image
image
image
image
image

Inhalt

Vorwort

IMAGE

Dieses Buch geistert schon eine Weile in meinem Kopf herum. Seit über fünf Jahren schreibe ich bei SPIEGEL ONLINE in meiner Numerator-Kolumne regelmäßig über Mathematik. Meist geht es darin um Geschichten aus der modernen Wissenschaft, zum Beispiel um die Frage, wie Google die Trefferliste einer Suchanfrage berechnet. Mit einem System aus Milliarden Gleichungen. Es geht auch um Alltägliches wie den Trick, der die Zeit in der Warteschlange des Supermarkts verkürzen kann.

Ich weiß aus den Klickstatistiken, dass sich viele Menschen für Mathematik interessieren. Die meisten Texte werden mehr als 100.000 Mal aufgerufen. Ich weiß aber auch, dass das Fach die Menschen in zwei Lager spaltet wie kein anderes. Die einen lieben es, die anderen bekommen Albträume. Warum ist das so? Weshalb fragen mich gestandene Journalistenkollegen verschämt, wie man mit Prozenten rechnet? Fehlt ihnen ein Gefühl für Zahlen?

Spontan fielen mir keine schlüssigen Antworten darauf ein. Also begann ich zu recherchieren. Ich habe dabei Dutzende Bücher und Fachartikel von Mathematikern sowie Didaktikern gelesen. Nach und nach haben sich dabei die zentralen Thesen herauskristallisiert, die Sie in diesem Buch wiederfinden.

Es gliedert sich in drei Teile. In den ersten drei Kapiteln geht es um die Frage, wie viel Mathematik in uns Menschen steckt. Die Natur gibt uns eine Menge mit – Sie werden staunen! Sie erfahren auch, warum Rechnen eine sehr anspruchsvolle, aber zugleich völlig überschätzte Aufgabe für unser Gehirn ist.

Im vierten Kapitel geht es um die Frage, wie trotz unserer an sich guten Voraussetzungen Mathephobien entstehen können. Sie ahnen es womöglich, viel hängt vom Lehrer ab, mit dem man als Kind nun mal zu tun hat. Aber auch Eltern können einiges falsch machen und Heranwachsenden die durchaus vorhandene Lust auf das Fach austreiben. Entscheidend ist letztlich, Kreativität und eigene Wege zuzulassen. Wer als Schüler vorgeschrieben bekommt, wie er denken soll, verliert den Spaß daran.

In den verbleibenden Kapiteln nehme ich Sie dann mit auf eine spannende Reise in eine Mathematik, wie Sie sie aus der Schule kaum kennen werden. Mit welchen Tricks löst man scheinbar unlösbare Aufgaben? Entdecken Sie die betörende Schönheit und Kraft klarer Ideen, wie sie auch Albert Einstein hatte. Erleben Sie die Mathematik als Kunst – und nicht als kaum durchschaubares Werkzeug zum schematischen Lösen von Aufgaben.

Nicht zuletzt geht es in diesem Buch auch um ein großes Missverständnis, das leider, wie Mediziner sagen, chronisch geworden ist. Mathematik hat nämlich herzlich wenig mit dem zu tun, wofür viele das Fach halten.

Die gängige Meinung kennen Sie: Mathematik heißt rechnen, Zahlen in Formeln einsetzen, Sachaufgaben lösen. Dass Mathematik etwas ganz anderes ist, als stupide Zahlen in Formeln einzusetzen, die kaum jemand verstanden hat, wissen selbst viele Mathelehrer nicht. Sie haben das Fach genauso erlebt wie viele andere Mathegeschädigte auch. Es gibt Aufgaben, es gibt vorgegebene Lösungswege – und nur wer alles richtig einsetzt, kommt am Ende auf die korrekte Lösung.

So stecken Lehrer, Schüler und Eltern in einem Teufelskreis. Erwachsene lehren Kinder das Fürchten vor dem Fach, und wenn die Kinder groß sind, machen sie’s genauso. Ein Teil der Menschen schafft es irgendwie doch, sich den Weg durch Geometrie und binomische Formeln zu bahnen. Alle anderen gehören zu jenen, die es angeblich einfach nicht kapieren.

Umso schlimmer, dass manche Lehrer und Bildungspolitiker die Mathematik dann auch noch als eine Art Scharfrichter betrachten, der intelligente von angeblich weniger intelligenten Kindern trennt. Mathematik zählt wie Deutsch zu den Kernfächern. Wer es kann, hat das Zeug für höhere Weihen, aber alle anderen müssen sich gewaltig strecken, damit sie nicht aussortiert werden. Das deutsche Bildungssystem macht traditionell nämlich genau dies. Eine schlechte Mathenote kann dazu führen, dass Schüler keine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen oder aber einen miesen Abiturdurchschnitt haben.

Dass so viele Menschen mit Mathematik große Probleme haben, gilt nicht etwa als Indiz für einen möglicherweise grottenschlechten Matheunterricht – nein, es wird vielmehr als Bestätigung dafür gesehen, dass eben nicht jeder Mathematik kann. Ein folgenschwerer Irrtum!

Je mehr Löcher, desto weniger Käse, heißt dieses Buch. Ja, Mathematik kann wirklich genauso einfach sein wie die Erkenntnis, dass Luft kein Käse ist. Es ist eine Banalität, aber selbst kompliziert erscheinende mathematische Probleme können sich als Banalität erweisen, wenn man sie nur geschickt anpackt. Spannende Beispiele dafür finden Sie in den Kapiteln 5 und 6.

Dass Mathe ganz anders sein kann als in der Schule, werden Sie – so hoffe ich – auch beim Knobeln herausfinden. Sie finden in diesem Buch nämlich 40 ausgesucht schöne Aufgaben verschiedener Schwierigkeitsgrade, an denen Sie sich ausprobieren können. Manche habe ich mir selbst ausgedacht, andere habe ich bei der Recherche in Büchern oder dem Aufgabenarchiv von Matheolympiaden entdeckt. Die Zahl der Sterne neben jeder Aufgabe verrät Ihnen, wie anspruchsvoll diese ist. Ein Stern steht für leicht, bei vier Sternen müssen Sie sicher etwas länger nach der Lösung suchen. Geben Sie nicht zu früh auf und schielen Sie nicht gleich nach den Lösungen! Mit jeder Aufgabe, die Sie allein schaffen, wächst Ihr Selbstvertrauen.

Wie auch immer Sie zur Mathematik stehen – ich bin mir sicher, dass Sie nach dem Lesen dieses Buches Ihre Einstellung ändern werden. Mathematik ist wie Fußball, wie Musik, wie ein Brettspiel: Es gibt klare Regeln, man kann das Spiel ganz schematisch betreiben. Wer aber wirklich Spaß haben will, wird kreativ.

Viel Spaß beim Lesen, Denken, Knobeln und Entdecken!
Holger Dambeck

Ihre Meinung ist gefragt

Haben Sie Hinweise zu diesem Buch, Kritiken oder einen Fehler entdeckt? Ich freue mich über Ihre Rückmeldung! Sie erreichen mich per E-Mail unter
holger_dambeck@spiegel.de
oder über die Numerator-Seite
www.spiegel.de/thema/numerator/im Netz.

Verblüffend: Unser Zahlensinn

IMAGE

Schon im Alter weniger Monate können Babys einfache Additionen ausführen. Die Zähl- und Rechenkünste kleiner Kinder verblüffen, sie sind offenbar angeboren. Woher aber kommt unser Zahlensinn? Und wie viel Mathematik steckt in jedem von uns?

Die Sesamstraße gibt eine Einführung in die Mengenlehre: Ernie sitzt vor einem Teller mit fünf Keksen, die Bert gehören. Er soll auf sie aufpassen, denn wenn das Krümelmonster vorbeikommt, ist es um die Kekse geschehen. Aber auch Ernie hat mächtigen Appetit auf die süßen runden Dinger. Schließlich nimmt er einen in die Hand und sagt: »Bert würde es bestimmt nicht stören, wenn ich ein bisschen davon abknabbere.«

So nimmt das Unheil seinen Lauf. Ernie knabbert und knabbert noch ein bisschen mehr – plötzlich ist der Keks schon halb aufgegessen. Er versucht dann, den Keks wieder rund zu beißen. Dummerweise ist er aber längst viel kleiner als die anderen. Damit das Malheur nicht auffällt, beschließt Ernie, dass der Keksrest ganz verschwinden muss – im eigenen Mund.

Dann kommt Bert. »Ich möchte jetzt meine fünf Kekse essen«, sagt er und zählt sie noch einmal durch. »Eins, zwei drei, vier – Ernie, es sind nur vier.« »Bist du sicher?« »Ja, ganz sicher.« Ernie ist in der Klemme, aber er hat eine Idee: »Moment, lass uns die Kekse mal ein bisschen auf dem Teller verschieben.« Er tut es und ordnet die Kekse zu einer Reihe an. »Jetzt sind es vielleicht wieder fünf«, meint er.

Die Keksschiebenummer misslingt natürlich. Mathematiker nennen dieses Phänomen Mengeninvarianz. Sie meinen damit, dass es egal ist, wie man Kekse anordnet – ihre Anzahl ändert sich dadurch nicht. Das Erstaunliche ist, dass bereits Babys dieses Phänomen kennen. Die kleinen Schreihälse vermitteln zwar nicht unbedingt den Eindruck, als ob sie wüssten, was Mengen sind, aber ihnen ist klar, dass Ernies Verschiebeaktion nie und nimmer gelingen kann.

Babys können Mathe – diese überraschende Erkenntnis ist gerade mal 30 Jahre alt. Denn nach den Theorien des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896–1980) sollten Kinder frühestens ab fünf Jahren ein Verständnis für Zahlen entwickeln. Beleg dafür war unter anderem ein Experiment mit sechs Flaschen und sechs Gläsern, das sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Keksnummer aus der Sesamstraße hat.

Die Gläser und Flaschen bildeten je eine Reihe. Beide Reihen waren parallel zueinander angeordnet, der Abstand zwischen zwei Flaschen und zwei Gläsern war gleich. Der Versuchsleiter befragte dann vierjährige Kinder, ob es mehr Flaschen oder mehr Gläser seien. Gleich viele, antworteten alle Kinder. Offensichtlich hatten sie eine Eins-zu-eins-Übereinstimmung zwischen den beiden Reihen hergestellt.

Piagets Irrtum

Dann stellte der Erwachsene die Gläser weiter auseinander, die Glasreihe verlängerte sich dadurch. Die Flaschenreihe blieb hingegen unangetastet. Auf die Frage, ob es nun mehr Gläser oder Flaschen seien, antworteten viele Kinder, es gebe mehr Gläser. Der Zahlensinn ist im Alter von vier noch nicht entwickelt, folgerte Piaget. Den Kindern fehle das Konzept der Mengeninvarianz, weil sie nicht verstünden, dass sich eine Anzahl nicht ändere, wenn Objekte verschoben würden.

Piaget interessierte sich als Psychologe natürlich nicht nur für das Zahlenverständnis, sondern auch für Lernprozesse, das Sprachvermögen und die motorischen Fähigkeiten von Kindern. Seine Arbeiten revolutionierten die Psychologie, denn sie beruhten auf Experimenten, teils mit seinen eigenen Kindern. Doch leider waren manche von ihnen, wie man heute weiß, mangelhaft durchgeführt – und die Schlussfolgerungen deshalb falsch. Beim Gläserrücken hatte Piaget nicht berücksichtigt, dass das Gespräch zwischen Versuchsleiter und Kind den Ausgang des Versuchs beeinflussen kann. Denn die Vierjährigen glaubten, dass sich die Menge der verschobenen Gläser tatsächlich verändert haben musste – warum hätte der Erwachsene sonst gezielt danach gefragt?

Kaum durchführbar erscheinen angesichts dieser Probleme Experimente mit Säuglingen. Kann man überhaupt herausfinden, was in dem Kopf eines Babys vor sich geht? Frischgebackene Eltern scheitern ja regelmäßig daran, das Geschrei ihres Nachwuchses richtig zu interpretieren. Wie sollen dann erst Forscher verstehen, was die Kleinen wahrnehmen und denken?

Im Jahr 1980 hatte der Psychologe Prentice Starkey eine Idee. Wenn Babys schon nicht sagen können, was sie sehen, verstehen oder denken, dann könnte man aber doch zumindest schauen, ob sie sich für eine Sache interessieren. Gewöhnliches ist langweilig – Überraschendes, Unerwartetes und Ungewöhnliches ist spannend, so das Kalkül des Forschers. Das müsste sich auch im Verhalten der Kinder zeigen.

Er holte insgesamt 72 verschiedene Säuglinge im Alter von 16 bis 30 Wochen in sein Labor an der University of Philadelphia. Auf einem Bildschirm bekamen die Kinder Punkte zu sehen. Anfangs waren es immer zwei Punkte, nur ihre Anordnung änderte sich. Starkey ließ bei jedem Kind stoppen, wie lange es auf den Monitor mit den zwei Punkten starrte – im Schnitt zwei Sekunden.

Dann passierte etwas Neues: Beim Wechsel von einem Bild zum nächsten änderte sich nicht nur die Anordnung der Punkte, es kam noch ein dritter hinzu. Und das weckte nachweisbar die Aufmerksamkeit der Babys. Sie schauten eine halbe Sekunde länger hin. Die Kinder hatten den Übergang von zwei zu drei bemerkt, folgerte Starkey, verfügten also bereits über ein elementares Zahlenverständnis, bevor sie überhaupt eins, zwei, drei sagen konnten.

Schreien und rechnen

Dieser ersten Überraschung folgten schon bald weitere. 1992 berichtete Karen Wynn im renommierten Wissenschaftsmagazin »Nature« über die verblüffenden Rechenkünste von Säuglingen, die man bis dahin kaum für möglich gehalten hatte. Die Psychologin hatte Kinder im Alter von fünf Monaten vor eine Art Kasperletheater gesetzt. Von der Seite näherten sich nacheinander zwei Puppen und versteckten sich hinter dem Vorhang. Kurze Zeit danach zog die Forscherin den Vorhang zur Seite und gab den Blick auf die Puppen frei.

Diesen Versuch wiederholten die Forscher immer wieder. Mal befanden sich hinter dem Vorhang, wie zu erwarten, zwei Puppen, doch manchmal auch nur eine. Die Wissenschaftlerin hatte bei einem Teil der Experimente nämlich einfach eine Puppe verschwinden lassen. Die Auswertung der Videos zeigte, dass die Babys im Fall von nur einer Puppe eine ganze Sekunde länger auf die Bühne starrten, als wenn dort zwei zu sehen waren.

Mathematik verhält sich zur Natur wie Sherlock Holmes zum Beweisstück. Aus einem Zigarrenstummel konnte der berühmte Romandetektiv Alter, Beruf und finanzielle Lage des Besitzers ableiten.
Ian Stewart (geb. 1945), britischer Mathematiker und Sachbuchautor

Ganz offensichtlich wussten die Säuglinge bereits, dass eine Puppe plus noch eine Puppe zwei Puppen ergibt. Entdeckten sie hinter dem Vorhang nur eine Puppe, dann fesselte sie die unerwartete Situation und sie schauten länger hin. Weitere Experimente zeigten, dass Babys auch Subtraktions-Fehler erkennen. Wenn sich zum Beispiel von zwei Objekten, die hinter dem Vorhang liegen, eines gut sichtbar zur Seite wegbewegt, dann muss hinter dem Vorhang noch ein Objekt sein.

Nebenbei widerlegte Wynn auch ein Baby-Experiment von Piaget aus den Fünfzigerjahren. Der Schweizer Psychologe hatte dabei Objekte unter einer Decke verschwinden lassen und beobachtet, ob die Kinder danach greifen. Sie taten es nicht. Piaget schloss daraus, dass Babys jünger als zehn Monate Gegenstände in ihrer Umgebung noch nicht als eigenständige Objekte begreifen. Ein unter die Decke geschobener Würfel existiert demnach für sie nicht mehr.

Karen Wynns Untersuchung zeigt jedoch, dass Säuglinge offenbar wissen, dass Gegenstände noch da sind, auch wenn sie unter einer Decke oder hinter einer Abdeckung versteckt werden. Psychologen bezeichnen dies als Objektpermanenz. Piaget hatte schlicht nicht beachtet, dass Säuglinge einfach noch nicht ausreichend gut Hände und Arme koordinieren können, um nach der Decke zu greifen.

Dass Säuglinge die simple Addition von 1 + 1 beherrschten, hatte die Forschergemeinde verblüfft. Doch die Rechenkünste von Babys erwiesen sich als noch viel ausgeklügelter. Dies zeigte im Jahr 1995 der Psychologe Tony Simon in einer Studie mit fünf Monate alten Kindern. Er wiederholte Wynns Experimente mit den Puppen, die hinter einer Abdeckung verschwanden, bis diese gelüftet wurde.

Sein Team änderte aber noch ein kleines Detail: Statt der erwarteten zwei Puppen befanden sich manchmal auch zwei Bälle hinter dem Kasperletheater. Das wunderte die Babys jedoch kaum. Zwei Bälle sind schließlich zwei Dinge. Lag aber statt zwei Bällen nur noch einer hinter der Abdeckung, war das Erstaunen groß.

Simons Versuche bestätigten nicht nur, dass Babys elementare Arithmetik beherrschen. Sie offenbarten auch die erstaunliche Abstraktionsfähigkeit der Kinder. Zwei Bälle und zwei Puppen haben etwas gemeinsam: Es sind zwei Objekte.

Dank der modernen Hirnforschung weiß man inzwischen auch, dass Babys beim Aufspüren von Rechenfehlern die gleiche Gehirnregion nutzen wie Erwachsene. Die israelische Psychologin Andrea Berger hatte Wynns Experiment im Jahr 2006 ebenfalls wiederholt – dabei jedoch zusätzlich die Gehirnströme mit einem Elektroenzephalogramm (EEG) gemessen. Dabei werden den Kindern Hauben über den Kopf gezogen, die mit vielen kleinen Sensoren bestückt sind.

Berger registrierte bei den sechs bis neun Monate alten Probanden eine erhöhte Aktivität im Frontallappen. Und zwar in jenen Bereichen, die bei Erwachsenen mit Fehlererkennung, enttäuschten Erwartungen und der Lösung von Konflikten assoziiert werden.

Ein erstaunliches Ergebnis: Babys können noch nicht einmal sprechen, aber die Strukturen in ihrem Gehirn für elementare Arithmetik sind bereits vorhanden und aktiv.

Die Krux mit der Fünf

Dass wir Menschen auch im Erwachsenenalter mit kleinen Zahlen kaum Probleme haben, hatte schon 1871 der britische Ökonom William Stanley Jevons beobachtet. Bei seinem berühmten Bohnenexperiment ließ er Probanden kurz in eine Schachtel blicken und bat sie dann, die Zahl der darin liegenden Bohnen zu nennen. Bis zu vier Bohnen klappte das sehr gut, ab fünf gab es Probleme. Das intuitive Erfassen von Mengen, ohne die Elemente abzuzählen, gelingt uns Menschen offenbar nur bis zur Zahl Vier. Ein Phänomen, das Forscher auch bei diversen Tierarten beobachtet haben – mehr dazu im nächsten Kapitel.

Immerhin haben wir Menschen einen Weg gefunden, unsere Schwäche beim schnellen Abzählen von Mengen ab fünf zu kompensieren. Die Römer und auch die Maya in Mittelamerika erfanden extra ein neues Zeichen für die sperrige Fünf. Die Zahlen 1, 2, 3, 4 notierte man im alten Rom als I, II, III und IIII. Bei den Maya schrieb man •, ••, ••• und ••••.

Es war für die Römer kein Problem, auf Anhieb eine II von der III zu unterscheiden. Aber eine IIIII von einer IIII? Statt der schwer erfassbaren fünf Striche nutzten sie mit V ein neues Zeichen, die Maya schrieben:

IMAGE

Die Schwierigkeiten der Menschen im Umgang mit Mengen größer als vier haben also offenbar zur Entstehung der antiken Zahlensysteme beigetragen. Den Trick der Römer und Maya nutzen wir sogar noch heute, wenn wir Strichlisten führen: Wir schreiben vier senkrechte Striche nebeneinander, und der fünfte wird dann nicht daneben-, sondern quer über die Vier gesetzt. So erkennen wir auf einen Blick, dass es sich um fünf handelt.

Wie aber gehen wir mit größeren Mengen und Zahlen um? Kleine Kinder sagen eins, zwei, drei, viele. Erwachsene können es im Prinzip auch nicht viel besser, sie haben aber gelernt, ganz gut zu schätzen. Wenn wir zum Beispiel auf einem Bahnsteig stehen, dann können wir sicher sagen, dass da etwa 50, 60 Leute auf den Zug warten. Dass es genau 48 sind, wissen wir aber erst, wenn wir die Personen einzeln durchgezählt haben.

Es gibt Dinge, die den meisten Menschen unglaublich erscheinen, die nicht Mathematik studiert haben.
Archimedes, griechischer Mathematiker

Psychologen haben analysiert, wie gut Menschen größere Mengen abschätzen können und welche Faktoren zu größeren Abweichungen vom tatsächlichen Wert führen. Sind Punkte beispielsweise gleichmäßig verteilt, dann tendieren wir dazu, ihre Zahl zu überschätzen. Eine ungleichmäßige Anordnung führt umgekehrt dazu, dass wir die Gesamtmenge unterschätzen.

Interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens auch, dass sich unsere Schätzgenauigkeit mit einem einfachen Trick verbessern lässt: Wir müssen nur hin und wieder die exakte Zahl der Punkte oder Personen erfahren, deren Gesamtzahl wir gerade geraten haben. Falls wir weit danebengelegen haben, wird uns das beim nächsten Mal nicht mehr so schnell passieren. Unser Schätzsystem muss eben gelegentlich neu geeicht werden – wie eine Waage.

Schätzen statt zählen

Zwei spannende Phänomene zeigen sich, wenn wir zwei Mengen miteinander vergleichen. Schauen Sie sich die Punkte links und rechts in der folgenden Abbildung an.

IMAGE

Auf welcher Seite sind mehr? Und wie fällt Ihr Vergleich bei dieser Abbildung aus?

IMAGE

Bei der oberen Abbildung ist die Sache relativ leicht: Links sind offensichtlich mehr Punkte als rechts – es sind 15, und daneben nur 11. Schwieriger ist die Situation bei der zweiten Abbildung. Wahrscheinlich lautet Ihr Tipp, dass es auf beiden Seiten gleich viele Punkte sind. Das stimmt aber nicht. In diesem Fall sind es rechts vier Punkte mehr als links. Beim Verhältnis 50 zu 54 können wir diesen Unterschied aber kaum noch erfassen. Dies bezeichnen Psychologen als Größeneffekt. Je größer Zahlen sind, umso länger sind unsere Reaktionszeiten, wenn wir sie miteinander vergleichen sollen.

Um in der zweiten Abbildung einen Unterschied zwischen links und rechts zu erkennen, müssten die Punktzahlen weiter auseinanderliegen – zum Beispiel 50 und 65. Wissenschaftler sprechen vom Distanzeffekt. Je weiter zwei Werte auseinanderliegen, umso leichter fällt es uns, sie zu unterscheiden.

Der Distanzeffekt tritt verblüffenderweise auch bei gedruckten Zahlen auf. Das Experiment dazu haben 1967 die beiden Psychologen Robert Moyer und Thomas Landauer durchgeführt. Sie zeigten Erwachsenen zwei unterschiedlich große einstellige Zahlen, beispielsweise 3 und 5. Die Probanden sollten dann so schnell wie möglich entscheiden, welche der beiden Ziffern die größere ist, und den entsprechenden Knopf drücken. Immer wieder bekamen die Testpersonen neue Ziffernpaare zu sehen – und stets wurde ihre Reaktionszeit gemessen.

Was glauben Sie, wie das Experiment ausgegangen ist? War die Reaktionszeit bei allen Zahlenpaaren gleich? Das wäre zumindest zu erwarten gewesen. Wir wissen schließlich, dass 9 sowohl größer als 8 als auch größer als 2 ist. Die Reaktionszeit müsste in beiden Fällen daher identisch sein.

Doch was passierte? Bei weit voneinander entfernten Zahlen brauchten die Probanden etwa eine halbe Sekunde für ihre Entscheidung. Sie machten bei Paaren wie 9 und 2 auch kaum Fehler. Ganz anders bei benachbarten Zahlen wie 5 und 6. In diesen Fällen drückten die Testpersonen nicht nur erstaunlich oft den falschen Knopf, sie brauchten im Schnitt auch eine Zehntelsekunde länger als bei Paaren wie 9 und 2.

Verflixte Zahlenpaare

Der Franzose Stanislas Dehaene hat in einem Experiment versucht, diesen Distanzeffekt durch gezieltes Training auszuschalten. Sein Test ähnelte dem von Moyer und Landauer, war aber noch simpler, um ihn besser trainieren zu können. Ein Computermonitor zeigte eine der vier Ziffern 1, 4, 6 oder 9 an. Die Testpersonen, Studenten der University of Oregon, sollten dann per Knopfdruck entscheiden, ob die angezeigte Zahl größer oder kleiner als 5 war.

Dehaene empfand die Aufgabe als geradezu primitiv: »Man kann sich kaum eine einfachere Situation vorstellen: Wenn man eine 1 oder eine 4 sieht, drücke man links, und wenn man eine 6 oder 9 sieht, drücke man rechts.« Mehrere Tage übten die Probanden und kamen auf 1600 Versuchsdurchgänge.

Doch am Ende waren die Studenten bei den Ziffern 4 und 6, den Nachbarn der 5, stets langsamer als bei der 1 und bei der 9. Die Reaktionen wurden im Verlauf des Experiments zwar schneller, aber der Unterschied in den Reaktionszeiten bei 4 oder 6 im Vergleich zu 1 oder 9 änderte sich nicht.

Dehaene fragte sich, wie dieses Ergebnis zu deuten war. Seine Schlussfolgerung: Das Gehirn nutzt beim Vergleich zweier Zahlen offenbar keine abgespeicherte Tabelle, in der beispielsweise steht, dass 6 größer als 5 ist. Wäre dies der Fall, würden die Entscheidungszeiten nämlich nicht vom Abstand der Zahlen abhängen. Die einzig schlüssige Erklärung ist eine Art Zahlenstrahl im Kopf. Irgendwo in den Furchen und Windungen des Gehirns, mutmaßt Dehaene, müsse es eine Art Analogdarstellung der arabischen Ziffern geben.

Wie bringt ein Mathematiker seinen Kindern gutes Benehmen bei? »Ich habe euch n-mal gesagt, ich habe euch n + 1-mal gesagt …

Das Ganze kann man sich vorstellen wie ein schon etwas abgegriffenes Maßband einer Schneiderin. Um zu entscheiden, ob 9 größer ist als 1, reicht ein kurzer Blick darauf. Bei 5 und 6 muss man schon genauer hinschauen, welche Zahl weiter rechts auf dem Band steht – unter Umständen kann man das auch nicht mehr gut erkennen.

Einen überzeugenden Beleg für die Existenz des Zahlenstrahls lieferte ein weiteres Experiment. Diesmal wurden den Probanden zweistellige Zahlen zwischen 31 und 99 angezeigt, und sie mussten entscheiden, ob die Zahlen größer oder kleiner als 65 waren. Hier zeigte sich: Je näher man der 65 kommt, umso länger sind die Reaktionszeiten.

Die Vermutung, dass dabei womöglich die Zehnerstellen eine entscheidende Rolle spielen, bestätigte sich allerdings nicht. Tatsächlich fiel die Entscheidung bei 71 und 65 etwas schneller als bei 69 und 65. Die Reaktionszeit war aber noch kürzer, wenn es um das Zahlenpaar 79 und 65 ging. Ein klarer Beleg dafür, dass nicht etwa ein Sprung in der Zehnerstelle, sondern der tatsächliche Abstand zu 65 entscheidend ist für die Dauer der Entscheidung.

Unser Zahlenstrahl im Kopf hat noch eine weitere interessante Eigenschaft: Seine Skala ist nicht linear, wie man das vielleicht erwarten würde, sondern offensichtlich logarithmisch. Das heißt, der Abstand zwischen 1 und 10 ist genauso groß wie zwischen 10 und 100.

Weil unsere innere Skala bei größeren Werten regelrecht zusammengedrückt ist, nehmen wir Unterschiede zwischen Zahlen nicht absolut wahr, sondern relativ. Der Abstand zwischen 1 und 2 ist daher gefühlt größer als jener zwischen 11 und 12, obwohl die Differenz in beiden Fällen jeweils 1 ist.