Fritz J. Raddatz

Tagebücher

Jahre 1982-2001

 

Max Liebermann war ein gefragter Porträtist der Berliner Geld-Aristokratie seiner Zeit. Als er das Bild einer Bankiersgattin fertig hatte, bat er die Dame vor seine Staffelei. Die Abgebildete – die offenbar gehofft hatte, schöner, eleganter, liebenswerter dargestellt zu werden – zeigte sich entgeistert. Daraufhin sagte der Künstler:

«Ick habe Ihnen, jnädige Frau, ähnlicher jemalen, als Se sintt.»

 

Anekdote

1982

13. Mai

Ein Tagebuch. Es schien mir immer eine indiskrete, voyeurhafte Angelegenheit, eine monologische auch – ich möchte nie «hinterher, wenn die Gäste weg sind», aufschreiben, wie sich Augstein oder Biermann, Grass oder Wunderlich benommen haben. Deshalb lange Tagebuch-Pause. Typisch die beiden Daten, die den Neubeginn auslösen: der Tod von Peter Weiss, ausgerechnet an einem 10. Mai – Tag der Bücherverbrennung, an dem ein Exilierter sterben muß! Der mich doch sehr berührt hat, wohl auch wegen unserer «Entfernung» der letzten Jahre, seiner Verletztheit über meine negativen Kritiken seiner «Ästhetik», wobei mir Michaelis merkwürdig-freundlich-versöhnliche Grüße nach der Bremer Preisverleihung überbrachte. Das zweite Datum – ein Beginn, kein Ende: die «Premiere» nächste Woche in Zürich, wovor mir bange ist – die erste Lesung aus «jenem» Buch, auf Einladung von Muschg, der mir ganz ungewöhnliche Briefe schrieb, der sicheren Überzeugung, ich müsse auch anderes schreiben als «nur» Essays. Ertappe mich bei der «Probe» zum Lesen … Es kommt da allerlei zusammen, um nicht zu sagen, hat sich vieles gestaut: so wunderbare Abende wie gestern der bei Grass oder vor drei Tagen bei Wunderlich, nach denen man durchaus das Gefühl hat, Freunde zu haben – beide direkt in mich dringend, sie im Sommer oder wann auch immer auf ihren Landsitzen im Süden zu besuchen; Grass baut angeblich auf dem Dach seines Portugalhauses extra für mich eine kleine Wohnung. Aber nicht nur das, sondern auch – das spüre ich wohl nicht falsch – Respekt vor meiner Arbeit. Natürlich reziprok – ich finde die bildhauerischen Arbeiten von Grass, der 30 Jahre in dem Metier nicht gearbeitet hat, enorm. Habe gleich zwei gekauft – obwohl ich im Moment weiß Gott andere Sorgen habe. Es ist dieses Moment gegenseitigen Respekts, auch des Spürens einer gemeinsamen Ermüdung, das bindet; Grass ist kaum noch dazu zu bewegen, auch nur die Tagesschau zu sehen, so weit weg ist er – er! – von allen öffentlichen Dingen. Paul sowieso; sein Hauptziel ist momentan sein – unser? – Museum. Darüber werde ich ja Montag mit Hochhuth in Zürich noch sprechen. Wir vier sind schon eine merkwürdig-schön-verquere Kombination. Ich verkrauche mich in mich, bin nur noch müde, fühle mich am Ende meines Lebens angekommen, empfinde die Hauskauf-Situation als Paradoxon, ähnlich dem Endeinrichten meiner Ostberliner Wohnung, als ich schon wußte, ich werde türmen. Ich bereite ein Nest, das ich nicht mehr bewohnen werde.

15.  17. Mai

Seltsames, im Grunde trauriges Wochenende in Berlin. Freitag abend mit Brasch essen, ein anfänglich wunderbarer, freundschaftlicher Abend – habe das Gefühl, daß wir uns gegenseitig sehr mögen (was er ja, als ich krank war, auch durch rührende Fürsorglichkeit bewies) und uns auch sehr viele «Wahrheiten» sagen können. Er wohnt sehr am Abgrund, an der Finsternis – und versteht dadurch offenbar meine Lebenssituation, die ich als immer auswegloser empfinde; was ich ihm sagen kann. Sonst muß ich ja der Muntere und Flinke sein. «Ediert, nicht geboren», nannte das der ahnungslose Henrichs neulich, weil er annimmt, daß Leben für mich nur aus Lesen und Intellektualität bestünde. Wenn er wüßte, daß ich bereit wäre, die ganze Scheiß-Intellektualität hinzuwerfen, wenn … Neulich nach dem Montand-Konzert sah ich jemanden, der prompt hinterher auch im bösen Keller auftauchte, dann – obwohl ich ihn ansprach – sehr rasch «weg» war. Ärgerte mich nexten Tags, weil ich dachte, das sei wegen «betrunkener, alter Mann» gewesen. Nix da: Donnerstag abend, bevor ich nach Berlin flog, war ich dort wieder, traf den, sprach mit ihm – ein CDU-Parolen plappernder Dummkopf, der mir gleich sagte, er sei aber kein Gesprächspartner für mich. Erstens sei ich doch nun wohl alt genug geworden, um zu wissen, daß man sich hier nicht unterhalten wolle, und zweitens sei ich ihm zu «hoch» – er wisse genau, wer ich sei. Sprach’s und ging vor meinen Augen in den Dunkelraum. Das meinte Brasch, wenn er mich zu «mächtig» nannte. Ein gutes Wort auf der Suche nach dem Grund, warum Menschen – erst von mir fasziniert – mich gleichsam abstoßen, sich retten; mindestens in die «Scheidung» à la Ledig: Alle retteten sich ja vor mir. Es ist irgendeine «Über»-Spannung in mir oder an mir. Ich habe das nun tausendmal erlebt. Der Brasch-Abend wurde eine Brasch-Nacht mit entsetzlichem Besäufnis, wohl ganz komisch, was er mir hinterher davon erzählte – ganze Teile, die ich nicht mehr erinnerte, habe dann ja förmliche Blackouts und wüßte selbst unter Mordverdacht nicht mehr zu sagen, was ich wann und wo tat. Auch kein gutes Zeichen. So lag ich Samstag, bei herrlichstem Berliner Sommerwetter, hinter verhangenen Gardinen des Kempi und kam mittags mühevoll zu meiner Sitzung hoch, um mich gleich hinterher wieder hinzulegen. Ein vertaner (vertrunkener) Tag. An der Sitzung nur interessant, wie mehr und mehr alle Literaten übereinander herfallen, es gibt KEINERLEI Freundschaft oder auch nur Solidarität – Jaeggi über Habermas (und vice versa, «Jaeggis Geschleime»), alle über Wapnewski, selbst ein Niemand wie Wiegenstein erlaubt sich das bereits, Grass zeigte sich mit einem Pasquill von Janssen, das offenbar gegen Wunderlich gerichtet war (er «warnt» Grass davor, sich «sponsern» zu lassen; der reinste Quatsch – wohl weil Grass bei Wunderlichs Lithoanstalt in Zürich arbeitet). Und so: Es geht ihnen entweder zu gut oder zu schlecht, Kaiser ruft mich an und macht sich über Mayers Buch lustig, aber der sitzt nächsten Tag bei mir und erzählt, Kaiser habe ihn voller Begeisterung angerufen. Da bietet sich nicht nur die Frage an: Wie werden sie alle über mich reden, sondern: Was tun wir alle miteinander uns an? Wir wissen es alles besser als die Politiker – aber ich für meinen Teil möchte von keinem von denen regiert werden! Ihre Narzißhaftigkeit und Eitelkeit ist zu schlimm.

20. Mai

Zürich-Report. Wahrscheinlich liegt’s ja an mir und meinem sonderbaren «Zustand» – ob’s auch das Männer-«Klimakterium» ist? –: Aber genossen habe ich nichts von alledem. Das ist das eigentlich Bemerkenswerte und traurig Machende – es war STRAHLENDSTES Frühlingswetter mit kleinen Wölkchen über dem See, mit feinem Zimmer, herrlichem Essen, ein Leben wie ein König und «Herr Professor» hinten und vorne im Hotel und auch sonst. Behagliches Mittagessen mit Ruthchen Liepman, ganz viel Zeit zum Bummeln – aber, aber. Ich weiß eben nicht, wie man das macht, bummeln. Ich laufe nervös durch die Stadt, die ich ja schließlich auch schon mal gesehen habe; was muß ich mit 50 Jahren staunend durchs Niederdorf trudeln, das macht man als Student, oder mir den Kakteengarten am See ansehen. Mumpitz. Ich sitze dort in einem Café – und bin nach 20 Minuten nervös, zwinge mich da, eine Straße langzugehen, zwinge mich ins Museum – aber auch Cézanne-Bilder habe ich schon mal gesehen (allenfalls verblüffend eine Hans-Richter-Ausstellung, den ich immer für einen 3.klassigen Dadaisten hielt und der offenbar doch mehr war). Ist es auch unser Fatum, daß wir nicht mehr oder kaum noch neugierig sein können? Was soll man mir schon Neues bieten? So streife ich ziellos und wahllos durch Zürich, getreu dem neuen Motto, mir nicht mehr als 4 Termine auf einen Tag zu legen; das halte ich nun zwar brav durch, aber viel Sinn gibt’s auch nicht. Dann also Muschg und die «Kuhauge»-Premiere – hm. Ich war doch ziemlich aufgeregt, hatte ja aus diesem Manuskript noch nie etwas öffentlich gemacht. Muschg holte mich ab, war einerseits nett und fast freundschaftlich wie immer, andererseits merkbar irritiert, daß ich in diesem Hotel wohnte – im «Baur au Lac» hätten seit Jahrzehnten keine Linken mehr gewohnt. Das alte Lied – die Uniform, Ente fahren und Gauloise rauchen … An der Uni dann ein eher merkwürdiger Kreis, keineswegs in erster Linie Studenten, mehr kunstsinnige, alte Damen, davon reichlich. Zuerst ein «Seminar» über mich, was auch merkwürdig ist, mit anzuhören; die Eingangslaudatio ist man ja gewöhnt, es ginge ja auch nicht, jemanden einzuladen, ohne ihn «wundervoll» zu finden. Dann «Textanalyse» – bizarrerweise anhand von WARUM. Dann meine Lesung, ich spürte deutlich, wie sich Muschgs Gesicht verschattete. Hochhuth, der als rührender Kumpel dabei war, meinte – wie er mir am nächsten Tag am Telefon sagte –, das auch bemerkt zu haben; da er wie alle Dramatiker das Böse im Menschen sieht und betont, meinte er nur: «Neid.» Wie immer – und das Abendessen in seinem ganz und gar gräßlichen, kleinstbürgerlichen Hause – Madame kredenzte mit einer Küchenschürze uns etwas Unbeschreibliches, was sie sehr lobte, dazu gab es süßen Wein, der dafür schön warm und wenig war – blieb eher verhangen im Gespräch, so daß ich gegen 23 Uhr verschwand. Den Abend zuvor, mit Hochhuth draußen in Paul Wunderlichs Lithoanstalt, so 80 km vor Zürich, weil dorten nemmlich Junterchen am Drucken war, und wir wollten in dem attachierten (SEHR guten) Gasthofe zusammen essen. Taten wir auch, und es war eigentlich ein netter Abend, nur daß Grass nicht aufhören wollte zu trinken (was mir neuerdings nicht mehr bekommt) und auch ganz herrschaftlich sagte (auf mein: «Ich möchte den Fahrer nicht so lange warten lassen»): «Chauffeure sind das gewohnt.» Hm.

Kampen, den 28. Mai

Was für eine sonderbare Woche wieder hinter mir liegt. Hier sitze ich nun in meinem geliebten Handschuhfach in Kampen, brennende Ginsterbüsche begrüßten mich, unvorstellbar schön, die Bude renoviert, gereinigt, alles OK – eine neue Hausbesorgerin, selbst einen Masseur für/​gegen meinen schlimmen Rücken scheine ich gefunden zu haben, perfektes Sylt-Wetter mit Sonne, kühlendem Wind, jagenden Wolken, zum Abendessen von der Gänseleber mit frischen Feigen über den Spargel bis zur frischen roten Grütze ein «Dinner»; und trotzdem bin ich innen ganz kaputt. Ob meine Energie, die ich nicht recht loswerde, sich gegen mich selber richtet, mich sozusagen aushöhlt? Diese monologische Situation, die mich – der ich ja sehr auf Gespräche angelegt bin; schon mein Kindermädchen brach in Tränen aus über mein «Geplapper» – zerstört? Ich weiß es nicht – ich merke nur einen regelrechten physischen Verfall, weiche Knie, unsicheren Schritt, ständige kleine «Schrammen» und Beulen am Auto (ich bin in einem Zustand, daß ich eigentlich überhaupt nicht fahren dürfte), das rasende Kopfweh Tag und Nacht IST irgendwas und wird durch Massagen allein nicht weggehen. Meine Hypochondrie läßt mich auf letzte Phase Syphilis oder multiple Sklerose tippen … Tatsächlich habe ich Wortfindungsstörungen, gratuliere Herbort zum schönen Corff-Artikel, wenn ich Orff meine, und sage: «Ich muß noch eine Bank ausfüllen», wenn ich einen Scheck meine; das Gehirn ist also haarscharf «daneben». Meine Chaplin-Scenen mit fallen lassen, vergessen, alles doppelt machen füllen inzwischen Teile des Tages, eigenartigerweise nicht in der Redaktion, wo ich natürlich gefordert bin. Es klappt eben nur noch die Inscenierung – so wie letzten Freitag: Abendessen mit Wunderlich und seiner Familie und meinem Neffen Peter, Anfahrt mit dem großen, Abfahrt mit dem kleinen Rolls-Royce, was für den Jungen, der aus der Wüste Nevada kommt und für den mein Porsche schon der Hollywood-Traum ist, ja auch verwirrend sein muß. Es war ein «vergnügter» Abend. Sonntag abend draußen bei Kunert. Meine ewige Rolle, wenn die Leute wüßten, wie mir eigentlich zumute ist; die nähmen sich fein ihre Krise … Munter aus dem Auto, alles brav bewundert und auch die Kartoffelsuppe brav gelöffelt. Als Vorspeise Salat, Nachspeise keine, für uns drei zwei Flaschen Wein (was ja gut wegen Auto und Kopfweh ist, aber als Angebot halt doch ein wenig wenig). Trotzdem: Beide waren eigentlich wieder nett und fast freundschaftlich, er wirklich sehr endzeitlich, ich glaube nicht nur als Masche, resigniert, bitter vis-à-vis de rien. Durfte dann, nachts, zusehen, wie der einzig gut-, will sagen: nicht verkommen – aussehende Mensch in der Unterwelt durch mich hindurchblickte wie durch eine Glaswand – aber lustige und flirtende Augen bei jemand anderem bekam, mit dem er genau DREI Minuten nach Flirtbeginn abzog. Sehr ermutigend, wieder mal. Inzwischen ist nun Peter Meyerhoff ausgezogen – doch ein ziemlicher Schmerz für mich, auch durch die Art, wie er das tat: nämlich ohne ein Wort. Ich bin’s ja nun von ihm gewöhnt, die Jahre hindurch, daß er aus einer Mischung von komischem Zynismus («Sieh mal die Frau mit den Krampfadern da») und Multschigkeit eigentlich an anderer Menschen Leben nicht teilnimmt, auch an meinem nicht, mich ja in 5 Jahren nicht ein einziges Mal zu sich in die Wohnung eingeladen hatte – aber dieser stumme Auszug, ohne ein Abschiedswort, die schönen Biedermeier-Möbel und Palmen auf der Straße vorm Möbelwagen und Peter (als ich in den Wagen stieg) mir nebenbei winkend, so, als sähen wir uns morgen früh wieder; das war doch arg. Wenn man denkt, daß er mal meinetwegen herzzerreißend weinte! Ich glaube, er kann garnicht mehr weinen, und seine lustigen Zynismen sind inzwischen seine zweite Natur geworden (weswegen er letztlich menschlich leer und deswegen auch so unzuverlässig bleibt; letztes von den unzähligen Beispielen: meine Bitte, mir diesen hübschen, kleinen See aufzuschreiben, den er da in Schleswig-Holstein entdeckt hat, damit ich da mal mit meinem Neffen an einem Wochenendtag hinkann; nichts. Es ist ihm so egal, was andere Menschen tun, daß er’s einfach vergißt – sei es nun eine Glühbirne oder geliehenes Geld). Das Pünktchen auf dem i war, als ich zum soundsovielten Male ihn zum Essen – Abschiedsessen – bat, auch, weil ja noch vieles Vertragliche zu bereden war, auch nach vielen Absagen und «Logierbesuchen» (von denen ich nie wußte, wer’s war, und zu denen ich auch nie dazugebeten wurde) bequemte er sich endlich am vorletzten Wochenende, wir gingen zum Italiener, ich hatte vorher noch ein paar kleine melancholische Zeilen oben durchgesteckt (ohne jede Reaktion), und als die Rechnung kam, er hatte gerade 10.000 Mark von mir kassiert, sagte er glatt: «Laß es uns doch teilen», und hechtete mit dem Satz: «Laß es uns jetzt nicht dramatisch machen» fast wie in Angst mit einem Riesensatz die Treppe hoch, als wir nach Hause kamen – nix noch ’nen Drink oder wollen wir noch … (ich wollte garnicht, mußte ja nächsten Morgen früh nach Zürich, aber …). Es wird kühler um mich herum, einsamer. Nun wird Frau Stützner dort wohnen, und es wird wohl sachlich in Ordnung gehen, aber eine bestimmte Wärme ist weg. Ich hing menschlich doch sehr an ihm, hatte ein – wieso eigentlich? Er spricht inzwischen von den Verträgen, die «ganz klar» sein müssen, weil ich doch jeden Moment sterben könnte – ganz großes Vertrauen zu ihm. Habe ich zur Stützner auch – aber es ist doch, in gewisser Weise, eine sehr andere Situation. So ist sein Auszug ein Stück mehr Vereinsamung. Zu Zürich nur noch das: Wie merkwürdig, daß ausgerechnet die eine Stelle in meiner «Prosa», die nun ausschließlich und authentisch autobiographisch ist, jener Moment, der mein ganzes Leben bestimmt und zerstört hat, nämlich als mein Vater mich verführt und ich mit seiner Frau ficken muß – daß der als «unwahrscheinlich» abgelehnt wird. «So was gibt es nicht.» Ach Gottchen. «So was tut ein preußischer Mann nicht!» – Tja, ich hab’s ja gerade geschrieben, um zu zeigen, daß so einer so was eben tut. Und mehr.

Kampen, den 12. Juni

Zerwirbelte Vor-Sylt-Tage; fahre nächste Woche, nach dem letzten Autor-Scooter (den ich als «Autor» mit Wapnewski mache), nach Kampen, wie immer: Jetzt freue ich mich auf die Ruhe und Einsamkeit, nach einem wahren Reigen von «social commitments», Abend für Abend. Aber sitze ich dort erst einmal, bin ich spätestens vom 3. Tag an todunglücklich in meiner Einsamkeit. Und die Berge von Arbeit, die ich mitnehme, beunruhigen mich schon jetzt. Merkwürdige «Urlaube» sind das immer. So hat mich auch ein Satz in einem Fassbinder-Nachruf besonders geschockt: Er habe nie in seinem Leben auch nur einen Tag Urlaub gemacht. Was für mich ja nun wirklich auch zutrifft – ob nun Sylt, auf Sardinien oder in Fuerteventura: Ich habe doch stets ein Buch vor der Nase oder kritzle an etwas. Ist wohl eines der «Geheimnisse», nach dem alle immer fragen, wenn sie sagen: «Wann schaffen Sie das alles bloß?» So ist eigentlich eine ziemlich sinnlose Woche vorbeigerast, ein Abend bei Peter Koch, STERN-Chef, schönes Haus in Övelgönne, bemerkenswerte Bilder – aber törichter Abend mit plappernden Gästen in Turnschuhen. Ein anderer Abend mit dem wie immer kakelnd zurückgekehrten Fichte, der wieder viele Male in Lateinamerika ermordet wurde, von der AIR FRANCE die Concorde-Tickets geschenkt bekommen habe («Ich bin eben berühmt») und anstandslos ein entlegenes Hörspiel von sich einen «Klassiker» nennt, den zu verlegen Herr Heinrichs sich freuen würde, weil er dann ja ein Werk hätte. Letztlich genauso grotesk der nächste Abend mit Felix Schmidt, zweiter STERN-Chef, der nur über seine Armut – bei geschätzt 500.000 DM im Jahr – klagt und auf eine Insel will. Ich weiß oft nicht: Gehört das nun wirklich zu meinem Beruf, oder warum mache ich’s? Wohl nur, weil man auch nicht Abend für Abend zu Hause seine Boulette alleine rühren mag. Vermutlich, mit wenigen Ausnahmen wie Brasch, reden sie nur schlecht, und die ganzen Angebote wie die vom STERN («Wir engagieren Sie am Tage, an dem Sie bei der ZEIT aufhören») sind nur Gerede. Schrecklichster Klatsch in der Beziehung: ein kleiner, klatschsüchtiger Nicht-Schriftsteller namens Steinke erzählte mir, habe es angeblich von Havemanns Tochter Bille (die früher Biermanns Geliebte war), daß Havemann diesen letzten, berühmten und gefilmten Besuch von Biermann nicht ertragen, immer nur gestöhnt habe: «Wann geht dieser gräusliche Mensch endlich» und nach B.s Abgang gerufen habe: «Jetzt brauche ich SOFORT ein Stück Schweinebraten zum Trost.» Aß es und starb (dran). Freunde fürs Leben nennt man das. Wichtiger als all das: Wie soll ich mich wegen des «Kuhauge»-Manuskripts entscheiden? Ich kann mich auch nicht zu Tode beraten. Es haben nun Grass und Wunderlich, Enzensberger und Brasch gelesen, Muschg Teile gehört und einen hoch-merkwürdigen Brief dazu geschrieben. Alle sind zumindest angetan, einige begeistert, Brasch drängt auf Veröffentlichung und sagt zu Recht, Rücksicht irgendeiner Art wäre nicht nur neu für mich und mir ungemäß, sondern würde sogar alle meine bisherigen Proklamationen und Positionen vis-à-vis Literatur unglaubwürdig machen. Brasch vorgestern: Muß so und nicht anders raus, es ist fertig so. Grass gestern: Es ist aber noch nicht fertig, gib es nicht zu früh aus der Hand. Hat nun Brecht recht oder Thomas Mann? Ich neige zu Brasch-Brecht. Ich finde, dieser Teil hat SEIN Klima, anstückeln ginge auch schon sprachlich nicht, es kommt nach dieser Lebensphase eine andere innere Haltung, damit andere literarische Struktur. Möchte danach lieber meine «Toten vom Spoon River» schreiben. Aber was noch und wann?

Kampen, den 28. Juni

Mitscherlich ist tot – und ich gehe Tennis spielen. Wenn ich schon mal von zwei Gewohnheiten Abstand nehme: abends Tagesschau und morgens VOR dem Frühstück in die Zeitung sehen. So war meine groteske Trauergeste: schlecht Tennis spielen. «Es regnete Tote» – das scheint weiter zu gehen. Zeigt auch meinen Jahrgang, ob nun Havemann, Peter Weiss oder jetzt Mitscherlich – das sind ja alles Menschen, die ich entweder persönlich gut kannte oder deren Arbeit für mich, für meine wichtig war. So bewege ich mich aufs Grab zu, und tatsächlich macht mir mein stetes Kopfweh, von morgens beim Aufwachen bis zum Zubettgehen, große Sorge. Mir ist den halben Tag schwindlig, das muß etwas Ernsthaftes sein, mein tiefes und endlos langes Schlafen ist ja ohnmachtsähnlich, und Luft und Wind, Massage, Tennis und Schwimmen – also perfekte «Erholung» hier eigentlich – haben NICHTS genutzt. Die Kraft, mal 14 Tage wirklich keinen Tropfen Alkohol zu trinken, habe ich dennoch nicht gehabt – Schwäche des Alkoholikers? Makaber bei Mitscherlich auch, daß ich 3 Tage vorher mit seiner Frau korrespondierte, sie Grüße ausrichtete und ich zurückfragte: «Kann man irgendwie helfen?» Gleichzeitig ein Brief von Augstein, der sich verwundert, wieso der kranke und «debile» Mitscherlich Jury-Mitglied bei der von mir initiierten ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher ist; was ja nun, auch eine Pointe, in der Tat seine letzte «Arbeit» war. (Augstein, trickreich wie immer, schreibt ja auf meine Frage, ob er den Plato übernehmen möchte: «Ja, gerne mache ich den Hobbes.») Sie sind ja alle absonderlich, die Herren Schreiberlinge, eitel, weswegen sie – von Kreisky bis Bertaux, von Aron bis Golo Mann – mitmachen; aber jeder will ein Extra-Süppchen à la: nein, diesen Titel nicht – aber jenen. Und das MUSS dann einer sein, der – wie die mitgeschickte Liste zeigt – vergeben ist. So muß Küng natürlich den Luther rezensieren, den aber Frau Ranke-Heinemann «hat». Jetzt die Tucholsky-Briefe, meinen Text dazu, die Auswahl für NDR und ZEIT-Magazin, die Zwischentexte, Benjamins Passagenwerk, Ernst-Weiß-Aufsatz vorbereiten. Im Genick der große Jünger-Aufsatz und die beiden großen Gespräche mit Böll und Lenz. Einerseits natürlich alles sehr schön – aber auch bißchen viel (gut, daß ich das meiste für mein Buch verwenden kann; das ist natürlich die privilegierte Situation meiner Tätigkeit). Der Gedanke, daß ich meine «eigentliche» Arbeit dabei vernachlässige, ist momentan etwas erstickt; Unseld hat auf einen gewiß sehr empfehlend-dringlichen Brief von Brasch über «das» Buch reagiert: Er will – wie damals bei der Intervention von Enzensberger – es nicht mal sehen! Ledig reagiert nicht auf Hochhuths Tip: Also diese «Rolle» des Prosa-Schreibers gesteht man mir nicht zu. Wenn ich mich erinnere, daß Unseld, damals nach dem Rowohlt-Bruch, als er mich zu Suhrkamp holen wollte, wörtlich sagte: «Sie sind mir zu groß, ich habe Angst vor Ihnen.» Was ist da nur an/​in mir, was die Leute so reagieren läßt – auch einfach was Großes voraussetzen läßt (Augstein vor Jahren: «Nee, mit dir spiele ich gottserbärmlich Tennis.» Oder Stefan Heym hier neulich, der einfach als selbstverständlich annahm, daß mir DAS GANZE HAUS hier, und nicht nur die kleine Wohnung, gehört).

Kampen, den 16. September

Das letzte Ei ist gegessen, die letzten fahlen Dahlien sind verblüht, das letzte Vivaldi-Band gespielt; time to part. Es ist ja komisch – obwohl dies ja hier auch eine Art «Zuhause» ist und eine Wiederkehr eher wahrscheinlich (wenn auch eventuell mit dem Makler zum Verkauf unterm Arm …), dieses «ziehende» Abreisegefühl, das wir aus dem Wort «partir, c’est un peu mourir» kennen, stellt sich auch hier, und immer wieder, und diesmal besonders stark ein. Verstärkt wohl durch allerlei bedeutsame (?) Details, wie daß ich die Fenster neu streichen ließ, einen langen Sylt-Tee wieder bei meinem Pastor war und die Bepflanzung meines Grabes in Keitum nun endlich erledigt wird (das Grab, by the way, ist sehr «schön» – zwischen Suhrkamp, Avenarius und Baedeker; mehr kann man wohl nicht verlangen …). So beschleicht mich ein wenig das Gefühl: «Haus bestellt.» Nun wird der Blumenkohl und das Töpfchen Rote Grütze in Plastik verschnürt, weil ich nicht genau weiß, ob zu Hause eigentlich der Tisch gerichtet ist. Es waren wieder mal merkwürdige Wochen – einerseits betörend schön dieser Herbst, alle Wetter, die man sich wünschen kann, hintereinander, mal tosende Brandung und mal faul daliegende See, mal heiß und mal herbstlich verschleiert, hinter den pflügenden Bauern diese von weitem wie wehende weiße Brautschleier wirkenden Wolken von Möwen, die sich da aus den Furchen was picken – es hätte ohne diese brutale Störung durch den Herrn Sommer ein schöner Urlaub werden können. Daß alles nicht Zeit hatte bis NACH dem Urlaub, daß nun gar ein Brief meinen sogenannten «Untergebenen» gezeigt wird (was für ein Chef bin ich da eigentlich noch?) – wie grob und taktlos ist das alles. Zur Identifikation mit diesem ZEIT-Hause also kein Grund. Maria Augstein fragt verdächtig «leise», ob die Einladung Siedlers an mich zu seinem morgigen Fest auch «freundlich» sei; mir scheint, daß sie da mehr weiß, als sie sagen will oder darf – es sieht ja wohl so aus, daß er mein möglicher Nachfolger wird, was auch passend wäre: intelligent, konservativ und im Habitus ins Haus «passend», immer gestern mit Golo Mann spazieren gegangen und morgen mit Speer zum Tee. Ich hatte da letztlich doch den falschen Geruch – denn in Wahrheit bin ich nicht nur zu bunt und zu «outwayish», sondern ist ihnen Speer doch lieber als Grass, und die Gräfin ging halt immer mit Jünger zur Schule … Dieses Gefühl – was heißt Gefühl, WISSEN –, eigentlich nirgendwohin zu gehören, von niemandem getragen zu werden, immer nur das Tier mit dem falschen (bzw. keinem) Stallgeruch zu sein – das sägt schon ganz hübsch an meinen Nerven. So fahre ich unfroh zurück, ängstlich sogar – und graule mich sogar vor den beiden «Verlegergesprächen» der kommenden Tage. On verra.

25. September

Zurück aus Lavigny und dem vollkommen sinnlosen Leo-Fest, wo es schlechten Wein, langweilige Leute und ein Steak gab (was mich, alles zusammen, 1000 Mark gekostet hat), und in 1 Stunde beginnt mein Interview mit Siegfried Lenz, wovor ich mich immer wieder graule, Lampenfieber, habe das Gefühl, es wird nix, es fällt mir nix ein – – – und versinke im übrigen weiter wie eine Beckettfigur im Sand, so in der Finsternis; ich «grinse» noch, aber der Sand knirscht schon zwischen meinen Zähnen. Aufregend und wichtiger eigentlich, daß mein alter Studienfreund Gerd, der ja noch und für immer in Ostberlin lebt, anrief, bei irgendeiner Schwester zum 60. in Solingen oder so, und mir erzählte, daß er STÄNDIG und IMMER WIEDER vom SSD kontaktet würde, meinetwegen. Er könnte so was haben, jede Woche ’ne Westreise, wenn er wolle – wenn er sich bereit fände, mich zu «übernehmen». Ich habe mich fast übergeben müssen – was ist nur an meinem Leben, daß alles so merkwürdig, spektakulär, angriffig ist? Warum ist gestern zum zweiten Mal (von allen hier in der Straße parkenden Wagen) MEIN Wagen versucht worden zu klauen; warum will Bucerius MICH loswerden und nicht Petra oder namenlose Langweiler – oder auch namHAFTE –, warum fühlen sich die Lover «erwürgt» und die Kollegen «überwältigt» (Grass hat Lenz vor dem Interview quasi gewarnt, er müsse aufpassen, ich denke doppelt so schnell wie normale Menschen), und warum fiel der betrunkene Wagner-Zelinsky gestern abend über meinen (kostbarsten) Majorelle-Tisch, daß er hin ist?

 

Gerade zurück von Lenz; das Gespräch ist eher middle-brow, aber ich war auch nicht auf der Höhe, nicht nur, weil mir zu ihm nicht viel einfiel, sondern weil ich aus Wut über den zerstörten Tisch und aus Kummer über alles Mögliche kaum geschlafen hatte, trotz 9 Stunden im Bette, rasendes Kopfweh, obwohl wenig getrunken und Bauchweh vom Lenzschen Pflaumenkuchen. Vielleicht macht mich die Schulaufgabe, ich habe nur noch Glanzstücke zu liefern, auch unfähig zu Glanzstücken. Einzig erfreulich die Reaktion aus dem Hause Fischer, aus dem immerhin dieser junge, neue Cheflektor hingerissen sich für den Abend bedankte (die Inhaberin nicht!) und meinte, daß dieses von mir so «bescheiden» charakterisierte Buch mit Sicherheit der Haupttitel des Fischer-Programms des nächsten Herbstes würde. Hm. On verra. Es soll «Die Nachgeborenen» heißen. Das schließt übrigens eine baldige Publikation von «Kuhauge» aus, denn die Frühjahrsprogramme sind fertig, und ich kann im Herbst nicht neben diesem dicken Schinken meine kleine novelet präsentieren. Dienstag mittag bin ich mit Augstein verabredet – dann wissen wir wenigstens, daß das NICHTS wird. Ich kalkuliere, daß es bei der ZEIT auf eine Trennung im Laufe des kommenden Jahres hinausläuft und auf irgendeinen Mitarbeitervertrag. Dann müssen wir uns eben einschränken … Rührend übrigens und dann eben doch mein alter Tigertank, der sie ja mal war, Mutter und Vater zugleich, die alte Mary Tucholsky, die einen «Donnerwetter»-Brief schrieb, wieso ich sie nicht an meinen Sorgen teilnehmen ließe und wie sie helfen könne. Ich solle ihr mal meine «Bücher» offenlegen (wie in einem Kontor bei Fontane), damit sie wisse, wieviel Geld ich denn brauche, um meinen «Seelenfrieden» zu finden; sie würde das dann irgendwie regeln. Das hat mich doch ziemlich umgeschmissen – und natürlich habe ich Geld-Hilfe abgelehnt; aber daß sich jemand so konkret kümmern will, hat mir gutgetan. So, jetzt ist Bloody-Mary-Time, dann gibt’s Heringe mit Apfel und Zwiebel zum Columbo-Krimi.