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Nr. 78

 

Aufbruch der Barbaren

 

von Hugh Walker

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Mythor, der Sohn des Kometen, hat in der relativ kurzen Zeit, da er für die Sache der Lichtwelt kämpfte, bereits Großes vollbracht. Nun aber hat der junge Held Gorgan, die nördliche Hälfte der Welt, verlassen und Vanga, die von den Frauen regierte Südhälfte der Lichtwelt, erreicht, wo er von der ersten Stunde seines Hierseins an in gefährliche Geschehnisse verstrickt wurde.

Diese Geschehnisse nahmen ihren Anfang im Reich der Feuergöttin, wo Mythor für Honga, einen aus dem Totenreich zurückgekehrten Helden, gehalten wurde. Es kam zur Begegnung mit Vina, der Hexe, und Gerrek, dem Mann, der in einen Beuteldrachen verwandelt worden war. Es folgten Kämpfe mit Luftgeistern und mit Amazonen, es kam zu Mythors Gefangenschaft, zur Flucht und zu erneuten Kämpfen mit denen, die sich an Mythors Fersen geheftet hatten.

Während Mythor-Honga mit seinen neuen Gefährten den Hexenstern zu erreichen sucht, wo er seine geliebte Fronja, die Tochter des Kometen, in großer Gefahr weiß, kommt es in Gorgan zu Geschehnissen, die für die Zukunft der Lichtwelt von weitreichender Bedeutung sein können.

Motor des Geschehens ist Nottr, Mythors Freund und ehemaliger Kampfgefährte. Der Lorvaner sorgt für den AUFBRUCH DER BARBAREN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Nottr – Der Anführer der Großen Horde gerät in Bedrängnis.

Urgat – Stammesführer der Quaren.

Magh'Ullan – Der Herr von Ullanfort.

Olinga – Die Gefangene der Wölfe.

Kyerlan – Ein Caer-Priester.

1.

 

Nottrs Schlaf war in diesen Nächten, seit die Große Horde aufgebrochen war, voller Unruhe. Träume quälten den Barbarenführer, die manchmal so wirklich waren, dass er glaubte, wach zu sein. Und die Nächte des Neumonds waren die schlimmsten.

Aber es gab auch einen Traum, den er herbeisehnte, einen, den er bereits des Öfteren gehabt hatte. Das war der Traum, in dem Olinga zu ihm kam, seine Gefährtin, die ihm einen Sohn geboren hatte, bevor die Wölfe sie holten, und die er im Stich lassen musste, als die Große Horde aufbrach. Denn, so beschworen die Schamanen, der Führer der Großen Horde durfte nur eine Verpflichtung haben: die Horde!

Vielleicht hätte er sich dennoch für Olinga entschieden, obwohl es das Ende aller seiner Träume eines Krieges gegen die Finsternis gewesen wäre, denn sein Körper und sein Herz sprachen eine andere Sprache als sein Verstand – und wann in der Geschichte der Wildländer hatte je ein Lorvaner seinem Verstand gehorcht? Nur er, der er die Welt mit den Augen des Kometensohns zu betrachten gelernt hatte an der Seite Mythors, er trug den Funken größerer Gedanken in seinem Barbarenverstand.

Aber er hätte sich dennoch für seine Liebe entschieden, wenn er nur sicher gewesen wäre, dass Olinga noch am Leben war. Mit tausend Kriegern wäre er gegen die Wölfe gezogen, um sie zu befreien, und Skoppr mit ihr.

Aber das einemal, als sie zurückgekommen war zu ihm von den Wölfen, um das Leben Skopprs, des Schamanen, von ihm zu fordern für ihres, war sie nur ein Trugbild gewesen mit der wahren Gestalt eines Wolfes. Da wusste er, dass es nicht Skoppr oder die Wölfe gewesen waren, die sie ihm geraubt hatten, sondern die Finsternis. Und um sie zu bekämpfen, brauchte er die Große Horde. So hatte er die Qual in seinem Herzen erstickt und seinem Verstand gehorcht, wie die Schamanen es von ihm verlangten.

Bis vor zehn Tagen dieser Traum zum ersten Mal kam.

Und nun, in dieser Nacht, war er wirklicher denn je zuvor. Er war nicht einmal sicher, ob er schlief oder wach war. Er spürte nicht, dass er die Augen öffnete, oder dass er atmete. Einen Augenblick war es, als hätte er seinen Jungen weinen gehört aus dem Nebenzelt, wo Srube, die Amme, über ihn wachte. Aber es mochte auch das ferne Heulen eines Wolfes gewesen sein.

Dann öffnete sich der Zeltvorhang, und er wusste, dass sie kam wie in den Nächten zuvor. Sie brachte den kalten Atem des Nachtfrostes mit, einen Hauch von Eiseskälte, der Funken aus seinem fast erloschenen Zeltfeuer hochstieben ließ. Die Sterne blinkten hinter der vertrauten Silhouette. Dann fiel der Vorhang zu, und Olingas Stimme flüsterte mit einer seltsamen, kalten Innigkeit: »Mein Nottr, lass mich zu dir kommen. Wenn deine Wärme nicht wäre, könnte ich es nicht ertragen.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, glitt sie zu ihm unter die Felle seines Lagers, und ihm war, als schmiege ein Klumpen von Eis sich an ihn. Aber er wagte sich nicht zu rühren, um diesen magischen Traum nicht zu zerbrechen – selbst wenn es ein Zauber der Finsternis war.

Wie die Sturmmaiden des Wintergotts Imrirr war sie, ganz Eis und Raureif und Schnee.

»Chipaw«, flüsterte er zitternd vor Kälte und Erleichterung, dass der Traum gekommen war.

Sie küsste ihn mit aller Leidenschaft schrecklicher Entbehrung, und als die Wärme seines Körpers nach und nach die Oberhand gewann, da war der Geruch von Wolf und Blut im Zelt.

Aber das kümmerte ihn nicht. Wie immer in seinem Traum nahm er sie in seine Arme und erwiderte ihre Zärtlichkeiten und dachte nicht mehr darüber nach, dass sie nur ein Trugbild der Finsternis war.

Er sagte »Meine Chipaw« immer wieder in der Dunkelheit des Zeltes und der Heftigkeit des Traumes, manchmal so laut, dass die Lagerwachen zwischen den Zelten es hören konnten. Aber sie kannten den Kosenamen Nottrs für seine verlorene Gefährtin und wussten, wie schwer er den Verlust Olingas nahm. So taten sie es mit einem Grinsen oder einem gemurmelten Wort des Bedauerns ab und wandten ihre Aufmerksamkeit wieder der frostig-weißen Öde zu.

Nach einer Weile, als die Leidenschaft abgeklungen war, bedrängte sie ihn mit der gleichen Bitte wie schon in den vergangenen Nächten.

»Mein Nottr, gib mir mein Kind!«

»Nein!« Nottr wälzte sich unruhig zur Seite. Der Traum erfüllte ihn immer mit großer Müdigkeit und weckte die Erinnerungen, die er tagsüber zu vergessen suchte. »Nein, es ist mein Sohn ...«

»Wir gehören zusammen.«

»Nein. Ich habe dich an die Wölfe verloren. Und Skoppr. Der Junge wird nicht das gleiche Schicksal erleiden ...«

»Aber sie wollen ihn! Weißt du, wie sie ihn nennen? Wolfsohn ...«

»Sie sprechen? Die Wölfe?«

»Auf ihre Weise, mein Nottr. Sie bedienen sich menschlichen Verstandes, seit ...«

»Seit du und Skoppr ...?«

»Und andere vor uns ... manchmal ... in alter Zeit. Aber nun ist es anders ... wie ein Aufbruch. Sie sind nicht länger nur Wölfe ... nur Tiere ... sie sind ...« Sie hielt hilflos inne. »Ihre Geister waren es, die Wolfsohn zur Stunde des Wolfes geboren sein ließen, damit eine alte Prophezeiung wahr werde ...«

»Eine Prophezeiung ...?«

»Ja, mein Nottr. Es ist ein großes Geheimnis dieser Welt. Es heißt, dass allen Geschöpfen ein Führer verheißen wurde zur Zeit ihrer Schöpfung, um sich zu erheben und zu kämpfen, wenn eine Art in Gefahr wäre.«

»Und unser Junge ist ...?«

»Ja, mein Nottr. Wolfsohn ist ihr verheißener Führer.«

»Hör auf, ihn Wolfsohn zu nennen. Ich wollte ihm den Namen Ahark geben, nach Hark, dem Bitterwolf Mythors. Doch nun wird nichts Wölfisches mehr ...!«

»Sei still, mein Liebster«, unterbrach sie ihn hastig. »Ahark ist ein wunderschöner Name für ihn. Ich werde es ihnen berichten.« Sie küsste ihn mit kalten Lippen. »Sie werden kommen und ihn holen, wenn du ihn mir nicht gibst, mein Nottr.«

»Lass sie nur kommen. Möchtest du es denn wirklich, dass es ihm so ergeht wie dir?«

»Nicht wie mir. Sein Weg wird ein ganz anderer sein.«

»Der eines Wolfes?«

»Als ihr verheißener Führer.«

»Eines Tages wird er die Große Horde führen.«

»Auch deine Zehntausend werden sein Geschick nicht ändern«, sagte sie traurig. »Leb wohl, mein Liebster. Ich muss jetzt gehen. Du brauchst uns nicht zu fürchten ... keinen von uns ... außer die Hungrigen, die töten, um zu fressen ... Leb wohl ...«

»Chipaw ...!«

Als er nach ihr greifen wollte, erwachte er und sah einen Schatten aus dem Zelt verschwinden. Er erhob sich torkelnd und schlug den Fellvorhang zur Seite. Die eisige Nachtluft ernüchterte ihn und zerriss das Gespinst des Traumes. Fröstelnd kroch er zum Lager zurück.

 

*

 

Seit zwanzig Tagen waren sie nach Westen unterwegs, ohne dass der weiße Griff des Winters an Grimmigkeit verlor. Die Versorgung der mehr als zehntausend Männer, Frauen und Kinder des Barbarentrecks wurde mit jedem Tag schwieriger, denn die Wintervorräte der Stämme gingen auf der Wanderschaft rascher zur Neige, als es in den verstreuten Winterlagern der Fall gewesen wäre, und es bedurfte ausgedehnter Jagdzüge, um auch nur die Hälfte der Lorvaner mit frischem Fleisch zu versorgen. Das Wild und selbst die Raubtiere spürten das Herannahen der hungrigen Horde und räumten Tage vorher das Feld. Die Pferde, die mitgeführten Alkherden, die Ziegen und Schafe, die Milch und Käse lieferten, würden wie die Fliegen sterben, wenn ihr Weg sie nicht durch dichtes Waldgebiet führte, wo Frost und Schnee die Natur nicht völlig begruben.

Aber der Weg durch bewaldetes Gebiet bedeutete andererseits auch einen erheblich langsameren Vormarsch.

Es war Wahnsinn gewesen, die Horde zu dieser Jahreszeit zu sammeln, in der es nichts zu essen gab, und die Jagd so schwierig war.

Und es war ein noch größerer Wahnsinn gewesen, vor dem Ende des Winters aufzubrechen, denn das Vorwärtskommen im tiefen Schnee war mühsam und kraftraubend. Sie schafften kaum die Hälfte des geplanten Weges, auch wenn Tross und Nachhut bereits ausgetretenes Gelände vor sich hatten. An manchen Tagen war zudem das Schneetreiben so stark, dass die Nachhut kaum die Spuren des Trecks zu finden vermochte.

Zudem brannte das nasse Holz so qualmend, dass man die Lagerfeuer einen Tagesmarsch weit sehen musste. Und für die taktische Bewegung einer Streitmacht von dieser Größe war es vielleicht von Vorteil, dass es kaum aufklarte, aber die Alten und Kinder litten unter der Kälte, und immer mehr starben.

Nottr hatte vor diesem Wahnsinn gewarnt, der niemandem nützen würde. Er hätte bis zum ersten Frühlingsmond gewartet und einen Sammelpunkt gewählt, der jenseits des Stromes des Lebens lag.

Doch die Schamanen sahen tausenderlei Gefahren im Warten. Sie sahen in ihren Geisterträumen den Untergang der Großen Horde.

Und das war ein Argument, das auch Nottr beunruhigte. Zwar hätte ihm das Warten die Gelegenheit gegeben, mit einer größeren Kriegerschar in das Gebiet der Voldend-Berge aufzubrechen und Olingas und Skopprs Schicksal zu ergründen, doch musste auch er sich eingestehen, dass die Gefahr groß war, dass bis zum Frühjahr die Einigkeit der Stämme mit der Begeisterung dahinschwinden könnte und die Horde wieder nicht mehr als ein Traum blieb.

Aber der Winter war nicht die einzige Bedrohung der Großen Horde.

Wolfsrudel begleiteten den Treck, und ihr Hunger war nicht geringer, als der der Lorvaner. Seit den Geschehnissen in den Voldend-Bergen vor dem Aufbruch der Großen Horde wussten Nottr und seine Vertrauten, dass dunkle Dinge in den Schädeln der Wölfe vorgingen. Sie waren anders – als lenke ein Verstand sie über das wölfische Verhalten hinaus.

Skoppr, sein Schamane, der den Geistern der Wölfe verschworen gewesen war und mehr über sie wusste als jeder andere Mensch dieser Welt, sprach davon, dass sie sich sammelten – zu einem gewaltigen Rudel von vielen tausend, wie die Wildländer es noch nie gesehen hatten.

Doch den Grund hatte er nicht gewusst. Vielleicht wusste er ihn jetzt, wenn er noch lebte. Aber letzteres bezweifelte Nottr. Wenn eine Teufelei mit den Wölfen geschah, wenn die Finsternis die Macht dahinter war, dann gab es keine Olinga, keinen Skoppr und keinen Cahrn mehr – nur noch ihre Körper, besessen von Dämonen.

Und sein Traum?

War er nur ein Trugbild, das ihm seine Sehnsucht vorgaukelte? Bisher hatte er das geglaubt, und der Traum war ihm teuer gewesen. Er glaubte nicht mehr, dass sie noch lebte, unberührt von der Finsternis. Sie war schon einmal zurückgekommen von den Wölfen, um Skopprs Leben für ihres zu tauschen. Aber als der Tausch geschehen war, verwandelte sie sich in einen Wolf und verschwand. Es war nicht seine Chipaw gewesen, nur ein Trugbild der Finsternis.

Und nun, nach der letzten Nacht, wurde ihm klar, dass sein Traum kein Traum war – wenigstens keiner, den sein eigener Verstand ihm vorgaukelte. Die Finsternis griff in Gestalt Olingas erneut nach ihm. Er war zu benommen gewesen, um sich zu erinnern, ob sie wirklich in sein Zelt gekommen war, oder nur als Traumbild. Aber sie – etwas Fremdes – war dagewesen und hatte von Dingen gesprochen, die er nicht verstand, von Geheimnissen, von denen nicht einmal die Schamanen wussten.

Weshalb hatten sie es getan? Es fiel ihm immer schwerer, an Olinga dabei zu denken. Er schauderte bei der Erinnerung an ihre Berührung, so zärtlich sie auch gewesen war. Sie war nur eine Kreatur gewesen, ein Werkzeug der Finsternis.

Sie wollten seinen Jungen. Und sie versuchten ihn ihm ebenso zu entreißen, wie es mit Skoppr geschehen war. Damals wie jetzt vermieden sie einen offenen Kampf.

Mehr denn je würde er auf der Hut sein müssen. Seine Hand klammerte sich um das Einhornhorn in seinem Gürtel. Es war wohl ein Zeichen gewesen, aber Glück hatte es ihm keines gebracht.

›Mythor‹, dachte er unvermittelt, ›ich habe mir zuviel vorgenommen. Ich habe so wenig Erfahrung mit der Finsternis. Du würdest wissen, was zu tun ist.‹

Und halblaut fluchend fügte er hinzu: »Imrirrs Eisbart, wo bleiben diese Kundschafter aus dem Süden!«

Dann straffte er sich und fluchte über seine Schwäche. Wenn Olinga in der nächsten Nacht erneut kam, würde er wach genug sein, um herauszufinden, wer oder was sie wirklich war.

2.

 

Er war wach und auf den Beinen, noch bevor die Wecktrommeln schlugen. Während er sein kostbares Krummschwert gürtete und die dicke Felljacke überzog, öffnete sich der Zeltvorhang, und eine vermummte Gestalt trat ein. Nottr sah überrascht, dass es keiner der Wachtposten war, aber das Gesicht konnte er in der Dunkelheit des Zeltes nicht erkennen. Seine Hand fuhr zum Dolch, aber der Eindringling sagte rasch:

»Ich grüße dich, Hordenführer. Ich bin es, Juccru.«

»Imrirr!«, entfuhr es Nottr. »Meine Wachen werden nachlässig!«

»Sie gehorchen nur dem Wort eines Schamanen. Tadele sie nicht deshalb.«

»Sie werden es nicht wieder tun!« Nottr schluckte seinen Ärger. Juccru war einer von Urgats Schamanen, jener Stämme also, die gern Urgat als Führer der Großen Horde gesehen hätten. Aber Urgat selbst hatte schließlich auf die Führerschaft verzichtet und war einer von Nottrs treuesten Gefährten geworden. Doch die Schamanen hatten sich mit diesem Umstand nicht so leicht abgefunden, um so mehr, als sie Nottr nicht verziehen, dass er seinen Stammesschamanen Skoppr in den Tod trieb, um das Leben seines Liebchens und seines Sohnes und eines halben Hunderts Männer zu retten, statt gegen die Wölfe zu kämpfen. Sie glaubten nicht, dass die Wölfe sich sammelten und eine Gefahr bedeuteten. Sie glaubten nicht viel von dem, was Nottr oder Urgat nach ihrer Rückkehr aus den Voldend-Bergen berichteten. Und wenn seine Gefährten Nottr voller Begeisterung Cian'taya (der-der-mit-den-Wölfen-spricht) nannten, so murmelten sie den Namen in stummem Grimm.

Aber der Name und die wundersamen Geschichten, die darüber erzählt wurden, hatten Nottr zu einem Führer von großem Ansehen gemacht, dem die Große Horde trotz aller Widrigkeiten mit Begeisterung folgte – ein Umstand, der die Schamanen davon abhielt, offen gegen Nottr Stimmung zu machen.

»Ich will mit dir sprechen«, erklärte der Schamane.

»Ich werde heute den Rat der Stammesführer zusammenrufen, um alle Vorschläge und Beschwerden zu hören. Willst du nicht auch dann sprechen?«

Der Schamane schüttelte in der Düsternis den Kopf. »Was ich dir zu sagen habe, mag besser zwischen uns bleiben ...«

»Ich habe keine Geheimnisse mit deinesgleichen vor meinen ...«, begann Nottr heftig.

»Solange es auch dein Wunsch ist«, unterbrach ihn der Schamane ruhig.

Nottr zögerte. Schließlich sagte er schulterzuckend: »Also gut. Aber lass uns ins Freie gehen ...«

»Darum wollte ich dich bitten, Hordenführer.«

Sie traten aus dem Zelt. Die Morgendämmerung erhellte den östlichen Himmel, und ihr Licht erfüllte die schneeige Öde mit einem frostigen Funkeln. Einer der Wachtposten stand mit dem Rücken zu ihnen. Er wartete auf den Schlag der Wecktrommel, der jeden Augenblick erfolgen musste.

»Hier«, sagte Juccru und deutete auf den Boden nicht weit vom Zelteingang. »Siehst du diese Spuren?«

Nottr nickte. Es waren die Fußspuren eines Menschen, und sie führten vom Zelt weg. »Was ist damit?« Dann sah er, dass andere daneben waren, die zum Zelt führten. »Sind es deine?«

Der Schamane schüttelte den Kopf. »Meine würdest du da hinten finden.« Er deutete hinter das Zelt. »Ich habe dein Zelt beobachtet um die Mitternacht, Hordenführer.«

Nottr fröstelte unwillkürlich. »Dann hätte sich einer meiner Lagerwachen schlafen legen können«, sagte er trocken.

Juccru überging den Sarkasmus des Hordenführers. Sein knöchernes Gesicht war ausdruckslos. »Du hattest Besuch heute Nacht. Ich sah ihn nicht kommen, aber ich sah ihn gehen.«

Nottr starrte ihn an. »Wer war es?«, fragte er, und seine Stimme zitterte.

»Weißt du es nicht?«

»Nein ... wer war es?«

»Ich sah nur einen ... Schatten ... keinen Schatten, der über den Boden kriecht, aber einen, der aufrecht schreitet. Aber wer könnte solch einen Schatten werfen, der aufrecht geht?«

Nottr gab keine Antwort. Er dachte an Olinga und die Finsternis und musste gegen die Furcht ankämpfen, die diese Gedanken über ihn brachten.