielt Zeit da für eine Rolle, sagte Mike, wenn jemand Kritik andeutete oder zur Vorsicht mahnte. Nach drei Jahren wurde Melissa von ihrem offiziellen Freund schwanger, heiratete ihn und zog nach München. Mike sagte trotzig: Ich bereue nichts. Und versank in den Tiefen trübster Depression.

Mike irrlichterte damals durch die Nächte, Verzweiflung dort, wo einst sein Herz saß. Er wollte dieses Gefühl wieder, um jeden Preis. Er wollte nichts Schnelles, nichts Profanes, erinnerte sich Felix, aber er wurde immer wahlloser, jede könnte es ja sein. Er sprach sie an. Er redete mit ihnen. Er hörte ihnen zu. Er wollte in ihren Worten und Gesichtern etwas finden, an dem er sich festhalten konnte, etwas, das ihn an sie binden und die Leere füllen würde, wie er nach solchen Abenden immer resignierter bei den endlosen Telefonaten erzählte, mit denen sich Felix in London auf dem Laufenden hielt. Mike wollte um jeden Preis wieder das Gefühl spüren, das er von Melissa kannte. Felix verstand ihn genau, ihm war es jahrelang nicht anders gegangen mit Karla, seiner großen, unerfüllten Liebe von einst. In diesem Moment wurde ihm wieder einmal schmerzlich bewusst, dass er sich immer noch nicht getraut hatte, sie einmal anzurufen – obgleich sie jetzt doch in derselben Stadt waren.

Mike ging damals den radikalen Weg. Er mied jeden geschlechtlichen Kontakt, der erschien ihm zu banal auf der Suche nach Vollkommenheit. Aber als er nach vielen Monaten merkte, dass das alles nichts brachte, das Reden und Verstehen, das Zuhören und Reizen, dass das alles nichts half, und gar nichts anderes mehr ging, blieb ihm eben, wie er Felix ernüchtert sagte, nur noch die alte Methode: Geschlechtsverkehr.

»Je mehr und je flüchtiger, umso lieber«, stellte Mike sachlich fest, »das ist besser als jedes Scheinglück, eine befriedigende Beziehungslosigkeit in dieser kalten Zweifelswelt, eine realere Zuflucht gibt es für mich nicht.«

Wenn er nicht mindestens mit zwei verschiedenen Frauen in der Woche Sex hatte, wurde Mike ungenießbar. Meistens hatte er gute Laune.

Mike studierte seit sehr vielen Semestern Kunst, verdiente aber sein Geld mit Flyer- oder Plakatgestaltung, oder in selteneren Fällen auch mit Landvermessung. Nach Abitur und Zivildienst hatten seine Eltern ihn mit größtem moralischen und finanziellen Druck gezwungen, nicht zu studieren, sondern eben Landvermesser zu lernen, um später das Landvermessungs-Büro des Vaters zu übernehmen. Mike hatte zunächst der Erpressung nachgegeben, um dann Jahre nach seinen Freunden endlich mit dem eigentlichen Wunsch-Studium zu beginnen, das ihn aber nicht so beglückte, wie er sich das ausgemalt hatte.

Während Felix ihn immerzu um die Inhalte und Möglichkeiten des Faches beneidete, das ihn doch zum Hochsitz der Kultur führe, während er selbst, Felix, sich der hohlen Trostlosigkeit der Ökonomie widmen müsse, sprach Mike dagegen immer nur vom »Hochsitz der Dunkelheit«, von dem ihn nur Techno und House hätten retten können.

Und heute Abend anscheinend Tessi, dachte Felix mit einem erneuten Blick in den Rückspiegel, da geht es ihm auf jeden Fall schon einmal besser als mir.