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Dämon der Rache

erzählt von Hendrik Buchna

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14082-6

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Der einzige Zeuge

Fünf Meter. Zehn. Fünfzehn.

Immer weiter stieg der Heißluftballon in die Lüfte auf. Begeistert genossen Peter, Bob und Justus, dem man seine leichte Höhenangst kaum anmerken konnte, den grandiosen Rundum-Blick auf den malerischen Strand von Rocky Beach und die schier endlose Weite des Pazifiks. Es war ein traumhaftes Panorama, das sich an diesem strahlend schönen Augustnachmittag vor ihnen entfaltete. Die Schaumkronen der anbrandenden Wellen glitzerten silbrig im Sonnenlicht und eine sanfte Brise blies den grellroten Ballon allmählich in Richtung Westen, immer die Küstenlinie entlang.

Vor einer Woche hatte Bob den Rundflug für drei Personen bei der großen Tombola eines Sommerfestes in der Harbour View Lane gewonnen und an diesem Freitag war es nun so weit. Nachdem drei Tage zuvor ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich heftiges Gewitter landeinwärts gezogen war, herrschten nun ideale Wetter- und Windbedingungen. Deshalb hatte Mr Lloyd, der Ballonführer, Bob mittags telefonisch informiert, dass sie gegen vier Uhr starten könnten. Es verstand sich von selbst, dass der dritte Detektiv seine Freunde Justus und Peter einlud, bei diesem außergewöhnlichen Vergnügen dabei zu sein. Beide hatten natürlich sofort zugesagt und sich riesig gefreut.

Für einen Moment hielt der Zweite Detektiv genießend inne und atmete tief ein. Alles war rundum großartig. Eigentlich fehlte nur noch 

Plötzlich hielt er abrupt inne, als sei er von einem elektrischen Schlag getroffen worden. Gerade hatte Peter seinen Blick nach unten über ein einsam gelegenes Küstengrundstück schweifen lassen, in dessen Mitte ein kleiner See lag. Der weitläufige Garten war nach allen Seiten hin von einer hohen Hecke abgeschirmt. Auf der Nordseite des Grundstücks ragte ein zweigeschossiges, verwinkeltes und verschachteltes Holzhaus mit Eckturm auf, das in Peter sofort Erinnerungen an die berühmten viktorianischen Viertel in San Francisco weckte.

Was ihm jedoch den Atem stocken ließ, war nicht das seltsam düster wirkende Gebäude, sondern die unglaubliche Szene, die sich zwanzig Meter davor abspielte: Eine schlanke Frau mit wirrem, grauem Haar und dunkelgrünem Kleid rannte panisch auf die Veranda des Hauses zu – verfolgt von einer hünenhaften Gestalt mit zerfetztem schwarz glänzendem Mantel, die in ihrer hoch erhobenen rechten Hand eine riesige, altertümliche Harpune schwang! Urplötzlich verharrte der Verfolger, als wittere er seinen heimlichen Beobachter, und wandte den Kopf ruckartig nach oben.

Dem Zweiten Detektiv blieb fast das Herz stehen, als er unter dem breitkrempigen Hut eine grässlich entstellte Fratze erkannte, die kaum noch menschliche Züge trug. Die lederartige Haut des Fremden schimmerte grau im Sonnenlicht und war mit fürchterlichen Narben bedeckt. Zwei übergroße, lidlose Augen starrten ausdruckslos zu Peter herauf und die ölig verschmierten Lippen entblößten einen schwarzen Schlund, der an das grässliche Maul eines Hais erinnerte.

Doch gerade als Peter sich aus seiner Starre löste und seine Freunde mit einem lauten Schrei auf das unfassbare Geschehen aufmerksam machen wollte, wurde der Ballon von einer Windbö erfasst und heftig durchgeschüttelt. Als Peter wieder nach unten schaute, war weder von der Frau noch von der albtraumhaften Gestalt die geringste Spur zu finden.

»Habt ihr … habt ihr das gerade gesehen?«, fragte er hektisch in die Runde.

Verdutzt blickten ihn Justus, Bob und Mr Lloyd an.

»Was meinst du?«, fragte der Erste Detektiv irritiert.

»Na, diesen Monsterkerl mit Harpune, der die Frau gejagt hat! Direkt unter uns!«

Hastig beugten sich alle über die Gondelreling, konnten jedoch nichts Auffälliges entdecken. Grinsend wandte sich Justus wieder um. »Du willst uns verkohlen, stimmt’s? Fast wäre ich drauf reingefallen.«

»Das ist kein Scherz!«, widersprach Peter aufgeregt. »Da unten war eine unheimliche Gestalt mit Hut und Mantel, die eine Frau verfolgt hat! Dieses … Wesen hatte eine altmodische Harpune, wie sie früher von Walfängern benutzt wurde. Und statt eines Gesichts hatte es eine schreckliche Fischfratze wie ein … Hai-Zombie!«

»Vielleicht wird hier ja gerade ein Horrorfilm gedreht und du konntest einen exklusiven Blick auf den Hauptdarsteller werfen«, schlug Bob augenzwinkernd vor.

Gereizt deutete Peter nach unten. »Und wo ist dann das Filmteam? Haben die alle Tarnkappen auf oder wie?«

Mit skeptischer Miene tippte sich Justus an die Unterlippe. »Wenn dieser Fischmensch einen Hut getragen hat, wie konntest du dann sein Gesicht erkennen?«

»Weil er zu mir hochgeglotzt hat, verflixt noch mal!« Entnervt fuhr sich Peter durch die schweißnassen Haare. »Wa­rum sollte ich mir so etwas Irrsinniges wohl ausdenken?«

Der Ballonführer hob beschwichtigend die Hand. »Peter, ich weiß zwar nicht, was du da gesehen hast, aber bei der blendenden Sonne und den unruhigen Schatten da unten können die Sinne schon mal getäuscht werden, zumal aus dieser Höhe. Das kann jedem passieren.«

Der Zweite Detektiv verdrehte die Augen. »Ich irre mich ganz sicher nicht – da war dieser Höllen-Harpunier, der es auf eine Frau abgesehen hatte! Das … können wir doch nicht einfach auf sich beruhen lassen!«

»Es wird uns kaum etwas anderes übrig bleiben«, entgegnete Mr Lloyd, dem deutlich anzusehen war, dass er Peters Beobachtung für ein Hirngespinst hielt. »Ein Ballon ist schließlich kein Helikopter, den man beliebig steuern und anhalten kann.« Tatsächlich hatte sich der Heißluftballon inzwischen schon gut hundert Meter von dem Küstengrundstück entfernt. »Außerdem sind die Bodenverhältnisse mit der steil abfallenden Uferböschung viel zu unsicher, um hier eine Landung zu wagen.«

»Und ein Handy-Anruf bei der Polizei wäre wohl wenig zweckdienlich«, ergänzte der Erste Detektiv mit nur mühsam unterdrücktem ironischem Unterton. »Wenn du denen erzählst, dass du einen gefährlichen Hai-Zombie gesehen hast, legen die schneller auf, als du ›Harpune‹ sagen kannst.«

Trotzig wandte sich Peter ab und blickte aufs Meer hinaus. Das war mal wieder typisch! Wenn nicht er, sondern Bob diese Gruselgestalt gesehen hätte, wäre Justus vermutlich längst mit einem selbst gebastelten Gleitschirm abgesprungen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Aber weil ja Hasenfuß Peter der Zeuge war, musste es natürlich eine optische Täuschung gewesen sein, ganz klar!

Nach einer Weile trat der Erste Detektiv an Peter heran und räusperte sich zaghaft. Er spürte, wie aufgewühlt sein Freund noch immer war. »Du … bist wirklich sicher, dieses ›Monster‹ gesehen zu haben?«

Langsam drehte sich Peter zu ihm um und blickte Justus fest in die Augen. Den folgenden Satz sprach er so langsam und deutlich aus wie ein Lehrer, der seinem begriffsstutzigen Schüler zum zehnten Mal erklären muss, dass zwei und zwei wirklich vier ergibt: »Ich. Habe. Mir. Das. Nicht. Eingebildet!«

Aufmunternd knuffte ihm Justus in die Seite. »Ein Vorschlag zur Güte: Um unserer Pflicht als verantwortungsbewusste Detektive gerecht zu werden, fahren wir nach unserer Rückkehr mal bei diesem Grundstück vorbei und schauen nach dem Rechten. Dann wird sich ja herausstellen, ob dort ein grässlicher Hai-Mensch umherwandelt.«

Justus’ Lächeln wäre sicherlich weniger breit ausgefallen, wenn er die dunkle Gestalt im Schatten einer verdorrten Pinie bemerkt hätte, die dem davonschwebenden Ballon aus handtellergroßen Fischaugen hinterherstarrte.

Das Dunkelhaus

Die restliche Ballonfahrt verlief ohne weitere Zwischenfälle. Knapp eine Stunde später setzte Mr Lloyd am vorgesehenen Punkt nahe Paradise Cove, nordöstlich von Malibu, zur Landung an. Nachdem der Ballon auf dem Anhänger eines Pick-ups verstaut war, ging es zurück nach Rocky Beach. Während der Fahrt rang sich Peter nach einiger Überzeugungsarbeit von Justus und Bob zu dem Eingeständnis durch, dass es sich bei der ganzen Sache auch um einen makabren Scherz gehandelt haben könnte. Schließlich waren den drei Detektiven im Laufe der Zeit schon so einige exzentrische Menschen mit höchst merkwürdigen Hobbys begegnet. So beschlossen sie, den »Hai-Zombie« auf der Notfall-Skala einige Stufen he­runterzusetzen und vor dem Besuch des Küstenhauses zunächst zum Abendessen nach Hause zu fahren.

Daheim angekommen, stieß der Erste Detektiv beinahe mit einer auffällig gekleideten Dame zusammen, die soeben das Gelände des Gebrauchtwarencenters T. Jonas verließ. Verdutzt erkannte er, dass es sich um die »Kakadu-Lady« handelte – eine etwa fünfzigjährige Kundin, die vor einiger Zeit schon einmal zu Besuch gewesen war. An jenem Nachmittag hatte Justus sie nur von Weitem gesehen, aber ihm war sofort ihr schriller Kleidungsstil ins Auge gefallen, dem sie nun ihren Spitznamen verdankte.

Neben dem grell pinkfarbenen Sommerkleid hatte vor allem ihr buschiges Federhütchen, das sie auch jetzt trug, sofort Assoziationen an den Kopfschmuck eines Kakadus geweckt. Hinzu kam, dass die Frau geradezu süchtig nach Kürbiskernen zu sein schien, die sie ständig aus einer Tüte gezupft und mit den Zähnen geknackt hatte.

Jetzt erkannte der Erste Detektiv seinen Onkel in der Freiluftwerkstatt und ging lächelnd auf ihn zu. »Na, was wollte die Kakadu-Lady denn heute?«

»Kakadu trifft den Nagel auf den Kopf«, erwiderte Onkel Titus schmunzelnd. »Sie war noch mal wegen der scheußlichen Porzellanuhr hier. Du weißt schon, dieses schwülstige Ding mit dem weißen Kranich obendrauf.«

Justus nickte amüsiert. »Ein echter Kitsch-Traum. Die stammte doch aus dem Räumungsverkauf dieses großen Second-Hand-Warenhauses in Solana Beach, bei dem du letzten Monat mächtig zugeschlagen hast, stimmt’s?«

»Genau«, bestätigte Onkel Titus. »Wegen irgendwelcher Komplikationen hat sich die Auslieferung bis jetzt verzögert, aber in Kürze wird’s wohl so weit sein. Allerdings wollte die Dame nicht so lange warten und hat schon heute bezahlt, damit ihr auch ja niemand das Prachtstück wegschnappt.«

»Woher wusste sie eigentlich, dass du der neue Besitzer bist?«, wollte Justus wissen.

»Sie hatte wohl wie ich den Flyer des Warenhauses gelesen, kam aber zu spät. Vom Eigentümer hat sie dann den Namen des Käufers erbeten. Damals ist sie direkt hergekommen, um ihr Interesse an der Uhr anzumelden, und heute hat sie sie dann im Voraus bezahlt.« Er zwinkerte belustigt. »Das nennt man echten Einsatz.«

Der Erste Detektiv grinste. »Kein Wunder – Kakadu und Kranich passen ja auch ideal zusammen.«

Gegen acht Uhr trafen sich die drei Detektive wie verabredet am Schrottplatz und machten sich von dort aus mit ihren Fahrrädern auf den Weg. Als sie zwanzig Minuten später ihr Ziel erreichten, brach bereits die Dunkelheit herein. Erst jetzt bemerkten die Jungen, dass die mächtigen Heckenreihen nicht den einzigen Schutz des Grundstücks darstellten. Ein gut zwei Meter hoher eiserner Zaun umschloss das gesamte Gelände. Nachdem sie ihre Räder angeschlossen hatten, nahmen sie das Eingangstor in Augenschein. Neben der mächtigen Pforte waren zwei Briefkästen angebracht: ein altmodisch verschnörkelter, auf dem mit Messingbuchstaben der Namen PEMBROKE stand, und darunter ein moderner Briefkasten aus Aluminium, auf den jemand mit Filzstift FORRESTER geschrieben hatte.

Da er nirgendwo eine Klingel fand, öffnete Justus kurzerhand das stark quietschende Tor. Zögernd beschritten die Detektive einen ungepflegten Kiesweg, der durch den weitläufigen Garten führte. Die aufziehende Dunkelheit verstärkte noch die düster-abweisende Stimmung, die über dem Gelände lag. Das Grundstück wirkte deutlich größer als aus der Luft, beinahe wie ein Park. Der See schimmerte wie ein schwarzer Spiegel im Mondlicht.

Argwöhnisch blickte Justus sich um. »Was auch immer uns erwartet, eines können wir schon jetzt festhalten: Dieser Ort ist alles andere als einladend.«

»Das ist noch milde ausgedrückt«, erwiderte Peter angespannt. »Hier würde sogar Dracula eine Gänsehaut kriegen.«

»Ich möchte die Stimmung ja nicht zusätzlich trüben«, meldete sich nun Bob zu Wort und blickte skeptisch auf sein Handy, »aber ich fürchte, wir befinden uns hier in einem fetten Funkloch. Wenn’s wirklich brenzlig wird, müssen wir alleine klarkommen.«

Der Zweite Detektiv schnaufte kopfschüttelnd. »Na wunderbar, das wird ja immer besser …«

Wenig später ragte das verwinkelte Wohnhaus mit dem großen Eckturm als finsterer Schatten vor den Jungen auf.

Irritiert wanderte Bob mit seinem Blick die von zahlreichen Erkern und Giebeln gesäumte Fassade ab. »Seltsam … nirgendwo ist Licht zu sehen.«

»In der Tat eigenartig«, stimmte Justus zu. »Entweder ist niemand im Haus – oder die Fenster sind alle verhängt. Mal sehen, was zutrifft.« Zielstrebig stieg er die Stufen der rund um das Haus herumreichenden Veranda hinauf und betätigte in Ermangelung eines Klingelknopfs den schweren Ring eines altmodischen Türklopfers. Nur wenige Sekunden später erklangen dumpfe Schritte. Ein Schlüssel wurde mehrfach im Schloss herumgedreht und die Tür öffnete sich mit einem lauten Knarren.

Peter, der unwillkürlich den Atem angehalten hatte, zwinkerte überrascht. Vor ihnen stand ein spindeldürrer, hohlwangiger Mann in der abgewetzten Uniform eines Butlers. Seine weiß behandschuhte rechte Hand umschloss einen achtarmigen Kerzenhalter, der abgesehen vom Mond die einzige Lichtquelle darstellte. Das Seltsamste waren jedoch die Haare des Mannes. Er war nahezu vollkommen glatzköpfig, bis auf die beiden schwarzen Zöpfe, die knapp oberhalb der Ohren ansetzten und bis zur Hüfte hinabreichten. Sie rahmten das knochige Gesicht des Butlers ein wie ein groteskes Porträtbild. Mit stechenden Augen fixierte der Mann die Jungen.

»Was wollt ihr?«, fragte er mit schneidend scharfer Stimme.

Instinktiv beschloss Justus, Vorsicht walten zu lassen und zunächst auf die Erwähnung des schaurigen Fischmenschen zu verzichten. Stattdessen setzte er sein freundlichstes Lächeln auf und deutete auf Bob und Peter.

»Meine Freunde und ich haben eine Wanderung unternommen und dabei müssen wir irgendwie vom Weg abgekommen sein.« Bei einem unauffälligen Blick in den dunklen Flur entdeckte er an der Garderobe mehrere altertümliche Damenhüte. Hier schien also tatsächlich eine Frau zu wohnen. »Könnten Sie die Hausherrin bitte fragen, ob wir kurz ihr Telefon benutzen dürfen?«

»Ausgeschlossen«, erwiderte der Butler barsch. »Mrs Pem­broke hat sich bereits zur Ruhe begeben und duldet keinerlei Störung. Verschwindet!« Damit ließ er die verdutzten Detektive einfach stehen und schloss die Tür wieder.

»Wie überaus gastfreundlich«, murmelte Bob grimmig. »Ich dachte schon, diese bezopfte Vogelscheuche zieht gleich einen Zauberstab und verwandelt uns in Sumpfkröten.«

»Zumindest wissen wir jetzt, dass ich mich nicht geirrt habe!«, stellte Peter mit Genugtuung fest. »Ich habe heute Nachmittag eine Frau gesehen, hinter der dieser Monster-Harpunier her war. Und jetzt ist sie im Haus.«

»Für diese Mutmaßung gibt es noch keinerlei handfesten Beweis«, entgegnete Justus und runzelte die Stirn. »Ich gebe jedoch zu, dass mich dieses sonderbare Haus und das feindselige Verhalten des Butlers stutzig machen. Rechnet man alle seltsamen Elemente einschließlich deiner Beobachtung zusammen, so bleibt unterm Strich doch ein recht beachtliches Fragezeichen, mit dem wir dieses Haus versehen sollten. Daher schlage ich vor, dass wir eine kleine Außenbegehung unternehmen. Die üppige Vegetation dürfte uns ausreichend Deckung für dieses Unterfangen bieten.«

So leise und vorsichtig wie möglich begannen die drei Detektive mit ihrer Späh-Aktion. Dabei ließen sie ihre mitgenommenen Taschenlampen natürlich ausgeschaltet, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Verwundert stellten sie fest, dass die Fenster, sofern einsehbar, tatsächlich alle mit dunklen Gardinen verhängt waren, die nicht den geringsten Blick ins Innere zuließen. Selbst die Fenster der angrenzenden Holzgarage waren mit Vorhängen zugezogen. Geräusche waren ebenfalls nicht zu vernehmen; es herrschte Totenstille. Soeben wollte Justus notgedrungen das Signal zum Aufbruch geben, da stieß ihn Bob plötzlich an.

»Da … da drüben am Fenster!«, flüsterte er aufgeregt.

Überrascht blickten Justus und Peter in die gewiesene Richtung. Und tatsächlich – am hintersten Erdgeschossfenster auf der Nordseite waren die Vorhänge ein wenig beiseitegeschoben worden. Das blasse Gesicht eines etwa dreizehnjährigen blonden Jungen starrte mit weit aufgerissenen Augen zu ihnen herüber. Er sah aus, als sei ihm gerade der Teufel persönlich begegnet. In seinem Blick spiegelte sich nackte Angst und er schien am ganzen Leib zu zittern.

Zögernd trat Justus aus der Deckung einer knorrigen Küsten­eiche in den matten Schein des Mondes hinaus und hob in einer besänftigenden Geste beide Hände, um zu signalisieren, dass er keine bösen Absichten hatte. Doch da war das Gesicht schon wieder verschwunden. Unsicher schaute der Erste Detektiv zu Bob und Peter hinüber. Als er gerade wieder umdrehen wollte, bewegten sich die Vorhänge erneut und der Junge kehrte ans Fenster zurück. In seinen schmalen Händen hielt er ein Stück Papier, das er nun fest gegen die Scheibe drückte. Trotz der Dunkelheit waren die Buchstaben klar und deutlich zu erkennen: HILFE!

Sofort begannen bei den drei Detektiven sämtliche Alarmglocken zu läuten. Geduckt eilten sie zu dem Fenster hinüber. Der Junge hielt den Griff fest umklammert und rüttelte daran. Das Fenster schien zu klemmen, doch mit vereinten Kräften schafften sie es schließlich, die Scheibe hochzuziehen. Im Inneren des Zimmers war es stockdunkel.

»Wer … seid ihr?«, fragte der Junge ängstlich, während er instinktiv einen Schritt zurückwich. Da er immer noch sehr eingeschüchtert wirkte und die Situation vollkommen unübersichtlich war, blieben Justus, Peter und Bob sicherheitshalber zunächst vor dem Fenster stehen. Im Notfall konnten sie ja immer noch hineinklettern.

»Mein Name ist Justus Jonas«, erklärte der Erste Detektiv im Flüsterton. »Und das hier sind meine Freunde Peter Shaw und Bob Andrews. Wir sind hier, weil Peter heute Nachmittag etwas Seltsames in eurem Garten gesehen hat. Eine unheimliche Gestalt, die eine Frau verfolgte.«

Schockiert zuckte der Junge zusammen. »Oh nein … Dann ist er zurückgekommen! Er muss sie in den Garten gelockt haben!« Mit bebenden Lippen starrte er an den Detektiven vorbei in die Finsternis.

»Wer?«, fragte Peter beunruhigt. »Von wem redest du?«

Doch der Junge schien gar nicht mehr zuzuhören. Panisch deutete er in die undurchdringliche Dunkelheit des Gartens hinaus. »Ihr müsst hier weg, schnell! Er ist irgendwo da draußen und streift umher wie ein böses Tier. Wenn er euch erwischt, seid ihr verloren!«

Fassungslos blickten Peter und Bob einander an. Selbst den abgeklärten Justus brachte diese verstörende Aussage kurzzeitig aus dem Gleichgewicht. Dann jedoch strafften sich seine Gesichtszüge und er streckte auffordernd eine Hand aus. »Wir lassen dich nicht allein. Komm mit uns!«

Abwehrend hob der Junge die Arme. »Nein … nein, ich kann meine Tante nicht im Stich lassen! Wenn ich das Haus verlasse, bricht der Zeichenbann …«

»Zeichen?«, fragte Bob irritiert. »Was denn für Zeichen?«

»Nur so kann man ihn fernhalten«, erwiderte der Junge mit flackerndem Blick. »Jeden Morgen und jeden Abend müssen die Bannkreise neu gemalt werden. Kein Zeichen darf vergessen werden, sonst passiert etwas Schreckliches.«

»Das kann doch nicht wahr sein …«, hauchte Peter tonlos.

Angespannt presste Justus die Lippen aufeinander. Er musste trotz dieser unwirklichen Situation versuchen, einen kühlen Kopf zu bewahren. »Was genau meinst du? Was würde dann passieren?«

Ohne zu antworten, schaute der Junge sich fahrig um, so als wollte er in der Dunkelheit des Zimmers irgendetwas überprüfen. Dabei murmelte er atemlos einen seltsamen Spruch, den er offensichtlich immer und immer wieder gehört hatte.

»Jede Tür und jedes Fenster, jeder Raum und jeder Ort. Bleibt ein Zeichen ungeschrieben, dringt er ein und reißt dich fort …«

Für einen Moment herrschte entgeisterte Stille. Dann fasste Peter dem Ersten Detektiv an die Schulter. »Just, ich habe keine Ahnung, wovon er da spricht, aber es hört sich echt übel an. Wenn du mich fragst, sollten wir hier schleunigst verschwinden!«

Auch Bob war sichtlich angespannt und blickte sich immer wieder nach allen Seiten um.

Obwohl Justus es sich nur höchst widerwillig eingestand, musste er Peter doch zustimmen. Sie konnten den Jungen ja nicht gegen seinen Willen aus dem Haus entführen. Ihnen blieb daher nichts anderes übrig, als vorerst den Rückzug anzutreten. Eindringlich schaute Justus dem immer noch vor sich hinmurmelnden Blondschopf in die Augen, um dessen Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.