DER BEOBACHTER

Irgendwann im 20. Jahrhundert wurde aus dem Beobachter ein Fachmann, jemand, der sich auf das Beobachten spezialisiert hat. Er beobachtet nicht einfach so, nein, von ihm wird erwartet, sich im Beobachten auszukennen. Der Flaneur, der nicht nur als literarische Figur aus dem 19. Jahrhundert gelassen durch Straßen und Passagen streift, tätigte seine letzten Beobachtungen in Walter Benjamins „Passagen-Werk“, um dann für immer zu verschwinden. Heutzutage gibt es alle möglichen Beobachter, nicht nur als Berichterstatter, sondern auch als Wahlbeobachter, als Beobachter bei lokalen oder internationalen Konflikten, als Beobachter bei Unterhandlungen und allen möglichen Disputen. Der Beobachter hat sich heute auch eine aktivere Rolle angeeignet, als man auf Grund dieser Bezeichnung erwarten würde. Er beschränkt sich nicht einfach auf das Beobachten allein. Nein, auf Grund der simplen Tatsache, dass er beobachtet, strukturiert und beeinflusst er das, was er beobachtet. Der Blick des Beobachters schreibt gleichsam die Beobachtung.

Dies wird vom Beobachter manchmal sogar erwartet. So soll zum Beispiel die Anwesenheit von Beobachtern garantieren, dass Wahlen frei und fair verlaufen, während bei Konflikten die Wahrnehmer oft verkappte Vermittler sind.

Trotzdem erwarten wir immer noch, dass der Beobachter beobachtet, „was der Fall ist“. Mit der Komplexität des Kontextes dessen, „was der Fall ist“, und mit dem Zunehmen der damit zusammenhängenden Interessen wird auch die Rolle des Beobachters zunehmend delikater. Ein Bespiel par excellence dafür ist das Jugoslawien-Tribunal und insbesondere der Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten Jugoslawiens, Slobodan Milošević.

Die Behandlung dieses Prozesses in den Medien ist von mehreren Besonderheiten in der Art seiner Beobachtung gekennzeichnet. Vom ersten Augenblick an, schon als Slobodan Milošević in das Gefängnis in Scheveningen eingeliefert wurde, sahen wir keinen „Angeklagten“, sondern einen „Verurteilten“. So haben wir das Bild von einem Mann in schemenhafter Ferne zu deuten gelernt, der von mehreren Polizisten umringt durch irgendein Tor geschleust wird. Unsere Beobachtung solcher Bilder ist keineswegs unbelastet. Sie stützt sich auf ihr vorausgegangene Beobachtungen, auf Bilder, die ihren eigenen Kontext schaffen. Die Beobachtung wird durch die Syntax gestaltet, in der sich das Beobachtete darbietet.

Im Fall Milošević blieb diese Syntax unverändert: Milošević saß nicht als ein Angeklagter im Gerichtssaal, sondern als ein Täter. Das wurde schon in der ersten Gerichtssitzung klar, als der Richter ihn mit der Bemerkung abfertigte, „seine Zeit sei nun vorbei“. War es danach überhaupt noch möglich, wirklich zu beobachten, ohne Vorurteile wahrzunehmen? Auf Grund der Berichterstattung über den Prozess in den Medien können wir feststellen, dass diese Syntax unverändert blieb. Sooft Milošević zu sehen war, etwa in den Fernsehnachrichten, wurde sein Auftreten immer wieder als „arrogant“ und „überheblich“ beschrieben. Wie stark eine solche Syntax ist, zeigt uns das so genannte Kuleschow-Prinzip, das der bekannte sowjetische Filmregisseur Lew Kuleschow schon in den 1920er Jahren untersuchte. Als Ergebnis seiner Experimente stellte sich heraus, dass der Zuschauer die Neigung hat, dem Bild eine Bedeutung ausschließlich auf Grund des Kontextes zuzuschreiben, in dem es präsentiert wird. So wirkt z. B. ein und das selbe Bild eines Mannes vor seinem Suppenteller, abhängig davon, welche Mitteilung dem Bild vorausging, „traurig“, „böse“ oder „zufrieden“. Im Fall von Milošević war es „der Schuldige“ und ein Schuldiger lässt sich einfacher als überheblich und arrogant präsentieren als jemand, der die Tatsachen so gut kennt wie kaum ein anderer. Denn gerade dieses Bild bot sich jedem dar, der sich die Mühe nahm, sich eine Gerichtssitzung im Internet anzusehen. Wer aufmerksam zuschaute, sah einen Angeklagten, der mit sehr treffenden Argumenten die Aussagen der Zeugen der Anklage zu widerlegen wusste. Immer wieder. Dies passte aber nicht ins Bild und wurde daher als Arroganz dargestellt.

Die Beobachtungen der Berufsbeobachter wurden im Lauf des Prozesses immer kafkaesker. Eine mit dem Prädikat „Tribunal-Kennerin“ apostrophierte Niederländerin etwa, die im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen über den Prozess gegen Milošević berichtete, bemerkte zum Abschluss der Beweisführung der Anklage, der Beweis sei, dass es keinen Beweis gebe. Damit unterstellte sie, dass der Angeklagte den vorhandenen Beweis wohl vernichtet haben muss oder dass er und seine Kumpane immer schon ganz geheim an einem finsteren Plan gearbeitet haben – womit die Schuld des Angeklagten schon bewiesen wäre.

Ich selbst stand längere Zeit außerhalb des ganzen Geschehens, also nahm ich wie die meisten anderen auch nur das wahr, was mir die Medien auftischten. Bis mich eines Tages Germinal Civikov auf die Semiotik dieser ganz speziellen Geschichtsschreibung aufmerksam machte, die den Namen „Jugoslawien-Tribunal“ trägt. Ich war überrascht, dies zu hören. Ich kannte Germinal, als er sich noch mit Literaturwissenschaft beschäftigte und ich als Student in Leiden eifrig seine Seminare besuchte. Später, als ich Dokumentarfilme zu drehen begann, zogen wir für einen Film über die politische Wende in Bulgarien zusammen durch dieses Land. Germinal war bestimmt keiner, der auch nur im Entferntesten Sympathien für das Regime eines Milošević hegte. Also beschloss ich, mir diesen Prozess zusammen mit ihm anzusehen. Es war tatsächlich erstaunlich. Der Dokumentarfilm „Der Fall Milošević“, den ich dann 2004 für das niederländische Fernsehen (VPRO) drehte, trägt noch die Spuren dieses meines Staunens. Ich denke, dass eine ähnliche Erfahrung auch den Leser dieser Berichte erwartet: die Berichte eines Beobachters, wie wir ihn heute nur noch selten antreffen.

Jos de Putter
Den Haag, im Juni 2006

DIE ÜBERFÜHRUNG

Als am 28. Juni 2001 Slobodan Milošević ins Scheveninger Gefängnis bei Den Haag überführt wurde, gab es zunächst ein einprägsames Bild, das weltweit in den Wohnzimmern flimmerte. Es hatte etwas Unwirkliches und gleichzeitig etwas beklemmend Echtes an sich. Im eisigen Licht, mitten in der Nacht, rannten Figuren lautlos um einen Hubschrauber herum, wobei zwei Männer einen gefesselten dritten vor sich herschubsten und im gespensterhaften Halbdunkel eines riesigen Bauwerks verschwanden. Dass diese Szene so beklemmend wirkte, war dem fahlen und klebrigen Licht geschuldet, das vor allem durch das Amateurhafte der wackeligen Aufnahme entstand. Erst dadurch wirkte die Szene echt. Der Mann bot zwar keinen Widerstand, doch freiwillig schritt er auch nicht, auf keinen Fall.

Das Bauwerk kannte ich nur zu gut, steht es doch am Pompstationsweg, der zu den Dünen und weiter zum Strand führt. Zwei mächtige Türme, die ein Fort mimen, und ein mächtiges Eichentor dazwischen. 24 Sekunden läuft die Bildersequenz mit der Ankunft von Slobodan Milošević an diesem Ort und verkündet: Der „Schlächter des Balkan“ wird seiner verdienten Strafe zugeführt. Der niederländische Filmemacher Jos de Putter hat aus dieser Amateuraufnahme eine Art Vorspann für seinen Dokumentarfilm „De zaak Milošević“ („Der Fall Milošević“) geschnitten. Wer die Aufnahme gemacht habe, müsse ein schlauer Vogel sein, meinte de Putter. Denn jedes Mal, wenn auf dem Bildschirm Milošević im eisigen Licht von zwei Männern wie ein Dieb in der Nacht weggeführt wird, kassiert der anonyme Filmamateur Tantiemen.

In den nächsten Monaten und Jahren sollte ich diesen „Dieb in der Nacht“ besser kennen lernen: er hinter dem Panzerglas im Gerichtssaal 1 am Churchillplein in Den Haag; ich oft ganz allein im anfangs überfüllten Zuschauerraum. Da saß man wie vor einem riesigen Aquarium – ein Eindruck, den man besonders stark bei den vielen „geschlossenen Sitzungen“ hatte, wenn die Akteure des endlosen Theaterstücks, genannt „Jahrhundertprozess“, wie im Stummfilm sprachen und gestikulierten. Die Hauptperson dieses spannenden, absurden und tragischen Stücks, Slobodan Milošević, war mir bis zu diesem Zeitpunkt als Staatsmann und Machthaber nicht sonderlich sympathisch, obgleich weniger widerlich als seine Rivalen in Zagreb und Sarajevo. Er war zwar auch in meinen Augen ein autoritärer und populistischer Machthaber, allerdings kein Diktator. Schon dadurch, dass er sich für die Erhaltung Jugoslawiens einsetzte, schien er mir weit weniger schlimm als seine Kontrahenten, die in ihrer Machtgier auf die Karte des Separatismus setzten, die nationalistischen Egoismen aufstachelten und die Vernichtung des gemeinsamen föderativen Staates programmatisch anstrebten. Die Erhaltung des gemeinsamen föderativen Staates sah ich nämlich als eine Vorbedingung für eine bessere Zukunft der jugoslawischen Völker. Dass Milošević für den blutigen Zerfall Jugoslawiens die volle Schuld zugesprochen bekam, während seine nationalistischen Rivalen in der westlichen politischen Öffentlichkeit als liberale Demokraten begrüßt und unterstützt wurden, machte mir den Belgrader Machthaber sympathischer. Zugleich entbrannte in den westlichen Medien eine bisher ungekannte Hetze gegen die Person des „Serbenführers“ und bald auch gegen „die Serben“ überhaupt.

Den Verlauf, die Hintergründe und die Hintermänner der blutigen zehnjährigen Agonie dieses Staates, dessen Entstehung auf dem Balkan 1918 ein wahrscheinlich einmaliger und nicht wiederholbarer Glücksfall für seine Völker war, will ich hier unbesprochen lassen. Die mediale Orchestrierung dieser Tragödie aber übertraf mit ihrer propagandistischen Einseitigkeit und Gehässigkeit alles, was ich als gebürtiger Bulgare, der auch eine Zeitspanne Stalinismus miterlebt hat, von den freien Medien der freien Welt, zu der ich mich bekenne, je erwartet hätte. Als Rundfunk-Redakteur bei der „Deutschen Welle“ in Köln hatte ich leichten Zugang zu vielen Informationsquellen sowie auch ein berufliches Interesse an der Art und Weise der Berichterstattung und Kommentierung der Ereignisse im jugoslawischen Raum. Es ist mir bis heute nicht ganz klar, warum zahllose Korrespondenten und politische Beobachter so geflissentlich ihren Beitrag zu diesem Zerrbild lieferten. Vorurteile hat freilich ein jeder, obgleich man diese als Journalist zu kontrollieren wissen müsste. Sich als Journalist dazu herzugeben, mit professionellem Eifer die Lügen der Propagandazentralen einer der kriegführenden Parteien als Bericht in die Welt zu schicken, hat aber nichts mehr mit allzu menschlicher Voreingenommenheit zu tun. Man braucht nur die Zeitungen der 1990er Jahre durchzublättern, um sich diese journalistische Schmach wieder anzusehen. Mitunter war es so schlimm, dass man den Eindruck gewann, die Medien seien gleichgeschaltet, was überhaupt nicht stimmte. (Nie habe ich z. B. als Nachrichtenredakteur oder Autor bei der „Deutschen Welle“ auch nur den geringsten Druck erfahren, anders zu schreiben, als ich es tat, noch sind mir Fälle gemaßregelter Kollegen bekannt, die sich erlaubt haben, vom Mainstream abzuweichen.)

Auf die Person von Slobodan Milošević gerichtet, zeichneten die Medien bald das Bild des „großserbischen Nationalisten“, der vier Kriege vom Zaun brach, um Jugoslawien zu zerstören und ein Groß-Serbien zu errichten. Dieses Bild trug maßgeblich dazu bei, es westlichen Politikern zu erleichtern, am 24. März 1999 ohne nennenswerten öffentlichen Widerstand die NATO zu einem Bombenkrieg gegen Rest-Jugoslawien zu missbrauchen. Dieses Bild auch strafrechtlich zu bestätigen, schickte sich im März 1999 der so genannte „Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“ an. Den Schlagzeilen und Berichten zum Tod von Milošević am 11. März 2006 war zu entnehmen, dass auch das komplette Fiasko der Anklage nach fünfjähriger Prozessführung diesem Bild nichts anhaben konnte.

In weiterer Folge will ich mich hauptsächlich auf das beschränken, was ich bei den Sitzungen und Zeugenverhören des „Jahrhundertprozesses“ durch die Jahre hindurch als regelmäßiger Besucher im Gerichtssaal 1 wahrgenommen und notiert habe. Angesichts der insgesamt mehr als 400 Zeugen und 450 Sitzungstage des Prozesses kann ein Bericht darüber nur auf einer restriktiven Auswahl von Fakten und Ereignissen beruhen. Er hat unvermeidlicherweise fragmentarischen Charakter. Und es ist ein persönlicher Bericht, gewiss. Die dargestellten Fakten und Ereignisse sind jedoch durchaus typisch, charakteristisch und repräsentativ. Während des Prozesses habe ich auch alle möglichen Zeitungsberichte über das Verfahren gelesen und mich dabei oft genug gefragt, ob ich denn dieselbe Sitzung und Zeugenvernehmung beobachtet hatte wie der betreffende Autor. Ich gebe zu, ich selbst war durchaus voreingenommen. Aber dies hielt mich nicht davon ab, nach dem zu urteilen, was ich im Gerichtssaal hörte und sah.

Meine Voreingenommenheit hatte ihren Grund: Die Anklage gegen Milošević wurde mitten im so genannten Kosovo-Krieg erhoben und es schien mir gar nicht überzeugend, dass die angreifende Kriegspartei den Präsidenten des angegriffenen Staates wegen Kriegsverbrechen anklagte. Mein Verdacht, es handle sich um einen als Strafverfahren getarnten politischen Prozess, erhärtete sich mit der Erweiterung der Anklage nach Beendigung des Krieges. Und ich fühlte mich schließlich in dieser meiner Voreingenommenheit durch die Art und Weise bestätigt, wie die Richter den Prozess führten und wie sie auf die ersten falschen Zeugenaussagen (nicht) reagierten.

Es erübrigen sich hier Stellungnahmen zu der Legitimität des Tribunals überhaupt und auch zu den rechtlichen Fragwürdigkeiten im Fall des Milošević-Prozesses – sie sind als bekannt vorauszusetzen und außerdem sollte man sie den Experten überlassen. Was allerdings die Zeugen betrifft, so darf man als aufmerksamer Beobachter eine begründete Meinung dazu haben. Hinsichtlich der Anklage will ich mich auf die Feststellung beschränken, dass sie im Prinzip das Bild und die Bewertung von den Kriegen und Konflikten des jugoslawischen Zerfalls nachvollzog, die uns die Medien seit 1990 dargeboten haben. In grober Vereinfachung liegt diesem Bild zufolge die Schuld für die Kriege und für die sie begleitenden Verbrechen beim erst serbischen und dann rest-jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević. Das von ihm angeführte „Serboslawien“ habe Slowenien, Kroatien, Bosnien und den Kosovo als Aggressor angegriffen, um auf den Ruinen des zerfallenden Jugoslawien ein Groß-Serbien zu errichten. In diesem Zusammenhang wurde uns der „Serbenführer“ Milošević als ein zweiter Hitler dargestellt, der in Bosnien Konzentrationslager betreiben ließ und im Kosovo eine blutige „ethnische Säuberung“ unternahm, die erst die NATO mit Hilfe einer „humanitären Intervention“ durch „Luftschläge“ zu stoppen vermochte.

Mäßiger im Ton und in sachlicher Konkretisierung richtete sich die Anklage auf die Bestätigung ebendieses Bildes. Die Medien, die es produziert haben, begrüßten die Eröffnung des Milošević-Prozesses mit einem schlichtweg gigantischen Aufwand an Aufmerksamkeit und Übertragungstechnik. Sehr bald aber saßen im leeren Saal wie verloren einige Journalisten für hauptsächlich ex-jugoslawische Medien. Hatte dieser rapide Interessenschwund bei den Medien vielleicht mit der Tatsache zu tun, dass sich im „Jahrhundertprozess“ die Medienwahrheit über Milošević und die jugoslawischen Kriege nicht bestätigen lassen wollte und dass sich im Prozessverlauf eine andere, komplexere Wahrheit aufbaute, mit der die Medien nichts anzufangen wussten und die sie schlicht nicht wahrhaben wollten? „Missbrauch der Redefreiheit“, kritisierte der Berliner Tagesspiegel schon am 20. Februar 2002 die Richter, die dem Angeklagten zu viel Fragerecht einräumten. Die Basler Zeitung ärgerte sich am 6. März 2002 über „Miloševićs suggestive Fragerei“, das Hamburger Abendblatt titelte am 13. März 2002 „Wie Milošević in Den Haag Zeugen unter Druck setzt“, während das Tagblatt am 5. März 2002 unter dem Titel „Propaganda aus Den Haag“ Milošević einen „Inquisitor“ nannte, „der Belastungszeugen beim Kreuzverhör in Widersprüche verwickelt“. „Angeklagter, Ankläger, Richter – in einer Person“, monierte am 15. März 2002 Die Presse aus Wien. Besonders zeichnete sich aber der Weser Kurier am 5. November 2002 mit einem Kommentar unter dem Titel „Im Zweifel gegen den Angeklagten!“ aus. Der Autor Wolfgang Holz äußerte darin die Befürchtung, ein Urteil gegen den Kriegsverbrecher werde immer fraglicher. Daher plädierte er als Pionier einer zeitgemäßeren Rechtskultur allen Ernstes dafür, in dieser Gerichtsverhandlung, die Milošević zu seiner Propaganda missbrauchen und damit dem demokratischen Wandel in Jugoslawien schaden würde, das Prinzip „in dubio pro reo“ auszusetzen. Auch die in Zweifel gebrachte Zeugenaussage, so der Autor, sollte als Beweis gegen diesen Schurken gelten.

Die Rechtsprechung übernahmen der vorsitzende Richter Richard May (Großbritannien) unter dem Beistand der Richter Patrick Robinson (Jamaika) und O-gon Kwon (Südkorea). Anfang 2004 gab (der am 1. Juli 2004 verstorbene) Richard May sein Amt allerdings aus gesundheitlichen Gründen auf. Zu seinem Nachfolger wurde der schottische Richter Lord Iain Bonomy ernannt, während Patrick Robinson den Vorsitz übernahm. Die Anklage führte Hauptankläger Geoffrey Nice (Großbritannien), gelegentlich abgelöst von einem anderen Ankläger seines vielköpfigen Teams. Es wurden auch drei „amici curiae“ („Freunde des Gerichts“) ernannt: Steven Kay (Großbritannien), Branislav Tapušković (Serbien) und Mischa Wladimiroff (Niederlande). Diese drei erfahrenen Juristen wurden beauftragt, während der Anklägerhälfte des Prozesses auf dessen korrekten Verlauf zu achten und dem Angeklagten, der sich selbst verteidigte, beizustehen.

Lebenslänglich sollte er kriegen, versprach die Chefanklägerin des Jugoslawien-Tribunals, Carla del Ponte, unserer Wertegemeinschaft und sie hielt Wort.

DIE ANKLAGE UND IHRE ZEUGEN

Die erste Anklage des Jugoslawien-Tribunals gegen den damaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević wurde am 27. Mai 1999 erhoben. Mitangeklagt wurden der Präsident Serbiens, Milan Milutinović, der Innenminister Serbiens, Vlajko Stojiljković, der Generalstabschef Dragoljub Ojdanić und der Vizeregierungschef Jugoslawiens, Nikola Sainović. Ihnen wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, besonders Mord, Vertreibung und andere Menschenrechtsverletzungen. Die Anklagen bezogen sich auf Straftaten ausschließlich seit Jahresbeginn im Kosovo. Die Einsätze gegen die Kosovo-Albaner seien mit dem Ziel ausgeführt worden, einen beträchtlichen Teil der kosovo-albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo zu entfernen, um die serbische Herrschaft über diese Provinz zu sichern. Um die Vertreibungen zu erleichtern, hätten die Einheiten Jugoslawiens und Serbiens mit Absicht sowie unter Androhung und Anwendung von Gewalt eine Atmosphäre der Angst und der Unterdrückung geschaffen. Es gebe eine glaubwürdige Grundlage dafür, dass die Angeklagten für die Vertreibung von 740.000 Kosovo-Albanern und für die Ermordung von 340 Kosovo-Albanern strafrechtlich verantwortlich seien, erklärte die damalige Chefanklägerin Louise Arbour. Das Dokument enthielt einen Anhang mit den Namen von 340 Albanern, die seit dem 1. Januar 1999 angeblich von serbischen Soldaten, Polizisten oder Milizen ermordet worden waren, wie auch kurze Beschreibungen von sechs Massakern. In den vorangegangenen fünf Monaten seien ausreichend Beweise für die persönliche Verantwortung der fünf Beschuldigten zusammengetragen worden, beteuerte Louise Arbour.

Wie war das möglich? Frau Arbour hatte noch keine Ermittler im Kosovo, die für Beweise hätten sorgen können. Ihre Anklage muss sich zu diesem Zeitpunkt zwangsläufig auf kaum überprüfbare Behauptungen gestützt haben, die man größtenteils in den Flüchtlingslagern in Mazedonien und Albanien gesammelt oder einfach aus den Medien geholt hatte. Nach Angaben der neuen Chefanklägerin Carla del Ponte stützten sich die Anklagepunkte auf Beweismaterial für Verbrechen, die seit Beginn des laufenden Jahres zusammengetragen wurden. Die Ermittlungen würden weitergehen und sowohl die Anklagepunkte als auch die Liste der Angeklagten seien nicht endgültig. Anders gesagt – der Anklage war keine gründliche Voruntersuchung vor Ort vorausgegangen und das eigentliche Beweismaterial sollte erst nachgeliefert werden. Trotzdem akzeptierten die Richter diese Anklage, deren politische Natur schon zu diesem Zeitpunkt klar zutage trat und nicht einmal ernsthaft verhüllt wurde. Die NATO bombardierte Jugoslawien schon volle zwei Monate, die Liste der militärischen Ziele war längst aufgearbeitet und es wurden verstärkt auch zivile Ziele angegriffen. Dementsprechend wuchs die Liste der Kollateralschäden (das zukünftige „Unwort des Jahres 1999“) und die Spannung unter den Bündnispartnern näherte sich der Zerreißprobe, während der bombardierte Präsident kein Zeichen eines Einlenkens gab und sich nach wie vor weigerte, sich dem Willen der so genannten internationalen Gemeinschaft zu beugen. In diesem Kontext war der politische Zweck der Anklage in Wortlaut und Timing klar ersichtlich, wie sehr sich Frau Arbour nachher auch Mühe gab, diesen Verdacht auszuräumen. Hatte sie ja zu allem Überfluss zwei Tage vor der offiziellen Verlesung der Anklage diese erst mit dem US-Präsidenten William Clinton in Washington besprochen. „Realpolitisch kommt die Anklage zum genau richtigen Zeitpunkt“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 28. Mai 1999. „Die Anklage in Den Haag ist daher nicht nur aus völkerrechtlichen Gründen zu begrüßen; sie erschwert auch fatale Kompromisse mit einem Aggressor und erhöht den Druck auf das atlantische Bündnis, eine nicht leichte, aber längst fällige Entscheidung zu treffen.“ In einer Presseerklärung ließ die Chefanklägerin verlautbaren, dass Milošević nun nicht mehr als ein Partner bei irgendwelchen Verhandlungen über eine friedliche Regelung des Konfliktes in Betracht kommen könne. Dieser unverblümt politische Charakter der Kosovo-Anklage störte die überwältigende Mehrzahl der westlichen Medien kaum.

Im Oktober 2001 wurde gegen Milošević die Kroatien-Anklage erhoben, einen Monat später die Bosnien-Anklage. Die Kroatien-Anklage warf Milošević vor, als Präsident Serbiens 1991 und 1992 für die Vertreibung von 170.000 Nicht-Serben aus ihrer Heimat und den Mord an Hunderten Zivilisten verantwortlich gewesen zu sein. In der Bosnien-Anklage wurde er beschuldigt, während der Jahre 1992 bis 1995 die Verantwortung für das Töten von Tausenden bosnischen Muslimen und bosnischen Kroaten getragen zu haben. Diese Anklage enthielt auch die schwerste Beschuldigung gegen Milošević, nämlich den Tatbestand des Völkermordes. Im April 2002 wurden die drei Anklagen zu einem einheitlichen Prozess zusammengeführt. Die von der Appellationskammer des Tribunals akzeptierte Begründung der Anklagebehörde lautete, dass es im verbrecherischen Handeln des Angeklagten immer nur eine Strategie, ein Schema und einen Plan gegeben habe. Er habe nämlich ein gemeinsames verbrecherisches Unternehmen („joint criminal enterprise“) angeführt, dessen Ziel die Schaffung von Groß-Serbien durch gewaltsame Vertreibung der nicht-serbischen Bevölkerung gewesen sei.

Zum Beweis der Anklage gegen Slobodan Milošević rief die Behörde der Chefanklägerin Carla del Ponte, die im September 1999 dieses Amt von Louise Arbour übernahm, vom 18. Februar 2002 bis 12. Februar 2004 insgesamt 296 Zeugen auf und verhörte sie in der Folge. Schon der erste Zeuge der Anklage, Mahmut Bakalli, der frühere Vorsitzende der Kommunistischen Partei des Kosovo und spätere Berater der UĆK bei den Verhandlungen in Rambouillet, war kein Erfolg. Am 19. Februar 2002 scheiterte Bakalli gründlich im Kreuzverhör mit seiner Behauptung, die serbischen Behörden hätten im Kosovo ein Apartheid-System für die Albaner eingeführt. Vollen Ernstes behauptete er u.a., Milošević hätte im Kosovo ein ApartheidSystem errichtet, indem er dort dasselbe Schulprogramm eingeführt habe wie im Rest Serbiens. Ob er als Soziologieprofessor erklären könne, was Apartheid bedeute, fragte Milošević den Zeugen. Schnell zeichnete sich in der Beweisführung der Anklage ein Grundprinzip ab, das lautete: Je monströser die zur Last gelegte Beschuldigung, desto dünner der Beweis und desto unzuverlässiger der Zeuge. Ein Großteil der Zeugen berichtete von Verbrechen der serbisch-jugoslawischen Polizei und Armee, die sie beobachtet hätten oder deren Opfer sie persönlich gewesen seien. Angesichts der zahlreichen Verbrechen, die zweifelsohne überall verübt worden waren, ist es erstaunlich, dass viele gerade dieser Zeugen sich unglaubwürdig machten. Im Kreuzverhör widersprachen sie sich oft oder mussten sachliche Unwahrheiten in ihrer Aussage erklären. 

Ganz allgemein können die Zeugen der Anklage folgenden Gruppen zugeordnet werden:

Insider

Es handelt sich um Personen aus der nächsten Umgebung des Angeklagten, die dem so genannten inner circle der Macht angehörten und daher imstande gewesen wären, „aus erster Hand“ über die Verbrechen aussagen zu können, die dem Angeklagten zur Last gelegt wurden. Es gab einige vermeintliche Insider wie Ratomir Tanić, der vorgab, ein naher politischer Mitarbeiter von Milošević gewesen zu sein, und Slobodan Lazarević, angeblich ein Oberst des militärischen Geheimdienstes. Bei den echten Insidern handelte es sich durchwegs um politische Gegner und Rivalen des Angeklagten. Manche Zeugen aus dieser Gruppe, z. B. der ehemalige Präsident Jugoslawiens, Borisav Jović, und der ehemalige Chef des militärischen Geheimdienstes, Aleksandar Vasiljević, sind selbst Angehörige der „joint criminal enterprise“. Zwar hat die Behörde von Frau del Ponte gegen sie (noch) keine Anklage erhoben, ihre Namen stehen aber in der Anklageschrift unter den Mitgliedern der nämlichen kriminellen Vereinigung. Als Zeugen der Anklage sind sie also zugleich auch Verdächtige und potenzielle Angeklagte.

Opfer

Hierbei handelt es sich um Bürger aus dem Kosovo, Kroatien und Bosnien, die davon berichteten, was ihnen seitens Polizei oder Armee widerfahren war. Es gab darunter Zeugen mit authentischen und erschütternden Berichten, aber auch mehrere, die es mit der Wahrheit offensichtlich nicht so genau nahmen. Ich bin nur auf einige dieser unglaubwürdigen Belastungszeugen eingegangen, ihre Zahl läuft aber in die Dutzende. Mehrere Kosovo-Albaner behaupteten als Belastungszeugen z. B., von jugoslawischen Flugzeugen bombardiert worden zu sein und/ oder nie von einer UĆK gehört zu haben. Ersteres ist schlechterdings unmöglich, da während des Kosovo-Krieges nachweislich kein einziges Flugzeug der jugoslawischen Streitkräfte aufstieg, und Zweiteres ist vollkommen unglaubwürdig. Die große Anzahl ähnlicher Belastungszeugen machte schon in der ersten Phase des Prozesses die Beweisführung der Anklage äußerst unglaubwürdig. Ein Problem auch bei den authentischen Opfer-Zeugen blieb allerdings, dass eine direkte oder indirekte Verantwortung des Angeklagten für die an ihnen begangenen Verbrechen überhaupt nicht oder nicht eindeutig zu beweisen war.

Täter

Meistens traten sie als „geschützte Zeugen“ auf, die statt eines Namens eine Chiffre führten. Auf dem Bildschirm wurde ihr Gesicht oft unkenntlich gemacht, manchmal auch ihre Stimme. Sie erklärten, als Soldaten oder Polizeiangehörige selbst an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein, und berichteten auch von anderen Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Von dem Zeugen Dragan Vasiljković erfuhren wir allerdings am 20. Februar 2003, dass die Anklagebehörde ihren Zeugen Straffreiheit für verübte Kriegs- und andere Verbrechen garantiert habe, wenn sie bereit waren, gegen Milošević auszusagen. Der bekannteste Zeuge dieser Täter-Gruppe ist Dražen Erdemović, der gestand, 1995 an der Erschießung von 1.200 muslimischen Gefangenen aus Srebrenica beteiligt gewesen zu sein.

Politiker und hochrangige Militärs

Zu dieser Gruppe gehören hauptsächlich hochrangige Militärangehörige der NATO sowie Politiker aus Ländern, die an der Bombardierung Jugoslawiens beteiligt waren, d. h., es handelt sich größtenteils um militärische und politische Gegner des Angeklagten. Sie hatten mit dem ehemaligen serbischen und jugoslawischen Präsidenten Gespräche geführt oder an Verhandlungen mit ihm teilgenommen. Auf Grund dieser Erfahrungen bestätigten sie, dass Milošević in dem für die Anklage relevanten Zeitraum alles kontrolliert habe und daher auch für alles verantwortlich sei. Es sind Aussagen von geringer oder gar keiner strafrechtlichen Relevanz – weder hatten diese Zeugen ein in der Anklage angeführtes Verbrechen beobachtet noch konnten sie aus erster Hand von den geheimen Plänen und Zielen des Angeklagten wissen. Schon die überaus hohe Zahl solcher Zeugen im Milošević-Prozess war ein deutliches Indiz für den politischen Charakter dieses Prozesses. Was etwa General Klaus Naumann, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses während der Bombardierung Jugoslawiens, oder General Wesley Clark, Oberbefehlshaber der NATO zu dieser Zeit, als Zeugen der Anklage von sich gaben, waren nicht mehr als Behauptungen über ihren politischen und militärischen Gegner. Zwei Ausnahmen in dieser Zeugengruppe waren die britischen Politiker Paddy Ashdown und David Owen. Ersterer sagte aus, er habe persönlich Kriegsverbrechen der jugoslawischen Armee im Kosovo beobachtet. Der Zweitere führte als EU-Vermittler mehrere Gespräche mit dem Angeklagten, als dieser noch Präsident der Republik Serbien und der Bundesrepublik Jugoslawien war, und konnte daher über seine politischen Ziele und seinen politischen Spielraum aussagen.

***

Die Gesamtanklage gegen Slobodan Milošević zählte 66 Anklagepunkte. Sie bezogen sich auf viele schwer wiegende Verbrechen: von Mord und Deportation bis Völkermord. Der geographische Raum der in der Anklage angeführten Verbrechen umfasste Kroatien, Bosnien und den Kosovo, der Zeitraum die Periode 1991 bis 1999. Der überwältigenden Mehrzahl der Medien gab eine dermaßen monströse Anklage gegen eine Person nicht einmal zu denken, denn sie gingen wie selbstverständlich davon aus, dass die Beweise kein Problem bereiten dürften. Milošević werde unter der Last der Beweise zusammenbrechen, versprach Chefanklägerin del Ponte mehrmals. Es kam anders.

Nach dem Tod des Angeklagten meinten einige Beobachter, der Umfang der Anklage sei doch ein Fehler gewesen. Man hätte sich auf einige beweisbare Punkte konzentrieren sollen, dann wäre längst ein Schuldspruch – selbstverständlich lebenslänglich – erreicht worden. Nur verrieten sie nicht, welche Punkte es hätten sein sollen.

Der bekannte niederländische Rechtsanwalt Michail Wladimiroff, der als Verteidiger des Angeklagten Duško Tadić schon am ersten Prozess des Jugoslawien-Tribunals beteiligt war, wusste meiner Meinung nach besser, warum Carla del Ponte 66 Anklagepunkte und 296 Zeugen gegen Milošević in Stellung gebracht hatte. Praktisch habe Slobodan Milošević keine Chance, freigesprochen zu werden, erklärte Wladimiroff in einem Interview mit der bulgarischen Wochenzeitung Kultura schon am 13. September 2002. Der Kosovo-Zyklus war gerade zu Ende, die Kroatien- und Bosnien-Anklagen sollten beginnen und Wladimiroffs Gesprächspartner wollte wissen, was er als „amicus curiae“, d. h. als einer der drei „Freunde des Gerichts“, vom bisherigen Rechtsgang halte. Die „amici curiae“ waren beauftragt, dem Angeklagten, der sich selbst verteidigte, zu einem korrekten Prozessverlauf zu verhelfen, indem sie im Auftrag des Gerichts seine Interessen wahrnahmen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs veranschaulichte Wladimiroff die Chancenlosigkeit des Angeklagten mit einem eindrucksvollen Bild. Wenn man mit einem Maschinengewehr auf die Jagd gehe, sagte Wladimiroff, habe man eine weitaus größere Chance, das Wild niederzustrecken. Milošević habe sich für enorm viele Anklagepunkte bezüglich Verbrechen im Kosovo, in Bosnien und Kroatien zu verantworten. Sollte es ihm gelingen, selbst für die Hälfte davon einen Freispruch zu erhalten, so werde er dennoch für den Rest verurteilt werden. Daher sei seine Chance auf einen Freispruch schon jetzt gleich null.

Auch in der niederländischen Presse – u.a. im De Haagsche Courant vom 7. September 2002 – brachte Wladimiroff seine Auffassung zum Ausdruck, dass Milošević, dessen Interessen er als „amicus“ wahrnahm, praktisch erledigt sei. Sollte zu diesem Zeitpunkt ein Urteil gesprochen werden – es war das Ende der Kosovo-Anklage –, so reiche alles für einen Schuldspruch. Milošević protestierte heftig gegen diese Verlautbarungen eines Juristen, der sich in den Medien wie ein Richter benahm, und Wladimiroff wurde wegen unzulässiger Präjudizierung gefeuert. Sein Bild vom Maschinengewehr des Anklägers aber verdient es, in die Geschichte des neu geborenen internationalen Strafrechts einzugehen.

DIE SACHVERSTÄNDIGEN

Zu den 296 Zeugen der Anklage zählten auch zirka 15 Sachverständige, die im Auftrag der Ankläger Gutachten zu konkreten Anklagepunkten erstellten und dazu verhört wurden. Die strafrechtliche Relevanz der meisten dieser Gutachten darf ebenso stark angezweifelt werden wie die Fachkompetenz einiger Sachverständiger. Dazu einige Beispiele.

Der erste Sachverständige der Anklage war Patrick Ball, ein US-amerikanischer Computerfachmann, der mit einer statistischen Analyse belegen wollte, dass die Flüchtlingsbewegungen nicht direkt mit den NATO-Bombardements zusammenhingen, sondern stets nach serbischen Truppenbewegungen erfolgt seien. Das beweise, dass die Zivilbevölkerung im Kosovo nicht vor den Bomben geflohen sei, wie der Angeklagte behaupte, sondern dass die jugoslawischen Streitkräfte eine systematische Aktion der „ethnischen Säuberung“ durchgeführt hätten. Der Ankläger wollte hier mit einer technisch innovativen statistischen Erhebung, der es aber an jeglicher relevanten Aussage- oder gar Beweiskraft mangelte, den Tatbestand der Vertreibung beweisen. Warum ein solches Vorgehen? Aus einem einfachen Grund: Er hatte für diesen schwer wiegenden Anklagepunkt keine Zeugen, die handfeste Beweise hätten liefern können.

Zwar war während des Jugoslawien-Krieges das Bild von einer Massenflucht der Kosovo-Albaner in den Medien publikumswirksam verbreitet worden. Doch den Beweis dafür, dass es sich dabei um eine planmäßige Vertreibung bzw. um eine „ethnische Säuberung“ gehandelt hätte, blieb der Ankläger schuldig. Später wurde diese Beschuldigung von Zeugen der Verteidigung widerlegt bzw. zumindest schwer erschüttert. Bereits zuvor hatten die „amici curiae“ in ihrem Antrag vom 3. März 2004 („Motion For Judgement Of Acquittal“) die Vertreibung als nicht eindeutig bewiesenen Anklagepunkt zur Streichung vorgeschlagen, was allerdings von den Richtern abgelehnt wurde. Jedenfalls war die aus der Not geborene Idee, einen statistischen Beweis für die „ethnische Säuberung“ im Kosovo zu präsentieren, im Endeffekt nichts als Zeitverschwendung. Für Zeitverschwendung indes machten die Richter immer wieder den Angeklagten und nur ihn verantwortlich.

Als weiterer Sachverständiger trat der britische General im Ruhestand Peter de la Billiere auf, der im Auftrag der Anklagebehörde ein Gutachten über die Kommandostruktur der jugoslawischen Armee (VJ) und die Kontrolle über die militärischen und polizeilichen Einheiten im Kosovo erstellte. Auf der Grundlage eingehender Erforschung aller ihm zugänglichen Dokumente zur militärischen Doktrin und Struktur der VJ kam der General zu dem Schluss, dass die im Kosovo begangenen Morde und Kriegsverbrechen keine isolierten Vorfälle, sondern nur Bestandteil einer militärischen Operation sein könnten, die jemand angeordnet und jemand geleitet habe und die dann von den Streitkräften diszipliniert durchgeführt worden sei. Die Massenmorde und Vertreibungen, wie sie in der Anklage angeführt wurden, verlangten eine umfangreiche logistische Operation. An einem Verbrechen dieses Ausmaßes, so Peter de la Billiere im Hauptverhör, müssten daher das oberste Kommando der Armee und Polizei beteiligt gewesen sein und auch die politische Leitung mit Präsident Milošević an der Spitze. Ansonsten war der General voll des Lobes über die disziplinierte und hoch qualifizierte VJ, nur sei sie leider während des Kosovo-Krieges ihren Grundsätzen nicht treu geblieben.

Im Kreuzverhör sagt der Angeklagte, er stelle in den Ausführungen des Generals einen eigenartigen Zirkelschluss fest. Er zitiert den General: „Ich glaube nicht, dass eine so umfangreiche Vertreibung der Bevölkerung und Morde, wie sie in der Anklageschrift angeführt sind, ohne das volle Wissen des örtlichen Kommandanten der VJ möglich sind.“ Der vorsitzende Richter May weist Milošević zurecht: Er solle eine Frage stellen und nicht über die Anklage polemisieren! „Wie dem auch sei, die Exzesse, wie sie in der Anklageschrift dargestellt sind“, zitiert erneut der Angeklagte, „verlangen eine massive logistische Organisation und Truppenstärke, um erstens alle Leute aus ihren Häusern zu vertreiben und sie dann zweitens auch mit der ihr eigenen Effizienz und Geschwindigkeit wegzuschaffen.“ Nach diesem Zitat versucht der Angeklagte dem General klarzumachen, welches Problem sich aus seiner Vorgehensweise ergibt: Während man hier sein Fachwissen benutze, um die Anklage zu beweisen, nehme der General die Anklage als Beweis für das, was im Felde alles geschehen sei. Habe er sich klar genug ausgedrückt? Der vorsitzende Richter May versteht nun gar nichts mehr und unterbricht beleidigt den Angeklagten: Keiner habe behauptet, dass man die Anklage nicht zu beweisen brauche! Richter O-Gon Kwon aber blickt durch.

Richter Kwon: Wenn ich etwas klären könnte: Herr General, vor einer Minute fiel mir auf, dass Sie erwähnten, die Anklageschrift sei die einzige Grundlage Ihrer Beurteilung dessen, was im Felde geschah. Ist das wahr?

Der Zeuge: Ja.

Richter Kwon: Also, was ist, wenn das, was [in der Anklage] behauptet wird, sich später als partiell oder gänzlich unwahr herausstellte – wäre dann folglich auch Ihre Beurteilung nicht wahr?

Der Zeuge: Wenn die Anklageschrift – na ja, ich verlasse jetzt mein militärisches Fachgebiet und betrete das juristische –, ich fürchte, Euer Gnaden, wenn die Anklageschrift nicht korrekt und nicht wahr ist, dann, dies ist klar, müssten meine Schlussfolgerungen entweder berichtigt werden, oder: Wenn diese [die Anklage] überhaupt unwahr wäre, gänzlich unkorrekt, wären auch meine Schlussfolgerungen gänzlich falsch.

Der Sachverständige soll also eine Behauptung der Anklage beweisen, indem er ein Gutachten erstellt, das als Grundlage eine andere Behauptung der Anklage nimmt, die noch bewiesen werden soll.

Denselben Zirkelschluss vollzogen die Ankläger mit einem Gutachten des niederländischen Anthropologen Ton Zwaan zur Genesis und Art des Völkermordes. Im Unterschied zu General de la Billiere nahm Zwaan allerdings nicht einmal die Anklageschrift gegen Milošević oder einige ihrer Behauptungen als Grundlage. Der Sachverständige analysierte für das Gericht das Phänomen „Völkermord“ auf der Grundlage des Holocausts und des Völkermordes an den Armeniern; der einzige Zweck seines Auftritts schien in der Verkündung der These zu bestehen, dass kein Völkermord möglich sei, ohne dass die oberste Staatsführung dies gewusst und auch vorbereitet habe. Zwaan fügte dem dann etwas hinzu, das sicher ganz im Sinn der Auftraggeber seines Gutachtens war: Da ein Völkermord nur stattfinden könne, wenn die politische Elite eines Staates sich dafür entschieden habe, könne ihm nur eine ausländische militärische Intervention ein Ende setzen.

Angesichts solch allgemeiner Aussagen konnte man nur darüber rätseln, welche strafrechtliche Relevanz die Ankläger diesem Sachverständigen zugemessen hatten. Eines war jedoch offensichtlich: Ihre Entscheidung, Ton Zwaan als Sachverständigen heranzuziehen, wurde zu einem Zeitpunkt getroffen, zu dem ihnen ganz klar gewesen sein musste, dass sie keinen Beweis für die Völkermord-Anklage gegen Milošević hatten.

Ähnlich verhielt es sich mit dem Gutachten „Der serbische Nationalismus im 20. Jahrhundert“ der US-amerikanischen Historikerin Audrey Budding. Zwar hatten die Medien – wie im Fall der Vertreibung der Kosovo-Albaner – auch in dieser Frage ein eindeutiges Bild im öffentlichen Bewusstsein fest verankert: das des großserbischen Nationalisten Milošević. Der Ankläger konnte Milošević aber kein einziges nationalistisches Bekenntnis nachweisen. Als Jugo-Kommunisten waren ihm nun einmal die nationalistischen Wertvorstellungen fremd. Ganz abgesehen davon ist es strafrechtlich irrelevant, ob sich jemand zum Nationalismus bekennt oder nicht.

Die Ankläger brauchten aber den großserbischen Nationalisten Milošević, denn sonst wäre ihre gesamte Anklage ins Wanken geraten. Also analysierte eine US-amerikanische Historikerin die geschichtlichen Wurzeln des serbischen Nationalismus und stellte – was kein Zeuge beweisen konnte – Milošević in die Tradition eines großserbischen Projekts.

Bei dem französischen Medienfachmann Renaud de La Brosse bestellte die Anklagebehörde ein Gutachten, dessen Titel an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: „Die politische Propaganda und das Projekt Alle Serben in einem Staat – eine Folge der Instrumentalisierung der Medien zu ultranationalistischen Zwecken“. In diesem Gutachten stellte der Autor u.a. fest, Milošević habe die Medien unter seiner Kontrolle gehabt und sie dazu benutzt, Leitmotive nationalistischer Propaganda zu verbreiten. Damit habe er seinen Plan, einen Staat zu schaffen, in dem alle Serben leben würden, rechtfertigen und auch seine eigene Macht sichern wollen. Zu diesem Befund kam der Sachverständige auf der Grundlage seiner Analyse einer Auswahl von Zeitungsartikeln und vor allem von Rundfunkund Fernsehnachrichten. Manche davon klingen tatsächlich wie üble Propaganda, das würde auch ein Laie aus ihnen heraushören, erst recht ein Fachmann für Medienpropaganda.

Milošević beginnt sein Kreuzverhör mit der Frage, ob der Sachverständige eine Inhaltsanalyse (content analysis) seines Materials durchgeführt habe. Doch de La Brosse versteht den Terminus nicht. Der vorsitzende Richter May ebenfalls nicht und daher will er die Frage gar nicht erst zulassen: „Ich muss das verstehen. Wenn das Gericht etwas nicht versteht, wird die Frage nicht zugelassen werden.“ Ein Medienanalytiker müsse doch wissen, was „content analysis“ bedeute, meint der Angeklagte, doch er kommt damit nicht weiter. So gewinnt das Kreuzverhör immer mehr an Unterhaltungswert. Besonders als sich herausstellt, dass der Sachverständige ein Gutachten über die serbischen Medien schrieb, ohne ein Wort Serbokroatisch zu verstehen. Das sei kein Handicap, meint der Sachverständige. Ein Team in Belgrad, mit dem er zusammengearbeitet habe, habe ihm netterweise geholfen und sorgsam die Quellen – Zeitungsartikel und Medienberichte – ausgewählt, alles freilich ganz repräsentativ. Anschließend wurden ihm die Texte in französischer Übersetzung zur Analyse vorgelegt, erklärt de La Brosse. Ganz nach dem Motto: Was man vorn hineinstopft, kommt dann auch hinten heraus.