Wolfgang & Heike Hohlbein

Frei nacherzählt nach dem gleichnamigen Märchen
von Hans Christian Andersen

Mit Illustrationen von Ludvik Glazer-Naudé

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2015 arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, D-80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Wolfgang und Heike Hohlbein

Textlektorat: Dieter Winkler

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung einer Illustration von Ludvik Glazer-Naudé

Vignetten: Ludvik Glazer-Naudé

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978 - 3-8458 - 1289-2

ISBN Printausgabe 978  3–8458  1202–1

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Die Autoren

Leseprobe zu "Die wilden Schwäne"

1. Kapitel

Alles begann an einem Tag im Herbst, wie man ihn sich schöner kaum hätte vorstellen können. Wenn Gerda später über diese Zeit nachdenken sollte, dann fragte sie sich manchmal, ob sich die Sonne und der laue Herbstwind nicht vielleicht ganz besonders angestrengt hatten, um Mensch und Tier schon im Vorhinein für das kommende Unglück zu entschädigen.

Aber davon wusste sie an diesem Tag noch nichts, so wie überhaupt niemand in der Stadt. Und so erschien er ihr wie jeder andere schöne Herbsttag. Nur vielleicht ein bisschen schöner.

Gerda war vielleicht zwölf Jahre alt, vielleicht auch etwas jünger oder älter. So genau wusste das niemand, nicht einmal ihre Großmutter, mit der sie ganz allein in einer kleinen Dachkammer wohnte. Sie hatte noch nicht sehr viele jener schönen Spätsommertage erlebt, an denen man lange auf dem Balkon sitzen konnte, um zuzusehen, wie die Natur die leuchtenden Farben des Sommers langsam gegen das Gold und Rot des Herbstes eintauschte.

Gerda hatte zwar keinen Balkon – dafür war ihre schäbige Dachstube viel zu winzig –, aber einen Dachgarten. Wenn man es genau nahm, dann war er nicht wirklich ein Garten, sondern nur ein sehr großer Blumenkasten, der vor dem einzigen Fenster der Dachstube angebracht war. Und wenn man es ganz genau nahm, dann gehörte er auch nicht ihr, sondern dem Hausbesitzer.

Dass der sie ganz umsonst in der kleinen Dachkammer wohnen ließ, war ein großes Glück. Gerdas Eltern waren früh gestorben und sie und Großmutter bitterarm. Manchmal hatten sie kaum genug zu essen und eine richtige Wohnung hätten sie sich niemals leisten können.

Doch das alles machte Gerda nichts aus, denn sie kannte es ja nicht anders. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre – wer brauchte denn mehr als einen warmen Ofen im Winter und ein sonniges Fenster im Sommer, um rundum zufrieden zu sein?

Sehr bald sollte sie erfahren, dass da noch vieles andere war. Doch davon ahnte sie in diesen friedlichen Stunden nichts. Und so freute sie sich darauf, ihr Tagwerk zu beenden und in ihren kleinen Dachgarten zu gehen, um dem Sonnenuntergang zuzusehen. Das tat Gerda gerne und oft, vor allem im Herbst, wenn sich die Sonne manchmal in eine leuchtende rote Blüte zu verwandeln schien, bevor sie hinter dem Horizont versank.

Und da gab es auch noch einen weiteren Grund, aus dem sie es manchmal gar nicht mehr erwarten konnte, hinaus in den Garten zu kommen. Er hieß Kay, wohnte genau wie sie in einer kleinen Dachstube in dem Haus auf der anderen Straßenseite und war nur wenig älter als Gerda. Sie kannten sich, solange sie sich zurückerinnern konnte. Genau wie Gerda hatte Kay keine Eltern mehr und wohnte bei einer Tante, die sich liebevoll des Waisenknaben angenommen hatte.

Wie es zwischen Kindern üblich ist, die Tür an Tür aufwachsen, hatten sie viel Zeit miteinander verbracht. Meistens hatten sie sich vertragen, manchmal aber auch nicht. Sie hatten sich geneckt, miteinander gespielt und gelacht und einmal hatte Kay sie verprügelt (und Gerda umgekehrt ihn sogar dreimal).

Doch eines waren sie über all die Jahre immer geblieben: gute Freunde.

In letzter Zeit aber … war da noch etwas anderes. Gerda wusste nicht, was, aber es war ein seltsames Gefühl, das sie über die Maßen verwirrte. Es war, als sähe sie Kay plötzlich mit anderen Augen, als sei er gar nicht mehr derselbe. Einmal hatte sie sogar ihre Großmutter gefragt, was es mit dieser seltsamen Verwirrung auf sich hatte, die sie manchmal schon dann ergriff, wenn sie nur an Kay dachte. Doch die alte Frau hatte nur wissend gelächelt und geantwortet, sie könne sich ruhig noch ein paar Jahre Zeit lassen.

Sie hatte Gerda nicht gesagt, womit, und so hatte sie sich wohl oder übel in Geduld gefasst und ein Stoßgebet zum Himmel geschickt, dass es nicht wirklich noch Jahre dauerte.

Auch an diesem Abend meinte sie es kaum abwarten zu können, Kay zu sehen. Sie hatte ihrer Großmutter geholfen, Brotteig zu kneten und die Stube zu putzen – was schnell getan war, denn die Dachkammer war wirklich winzig –, und anschließend mit ihr Lesen, Rechnen und Schreiben geübt. Das gehörte zu den Dingen, die Gerda nicht wirklich mochte. Ihre Großmutter war zu arm, um Schulgeld für sie bezahlen zu können, aber sie bestand darauf, täglich eine Stunde mit ihr zu üben. Da half alles Jammern und Wehklagen nichts, so wenig wie das Argument, dass sie irgendwann einen stattlichen Burschen heiraten würde, möglicherweise sogar einen Prinzen.

Als sie das das letzte Mal gesagt hatte, hatte ihre Großmutter nur gelächelt und gefragt, was wohl Kay sagen würde, erführe er von diesen Plänen. Gerda hatte die Frage danach nicht noch einmal gestellt.

Nun aber duftete die Stube bereits so verlockend nach dem Brot im Ofen, dass einem das Wasser im Munde zusammenlaufen konnte. Es konnte also nicht mehr lange dauern, bis ihre tägliche Unterrichtsstunde zu Ende ging. Gerda begann unruhig auf dem Stuhl herumzurutschen, damit das Großmutter nur nicht entging. Schließlich gab die alte Frau mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass es für heute genug sei. Gerda packte rasch Schiefertafel und Griffel zusammen und verstaute beides ordentlich in der großen Truhe neben dem Bett.

Dann eilte sie zum Fenster. Großmutter ermahnte sie wie üblich, vorsichtig zu sein, und Gerda hörte wie genauso üblich kaum zu. Sie hatte nur Augen für den wunderschönen Rosenstrauch auf ihrem Dachgarten, der noch immer üppig blühte. Er war ihr ganz persönliches Symbol dafür, dass sie Kay schnell erreichen konnte, wann immer sie wollte.

Vor Jahren, als Großmutter angefangen hatte, Zwiebeln und allerlei Küchenkräuter vor ihrem Fenster zu ziehen, war dort kaum mehr als ein großer Blumenkasten gewesen. Im Laufe der Zeit hatten sie den hölzernen Kasten immer weiter ausgebaut. Irgendwann hatte Gerda einen kleinen Rosenstock hineingepflanzt. Als der dann immer üppiger wurde, hatte er sich so weit über das Dach geneigt, dass er fast abgebrochen wäre. Doch dann hatte Kay eine geniale Lösung ersonnen.

Die Straße, in der die beiden gegenüberliegenden Häuser standen, war sehr schmal. Ein Stockwerk der Häuser war immer gerade ein bisschen größer als das darunter, sodass sie in der Höhe aufeinander zuzuwachsen schienen. Am Ende berührten sich die Dachrinnen beinahe schon; kaum, dass sie noch mehr als einen beherzten Schritt voneinander entfernt waren. Gerda hätte es niemals gewagt, diesen Schritt zu tun. Doch erfindungsreich, wie Kay nun einmal war, hatte er eines Abends Balken und Bretter von einem Dach zum anderen gelegt, sodass der Garten ungehindert weiter und sogar ein gutes Stück auf das Dach des anderen Hauses hinaufwachsen konnte.

Und außerdem mussten sie nun nicht mehr die vielen Treppen zur Straße hinunterlaufen, um einander zu sehen.

Gerda riss sich aus ihrer Träumerei und schwang sich mit einer solchen Leichtigkeit aus dem Fenster, dass sie Großmutters Ermahnung, rechtzeitig zum Essen wieder zurück zu sein, kaum noch hörte. Kay wartete gewiss auf sie, und sie wollte keinen Augenblick versäumen, den sie in seiner Nähe zubringen konnte.

Zuerst konnte sie ihn jedoch nirgendwo sehen. Enttäuschung wollte sich in ihr breitmachen. Dann hörte sie seine Stimme ganz entfernt von dem Dach auf der gegenüberliegenden Seite. Es klang nicht wirklich so, als ob er nach ihr riefe, sondern …

Sie beeilte sich, über die nachwippenden Bretter auf das Dach des Nachbarhauses zu gelangen. Wieder hörte sie Kays aufgeregte Stimme. Gerda streckte die Arme nach beiden Seiten aus, um das Gleichgewicht zu halten, und eilte das steile Dach hinauf. Wenn da ein Fremder war, den Kay mit auf ihr Dach genommen hatte, konnte er was erleben!

Als sie jedoch den First erreichte und hinübersah, war er allein. Er war am anderen Ende des Daches in die Hocke gegangen, was nicht ungefährlich war, denn das hier war die Wetterseite und das Haus alt und baufällig.

Obwohl das Kay sehr genau wusste, winkte er ihr eilig zu, zu ihm zu kommen. Gerda gehorchte, auch wenn ihr ganz und gar nicht wohl dabei zumute war, denn die alten Schieferziegel knackten und knirschten hörbar unter ihrem Gewicht. Ihr schwindelte ein bisschen. Auf dieser Seite gab es nämlich keinen Dachgarten und keine stabilen Balken und Bretter, sondern nur einen jähen Abgrund, der etliche Stockwerke weit in die Tiefe klaffte.

Kay hatte jedoch nicht die mindeste Angst, obwohl seine Zehenspitzen kaum einen Fingerbreit vom Abgrund entfernt waren, sondern forderte sie noch aufgeregter winkend auf, sich zu ihm zu gesellen.

»Schau, dort!« Kay deutete mit dem freien Arm nach vorne. »Besuch! Sehr hoher Besuch, wie es aussieht.«

Gerdas Herz klopfte, und ihre Knie zitterten immer stärker, je näher sie ihm und damit auch der Dachkante kam. Zugleich sah sie aber auch, dass Kay recht hatte, und so siegte ihre Neugier. Sie ging weiter und ließ sich neben ihm in die Hocke sinken, allerdings ein gutes Stück entfernt von der Dachkante.

Von hier aus hatte man einen guten Blick über die Stadt: den hohen Kirchturm mit seiner blitzenden Kupferspitze, das Rathaus und den großen Brunnen auf dem Marktplatz, der gerade einmal zwei Straßen weit weg lag. Gerda wusste, wie groß er war; der größte Platz, den sie jemals gesehen hatte und auf dem man sich wirklich verloren vorkam, stand man alleine darauf. Doch im Augenblick wirkte er winzig, platzte er doch von Menschen schier aus den Nähten. Es sah aus, als wäre die ganze Stadt zusammengekommen, Männer, Frauen und Kinder, die ein einziges buntes Durcheinander bildeten, wie einen riesigen lebendigen Flickenteppich.

»Hoher Besuch?« Sie runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

Kay deutete noch einmal nach unten. »Die Reiter, siehst du? Gleich neben der großen Statue.«

Gerda strengte die Augen an. Die große Statue, von der Kay sprach, stellte einen Helden aus längst vergangener Zeit dar. Der Ritter saß in einer prachtvollen Rüstung auf einem gewaltigen Schlachtross und reckte ein steinernes Schwert in den Himmel.

Jetzt war dieser steinerne Reiter nicht mehr allein. Zwei weitere Gestalten auf gepanzerten Schlachtrossen hatten direkt neben dem Denkmal Aufstellung bezogen. Trotz ihrer blitzenden, strahlend weißen Rüstungen wirkten sie bedrohlich. Gerda hatte den verrückten Eindruck, als ginge eine Woge eisiger Kälte von ihnen aus.

Am unheimlichsten aber war die dritte Gestalt, die zwischen den beiden Bewaffneten stand. Auch sie war sehr groß, trug aber keine Rüstung und auch kein Schwert, sondern einen schweren, ebenfalls weißen Fellmantel samt Kapuze, gefütterten Stiefeln und Muff.

Und kaum hatte Gerda sie gesehen, da geschah etwas ganz und gar Seltsames: Die Gestalt war viel zu weit entfernt, um ihr Gesicht erkennen zu können, ja noch nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau war, und doch – im gleichen Moment, in dem Gerda sie ansah, hob sie den Kopf und blickte zu ihnen herauf.

Unmöglich oder nicht: Gerda wusste einfach, dass sie von einem Paar kalter, eisfarbener Augen angestarrt wurde. Dabei fühlte sie sich einem Blick ausgeliefert, der wie eine Klinge in ihre Seele fuhr und etwas darin zum Erstarren brachte.

Gerda fuhr so erschrocken zusammen, dass sie um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte und es wirklich übel hätte enden können, hätte Kay nicht gedankenschnell zugegriffen und sie am Arm festgehalten.

»Vorsicht! Was ist denn los?«

»Nichts«, behauptete Gerda.

Sie machte sich los und wich in der Hocke vorsichtshalber ein weiteres Stück von der Kante zurück, ein bisschen ärgerlich auf sich selbst. Nicht mutig zu sein, war ja schön und gut, aber nicht schwindelfrei zu sein, doch ziemlich lästig.

Und gefährlich.

»Ich war nur überrascht«, log sie – zwar mit schlechtem Gewissen, aber sie konnte Kay unmöglich die Wahrheit sagen. Er musste sie ja für verrückt halten!

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, fügte sie hinzu.

»Ich auch nicht.« Kay überzeugte sich mit einem aufmerksamen Blick davon, dass sie auch wirklich sicher saß, bevor er fortfuhr: »Ich glaube, das hat überhaupt noch niemand hier.«

»Aber du hast gesagt, es wäre hoher Besuch!«

»Na, dann sieh sie dir doch an!«, antwortete Kay und begann so wild in Richtung der drei Gestalten in Weiß zu deuten, dass ihr schon beim Zusehen wieder ganz anders wurde. »Das müssen Edelleute sein, so wie sie aussehen! Bestimmt sind es Gesandte aus einem fremden Land! Und sieh – da kommt auch schon der Bürgermeister, um sie zu begrüßen!«

Nun gehörte Gerda nicht zu den Menschen, die dem Bürgermeister jemals nahe genug gekommen wären, um ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Aber bei der prachtvoll gekleideten Gestalt mit der schweren Goldkette um den Hals, die sich ihren Weg durch die Menschenmenge bahnte, konnte es sich nur um das Oberhaupt der Stadt handeln. Er kam auch nicht allein, sondern wurde gleich von einem Dutzend Soldaten begleitet, die ihre Schilde und Speere reichlich grob einsetzten, um eine Gasse für ihren Herrn zu bahnen.

»Soldaten?«, fragte Gerda beunruhigt. Das gefiel ihr nicht.

Kay nickte. »Das bedeutet gar nichts. Bei den hohen Herrschaften ist es üblich, einander so zu empfangen.«

»Aha«, sagte Gerda. »Und das weißt du genau woher? Ich wusste gar nicht, dass du im Rathaus bei den hohen Herren ein und aus gehst.«

Kay machte ein beleidigtes Gesicht. »So etwas weiß man eben«, versetzte er. »Und dieser Besuch muss wichtig sein. Sieh dir doch nur an, wie prachtvoll sie gekleidet sind!«

Gerda nickte zwar zaghaft, aber es wollte ihr nicht gelingen, Kays Begeisterung zur Gänze zu teilen. Ganz im Gegenteil – je länger sie hinsah, desto unheimlicher erschienen ihr die drei weiß gekleideten Gestalten. Sie machten ihr Angst. Das war mindestens genauso ungerecht wie unsinnig, aber es war eben so, basta.

Sie sahen schweigend weiter zu, wie sich die Soldaten und der Bürgermeister den Fremden näherten und mit ihnen zu reden begannen. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr fragte sich Gerda, ob es wohl in Wahrheit nicht eher ein Streit war, den sie aus der Ferne beobachteten. Natürlich war die Entfernung viel zu groß, um auch nur ein einziges Wort zu verstehen, doch die Stimmung war gewiss nicht fröhlich.

Und bald meinte sie auch ein unwilliges Raunen und Murren zu vernehmen, das von der gesamten Menge auf dem Marktplatz ausging.

»Wer mag das sein?«, murmelte sie.

Kay hob die Schultern und sah weiter aus angestrengt zusammengekniffenen Augen auf den Marktplatz hinab. »Irgendjemand Berühmtes eben.«

Oder jemand Gefährliches, dachte Gerda. Plötzlich war ihr kalt.

Zuallererst dachte sie, es sich nur einzubilden, weil der Anblick so unheimlich war, doch dann sah sie, dass auch Kay sichtbar schauderte und sich die feinen Härchen auf seinen Unterarmen aufrichteten, als er eine Gänsehaut bekam.

»Das ist seltsam«, sagte sie. »Ist dir auch so kalt?«

»Es wird bald dunkel«, gab Kay zu bedenken. »Und der Sommer ist fast vorbei.«

Aber er klang dabei nicht so, als würde er an seine eigenen Worte glauben. Und dass es inzwischen so kalt war, dass sein Atem als grauer Nebel vor seinem Gesicht erschien, wenn er sprach, machte es auch nicht wirklich besser.

»Vielleicht gehen wir lieber wieder hinein«, sagte Gerda unbehaglich. Sie stellte fest, dass der Bürgermeister inzwischen aufgeregter mit seinen Besuchern sprach. Schließlich machte er eine Bewegung mit dem Arm, die nun wirklich nicht mehr freundlich aussah, woraufhin alle seine Soldaten ihre Schwerter zogen und die Fremden in die Mitte nahmen. Unter den immer lauter werdenden Buhrufen und auch der einen oder anderen drohend erhobenen Faust der Menge bildeten die Soldaten eine Gasse und führten sie weg Richtung Stadtmauer.

»Es wird gleich dunkel«, wunderte sich Kay. »Und sie werfen sie trotzdem aus der Stadt? Das ist ungewöhnlich!«

»Dann waren es wohl doch keine Ehrengäste«, sagte Gerda.

Kay beließ es zur Antwort bei einem finsteren Blick und stand auf. Er rieb sich mit den Händen über die bloßen Unterarme, weil ihm so kalt war. Jetzt bildete sein Atem schon grauen Dampf vor seinem Gesicht, selbst wenn er nichts sagte. Auch Gerda war inzwischen so kalt, dass sie an sich halten musste, um nicht mit den Zähnen zu klappern, und ihre Nase und die Fingerspitzen begannen zu kribbeln.

Sie wollte nur zurück in ihre warme Stube, um sich an den Ofen zu kuscheln, und sie musste Kay nicht extra fragen, um zu wissen, dass es ihm ganz genauso erging. Aber trotzdem rührte sich keiner von ihnen, bis die Soldaten mit den drei Fremden zwischen den Häusern verschwunden waren und sich die Menge auf dem Marktplatz wieder zu zerstreuen begann.

»Das war das Unheimlichste, was ich je erlebt habe«, sagte Kay und schauderte auch übertrieben, wohl um seinen Worten noch ein bisschen Nachdruck zu verleihen.

Gerda nickte zwar, wie um ihm beizupflichten, aber insgeheim war sie anderer Meinung. Das Unheimlichste, was sie jemals erlebt hatte, das erlebte sie gerade jetzt, in eben jenem Augenblick: Es wurde immer nur noch kälter, und ihr war auch, als würde es viel zu schnell dunkel.

»Jetzt lass uns aber gehen«, sagte Kay, »bevor es am Ende noch anfängt zu schneien und wir es nicht mehr auf die andere Seite schaffen.«

Zweifellos war das nur als Witz gemeint, um sie aufzuheitern, doch die Worte ließen Gerda einen weiteren kalten Schauer über den Rücken laufen.

Und spätestens, als sie sich umdrehten und nebeneinander mit vorsichtigen Schritten die Dachschräge hinaufgingen, wurde es endgültig unheimlich. Auf den schwarzen Schieferplatten glitzerte Raureif. Als wäre das noch nicht schlimm genug, fing es ganz sacht an zu schneien, als sie den Dachfirst erreichten und den Abstieg auf der anderen Seite begannen.

Das allerletzte Stück schließlich war wirklich gefährlich. Das Dach war so glatt gefroren, dass ihre Füße kaum noch Halt darauf fanden, und wie durch einen bösen Zauber wurde es binnen weniger Augenblicke dunkel. Aus wenigen weißen Flocken wurde rasch ein richtiges kleines Schneegestöber. Der Wind war eisig und zerrte wie mit unsichtbaren Fäusten an ihren Kleidern und ihrem Haar. Sie konnte kaum etwas sehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit bekam es Gerda mit der Angst zu tun, als sie mit kleinen vorsichtigen Schritten über Kays Bretter auf die Rose in ihrem Dachgarten zugingen.

Da heulte der Wind auf wie ein zorniger Wolf und zerrte mit solcher Gewalt an ihr, dass sie damit rechnete abzustürzen.

Das Fenster flog auf und die schmale Hand ihrer Großmutter langte heraus. Sie ergriff zuerst sie und dann Kay am Arm und zog sie in die Sicherheit des Hauses.

»Das war wirklich sehr leichtsinnig von dir«, schalt Großmutter, und das nicht zum ersten Mal. Sie hatte Gerda in einen Winkel neben den Ofen bugsiert und so lange mit einem rauen Tuch abgerubbelt, bis ihre Haare schon fast wieder trocken und ihre Haut ganz rot und heiß geworden war. »Ich bin wirklich enttäuscht von dir, mein Kind. Ich hätte dich für klüger gehalten! Nicht einmal im Traum wäre ich darauf gekommen, dass du so leichtsinnig bist, nachts und in einem ausgewachsenen Schneesturm auf dem Dach herumzuturnen.«

Sie hielt kurz in ihren Versuchen inne, ihrer Enkeltochter auch noch das letzte bisschen Haut vom Gesicht zu schubbern, und stemmte herausfordernd die Fäuste in die Hüften. »Weißt du denn eigentlich, was alles hätte passieren können? Du hättest zu Tode kommen können, du dummes Kind!«

»Es ist nicht Gerdas Schuld«, mischte sich Kay ein.

Genau wie sie saß er mit angezogenen Knien und immer noch vor Kälte mit den Zähnen klappernd auf der anderen Seite des Ofens und versuchte jedes bisschen Wärme aufzunehmen.

»Sie kann wirklich nichts dafür. Es ging alles viel zu schnell, als dass …«

»Und was dich angeht, mein junger Freund«, begann Gerdas Großmutter.

Der unbeendete Satz klang wie eine Drohung. Als sie sich dann auch noch ganz zu Kay umdrehte und ihn zornig anfunkelte, kamen ihm wohl ernsthafte Zweifel, ob es wirklich so klug war, sich schützend vor Gerda zu stellen.

»Von dir bin ich ganz besonders enttäuscht. Ich dachte, du wärst schon erwachsen und Manns genug, um auf meine Enkeltochter aufzupassen. Aber da habe ich mich wohl getäuscht!«

»Aber es ging wirklich alles viel zu schnell«, protestierte nun auch Gerda. »Niemand konnte ahnen, wie rasch es …«

»Mein Kind!«, wurde sie unterbrochen. »Sei wenigstens ehrlich und gib zu, dass ihr wieder einmal die Zeit vergessen habt. Ihr haltet mich wohl für dumm, nur weil ich alt bin? Auch wenn man es heute kaum glauben mag, wenn man mich so sieht, aber auch ich war einmal jung und habe mir die wildesten Ausreden einfallen lassen, wisst ihr?« Sie schüttelte mit einem enttäuschten Seufzen den Kopf. »Da gönnt man sich einmal ein kleines Schläfchen, und schon muss man um dein Leben fürchten. Dabei hattest du mir doch fest versprochen, immer vor Dunkelwerden zurückzukommen. Ich muss mir überlegen, ob ich dir überhaupt noch erlauben darf, mit deinem Freund drüben auf dem Dach zu spielen.«

»Aber es ging wirklich alles viel zu …«, begann Gerda noch einmal und sprach dann von sich aus nicht weiter, sondern tauschte nur einen verblüfften Blick mit Kay. Konnte es sein, dass ihre Großmutter eingenickt war und so von all den unheimlichen Geschehnissen gar nichts mitbekommen hatte?

»Es ist meine Schuld«, behauptete Kay noch einmal. »Ich war abgelenkt. Wir haben zugesehen, was auf dem Marktplatz geschieht, und haben gar nicht gemerkt, dass es dunkel wird.«

»Was ist denn auf dem Marktplatz passiert?«, wollte Großmutter wissen.

Kay antwortete nicht nur sofort, sondern hatte wohl auch nur darauf gewartet, die spannenden Neuigkeiten loszuwerden. Jedenfalls sprudelte er sofort los und konnte vor lauter Begeisterung gar nicht mehr aufhören. Gerdas Großmutter musste ihn schließlich mit einem Kopfschütteln zum Schweigen bringen und damit, ihm mit erhobenem Zeigefinger zu drohen; auch wenn es nicht wirklich ernst aussah.

»Das ist aber gar nicht nett von dir, mein Junge, dich so über eine alte Frau lustig zu machen«, sagte sie.

Kay sah ein bisschen verdutzt aus. Er warf Gerda einen fast flehenden Blick zu.

Sie konnte jedoch nur verwirrt die Schultern heben.

»Aber ich schwöre, dass alles ganz genau so war«, beteuerte er.

Großmutter wurde sogar noch einmal ernster. »Hat man dir denn nicht beigebracht, dass man nicht leichtfertig schwören soll, mein Junge? Schon gar nicht, wenn du dir nur einen Spaß machen willst?«

»Aber …«

»Wer hat dir diese Geschichte erzählt?«, fragte Großmutter. »Deine Tante, Kay? Ich glaube, ich muss mit ihr sprechen, dass sie euch Kindern nicht solche Flausen in den Kopf setzt.«

»Aber was für Flausen?«, fragte Gerda.

Großmutter schien allmählich richtig zornig zu werden, und das tat ihr leid – vor allem, weil sie immer noch nicht wirklich verstand, warum. Was hatte sie denn Falsches gesagt?

»Ihr habt die Geschichte von der Schneekönigin gehört, habe ich recht?«, fragte Großmutter. »Und da habt ihr euch gedacht, machen wir uns doch einen Spaß mit einer alten Frau und jagen ihr einen rechten Schrecken ein. Aber das ist nicht nett. Gar nicht nett.«

Kay wollte schon wieder protestieren, doch Gerda kannte ihre Großmutter gut genug, um ihn mit einem raschen Blick zum Verstummen zu bringen. Sie war wirklich alt und begann manchmal schon ein wenig vergesslich zu werden, ja, manchmal auch ein bisschen sonderbar, wie es bei alten Leuten nun einmal vorkommt. Aber nun sah sie erschrocken, ja beinahe schon so aus, als hätte sie Angst. Und das kam selten vor, denn ihre Großmutter war neben vielem anderen auch eine sehr tapfere Frau.

»Die Schneekönigin?«, fragte Gerda.

Dieses Wort hatte sie noch nie gehört … aber eigentlich klang es gar nicht so schlimm, fand sie.

»Das ist nur eine alte Geschichte, um kleine Kinder und vorwitzige junge Mädchen und ihre Freunde zu erschrecken, die sich einen Schabernack mit ihrer Großmutter machen wollen«, antwortete sie. »Eine sehr dumme Geschichte.«

»Erzählst du sie uns?«, fragte Gerda.

Ihre Großmutter konnte ganz wundervoll Geschichten erzählen, spannende Abenteuer aus vergangenen Zeiten, die von großen Heldentaten und noch größerem Mut erzählten. Genauso gern erzählte sie aber auch fantastische Geschichten von Drachen und Zauberern, von tapferen Prinzen und schönen Prinzessinnen, von Feen und Einhörnern und Elfen. Gerda mochte sie fast am liebsten, denn sie waren genau das Richtige, um sich an einem stürmischen Winterabend vor den Ofen zu kuscheln und ihnen mit klopfendem Herzen zu lauschen.

Niemals aber hätte sie geglaubt, dass sie nun selbst geradewegs in eine solche Geschichte hineinstolperte.

Ihre Großmutter sah noch einen Augenblick lang wirklich zornig aus. Doch dann kam es ganz genau so, wie Gerda es sich erhofft hatte: Großmutter konnte nicht nur ganz wundervoll Geschichten erzählen, sie tat es auch für ihr Leben gern, war es doch das einzige Vergnügen, das ihr noch geblieben war.

»Es ist eine wirklich alberne Geschichte«, begann sie trotzdem. »Eigentlich ist sie eher etwas für kleine Kinder, nicht mehr für junge Damen wie dich. Aber wenn du unbedingt willst …«

Gerda war nicht ganz sicher, ob sie das wollte. Wenn diese Geschichte auch nur halb so unheimlich war wie die drei Gestalten vom Marktplatz, dann war das vielleicht ein bisschen zu viel für einen Abend.

»Es ist eine wirklich alte Geschichte«, fuhr Großmutter fort. »Sie beginnt vor langer Zeit. Damals war ich selbst fast noch ein Kind, kaum älter als du heute. Es war noch vor dem Krieg, und niemand wusste, was für schlimme Zeiten auf uns alle warteten.«

»Krieg?«, wunderte sich Kay. »Was für ein Krieg? Davon habe ich noch nie gehört.«

»Die Menschen sprechen nicht darüber«, antwortete Großmutter ernst, »und das ist auch das Klügste, was sie tun können.«

»Aber es hat nie Krieg gegeben«, beharrte Kay. »Das wüsste ich.«

»Und ich habe nie gesagt, dass es eine schöne Geschichte ist«, versetzte Großmutter. »Wollt ihr sie nun hören oder nicht?«

Gerda nickte zögerlich, Kay dafür umso begeisterter.

»Zu jener Zeit also, in der sich unsere Geschichte zutrug, da lebte eine wunderschöne junge Königin in ihrem Schloss hoch oben im Norden in einem Land so weit entfernt, dass niemand hier auch nur seinen Namen kannte und schon gar niemand jemals dort gewesen wäre.«

»Und woher wussten sie dann, dass es dieses Land überhaupt gab?«, fragte Kay.

»Willst du die Geschichte jetzt hören oder nicht, mein vorlauter kleiner Freund?«, fragte Großmutter, auch wenn sie dabei lächelte, um ihren Worten die ärgste Schärfe zu nehmen. Sie schickte zwar noch einen strafenden Blick hinterher, holte dann aber einen sauberen Lappen und ging vor der Ofenklappe in die Knie, um das fertig gebackene Brot herauszunehmen.

Währenddessen erzählte sie weiter: »Die junge Königin war nicht nur schön und unermesslich reich, sondern auch klug. Und da sie noch dazu ein großes Herz hatte und von sanftem Gemüt war, liebten sie alle ihre Untertanen und im Land herrschte über viele Jahre Wohlstand und Frieden.«

»Das muss ein Märchen sein«, feixte Kay.

Großmutter bedachte ihn zwar mit einem weiteren ärgerlichen Stirnrunzeln, stand aber nur auf und trug das köstlich duftende Brot zum Tisch.

Gerda eilte zum Ofen, um die Klappe zu schließen. Sie tat es sehr viel umständlicher und langsamer als nötig, um noch ein bisschen von der Wärme zu ergattern. Leider half es kaum. Seit sie hereingekommen waren, war ihr kalt, und das änderte sich auch jetzt nicht, obwohl sie die Hände so dicht an die eiserne Ofentür hielt, dass sie sich fast die Finger verbrannt hätte.

»So berühmt war die junge Königin und so groß ihre Schönheit«, fuhr Großmutter fort, »dass sie am Ende auch Neid erweckte, wie es immer vorkommt, wenn einer zu gut ist, zu schön oder zu edelmütig oder auch nur etwas besitzt, das ein anderer haben will. Eines Tages hörte ein Troll von der jungen und mildtätigen Königin. Ein böser Troll, dem alles Gute und Schöne so zuwider war, dass er ganz krank davon wurde. So sind sie, die Trolle, müsst ihr wissen. Sie hassen alles, was schön und unverdorben ist, und umso mehr, je schöner und reiner es ist. Und dieser Troll war der schlimmste von allen, manche nannten ihn gar den Teufel selbst. Lange sann er darüber nach, wie er sie verderben und alles zunichtemachen konnte, was sie geschaffen hatte und liebte, und am Ende erschuf er einen Spiegel.«

»Einen Spiegel?«, vergewisserte sich Kay.

Gerda meinte schon an seiner Stimme zu hören, wie schwer es ihm fiel, nicht noch das eine oder andere hinzuzufügen, was ihrer Großmutter wohl gar nicht gefallen würde. Kay glaubte nicht an Märchen und schon gar nicht an Zauberei, Trolle und alles, was damit zu tun hatte. Seine Tante erzählte nie Geschichten, wie er ihr einmal anvertraut hatte, und wenn sie nicht zusammen waren, dann spielte er die Spiele, die Jungen nun einmal spielten und in denen es wohl weniger um Einhörner und Feen ging.

»Einen Zauberspiegel«, belehrte ihn Gerdas Großmutter, während sie bereits ging, um ein Messer und drei Brettchen zu holen. »Einen von der ganz besonders bösen Art, musst du wissen, denn er zeigte die Dinge nicht so, wie sie wirklich waren, sondern nur verzerrt und ganz schrecklich entstellt.«

»Den kenne ich«, sagte Kay mit einem aufgeregten Nicken. »Im letzten Jahr, als die Gaukler auf dem Marktplatz waren, da hatten sie so einen Spiegel dabei. Die Leute hatten lange Nasen und ganz schiefe Gesichter, wenn sie hineingesehen haben, oder sie waren plötzlich ganz dünn oder dick.« Er zupfte sich an Nase und Ohren und blies die Backen auf, um gleich vorzumachen, was er meinte.

Großmutter verzog belustigt die Lippen, aber sie schüttelte zugleich auch den Kopf und begann, das knusprige Brot in dicke Scheiben zu schneiden.

»Nicht so einen Spiegel. Es war ein mächtiger Zauberspiegel, der alles Gute und Schöne gar nicht erst zeigte, sodass es auch nicht mehr zu sehen war. Dafür zeigte er alles Schlechte und Hässliche umso deutlicher. Die schönsten Landschaften sahen aus wie nach einer jahrelangen Dürre, die prachtvollsten Schlösser und Häuser wie hundert Jahre alte Ruinen, in denen Ratten und Gespenster ihr Unwesen trieben, und die schönsten Menschen erschienen so abstoßend, dass es einem schlecht davon werden konnte, sie nur anzusehen.«

Sie winkte sie herbei, sich zu ihr an den Tisch zu setzen, und gab jedem eine Scheibe köstlich duftendes Brot. Dazu gab es frisches Schmalz und für jeden ein großes Glas Milch, sodass sie beide mit vollem Mund begeistert mampften, während sie weitersprach.

»Nun aber ging der Troll zu der jungen Königin. Aber da er wirklich hässlich war und man ihm sein niederträchtiges Wesen schon von Weitem ansehen konnte, ließen ihn die Diener erst gar nicht vor. Als er es mit Gewalt versuchen wollte, da jagten ihn die Soldaten der Königin weg, sodass er am Ende froh sein konnte, mit dem Leben davongekommen zu sein. Aber das schürte seinen Neid nur noch, sodass er seinen Spiegel nahm und ihn hoch über das Schloss in den Himmel warf.«

»Wie dumm«, sagte Kay mit vollem Mund.

»Das wäre es, wenn es ein normaler Spiegel gewesen wäre«, bestätigte Großmutter.

Gerda überlegte, ob das tiefe Stirnrunzeln, mit dem sie Kay dabei maß, der Tatsache galt, dass er sie schon wieder unterbrochen hatte, oder davon rührte, dass er mit vollem Mund schmatzte.

»Aber es war ein Zauberspiegel und der Troll hatte ihn mit all seiner finsteren Magie geschmiedet. Er zerbrach in eine Million Scherben, die auf das Schloss der jungen Königin und ihr Land hinabregneten. Einige waren nicht größer als ein Staubkorn, sodass der Wind sie ergriff und davontrug und sie den Leuten in die Augen gerieten, die nun in allem nur das Hässliche und Schlechte sahen, selbst wenn es gar nicht da war. Die junge Königin aber bekam einen Spiegelsplitter direkt ins Herz, das daraufhin so kalt und gefühllos wie ein Klumpen Eis wurde. Und so wie ihr ging es bald darauf Mensch und Tier überall in ihrem Reich, ja, am Ende sogar der Natur selbst, sodass sich ein ewiger Winter über das ganze Land senkte.«

»Und seither nennt man sie die Schneekönigin?«, fragte Gerda.

Großmutter nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Der Troll war ein wirklich böses Wesen, und so gab er sich nicht mit dem zufrieden, was er einmal erreicht hatte. Selbst nachdem ihr Herz zu Eis erstarrt war, wirkte die Spiegelscheibe doch noch weiter in der jungen Königin. Statt ihren Nachbarn freundlich und mit ausgestreckter Hand entgegenzutreten, wie sie und alle ihre Vorfahren es immer getan hatten, begann sie sie nun einen nach dem anderen mit Krieg zu überziehen. So eroberte sie ein Land und eine Stadt nach der anderen. Und weil auch die Herzen ihrer Soldaten längst zu Eis erstarrt waren und sie keine Furcht und keine Gnade kannten, waren sie immer siegreich. Das Schlimmste aber war, dass in jedem eroberten Land sogleich ewiger Winter und immerwährende Traurigkeit Einzug hielten.«

»Und seither nennt man sie die Schneekönigin?«, fragte Gerda noch einmal.

Sie konnte sich eines eisigen Fröstelns nicht erwehren. Was ihre Großmutter erzählte, das erinnerte sie gar zu sehr an die drei unheimlichen Gestalten vom Marktplatz. Nicht einmal so sehr an das, was sie gesehen, umso mehr aber dafür an das, was sie gespürt hatte.

Diesmal nickte Großmutter und Kay fragte: »Und damit ist die Geschichte zu Ende? Sie erobern ein Land nach dem anderen, bis die ganze Welt im ewigen Winter erstarrt ist?«

»So wäre es zweifellos gekommen, denn genau das war der Plan des bösen Teufels«, bestätigte Großmutter, schüttelte aber auch schon wieder den Kopf. »Doch nachdem sie so viele Länder erobert hatte, schlossen sich zwei große Königreiche zusammen und stellten ein mächtiges Heer auf. Unter der Führung ihrer beiden Könige und ihrer Frauen zogen sie nach Norden und stellten die Soldaten der Schneekönigin zur Schlacht, um den Fluch des Immerwinters zu brechen.«

»Und? Haben sie gewonnen?«, fragte Kay aufgeregt.

»Das müssen sie wohl«, antwortete Großmutter mit einem wissenden Lächeln. »Das Heer ward nie wiedergesehen und auch von den beiden Königspaaren hat nie wieder jemand gehört. Doch der ewige Winter hörte auf, immer weiter und weiter nach Süden vorzudringen. So müssen sie wohl gesiegt gehabt haben; wenn auch um einen hohen Preis.«

Bei den letzten Worten war ihre Stimme traurig geworden, und sie sah Gerda auf eine Weise an, die sie schon wieder frösteln ließ. Auch wenn sie gar nicht wusste, warum.

»Aber hat denn nie jemand nachgesehen?«, wunderte sich Kay.

»Doch«, antwortete Gerdas Großmutter. »Schließlich weiß man doch, wie Jungen sind und junge Männer – von denen die meisten sowieso nur große Jungen sind. Du musst ihnen nur