Petra Oelker

Die kleine Madonna

Roman

 

Für Maike Kristin

 

In der Tat werden wir durch Zweifeln

zur Suche angeregt;

durch Suchen erfassen wir die Wahrheit.

 

Abaelardus, Philosoph, 1079  1142

 

 

Ein Tag sagt es dem andern,

und eine Nacht tut es der andern kund –

ohne Sprache, ohne Worte,

mit unhörbarer Stimme.

 

Psalm 19, 3.4

PROLOG

1852

 

Als sie Kälte der alten Steine ihren wollnen Umhang durchdrang, löste sie sich aus der Mauernische, trat ans Fenster und sah hinaus in die Nacht. Immer noch lag der Hof verlassen; der Holzschuppen und das alte Backhaus standen unter den noch kahlen Eichen, bizarr gemustert von den Schatten des knorrigen Geästs der Kronen. Bei der Weißdornhecke, die den Hof notdürftig vor dem Wind aus der Heide schützte, schien sich etwas zu bewegen. Der Fuchs, dachte sie und freute sich, ihn noch einmal zu sehen. Aber wenn er es wirklich war, wagte er sich in dieser Nacht nicht auf den Hof. Vielleicht spürte das Tier näher kommende Schritte. Sie tastete nach der Uhr, die rundlich und schwer wie ein Ei aus Stein in ihrer Rocktasche lag. Doch es war überflüssig, auf den Stand der Zeiger zu sehen. Er würde die verabredete Zeit nicht versäumen.

Und wenn er nicht kam? Wenn er aus ihrem gemeinsamen Traum aufgewacht war und sein Versprechen bereute? Hatte er überhaupt etwas versprochen? War es schon ein Versprechen, wenn man einen Plan machte?

Er würde kommen. Und sie würden schnell genug sein.

Der Mond stand hoch am tiefschwarzen, von Sternen kalt glitzernden Himmel, er war nur eine Sichel, doch sein schwaches Licht gab ihr Zuversicht. Sie hatte ihn immer gemocht, den Mond. Als sie noch zu Hause lebte, hatte sie sich manchmal, sobald alle schliefen, in den Garten geschlichen, die Pelzdecke um die Schultern, und die Geborgenheit des Dunkels gefühlt und zugleich eine befremdliche Sehnsucht nach jener Freiheit, die in der Unendlichkeit unter dem Himmel lag. Weil sich niemand gefunden hatte, ihr die Karten des Sternenatlasses zu erläutern, hatte sie den Sternbildern eigene Namen gegeben, damit sie mehr waren als ein fernes Geglitzer, mit dem sich nicht sprechen ließ. So gab es an ihrem Himmel Sternbilder mit den Namen Ruth, Jonas oder David. Eines nannte sie Kain, obwohl sie nicht sicher war, ob das ein guter, ein passender Name war.

Sie hätte gerne das Fenster gegenüber der Nische geöffnet und die frische Nachtluft geatmet, doch es war so alt, dass es noch keinen Riegel hatte. Und in diesem Flur, unbewohnt und kaum betreten, lohnte es kaum, ein neues einzubauen. Wie viele Stunden hatte sie in den letzten zwei Jahren hier verbracht? Sie begann zu rechnen, das ließ die Zeit schneller vergehen. An fast jedem Tag hatte sie die kleine Madonna in ihrer staubigen Verbannung besucht; noch nicht während ihres ersten Klosterjahres, sie hatte den Gang und seinen Schatz erst später entdeckt. Ostern, ja, es war kurz vor Ostern gewesen, zu Beginn des zweiten Jahres. Das wusste sie genau.

Nun würde wieder bald Ostern sein, das Fest, das sie am meisten liebte. Die Äbtissin hatte zufrieden genickt, als sie es erzählte, damals, bald nach ihrer Ankunft während ihrer ersten Ostertage an diesem Ort; und sie war klug genug gewesen, nicht darauf hinzuweisen, dass der Grund ihrer Vorliebe weniger die Heiligkeit dieser Tage und Nächte war als viel mehr das Ende des Winters, die Gewissheit, dass Gras und Bäume wieder grünten, die Wiesen blühten und der Himmel hoch wurde. Dass der Gesang der Vögel 

Sie lachte leise. An diesen Ostertagen würde sie dem Gras und den Bäumen, dem weiten Himmel so nah sein wie nie zuvor. Und sie würde glücklich sein wie nie zuvor.

Sie ließ die Fingerspitzen prüfend über ihre Wangen gleiten, ertastete jede Vertiefung, berührte flüchtig die Stirn, verharrte einen Augenblick bei der hässlichsten Narbe am Kinn. Sie sollte dankbar sein, dass die Gebete ihrer Eltern und Schwestern erhört worden waren, die meisten starben doch an den Blattern. Und an die Narben, so hatten sie versichert, werde sie sich gewöhnen, mit der gebotenen christlichen Demut. Niemals, hatte sie gedacht, die Augen fest geschlossen und sich trotzig gewünscht, alles sei wieder wie früher, bevor sich die Blattern durch ihre Haut fraßen.

Du bist immer noch schön, auch das hatte sie oft gehört; doch die hastige Lüge konnte weder trösten, noch half sie ihr, den nötigen Dank zu empfinden. Sie war nur voller Zorn gewesen.

Nun war alles anders. Seit seine Hände über ihr Gesicht geglitten waren, seit er sie mit diesen Augen angesehen hatte, war es, als seien die Narben endlich verschwunden. Das waren sie nicht, natürlich nicht, Ulrica war mit ihren sechzehn Jahren kein dummes Kind mehr, das so einfach an Wunder glaubte. Besonders nicht, wenn es um törichte Anlässe wie Eitelkeit ging. Doch jetzt hatten sie keine Bedeutung mehr, nur darauf kam es an.

Sie sah die kleine Madonna an, die, von einem schmalen Streifen Mondlicht sanft beschienen, auf ihrem Sockel saß und mit dem ewig jungen Gesicht lächelte. Die Gebete ihrer Familie mochten Ulricas Leben, ihren Körper gerettet haben; ihre Seele jedoch, die Rückkehr der Freude und der Zuversicht und das Gefühl, wieder lebendig zu sein und eine Zukunft zu haben, verdankte sie einzig der kleinen Madonna. Das wusste sie so sicher, wie sie von der Richtigkeit ihrer Entscheidung überzeugt war.

Ihr Platz im Kloster war eine große Ehre für ihre Familie. Und eine große Erleichterung. Die meisten der adeligen und der Patrizierfamilien – davon gab es viele – hofften, dass der Landesherr eine ihrer Töchter mit diesem Privileg bedachte. Als Mitglied eines Konvents wären sie nicht nur bis an ihr Lebensende versorgt, sondern waren in der Gesellschaft sogar den verheirateten Frauen gleichgestellt. Manche, so hieß es, zogen das von dem Wohlwollen eines Mannes unabhängige Leben einer Konventualin sogar der Ehe vor.

Darüber hatte Ulrica nicht nachgedacht, als sie ihr gesagt hatten, sie werde im Kloster leben. Sie hatte nur gewusst, dass sie nicht fort wollte, nicht allein sein mit lauter fremden Damen in diesem alten Gemäuer einige Tagesreisen weit von ihrer Stadt, von allen, die sie kannte und liebte. Selbst als sie versichert hatten, ihr Hanne mitzugeben, ihre vertraute Jungfer, dazu den kleinen Wagen und ein Pferd, Möbel, Geschirr, Wäsche, alles, was sie für einen bescheidenen, doch würdigen Hausstand brauchte, konnte sie in ihrer neuen Bestimmung nichts als eine Verbannung sehen.

Sie schickten sie fort in diese öde Heide, die selbst im Sommer nur aus Sand, Gestrüpp und Einsamkeit bestand. Sie wollten sie nicht mehr in ihrem Haus haben, sie nicht mehr anschauen und nicht mehr verstecken müssen, wenn Gäste kamen. Besonders wenn junge Herren darunter waren. Es machte genug Mühe, für drei Töchter passende Ehemänner zu finden, Männer von passendem Stand, die sich zudem mit einer bescheidenen Mitgift zufrieden gaben. Die Gegenwart einer vierten Schwester mit dem Gesicht voller Narben, für die sich keinesfalls ein Ehemann finden würde, bedeutete einen dunklen Schatten auf den Hoffnungen ihrer Schwestern. Schlimmer noch: Die Bewerber mussten befürchten, eines Tages eine unnütze Schwägerin aufnehmen und versorgen zu müssen.

Ulrica schlang die Arme fest um ihren dünnen Körper und schmiegte sich tiefer in ihren schwarzen Umhang. Sie fror und fragte sich, wie die kleine Madonna das ausgehalten hatte, während sich die Jahrzehnte zu Jahrhunderten fügten. Die Kälte und die Einsamkeit. Früher, als im Kloster noch die katholischen Zisterzienserinnen lebten, hatte die Madonna einen Ehrenplatz in der Kirche gehabt. Nun stand sie schon lange in der muffigen Nische in diesem verlassenen Gang. Die Statue war ihr so vertraut und lieb, manchmal vergaß sie, dass sie eigentlich nur ein Stück Holz mit abblätternden Farben war. Die Goldverbrämung ihres azurblauen Mantels war kaum noch zu erkennen, auch von seiner Farbe fehlte das meiste. Ihre rechte Hand war leer, wo die linke gewesen war, ragte nur mehr der Stumpf des Armes unter ihrem Umhang hervor.

Die Zeitläufte hatten viele Narben auf der kleinen Madonna hinterlassen, aber ihr Lächeln nicht zerstören können. Vielleicht hatte sie sie deshalb gleich geliebt, vom ersten Moment an, seit sie diesen Gang und diese Nische gefunden hatte. Die kleine Madonna hatte sie gerettet, nun war es an ihr, zu helfen.

Ein Kiesel schlug gegen die Scheibe, sie blickte in den Hof hinunter und sah niemanden. Aber sie wusste, dass er da war, im Schatten der Mauer, gleich neben der schmalen Tür zum Hof. So wie er es versprochen hatte. Rasch zog sie ihren Mantel von den Schultern, schlang ihn um die Madonna und hob sie von ihrem Sockel. Sie war schwer, viel schwerer, als sie gedacht hatte, und es war auch nicht leicht, mit dieser Last leise Schritte zu machen und die enge, dunkle Treppe hinunterzueilen. Doch just als Ulrica glaubte, die Madonna werde ihr entgleiten, wurde sie leicht, der Mantel rutschte und gab das lächelnde Gesicht frei. Es leuchtete in der Dunkelheit. Da öffnete sich vor ihr schon die Tür zum Hof, und Ulrica trat, die kleine Madonna fest in den Armen, hinaus in die Nacht.