Rüdiger Bertram

Knastkinder

1

Von hier oben sah die Stadt ganz anders aus. So sauber. Auch der Lärm, der Tag und Nacht unten auf den Straßen dröhnte, drang nicht bis zu Jonathan herauf. Zu hören waren nur das stetige Brummen der Klimaanlage und die schrille Stimme einer einheimischen MTV-Moderatorin im Fernseher hinter ihm.

Jonathan stand am Fenster und schaute hinaus. Sein Zimmer lag im 15. Stock. Weit sehen konnte er trotzdem nicht. Die Hochhäuser im benachbarten Bankenviertel Makati waren nur verschwommen zu erkennen. Der Smog lagerte fett über der Stadt und stank nach rußigem Diesel, verbranntem Gummi und verfaultem Was-auch-immer.

Hinter den dicken Scheiben duftete es frisch nach Limone. Jonathan fragte sich seit einer Woche, ob der Geruch von den Reinigungsmitteln stammte oder durch die Klimaanlage hereingeleitet wurde. Letzteres war wahrscheinlicher. Das Hotel gab sich alle Mühe, seine Gäste vergessen zu lassen, wo sie waren.

Jonathan drehte sich um und betrachtete den Raum, als sähe er ihn zum ersten Mal. Es war ein Allerwelts-Hotelzimmer, wie man es überall rund um den Globus findet: ein Doppelbett, zwei Nachttische mit einem Telefon und einem Radiowecker, ein Sessel, ein Schrank, ein Fernseher unter der Decke und eine Tür, die ins Bad führte. Nichts in diesem Zimmer verriet, dass 10 000 Kilometer zwischen Jonathan und Berlin lagen. Abgesehen von der riesigen Kakerlake, die irgendwo unter seinem Bett hocken musste. Als er das Zimmer das erste Mal betreten hatte, saß sie mitten auf dem Kopfkissen. Direkt neben dem kleinen Schokoriegel, den man ihm als Willkommensgruß dort hingelegt hatte. Im Vergleich zu der Kakerlake hatte die Schokolade winzig gewirkt. Jonathan war erschrocken aus dem Zimmer gelaufen. Als er mit seinem Vater wieder zurückkam, war sie verschwunden. Die Kakerlake, nicht die Schokolade. Gegessen hatte er den Riegel trotzdem nicht, und seine Schuhe stellte er seitdem auch lieber ganz oben auf den Schrank.

Jonathan ließ sich quer auf das Bett fallen und starrte eine Weile auf den Fernseher. Die Moderatorin sprang in ihrem kurzen Rock aufgeregt in einer grellbunten Studio-Deko herum und sagte Bands an, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Jonathan stellte den Ton ab und griff zu seinem iPod. Wenn er Musik hörte, seine eigene Musik, konnte er sich vorstellen, er wäre zu Hause in Berlin. Musik war Heimat. Das Hotelzimmer war es nicht.

Das Telefon klingelte. Jonathan reagierte nicht. Er wusste, wer anrief. Seine Mutter, vielleicht auch sein Vater. Sonst kannte er in dieser Stadt niemanden. Sie hatten sich um zehn in der Lobby treffen wollen. Jetzt war es fünf nach zehn. Es klingelte wieder. Jonathan stopfte sich die weißen Kopfhörer in die Ohren. Auf dem blau schimmernden Display suchte er nach seinem Lieblingslied. Jetzt brauchte er nur noch auf Play zu drücken. Es klingelte. Jonathan nahm den Hörer ab.

«Wo steckst du? Wir waren verabredet, junger Mann! Hast du Damenbesuch, oder warum kommst du nicht runter?» Seine Mutter versuchte einen Scherz. Das tat sie öfter. Meistens erfolglos.

«Blödsinn. Ich bin alleine. Aber ich habe schreckliche Kopfschmerzen», log Jonathan.

«Er hat Kopfschmerzen.» Jonathan hörte, wie seine Mutter diese wichtige Information nach hinten an seinen Vater weitergab. Was sein Vater erwiderte, verstand er nicht.

«Soll ich zu dir raufkommen?»

«Ist bestimmt bald vorbei. Ich bleibe heute einfach hier im Hotel, und wenn ihr zurück seid, geht es mir schon wieder besser.»

Seine Mutter redete wieder mit seinem Vater, um ihn über den Gesundheitszustand ihres Sohnes auf dem Laufenden zu halten. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder in den Hörer sprach.

«Bist du sicher?»

«Ganz sicher.»

Jonathan spürte, wie seine Mutter die Gefahren für einen 12-Jährigen abwog, der allein in einer fremden Stadt einen Nachmittag in seinem Hotelzimmer verbrachte. Das Risiko schien überschaubar. Selbst für sie, die sich sonst ständig über alles Mögliche Sorgen machte.

«Gut! Dann fahren wir heute alleine zu Tante Maria. Soll ich nicht doch nochmal nach dir sehen?»

«Nicht nötig. Ihr seid eh schon spät dran. Und grüßt Tante Maria von mir. Unbekannterweise.»

Aus dem Hintergrund hörte er wieder Gemurmel.

«Papa sagt, du sollst dich ausruhen.»

«Mach ich.»

«Und du sollst auf keinen Fall allein das Hotel verlassen. Das ist hier nicht Berlin.»

«Ich weiß, wo ich bin.»

«Soll ich nicht doch lieber bei dir bleiben?»

«Mama!»

«Ruf bei der Rezeption an, wenn du etwas brauchst. Die bringen dir alles aufs Zimmer.»

«Ich weiß, Mama.»

«Dann erhol dich gut, mein Schatz. Ich hab dich lieb.»

Von hinten wieder Gemurmel.

«Papa auch, sagt er.»

«Ich euch auch. Und viel Spaß.»

«Schlaf ein wenig, hörst du. Das ist das Beste. Tschüs.»

Seine Mutter legte auf. Endlich. Jonathan drückte auf Play.

 

Seit sieben Tagen waren sie nun schon in Manila. Die Stadt war nicht gerade das, was man in Ferienkatalogen als Traumreiseziel anpries, aber Jonathans Vater war hier geboren. Anfang der achtziger Jahre war er nach Deutschland gekommen. Seine Eltern hatten lange gespart, um ihren Sohn nach Europa schicken zu können. Die Philippinen wurden damals von ihrem korrupten Präsidenten Ferdinand Marcos und seiner Frau Imelda, die mit den 3000 Schuhen im Schrank, ausgepresst. Seit dieser Zeit lebte Jonathans Vater in Deutschland. Erst in Frankfurt, später in Berlin, wo er Jonathans Mutter kennenlernte. Jonathans Vater war einen halben Kopf kleiner als sie und genau das Gegenteil von dem, was sich seine Großeltern unter einem perfekten Schwiegersohn vorstellten. Das hält nicht lange, hatten sie prophezeit und damit ziemlich danebengelegen. Seine Eltern waren seit achtzehn Jahren verheiratet. Mehr oder weniger glücklich, soweit Jonathan das beurteilen konnte. In der ganzen Zeit war sein Vater nicht einmal nach Hause geflogen. Zuerst hatte er kein Geld gehabt, dann fehlte ihm die Zeit, weil ihn die Arbeit auffraß. Er hatte den kleinen Tierfutter-Laden seines Schwiegervaters übernommen und nach dem Fall der Mauer Filialen im Osten der Stadt eröffnet. Jetzt, wo es den Menschen dort besser ging, sollte auch ihr Fiffi nicht mehr leben wie ein Hund. Die Geschäfte brummten.

 

Jonathan drehte die Lautstärke seines iPods höher und zog sich die Decke über den Kopf. Er wollte zurück nach Berlin. Zurück zu seinen Freunden.

2

Als Jonathan aufwachte, flimmerte tonlos eine Karaoke-Show über den Bildschirm des Fernsehers. Er richtete sich auf und schaute auf den Radiowecker neben dem Bett. Es war kurz vor zwölf. Seine Eltern würden erst am späten Nachmittag zurückkehren. Bis dahin war noch viel Zeit. Jonathan sammelte die Kopfhörer ein, die ihm im Schlaf aus den Ohren gefallen waren, und legte sie auf den Nachttisch neben seinen Talisman. Seit er die kleine Batman-Figur vor vier Jahren in einem Überraschungs-Ei gefunden hatte, begleitete sie ihn überall mit hin. Jonathan hatte sich damals wahnsinnig über das kleine Stückchen gepresstes Plastik gefreut. Er liebte Comics, und Batman war sein absoluter Lieblingsheld. Selbst beim Fußballspielen trug er den Superhelden in der Tasche seiner Sporthose bei sich, und es kam nicht selten vor, dass seine Mannschaft verlor, wenn er ihn vergaß. Jonathan glaubte – nicht wirklich, aber doch ein bisschen –, dass sich seine Kraft und sein Grips auf ihn übertrugen. So wie vorhin, als er sich mit einer kleinen Lüge einen freien Nachmittag gesichert hatte.

Seit einer Woche war er außerhalb seines Zimmers nicht einmal alleine gewesen. Immer und überall waren seine Eltern dabei. Auch wenn er sie beide von Herzen liebte, auf die Dauer waren sie nicht zu ertragen. Aber das galt wahrscheinlich für alle Eltern, dachte Jonathan.

Vor zwei Monaten war Jonathans Vater nach Hause gekommen und hatte überraschend verkündete, dass sie alle gemeinsam nach Manila fahren würden. Sein Vater war gerade 45 geworden. So eine Art Midlife-Crisis-Ding, war das Erste, was Jonathan durch den Kopf ging. Er war sauer, weil er sich schon lange auf ein Jugendcamp mit seinen Freunden in Spanien gefreut hatte. Die Philippinen hatten auch tolle Strände, aber schon vor ihrer Ankunft wurde Jonathan klar, dass er davon nicht viel zu sehen bekommen würde. Nach 25 Jahren in Deutschland war sein Vater ganz verrückt darauf, Pläne zu machen und alles bis ins letzte Detail vorzubereiten. Korrekter und penibler als jeder Deutsche. Für die zwei Wochen hatte er einen minutengenauen Reiseplan ausgearbeitet. Kopien seiner doppelseitig bedruckten Terminübersicht hatte er laminieren lassen und Jonathan und seiner Mutter noch auf dem Flughafen in Berlin in die Hand gedrückt. Jeden Tag stand ein anderer Teil der Familie auf dem Programm, der unbedingt besucht werden musste. Jonathan hatte keine Ahnung gehabt, wie groß die Familie seines Vaters war. In Deutschland hatte er eine Oma, eine Tante und zwei Cousinen. Hier auf den Philippinen schien jeder mit jedem verwandt zu sein, und sein Vater wollte sie alle treffen.

Die wenigen freien Minuten, in denen kein Mitglied der Familie besucht wurde, waren für Kirchen reserviert oder Vaters Schule oder den Park, in dem er früher gespielt hatte, oder die Straße, auf der sein erster Hund überfahren wurde, oder, oder, oder … Jonathan und seine Mutter sollten sein Manila kennenlernen. Er wollte ihnen alles zeigen, was er als Kind gesehen hatte. Leider gehörte ein Palmenstrand nicht dazu.

Jonathan zog sich an: seine Levis, ein Polo-Shirt, zum Schluss holte er seine Nike-Sneakers oben vom Schrank herunter. Bis seine Eltern zurück waren, wäre er längst wieder im Hotel. Er war 12, fast schon 13, und Berlin war auch nicht gerade das, was man Provinz nennt. Außerdem sprach er die Sprache: Tagalog. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass er die Sprache seiner Großeltern lernte. Jonathan hatte nie verstanden, wozu das gut sein sollte. Genauso gut hätte er Latein lernen können oder Altgriechisch. Was sollte er mit einer Sprache, die außer ihm und seinem Vater in Berlin niemand zu sprechen schien? Einmal hatte er versucht, in einem philippinischen Restaurant in Kreuzberg auf Tagalog sein Essen zu bestellen. Niemand verstand auch nur ein Wort von dem, was er sagte. Die Kellner waren Vietnamesen, und der Geschäftsführer kam aus München und hatte nur ein paar Jahre auf den Philippinen gelebt, wo er sich ausschließlich auf Englisch verständigt hatte. Wie jeder andere Gast hatte Jonathan dann auch nur die Nummer aus der Speisekarte aufgesagt. Jonathan steckte sich seinen Pass ein, ein paar Pesos, einen Stadtplan, den iPod und seinen Glücksbringer. Dann öffnete er die Tür und verließ das Zimmer. Vor dem Aufzug musste Jonathan warten. Immer wieder drückte er ungeduldig auf das nach unten gerichtete Dreieck neben der Tür: Er konnte es kaum erwarten, die Straßen Manilas endlich auf eigene Faust zu erforschen.

 

Geräuschlos fuhr der Lift nach unten in die Lobby des Hotels. Die Frau an der Rezeption lächelte ihm freundlich zu. Jonathan lächelte zurück. Jonathans Turnschuhe quietschten laut auf dem weißen Marmor, als er in Richtung Ausgang ging, wo bereits ein anderer Hotelangestellter auf ihn wartete. Spätestens jetzt würden sie ihn fragen, was er alleine auf den Straßen von Manila wollte, dachte er. Bestimmt hatte seine Mutter die Leute im Hotel gebeten, ein Auge auf ihn zu haben. Aber auch der Mann an der Tür lächelte nur und deutete eine Verbeugung an. Die Scheiben der automatischen Glastür glitten lautlos auseinander und ließen Jonathan frei.

Draußen knallte ihm die Hitze wie ein nasses Handtuch ins Gesicht. Ein weiterer Hotelangestellter riss dienernd die Tür eines Taxis für ihn auf. Jonathan winkte dankend ab und lief ein paar Schritte, um das Hotel schnell hinter sich zu lassen. Immer noch hatte er das Gefühl, er wäre ein Ausbrecher und die Menschen vom Hotel die Wärter eines Hochsicherheitstraktes. Es hätte Jonathan nicht überrascht, wenn hinter ihm plötzlich eine Sirene geschrillt hätte, weil man seine Flucht bemerkt hatte. Doch zu seiner Überraschung blieb alles still.