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I

Palast der Republik

Als der Palast der Republik eröffnet wurde, war ich in der dritten Klasse. Meine Klassenlehrerin hieß Fräulein Kies, und Fräulein Kies hielt einen bedruckten Briefumschlag in die Höhe, auf dem der neue Palast zu sehen war, und erklärte uns, was Ersttagsbriefe sind. Damals fiel mir noch nicht auf, daß das Wort Ersttagsbriefe nicht nur die gleiche Silbenanzahl, sondern auch ähnliche Vokale besitzt wie das Wort Eintagsfliege. Fräulein Kies sagte uns, daß jetzt jeder von uns einen solchen Ersttagsbrief erhielte, daß wir ihn gut aufheben sollten, denn später einmal würden wir stolz darauf sein, daß wir dabei waren, als der neue Palast eröffnet wurde. Nach der Überreichung der Ersttagsbriefe durch Fräulein Kies unternahm unsere Klasse einen Ausflug in den neueröffneten Palast des Volkes.

Damals wollte ich noch Archäologie studieren, um Paläste auszugraben, deshalb gefielen mir die verschiedenen Arten von Marmor unten bei den Garderoben. Oben in der Bildergalerie war alles mit Teppichen ausgelegt. Ganz oben, unter der Decke, hingen die Lampen, die aussahen wie lauter Luftblasen, so daß man sich vorstellen konnte, man sei unter Wasser. Diese Lampen hatte der Betrieb organisiert, in dem meine Tante Sigrid arbeitete. Dieser Betrieb war auch für die Bestecke im Palastcafé zuständig gewesen, also für die Löffel, mit denen ich im weiteren Verlaufe meines Lebens erst den Kakao, später den Kaffee umrührte, und für die Messer und Gabeln in der Weinstube, mit denen ich, wenn mich mein erster Freund zum Essen ausführte, ins Eisbein schnitt oder ins Schnitzel Hawaii. Im Palast der Republik klemmte ich mir beim Bowling den Finger zwischen zwei Kugeln ein, beschloß im Theater, 4. OG, nach dem Klavierkonzert einer berühmten Pianistin, Pianistin zu werden, rückte in der Weinstube mit Blick auf die Spree an den schweren, schmiedeeisernen Stühlen, um mich bequem zu setzen.

 

Als sich viele Jahre später abzeichnete, daß dem Palast die Republik allmählich abhanden kam, ließ ich zur Sicherheit einen der Löffel, mit denen meine Tante das Café ausgestattet hatte, in meiner Hosentasche verschwinden. Vor drei Tagen nun konnte ich, als ich dort vorbeifuhr, schon durch den Palast hindurchsehen. Womöglich aus statischen Gründen hat man mit dem Abriß in der Mitte begonnen, so daß die Teile, die noch aus etwas sind, den mittleren Teil einrahmen, der im Prinzip nur noch aus Luft ist. Mir fiel Fräulein Kies wieder ein, und ich fragte mich, ob sie sich heutzutage wohl Frau nennen dürfte, auch wenn noch immer kein Mann sie geheiratet hat.

II

Sperrmüll

Von dem Moment an, da der Besitzer eines alten Schranks / Fernsehers / Fahrrades das Ding über die Rampe kippt, von dem Moment an, wo es »drin« ist, wie das auf den Höfen der Berliner Stadtreinigung genannt wird, gehört es nicht mehr ihm, sondern geht in den Besitz dieses Unternehmens über. Einzig zu diesem Zweck besitzt die Berliner Stadtreinigung das Ding: Um die Stadt von ihm zu reinigen, es angemessen zu vernichten. In dem Moment, da von den privaten Besitzern der Besitz aufgegeben wird, heißt das Ding nur noch das Material, aus dem es gemacht ist. Holz zu Holz, Metall zu Metall und so weiter – unter diesen Namen reißt die Stadt das alte Zeug an sich, verschlingt es, mitsamt Funktion und Gebrauchswert, den es vielleicht noch hat, mitsamt Mehrwert und Geschichte, die es womöglich gehabt hat, denn erst, wenn das Alte ganz und gar verschwunden ist, kauft sich ein Bewohner dieser Stadt, ein Kunde auf dem Markt das Neue.

 

Hieße das Fahrrad da drüben nicht schon Metall, würde es sicher noch fahren. Aber mit sowat fangen wa ja gar nicht erst an, dann jäbs ja ’ne Schlange von hier bis nach Kreuzberg, sagen die Männer, die die Container verschließen und abtransportieren. Früher einmal stellte man seinen alten Schrank auf die Straße, der war dann nach spätestens einer Nacht weg. Schlangen aus Mangel gabs im Krieg und später im Osten, aber dort sollen sie auch bleiben, in den historischen Büchern, auf den schwarzweißen Fotos, in Zeitzeugenberichten. Im Westen gabs immer Bananen, und dabei soll es auch bleiben. Wir wolln och nur unsre Arbeit machen, sagen die Männer. Und wenn hier lauter Müllsucher, ick nenn et mal so, herumkrabbeln würden, käme ja keener mehr ran, der wat rin schmeißen will. Nicht einmal die Männer selbst dürfen etwas, das »drin« ist, wieder heraussortieren. Und wenn, sagen wir mal, ein unersetzlicher Biedermeierschrank bei Ihnen landet? Dann och nich. Wenn ich also in den Container steigen würde (im Müll herumkrabbeln), könnte ich ein solches verlorengegebenes Möbelstück zwar anfassen, aber, rein rechtlich gesehen, wäre es dennoch schon vollkommen verschwunden? Jawoll. Nicht einmal abkaufen dürfte ich Ihnen den Schrank? Nee. Höchstens uff der menschlichen Ebene, also ick meine, menschlichet Versagen, det jibt et ja manchmal. Aber erlaubt isset nich.

Was ich nicht frage, aber dennoch gern gewußt hätte, ist, ob die Schönheit eines solchen Schranks nach dem Zerhacken wieder herauskommt und zum Himmel auffliegt, so wie man es von den Seelen sagt, und ob das reine Holz dann ein paar Gramm leichter wäre als zuvor.

 

Vor dem städtischen Reinigungsunternehmen sitzen oft Menschen aus fernen Ländern, die Fernseher, Kühlschränke und Lautsprecherboxen entgegennehmen, bevor die ins Verschwinden hineingekippt werden. Ob es in deren Sprachen das Wort Biedermeier überhaupt gibt, und wenn ja, wie es lautet, habe ich leider noch nicht in Erfahrung gebracht. Meine letzte Hoffnung gilt jetzt dem sogenannten menschlichen Versagen.

III

Erinnerungen

An Abschiede erinnere ich mich. Wie schmal und weiß R. unter seinem Haarschopf aussah, als ich ihm das letzte Mal auf Wiedersehen sagte, und er mir zunickte, ohne den Kopf vom Kissen zu heben, nur, indem er die Augen kurz schloß; wie ich nicht noch einmal zu seinem Bett ging, sondern einfach die Tür hinter mir zumachte. Am nächsten Tag mußte ich seine Sachen aus dem Krankenhaus abholen, darunter den Rasierapparat, den ich am Tag zuvor für ihn aufgeladen hatte. Der Rasierapparat war aufgeladen, aber R. war tot.

 

Meine Großmutter stand, als ich von ihr fortging, an einem Fenster in einem dunklen Zimmer und winkte mir nach, erleuchtet wurde ihr Umriß nur von dem Licht, das hinter ihr im Flur brannte, in dem wir uns eben verabschiedet hatten. Zwei Tage später stürzte sie, und ich sah sie mit unbewegtem Gesicht und geschlossenen Augen im Krankenhaus wieder, wo sie im Koma lag und einige Zeit später starb.

 

Ich erinnere mich daran, wie R. nickte, nachdem er etwas begutachtet hatte, ein Auto, eine neue Wohnung, ich erinnere mich, wie er mitschnaufte, wenn in einem ungarischen Lokal Zigeunermusik gespielt wurde, ich erinnere mich an seine hochgezogenen Schultern, wenn er ein Tablett zurück in die Küche trug. Von meiner Großmutter weiß ich noch, wie sie »Achoj, achoj« sagte, wenn sie sich beeilte und nicht wußte, was zuerst tun, ich erinnere mich an ihre Hände mit den krummen Fingernägeln und an ihr Lachen. Beim Lachen allerdings weiß ich schon nicht mehr genau, ob ihr Mund dabei offen war oder zu, aber ich weiß immerhin, wie es sich angehört hat, und wie das Lachen im Lachen über sich selbst allmählich verebbte.

 

Es ist wenig, was ich mit meiner Erinnerung noch anfassen, sehen und hören kann. Das Denken von jemandem, den es nicht mehr gibt, läßt sich in mein Denken übersetzen, und das Tun desjenigen in mein Tun, aber der handgreifliche Teil der Erinnerungen wird wohl selbst früher oder später Stückwerk, wenn die Wirklichkeit nicht mehr nachwächst, wird Skelett, wird einzelne Knochen mit viel Erde dazwischen. In letzter Zeit sitze ich oft jemandem gegenüber, der noch vollkommen lebendig ist, und schaue ihn dennoch so an, als sei er schon verschwunden. Ich sortiere dann, halb hoffend, halb voller Scham, aus dem noch laufenden Film die Momentaufnahmen heraus, als könnte ich meine Erinnerungen im vorhinein auswendig lernen, damit sie später ganz sicher abrufbar wären. Auch was mich selbst angeht, habe ich schon darüber nachgedacht, ob mein Naseputzen irgend jemandem im Gedächtnis bleiben wird, oder die Art, wie ich im Fernsehen einem Boxkampf zusehe, oder meine Knie.