Über dieses Buch:
Weiche Knie und ein verräterisches Flattern im Bauch – kann das Liebe sein? Kristina ist Mitte Vierzig, hat zwei erwachsene Kinder und ist seit fünf Jahren mehr oder weniger glücklich geschieden. Doch was passiert, wenn eine weitere Zahl dazu kommt, eine knackige 29? So alt ist Tom, ein Freund ihres Sohnes, der eines Tages zufällig bei ihr am Küchentisch landet und keine Anstalten macht, wieder zu verschwinden. Tom sorgt dafür, dass Kristinas ruhiges Leben nach Jahren des Pflegeleichtprogramms wieder in den Schleudergang hochschaltet … aber er ist natürlich viel zu jung für sie. Oder?
Eine charmante Komödie über die Irrungen und Wirrungen der Gefühle – denn man ist nie zu alt, zu klug oder zu erfahren für Schmetterlinge im Bauch!
»Wer dieses Buch aufschlägt, legt es nicht mehr aus der Hand. Also nehmen Sie sich besser nichts für den Abend vor und sagen Sie alle Verabredungen ab.« Christine Neubauer
Über die Autorin:
Nadja Nollau lebt in München und arbeitet als Journalistin und freie Autorin; unter anderem schrieb sie gemeinsam mit Christine Neubauer den Bestseller »Die Vollweib-Diät«. Im Lauf ihrer langjährigen journalistischen Tätigkeit hat sie sich auf die Themen Gesundheit, Fitness, Ernährung und Psychologie konzentriert.
Die Autorin im Internet: www.nadjanollau.de
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eBook-Neuausgabe Dezember 2012, Januar 2022
Copyright © der Originalausgabe 2012 dotbooks GmbH, München
Copyright © der Neuausgabe 2012, 2021 dotbooks GmbH, München
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Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Anna Tryhub / Alenka Karabanova / Jacob_09
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-95520-012-1
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Nadja Nollau
Herzen im Schleudergang
Roman
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Es gibt Tage, die könnten spurlos aus dem Kalender verschwinden, so wie das 13. Stockwerk in einem Hotel oder die Reihe 13 im Flugzeug. Niemand würde diesen Tagen eine Träne nachweinen. Dann gibt es Tage, die verschwinden ganz von selbst in dem großen, dunklen Loch der Gleichförmigkeit. Oder können Sie sich noch daran erinnern, was Sie am Dienstag vor zwei Wochen gemacht haben? Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf. Wenn es Ihnen nicht sofort einfällt, dann war es eben genau einer dieser völlig belanglosen Tage.
Auch der heutige Tag beginnt vielleicht wie immer, gewöhnlich und vorhersehbar. Und er würde vermutlich wie viele vor ihm gemütlich im Reich der Vergessenheit verschwinden, wenn nicht an seinem Ende etwas völlig Verrücktes geschehen würde. Wer weiß das schon am Morgen? Wenn jedoch das Wunder passiert, dann begreifen wir das garantiert erst viel später. Die denkwürdigen Tage erkennen wir nicht auf Anhieb. Manchmal haben wir halt eine lange Leitung.
Sie ließ das Öl langsam auf seinen nackten Rücken tropfen. Stimulating oil stand auf dem Etikett. Versonnen sah sie zu, wie das Öl über seine Wirbelsäule floss. Sanft berührte sie ihn mit den Händen. Dann begannen ihre Fingerspitzen, wie von selbst über seine gebräunte Haut zu tanzen, um das stimulierende, duftende Öl auf seinem Rücken zu verteilen.
Für knapp eine Stunde zählte nichts außer ihnen beiden. Es gab keinen Grund zur Eile, und sie hatte auch nicht vor, irgendetwas zu überstürzen. Sie nahm sich Zeit, seine Haut, seine Muskeln, seine Schultern, jeden einzelnen seiner Wirbel zu erkunden. Mit den Händen wanderte sie an seinem Rückgrat hinab, bis sie die Wölbung seines Pos spüren konnte. Er seufzte leise. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie war ein Profi.
Konzentriert bearbeitete sie den nackten Körper, der vor ihr lag. Nach und nach verstärkte sie den Druck und massierte seine Muskeln immer fester. Ihre Finger gruben sich in sein Fleisch. An seinem Atem konnte sie hören, dass sie auf der richtigen Spur war, während sie sich weiter über seinen Körper bewegte. Auch ihr Atem ging nun schneller.
»Ja, genau so, da ist es«, stöhnte eine tiefe Stimme, die zu dem Körper gehörte, mit dem Kristina gerade so hingebungsvoll beschäftigt war. »Fester, ja, noch mehr.«
Halt die Klappe, Blödmann, dachte sie und packte noch fester zu. Mit der Zunge fuhr sie sich über die Lippen. Ihr T-Shirt klebte an ihrem Körper. Es war erst Ende Mai, aber seit zwei Tagen herrschten Temperaturen wie im Hochsommer. Heute kam ihr diese ungewohnte Hitze unerträglich vor.
Um die feuchte Schwüle während der Arbeit aushalten zu können, hatte sie am Morgen den Ventilator aus dem Keller geholt. Das Gerät lief auf Hochtouren. Sie genoss den leichten Windzug, den der kleine Quirl ihr ins Gesicht blies. Mit geschlossenen Augen träumte sich Kristina an einen Traumstrand. Eine sanfte Brise wehte übers Meer, spielte mit ihrem Haar und liebkoste ihre Haut. Salz auf meiner Haut, schoss es ihr durch den Kopf, während sie einem Schweißtropfen nachspürte, der ihr den Rücken hinunterlief.
»Sie können ruhig etwas fester massieren«, sagte die tiefe Stimme. Der dazugehörige Körper kam unter ihren Händen in Bewegung. Der Oberkörper richtete sich auf, und der Kopf drehte sich zu ihr.
Kristina blickte in ein von der Sonne gegerbtes Gesicht, dessen Besitzer mit einem Waran verwandt sein musste. Guten Morgen, Matula, knurrte Kristina innerlich. So hatte sie ihn getauft. Menschen andere Namen zu geben, das war eine Marotte von ihr.
Wo bist du nur mit deinen Gedanken?, mahnte sie sich im Stillen und atmete tief durch. Daran war nur diese elende Hitze schuld. Da musste man ja auf dumme Ideen kommen. Ob das wohl schon die Wechseljahre mit dieser fliegenden Hitze waren? Quatsch! Schließlich war sie erst 45.
Kristina zwinkerte ihrem Patienten freundlich zu und drückte dessen Oberkörper energisch zurück auf die Liege. Justus Claussen kam seit gut einem Monat wegen seiner Verspannungen in Nacken und Rücken zu ihr in die Praxis. Sie wunderte sich nicht über seine diversen Wehwehchen. Der Jurist betätigte sich privat als Extremsportler. Mountainbiking, Klettern, Drachenfliegen, Kajakfahren – was auch immer eine Herausforderung darstellte, er nahm sie an. Zurzeit frönte er seinem neuesten Hobby, dem Fallschirmspringen. Und er ließ nichts unversucht, um sie zu einem gemeinsamen Sprung zu überreden.
»Besser als jeder Orgasmus«, meinte er nun – wie jedes Mal.
Dann hast du was verpasst, du Alpha-Männchen, dachte Kristina. Was konnte an einem Sprung aus dem Flugzeug so gigantisch sein, dass es guten Sex in den Schatten stellte? Vielleicht fehlte es dem Waran einfach an der dazu notwendigen Feinmotorik. Sie jedenfalls würde weder das eine noch das andere mit ihm ausprobieren, sondern schön auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Besser als jeder Orgasmus? Kristina seufzte leise. Orgasmus – was war das? Sie musste schon tief in ihrem Gedächtnis kramen, um sich an ihren letzten zu erinnern. Das Leben konnte ganz schön gemein sein.
Ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass sie zum Ende kommen konnte. Nach ein paar letzten Handgriffen deckte sie den nackten Rücken mit einem flauschigen Handtuch zu und verließ auf Zehenspitzen den Behandlungsraum. Matula schnarchte inzwischen leise vor sich hin. Sie wollte ihn jetzt nicht wecken.
Ihr erster Weg führte sie ins Badezimmer, wo sie sich das Öl von den Händen wusch. Dann tupfte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht und studierte ihr Spiegelbild.
»Was ist bloß los mit dir?«, fragte sie die Frau, die ihr im Spiegel entgegenblickte.
Schon zum zweiten Mal in dieser Woche war sie während einer Behandlung in einen erotischen Tagtraum geglitten. Natürlich herrschte ein gewisser Notstand. Aber es war nicht so, dass sie sich nicht mehr im Griff hatte. Da stand sie nun also, eine Frau im besten Alter, mit einer immer noch passablen Figur, glatter Haut und keinem einzigen grauen Haar. Und was geschah?
»Nichts. Null Komma nix«, antwortete sie sich selbst. »Na ja, es gibt Wichtigeres.«
Viel wichtiger ist doch die Liebe, überlegte sie. Aber auch da sah es eher düster aus. Gab es denn nirgendwo einen Seelenverwandten für sie? Ja, das Leben konnte ziemlich gemein sein.
»Aber ich will mich nicht beschweren«, sagte sie wie immer zu sich, wenn sie Gedanken wie diesen nachhing, »ich habe ja alles, was ich brauche. Bloß nicht undankbar sein.«
Wie hatte Sophie diesen Zustand kürzlich genannt? Notgeil. »Oh, mein Gott«, seufzte sie. Ob ihre Tochter das auch bei ihr so nennen würde? Kristina fixierte ihr Spiegelbild. »Schau den Tatsachen ins Gesicht: Du bist jetzt eine notgeile Alte.«
In dem Moment klopfte es an der Tür. »Sprichst du wieder mit dir selbst?«
Kristina ignorierte die Frage und zog eine Grimasse. Dass sie zuletzt einen Mann im Arm gehalten hatte, lag schon Wochen, nein, Monate zurück. Eine Verschwendung hatte Rita es genannt. Und Kristina wusste, dass sie jetzt draußen vor der Tür stand. »Rita, du sollst nicht an der Tür lauschen!«, rief sie.
Rita. Das war die Frau, die ihr ständig vorhielt, dass sie das Beste im Leben einfach verpasste. Erst vor kurzem hatte sie zu Kristina gesagt: »Du bist eine Frau in den besten Jahren. Du stehst in der Blüte deines Lebens, und du lebst wie eine Nonne. Wann hast du deinen letzten Orgasmus gehabt?«
»Orgasmus? Was ist das?«
Rita hatte nicht glauben können, dass es weit und breit keinen Kerl geben sollte, der zu Kristina passte. »Krristina, des is fei aweng zum Färrrchdn«, hatte sie mit rollendem R geschimpft.
Zum Fürchten fand Rita die Abstinenz ihrer Freundin. Und wenn Rita sich über irgendetwas aufregte, verfiel sie ins Fränkische. Wenn es um Männer oder ums Älterwerden ging, schnellte ihr Blutdruck blitzartig in die Höhe, und ihr Heimatdialekt brach unwillkürlich durch. Und das geschah eigentlich laufend. Dabei hatte Rita sich den Dialekt mit großer Mühe abgewöhnt. Ihrer Ansicht nach passte er so gar nicht zu ihrer gepflegten Erscheinung.
Jaja, Rita. Die hatte leicht reden. Sie war wieder mal frisch verliebt, was kein besonderes Ereignis war. Schließlich war sie dauernd in irgendeinen Kerl verliebt. Für gewöhnlich hielt dieser Ausnahmezustand ein paar Wochen lang an. Dann hatte sie genug und schaltete ohne großes Zaudern zurück in den Single-Modus. Dieses Spielchen praktizierte sie seit ihrer Scheidung von Hubert vor acht Jahren, und sie schien damit glücklich zu sein. Rita pflegte nicht nur ein freundschaftliches Verhältnis zu Hubert, sondern hatte ihn auch zu ihrem Part-Time-Lover gemacht. »Für Notsituationen, denn Hausmannskost hat hin und wieder auch ihren Reiz«, hatte sie erklärt.
Kristina hatte das überhaupt nicht nachvollziehen können. Allein bei der Vorstellung, Peter nach der Scheidung noch mal näher zu kommen, überfiel sie auch jetzt das kalte Grauen.
»Du nimmst das alles viel zu ernst«, hatte Rita erwidert. »Solange du nach der großen Liebe suchst, übersiehst du all die vielen hübschen Möglichkeiten, die es sonst noch gibt. Die Männer warten doch nur darauf. Neun von zehn haben praktisch einen Henkel zum Mitnehmen. Da musst du nur zugreifen.«
Kristina wusste, dass sie damit nicht ganz unrecht hatte. Auch Justus Claussen hatte diesen Henkel. Aber was sollte sie denn machen, wenn bei ihm ihre Libido einfach nicht reagierte?
Offenbar hatte Rita es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Kristina zu verkuppeln. Sie hatte unerschöpfliche Ideen für Kontaktbörsen, die Kristina nur aufsuchen musste. Speed-Dating, Fitnessklub, Golfkurs, Fußballstadien, Kneipen, Internet. »Männer haben ihre festen Plätze«, hatte Rita ihr erklärt. »Und genau da musst du hingehen. Die findest du nicht beim meditativen Tanz, beim Pilates oder in der Damenabteilung eines Kaufhauses, sondern beim Schafkopfspielen, beim Joggen im Englischen Garten oder in der Sport- und Computerabteilung.«
Vielleicht hat sie ja recht, überlegte Kristina. Vielleicht verpasse ich bei meiner Warterei auf den Richtigen viele gute Gelegenheiten. Vielleicht bin ich überheblich, stelle zu hohe Ansprüche und benehme mich wie eine Zicke … Andererseits kam Kristina das, was sich ihr aktuell so anbot, eben tödlich langweilig vor.
Klar, da gab es ihren Nachbarn Hugo Drechsel, der nur ein paar Häuser weiter wohnte und der ein Auge auf sie geworfen hatte. Aber er war nun einmal überhaupt nicht ihr Typ: Der Kerl war schmächtig, kahlköpfig, reichte ihr gerade so bis zum Kinn und hatte noch dazu eine feuchte Aussprache. Oder Stefan Wagner, ebenfalls ein Patient, der unbedingt mit ihr ausgehen wollte. Allerdings kannte Kristina seinen Körper leider viel zu gut, und sie stand nicht auf männliche Brüste, die locker ein C-Körbchen füllen konnten, plus Bierbauch als Lendenschurz.
Aussehen ist nicht alles – die inneren Werte sind viel wichtiger, redete sie sich ein. Doch wo fing dieses ominöse Innere an? Und ganz ohne eine ansprechende Optik ging es ja auch nicht. Sie konnte sich schließlich nicht mit irgendeinem Mann treffen, nur um nicht länger allein zu sein. Nein, so groß war der Notstand nun wieder nicht. Sie würde sich auf keinen Fall dem Erstbesten an den Hals werfen oder sich ihm hoppla-hopp hingeben. Um sie sollte der Mann schon kämpfen.
Und einer kämpfte gerade mit großem Einsatz um ihre Gunst: Johannes Dermand, ein weiterer Patient von ihr. Seit Monaten wollte er sie dazu überreden, mit ihm auszugehen – oder besser noch, gleich mit ihm zu verreisen. Mit einem »No sex in the office« hatte Kristina lachend seine durchaus charmanten Offerten abgelehnt. Das war natürlich glatt gelogen gewesen. Aber hätte sie ihm die Wahrheit sagen sollen? Dieser Verehrer hätte ihr Vater sein können! Er war zwar noch recht rüstig, aber aus der Kartei wusste sie, dass er demnächst 75 werden würde. Und sie sah sich nun mal nicht in der zukünftigen Rolle der Pflegerin.
Warum zum Teufel interessieren sich eigentlich nur Männer um die 70 für mich und keine in meinem Alter?, rätselte Kristina. Sie verstand es nicht – und noch weniger das Selbstbewusstsein, das die alten Knaben an den Tag legten. Scheinbar passte die Frau Mitte 40 genau ins Beuteschema dieser vitalen Rentner. Die Welt ist ungerecht, dachte sie und hängte das Handtuch zurück. Sie knipste das Licht aus, verließ das Badezimmer und ging direkt zu Rita, die wieder an ihrem Schreibtisch saß und mit ihren perfekt manikürten und lackierten falschen Fingernägeln laut klackend die Tastatur des Computers bearbeitete.
Neidisch betrachtete Kristina diese Nägel. Für sie kam so etwas nicht in Frage. Rita konnte diese Waffen einsetzen, um ihre Tastatur zu malträtieren und mit ihren Liebhabern herumzuspielen. Aber zum Massieren waren diese Nägel komplett unbrauchbar. Kristina seufzte. An Rita war alles perfekt. Sie war geschminkt und frisiert wie für einen Fototermin, und auch ihr Outfit war wie immer makellos durchgestylt.
»Alles okay?« Rita schaute kurz auf und musterte sie. »Deine Selbstgespräche nehmen bedenkliche Formen an. Passiert dir das auch auf der Straße?«
»Ja, wenn ich an der Ampel stehe. Die kann wenigstens zuhören.« Sie grinste ihre Freundin schief an. »Ist Claussen weg?«
Rita nickte und wedelte mit einem Stück Papier vor ihrer Nase herum. »Das hat er für dich dagelassen.«
»Wieder ein Gutschein für einen Fallschirmsprung?«, fragte Kristina und verzog das Gesicht. »Wie deppert muss ich sein, um so was freiwillig zu tun?« Sie ließ sich auf die Kante von Ritas Schreibtisch sinken. »Verdammt heiß heute.«
»Eine Klimaanlage wäre jetzt genau das Richtige. Und die sind gar nicht so teuer.« Rita unterbrach ihre Arbeit am Computer und fischte ein paar bedruckte Blätter aus der Ablage. »Hier, ich habe mal recherchiert, was so ein Einbau kosten würde.«
Kristina nahm die Zettel, warf einen flüchtigen Blick darauf und legte sie zurück auf den Tisch. »Schau ich mir heute Abend an.« Wie alles in ihrem Leben war auch so etwas Profanes wie eine Klimaanlage keine spontane Entscheidung. So etwas musste wohlüberlegt sein.
»Aber vergiss es nicht«, mahnte Rita sie. »Und jetzt hast du das Vergnügen mit Frau von Dannewald.« Bei diesen Worten rollte sie dramatisch die Augen und fügte hinzu: »Das Schätzchen erwartet dich bereits. In der Zwei.«
»Heute bleibt mir nichts erspart.« Kristina sank kurz in sich zusammen, dann straffte sie sich und ging zum Behandlungsraum Zwei.
»Übrigens hat Sophie vorhin angerufen«, rief Rita ihr hinterher. »Sie kommt später vorbei.«
Kristina hatte den Türgriff schon in der Hand. »Was will sie denn?«
»Was glaubst du? Du solltest deine Tochter doch inzwischen kennen.« Rita betrachtete Kristina spöttisch. »Zimmer mit Kost und Logis und das alles für umsonst.«
»Nicht schon wieder.«
»Ich fürchte, doch. Der Frieden dauert schon viel zu lange.«
Kristina schüttelte den Kopf und öffnete die Tür zum Behandlungsraum. »Hallo Frau von Dannewald. Schön, Sie zu sehen. Gut sehen Sie aus.« Schmeicheleien gehörten zum Service.
Die Frau warf ihr einen leidenden Blick zu. »Mein Rücken bringt mich um. Sie müssen mich von diesen grausamen Schmerzen befreien.«
»Dafür bin ich da, Frau von Dannewald«, erwiderte sie und schenkte der Frau ein mitfühlendes Lächeln. Seltsam, sie wird ihrem Mops immer ähnlicher, schoss es ihr durch den Kopf. »Legen Sie ab, und machen Sie sich es auf der Liege bequem. Ich hole inzwischen die Fangopackung.«
Kristina verließ das Zimmer. Rita war gerade dabei, zusammenzupacken.
»Du gehst schon?«, erkundigte sich Kristina.
»Die Frengin lässt die Arbeit ruhn und freut sich auf den Afternoon«, gab ihre Freundin zurück und summte vergnügt. »Noch nicht, aber bald.«
»Ich habe den falschen Job.«
»Augen auf bei der Berufswahl«, entgegnete Rita. »Sobald du mit der Dannewald fertig bist, muss ich los. Ich habe einen Termin bei Dr. Sommerfeld. Du weißt schon. Meine Stirn wirft Falten. Ich sehe ja schon aus wie ein tibetanischer Faltenhund.«
»Falten?« Kristina musterte sie. »Wo denn?«
»Das sind ja schon fast Furchen«, meinte Rita und ignorierte den Einwand. Mit gerolltem R fränkelte sie dann munter: »Ich brrrauche drrringend Bodox. Keine Ambulle, sondern einen ganzen Eimerrr.«
»Du vergisst dich schon wieder. Dein Dialekt!«, zog Kristina sie auf.
»Pah!« Rita sah sie streng an. »Ein bisschen was von dem Zeug über deinen Brauen und hier bei den Augen, das würde dich glatt zehn Jahre jünger aussehen lassen. Soll ich dir gleich einen Termin zur Entrunzelung bei Dr. Sommerfeld besorgen?«
»Quatsch. Meine Haut ist glatt wie ein Kinderpopo.«
»Dräum weider!« Rita kramte in einer Schublade, zog einen Handspiegel heraus und legte ihn auf den Schreibtisch. »Wir machen jetzt mal den Joop-Test. Beug dich drüber und schau rein.«
»Joop? Meinst du diesen Modefuzzi?«
»Ja, der Test stammt von ihm. Also beug dich über den Spiegel. Was siehst du?«, fragte Rita.
Kristina schwieg. Leichtes Entsetzen überkam sie, als sie in den Handspiegel sah.
»Genau«, flötete Rita. »Hautüberschuss. Igitt! Alles, was da runterhängt, muss weg. Zieh es mal nach hinten. Dann siehst du, wie es sein könnte.«
»Nix da.« Kristina richtete sich auf und winkte ab. »Ich liebe meine Falten!« Damit holte sie eine Fangopackung aus der Kammer und ging auf den Behandlungsraum zu. Rita folgte ihr.
»Ich liebe meine Falten«, äffte Rita sie nach. »So ein Blödsinn. Niemand liebt Falten.«
»Hinterher sehe ich noch aus wie dieser Joop. Und Flugente trägt man nicht mehr. Also, nein danke.«
»Nichts da. Ich mach einen Termin für dich aus. Das verschreibe ich dir als deine Freundin. Basta.«
Kristina kam nicht dazu, etwas zu erwidern. In dem Moment öffnete Rita die Tür zum Behandlungsraum, in dem bereits Frau von Dannewalds weißer Rücken zu sehen war, schob sie hinein und schloss die Tür hinter ihr. Seufzend näherte Kristina sich der Liege, auf der ihre Patientin lag.
»Da sind Sie ja endlich«, jammerte der Mops. »Ich sterbe fast vor Schmerzen.«
Kristina ließ die heiße Fangopackung auf den nackten Rücken klatschen. »Das ist der Stress. Sie muten sich zu viel zu, Frau von Dannewald.«
Massage war eine Sache, hier war Psychologie gefragt. Frau von Dannewalds Rücken fehlte gar nichts, der war kerngesund. Sie war lediglich zu dick. Wie ihr Mops Alma. Vor allem aber langweilte sich Frau von Dannewald entsetzlich, und deshalb kämpfte sie um Aufmerksamkeit, die ihr Herr von Dannewald nur in homöopathischer Dosis zukommen ließ, wie Kristina aus zahlreichen Gesprächen wusste. Sie kannte den Ehemann zwar nicht persönlich, aber aus den Erzählungen ihrer Patientin konnte sie ihn sich ziemlich gut vorstellen. Ein erfolgreicher Unternehmensberater, der viel umherreiste und offensichtlich wenig Lust verspürte, übermäßig viel Zeit daheim mit zwei Möpsen zu verbringen.
Kristina hatte kein Problem damit, Frau von Dannewald etwas Gutes zu tun, nur diese Wehleidigkeit nervte. Sie ging zur Tür, um den Raum wieder zu verlassen. Während Frau von Dannewald unter der Fangopackung durchgarte, konnte sie sie getrost zehn Minuten allein lassen. Doch dazu kam sie nicht.
»Wissen Sie, wen ich heute Morgen bei meinem Gynäkologen getroffen habe?«, fragte Frau von Dannewald unvermittelt.
Kristina entging der hinterhältige Unterton nicht, der bei dieser Frage mitschwang. Das Leidende in der Stimme war wie weggeblasen. Sie war auf der Hut.
»Ihren Mann«, sagte Frau von Dannewald.
»Meinen Mann?«
»Ja, bei meinem Frauenarzt.«
»Isch abe gar keinen Mann«, entgegnete Kristina amüsiert.
Frau von Dannewald hob den Kopf und wollte sie ansehen. Das gelang ihr jedoch nicht, da Kristina am Fußende der Liege stand.
»Nicht doch, Frau von Dannewald. Denken Sie an Ihren Rücken.«
Die Frau ließ den Kopf wieder sinken. »Ich meinte natürlich Ihren Ex-Mann. Und er war nicht alleine dort.«
»Soso.« Vielleicht ist die Fangopackung zu heiß, und die Hitze hat ihr das Hirn versengt, überlegte Kristina kurz.
»Er war in Begleitung einer Frau, einer sehr jungen Frau.«
»Aha.« Sie verspürte keine Lust auf diese Unterhaltung, aber sie wusste, dass sie aus dieser Nummer so schnell nicht herauskommen würde.
Frau von Dannewald ließ tatsächlich nicht locker und fügte hinzu: »Und diese Frau ist eindeutig schwanger. Das Bäuchlein war nicht zu übersehen.«
Kristina schnappte nach Luft. Sie wusste, dass ihr Ex-Mann, von dem sie seit fünf Jahren geschieden war, eine Freundin hatte. Eine sehr junge Freundin. Peter hatte ihr seine Julia vorgestellt. Sie war gerade mal 35 Jahre alt, 20 Jahre jünger als Peter, zehn Jahre jünger als sie selbst. Sie hatte nicht erwartet, dass er sich für ein älteres Modell interessieren würde. Das taten Männer nie. Klischees stimmten ja immer dann, wenn sie besonders peinlich waren.
Ihr Ex und seine Neue waren nun seit einem Jahr ein Paar. Und bei den diversen Familientreffen, zu denen sie seitdem gemeinsam auftauchten, wich Julia nicht einen Zentimeter von seiner Seite. Wie ein siamesischer Zwilling. Für Kristina und die gemeinsamen Kinder Sophie und Philipp war das kein Problem. Aber dass Peter jetzt noch einmal Vater werden sollte, traf sie wie ein Faustschlag. Und ausgerechnet der Mops überbrachte ihr diese Nachricht.
»Aber Sie wissen das sicher längst, nicht wahr?«, legte Frau von Dannewald nach.
Kristina hatte es nicht gewusst, und sie hatte auch keine Antwort darauf. Verwirrt griff sie nach der Fangopackung und warf sie in den großen Eimer neben der Tür. Blödmann, notgeiler Blödmann, ärgerte sie sich im Stillen.
»Na ja, Männer machen sich da ja keine großen Gedanken über ihr Alter. Und bei einer so jungen Frau ist das ja auch kein Wunder …«, plapperte Frau von Dannewald munter weiter.
Kristina hörte gar nicht mehr zu. Energisch begann sie, den Rücken ihrer Patientin durchzukneten. Vor ihrem inneren Auge sah sie dabei Peter, der mit stolzgeschwellter Brust neben seiner hübschen jungen Frau herging, die den Kinderwagen schob. Kristina rechnete nach. Peter würde 62 sein, wenn das Kind in die Schule kam.74, wenn es sein Abitur machte. Vermutlich wäre er 80, wenn der Nachwuchs dann sein Studium beendete – vorausgesetzt, alles lief nach Plan. Und bei Peter war eigentlich immer alles nach Plan gelaufen. Nach seinem Plan.
Was hat er, was ich nicht hab?, grübelte Kristina. Das war einfach gemein. Seit der Scheidung lief in Peters Leben alles glatt. Neue Wohnung, Erfolg im Job, junge Frau. Und jetzt auch noch ein Kind. Sie kannte Peter. Dieses Kind war kein Unfall. Kristina spürte, wie die Wut in ihr aufstieg. Sie stellte sich vor, wie Peter als Brautvater im Rollstuhl vor den Altar geschoben werden müsste und wie sein Hörgerät dabei pfeifen würde. Das geschieht ihm recht, dachte sie hämisch.
»Das ist doch ein Witz«, fluchte Kristina ungewollt laut und bemerkte erst jetzt, dass sie Frau von Dannewalds Rücken wie einen Hefeteig bearbeitete.
»Nein, das ist kein Witz«, ächzte Frau von Dannewald und fuhr empört fort: »Sie tun mir weh.«
Erschrocken sah Kristina die roten Flecken auf der Haut ihrer Patientin. »Oh, das tut mir leid. Aber ich musste diese furchtbare Verspannung beheben«, log sie beschämt, »und ich glaube, das ist mir gelungen.«
»Im Moment sind die Schmerzen noch stärker als vorher«, jammerte Frau von Dannewald.
»Das hört gleich wieder auf. Ich trage ein kühlendes Gel auf, und danach fühlen Sie sich wie neugeboren.« Damit hatte sie ihrer Patientin allerdings unfreiwillig ein Stichwort geliefert.
»Wann soll das Baby denn kommen?«, fragte Frau von Dannewald, richtete den Oberkörper auf und musterte Kristina aufmerksam.
Jetzt macht der Mops auch noch die Kobra, dachte Kristina und rang sich ein Lächeln ab. »Nach neun Monaten, wenn ich mich recht erinnere. Wir sind so weit fertig, aber lassen Sie sich ruhig Zeit. Wir sehen uns dann beim nächsten Mal«, erwiderte sie knapp und verließ schnell den Behandlungsraum. Der Termin mit Frau von Dannewald war endlich überstanden.
Draußen traf Kristina auf Rita, die gerade gehen wollte.
»Was hast du heute noch vor?«, fragte Rita.
»Ich wollte joggen gehen, und später mache ich mir eine Gemüseterrine. Wieso?«
Da das Botox ihre mimischen Fähigkeiten stark einschränkte, schüttelte Rita nur missbilligend den Kopf. »Joggen? Das ist nicht gut fürs Gewebe. Durch den Aufprall beim Laufen wird die Haut im Gesicht und an den Beinen nach unten gezogen. Das Ergebnis: oben Doppelkinn, unten Dellen.«
»Vielen Dank für den Hinweis. Ich binde mir das Kinn hoch und ziehe Stützstrümpfe an«, konterte Kristina.
»Das ist das mindeste. Und dann diese Terrine. Besser als Kochen wäre Sex. Das macht nicht nur schlank, sondern auch gute Laune.«
»Sehr witzig. Ich kann ja mal über einen Aushang in der Praxis nachdenken.«
»Das wäre ein Anfang.« Rita hängte ihre übergroße Handtasche über die Schulter.
»Willst du etwa verreisen?«, fragte Kristina.
»Quatsch. Die hat Sebastian mir geschenkt«, antwortete Rita voller Besitzerstolz und drehte sich spielerisch mit der Tasche.
»Mmm …«, machte sie. »Ist die nicht ein bisschen zu groß?«
»Du lebst wirklich hinterm Mond«, meinte ihre Freundin. »Das trägt man heutzutage so. Und diese Tasche ist ein absolutes Muss.«
»Sieht jedenfalls teuer aus.«
»Kostet locker ein Monatsgehalt«, erklärte Rita. »Aber Sebastian hat’s ja.«
»Und was kriegt er als Gegenleistung dafür?«
»Hoffnung, meine Liebe. Hoffnung!« Rita warf den Kopf in den Nacken. »Ciao, ciao, bis morgen.«
»Viel Spaß heute Abend.«
»Den werd ich haben«, erwiderte Rita grinsend und schwebte hinaus.
Kristina schloss die Eingangstür zu ihrer Praxis von innen ab. Am gegenüberliegenden Ende des Flurs befand sich der Eingang zu ihren Privaträumen. Arbeiten und Wohnen am selben Ort – Kristina genoss diesen Zustand. Sie hatte das Haus nach der Scheidung von Peter behalten. Schließlich war es ihr Elternhaus, in dem Peter und sie jahrelang gewohnt und eine Familie gegründet hatten. Ihre Eltern hatten ihr damals das freistehende Eigenheim im Münchner Stadtteil Altperlach überschrieben und waren in die Wohnung in der Innenstadt gezogen, in der bislang Kristina und Peter gewohnt hatten. Dieser Tausch hatte für alle Parteien nur Vorteile gehabt.
Es war ein ganz normales Haus, wie es jedes Kind malen würde. Ein kleiner Garten umgab das Gebäude, und Kristina liebte es sehr. Alles um sie herum hatte sich verändert, aber diese Mauern hatten jedem Sturm widerstanden. Um nichts in der Welt würde sie dieses Haus aufgeben. Hier war sie bis auf wenige kurze Unterbrechungen seit ihrer Geburt zu Hause. Nachdem sie Peter kennengelernt hatte, war sie mit ihm zusammengezogen. Aber mit der Schwangerschaft war sie in ihr Elternhaus zurückgekehrt.
Für Kristinas Eltern hatte die kleinere Wohnung weniger Aufwand und mehr Freiheit bedeutet. Statt eines Gartens hatten sie nun einen Balkon gehabt, auch das Treppensteigen war unnötig geworden. Kristina und Peter wiederum hatten nach der Geburt der Zwillinge mehr Platz gebraucht. Einen Garten für die Kinder zu haben, war ihr damals wie ein ganz besonderer Luxus vorgekommen.
Nach der Trennung hatte Peter dann freiwillig das Feld geräumt und hatte sich eine neue Wohnung im Münchner Nobelviertel Bogenhausen gesucht. In der ersten Zeit hatte Kristina ihn um die Veränderung beneidet. Er hatte komplett neu anfangen können, während sie am gewohnten Ort zurückgeblieben war, wo sie Tag für Tag die Erinnerungen eingeholt hatten. Damals hatte sie manchmal davon geträumt, einfach alles hinzuwerfen und woanders hinzuziehen. Aber wegen der Kinder hatte sie diese Idee nie ernsthaft weiterverfolgt. Es reichte ja schon, dass die Familie zerbrochen war. Da hatte sie Sophie und Philipp nicht auch noch das vertraute Umfeld wegnehmen wollen. Eine gute Entscheidung, wie sie heute empfand.
»Mudder Deresa«, hatte Ritas einziger Kommentar dazu gelautet.
Kristina war geblieben, Peter war gegangen. Sie hatte nicht ausziehen müssen. Trotzdem war sie durch die Trennung in ein völlig neues Leben katapultiert worden. Sophie und Philipp waren zwar schon aus dem Gröbsten heraus gewesen, aber dennoch hatte die Scheidung neue Tatsachen geschaffen – auch finanziell. Erst nach einigen Anfangsschwierigkeiten war es Kristina gelungen, sich mit der neuen Situation anzufreunden und das Beste daraus zu machen.
Dazu hatten der Umbau und die Eröffnung ihrer Massagepraxis gezählt. Sie hatte den Beruf gelernt, aber ihn mit der Geburt der Zwillinge aufgegeben. Um nach der Trennung ihre Kenntnisse aufzufrischen und die neuesten Trends zu lernen, hatte sie ein paar Schulungen und Kurse besucht. Danach war sie durchgestartet. Für die Behandlungsräume im Erdgeschoss hatte sie einen separaten Eingang bauen lassen. Ihre Patienten sollten ja nicht durch ihr Wohnzimmer in die Praxis marschieren. Damals hatte sie die Umbauarbeiten bewusst klein gehalten, denn für größere Maßnahmen hatten ihr Geld und Mut gefehlt. So hatte sie nur das Allernötigste in Angriff genommen. Inzwischen war ihre Praxis in die Jahre gekommen. Eine Modernisierung war eigentlich dringend notwendig, doch bislang hatte sie sich nicht dazu durchringen können.
Nun betrat Kristina durch die Verbindungstür in der Praxis das Treppenhaus und stieg hinauf in die Privaträume, die sich allesamt im ersten Stockwerk und unterm Dach befanden. Früher hatten hier Sophie und Philipp gewohnt. Aber die beiden gingen inzwischen eigene Wege.
Vor zwei Jahren hatte Philipp seine Sachen gepackt und war in eine kleine Wohnung in der Nähe der Uni gezogen. Zurzeit bereitete er sich auf seine Zwischenprüfungen vor. Ein Gefühl von Stolz und Glück durchströmte Kristina, als sie an ihren Sohn dachte. Für sein Alter – er war gerade 22 geworden – besaß er eine Zielstrebigkeit, die Kristina immer wieder in Erstaunen versetzte. Philipp wusste genau, was er wollte. Im Gegensatz zu ihr selbst. Ein kleines Scheibchen von Philipps Mut, das wünschte Kristina sich. Als er ausgezogen war, hatte er sie dazu motiviert, sein früheres Jugendzimmer neu einzurichten. Es hatte jedoch einige Monate gedauert, bevor Kristina das in Angriff genommen hatte. So ein Abnabelungsprozess brauchte eben Zeit.
Sophie war vor einem Jahr zu ihrem Freund Sven gezogen. Sie war zwei Minuten jünger als Philipp, aber was das Berufliche betraf, war sie ihrem Bruder um Jahre voraus. Bereits mit 17 hatte sie Abitur gemacht und danach ein Grafik- und Designstudium im Schnelldurchlauf absolviert. Seit einem Jahr arbeitete sie als Layouterin in der Redaktion einer Frauenzeitschrift und verdiente sehr gut. Auch wenn Sophie im Vergleich zu ihrem Bruder finanziell längst auf eigenen Füßen stand, bereitete ihr das Erwachsenwerden erheblich mehr Probleme als Philipp. Wenn sich nicht alles um sie drehte, drehte sie einfach durch.
Was habe ich nur falsch gemacht?, überlegte Kristina. Warum begriff Sophie nicht, dass diese egozentrische Haltung nicht cool, sondern kindisch war? Insgeheim gab Kristina ihrem Ex-Mann die Schuld daran. Schließlich hatte er sein kleines Sophiechen wie eine Prinzessin behandelt und sie gnadenlos verwöhnt. Peter hatte für seinen kleinen Liebling jedes Problem aus dem Weg geräumt. Wie oft war er ihr in den Rücken gefallen, wenn Kristina versucht hatte, Sophie dazu zu bewegen, ihre Einstellung zu überdenken? »Lass sie doch«, hatte Peter immer gesagt, »Sophie ist eben etwas ganz Besonderes.« Und Sophie hatte sich an den Vater geschmiegt und der Mutter böse Blicke zugeworfen. Dieses Verhalten von Peter war einer der vielen Gründe, warum die Ehe letztlich gescheitert war.
In weiser Voraussicht hatte Kristina das Zimmer ihrer Tochter nicht verändert. Denn in regelmäßigen Abständen krachte es zwischen Sophie und Sven, und dann zog Sophie auf unbestimmte Zeit wieder bei ihr ein – bis Sven auf Knien angerutscht kam und sie anflehte, zu ihm zurückzukommen. Darauf folgte für gewöhnlich der Höhepunkt in diesem Affentheater: Sophies großer Auftritt. Sie ließ sich huldvoll dazu herab, ihm gnädig zu verzeihen, und nach einer wunderbaren Versöhnung kehrte sie wie die Königin von Saba zu ihm zurück. Bis auf weiteres. Dieses Hin und Her hatte Kristina bisher viermal so erlebt. Und für heute hatte ihre Tochter sich erneut angekündigt.
Na ja, die werden sich schon wieder zusammenraufen. Kristina seufzte leise. Sophies Beziehungsprobleme bereiteten ihr kein Kopfzerbrechen mehr. Philipp hatte ihr klargemacht, dass seine Schwester die Rolle der Drama-Queen genoss und dass somit kein Grund bestand, dass Kristina darunter litt. Außerdem freute Kristina sich auf ihre Tochter. Sie würde sich um sie kümmern, sie trösten und sie bemuttern – eben Mutter Teresa spielen. Schließlich war es ja nur für kurze Zeit. Länger als drei, vier Tage hatten die Trennungen bisher nie gedauert. Auch diesmal würde es ein kurzes Intermezzo werden, da war sich Kristina sicher.
Während sie auf dem Weg nach oben immer zwei Stufen auf einmal nahm, überlegte sie, ob Peter schon mit den Zwillingen über die Schwangerschaft gesprochen hatte. Kristina beschloss, mit ihrem Vater darüber zu reden, was sie gerade von Frau von Dannewald erfahren hatte. Atemlos kam sie oben an.
Seit dem Tod von Kristinas Mutter vor zwei Jahren wohnte ihr Vater wieder bei ihr. Unter dem Dach hatte sie ihm eine kleine Wohnung eingerichtet. Der Senior war lange nicht über den Tod seiner Frau hinweggekommen und hätte sich beinahe selbst aufgegeben. Daraufhin hatte Kristina ihn dazu überredet, zu ihr zu ziehen. Ein Arrangement, das gut funktionierte.
Sie klopfte an die Tür. »Papa, bist du da?«, fragte sie und lauschte. Sie klopfte noch einmal, wartete einen Augenblick, dann öffnete sie die Tür und trat ein.
Die Dachwohnung war verwaist. Sofort stieg Kristina ein ledriger Duft in die Nase. Sie schnupperte. Diesen Geruch kannte sie nicht. Sie hatte bisher nichts anderes als den Geruch von Rasierwasser an ihrem Vater wahrgenommen. Und hätte sie ihm nicht irgendwann ein neues aus der Stadt mitgebracht, würde er immer noch Old Spice benutzen. Aber dieser Duft, der hier durch die Räume waberte, stammte eindeutig von einem Eau de Toilette.
»Papa benutzt Parfüm«, stellte Kristina verwirrt fest. Nicht, dass sie daran etwas auszusetzen hätte. Was sie so überraschte, war die Tatsache an sich. Schließlich hatte er noch nie Parfüm benutzt. Es lag etwas in der Luft, daran bestand kein Zweifel.
Kristina ging in das Badezimmer ihres Vaters und entdeckte den Flakon auf der Ablage über dem Waschbecken. KNIZE stand darauf. Sie schraubte den Deckel ab. Daher stammte also der herbe Duft.
»Nicht schlecht, Herr Specht«, schnaubte sie, schraubte das Fläschchen zu und stellte es zurück. Der Duft hatte eindeutig narkotisierende Wirkung. Sie würde ihn bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen.
Ratlos stand sie da und dachte darüber nach, was sie mit dem angebrochenen Feierabend anfangen sollte. Die Lust zum Joggen war ihr vergangen. Dann kümmere ich mich halt um die Buchhaltung, entschied sie im Stillen. Sie ging wieder hinunter in die leere Praxis und setzte sich an Ritas Schreibtisch. Lustlos heftete sie einige Rechnungen hinter den jeweiligen Kontoauszügen ab und kontrollierte Ein- und Ausgänge. Nach wenigen Minuten klappte sie den Aktenordner jedoch zu. Es gelang ihr einfach nicht, sich darauf zu konzentrieren. Ständig musste sie an ihren Vater und das Parfüm denken. Was war da im Gange, was hatte sie übersehen, mit welchen Neuigkeiten musste sie noch rechnen? Erst Peter, jetzt Klaus.