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Erhard S. Gerstenberger

Arbeitsbuch Psalmen

Verlag W. Kohlhammer

Übersetzung aus dem Portugiesischen von Björn Gerstenberger

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Reproduktionsvorlage: Andrea Siebert, Neuendettelsau

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026994-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026995-8

epub:    ISBN 978-3-17-026996-5

mobi:    ISBN 978-3-17-026997-2

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Inhaltsverzeichnis

  1. Vorworte
  2. Einführung
  3. Standort – Hilfsmittel – technische Hinweise
  4. Kapitel I: Psalter und Psalmengattungen
  5. Textsorten – Form- und Gattungsgeschichte – Riten und Feste – Gattungstabelle
  6. Kapitel II: Klage- und Danklieder des Einzelnen
  7. Medizingeschichte – Psalm 38 und 17 – Psalm 55 und 13 – Psalm 88 und 42/43 – Psalm 116 und 30 – Wehklage über Tod und Untergang
  8. Kapitel III: Kollektive Klage- und Danklieder
  9. Psalm 44 und 106 – Psalm 79 und 137 – Trauma-Theorien – Psalm 124 und 66
  10. Kapitel IV: Hymnen: Ernte- und Siegeslieder
  11. Psalm 65 und 104 – Psalm 68
  12. Kapitel V: Lobeshymnen: Jahwe ist Gott! Und der König sein Sohn!
  13. Monarchische Weltordnung – Psalm 47 und 99 – Neujahrs-Liturgien – Psalm 45 und 72 – Psalm 2 und 110
  14. Kapitel VI: Hymnen: Lieder über Zion, Exodus und Schöpfung
  15. Berge und Tempel – Psalm 48 und 87 – Messianismus – Psalm 105 und 114 – Psalm 136 und 8 – Grundmodelle Hymnen
  16. Kapitel VII: Psalmen der Reflexion und Lehre: Vergänglichkeit und Ungerechtigkeit
  17. Psalm 90 und 39 – Armenpsalmen – Psalm 9/10 und 37
  18. Kapitel VIII: Psalmen der Reflexion und Lehre: Katechese und Homilie
  19. Gemeindestrukturen – Psalm 34 und 19 – Psalm 50 und 139
  20. Kapitel IX: Die theologischen Dimensionen des Psalters
  21. Gott, der schützt, heilt und hilft (119) – Gott, der für Ernten und Siege sorgt (122) – Gott der Ordnung und Gerechtigkeit (125) – Gott der Gemeinde und des Kosmos (127)
  22. Kapitel X: Die Psalmen im Leben der Gemeinde
  23. Persönliche Lektüre (132) – Die Psalmen im Gemeindeleben (133) – Liturgischer Gebrauch der Psalmen (136)
  24. Kapitel XI: Ressourcen zum Studium der Psalmen
  25. Hebräische Poesie (141) – Entstehung von Sammlungen (145) – Psalmenüberschriften (147) – Kanonische Lektüre (149)
  26. Epilog
  27. Liste der behandelten Psalmen
  28. Abkürzungsverzeichnis

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Ein brasilianisch verfasstes Arbeitsbuch über die Psalmen ins Deutsche übersetzen? Ist das sinnvoll? Ich meine schon. Es könnte ja sein, dass in Lateinamerika geübte Bibelinterpretation stimulierend auf deutsche Praxis einwirkt, positiv oder negativ. Auch wenn dieser Prozess durch einen Deutschen vermittelt wird, der durch längere Aufenthalte im „gelobten Land“ der Befreiungstheologie geformt wurde, zuletzt im 1. Semester 2013, als Gastdozent an der Pontifícia Universidade Católica in Curitiba im brasilianischen Bundesstaat Paraná (PUCPR).

Gießen, Dezember 2014

Erhard S. Gerstenberger

 

Vorwort zur brasilianischen Erstausgabe

Die akademische Praxis scheint weltweit oft genug noch denselben Regeln zu folgen, wenn es darum geht, Diskurse zu führen und Wahrheiten zu bestimmen: Der Lehrkörper präsentiert Forschungsergebnisse, echte oder fiktive, und lässt die Studierenden daran knabbern, bis sie die höheren Weisheiten der Dozenten geschluckt haben. Daher fehlen Arbeitsbücher und Anleitungen, welche die Art und Weise der Annäherung an das Studienobjekt erläutern und die es erlauben, dass Studierende und Dozenten zusammen zu einem tieferen Verständnis ihrer Materie gelangen. Wenn man sich unter anderen pädagogischen Theorien die Vision Paulo Freires vor Augen führt, könnten die Geisteswissenschaften Türöffner sein für einen akademischen Kooperationsprozess. Das gilt für die Religionswissenschaften, darin besonders für die religiöse Poesie und das Studium der at-lichen Psalmen.

Warum sollte man die Dichtung eines so alten Volkes studieren? Sie enthält einen unermesslichen Schatz an Erfahrungen mit dem Göttlichen. Aber das ist nicht alles: Diese Erfahrungen stellen – in nie unterbrochener Überlieferungsgeschichte aufgehoben – die wahre Quelle unserer eigenen Spiritualität dar. Ein weiterer Grund, weshalb die Psalmen wertvollstes Erbe für uns sind: Der Psalter hat nicht die doktrinäre Verdichtung erfahren, wie sie beispielsweise beim Deuteronomium und Leviticus (5. bzw. 3. Buch Mose) erkennbar ist. Er hat vielmehr die theologische Vielfalt unterschiedlicher, einschließlich altorientalischer, Strömungen, bewahrt.

Die Psalmen des AT zu studieren, gleicht folglich einem Vollbad in der spirituellen Literatur der vorchristlichen Zeit. So haben es die ersten Christen verstanden, als sie Leben und Leiden Jesu im Lichte des Psalters lasen. Ganz unterschiedliche Stimmen verleihen im Psalter ihrem Glauben, ihren Ängsten und ihrer Freude Ausdruck, und nicht selten erscheinen sie widersprüchlich. Wir müssen alle Menschen respektieren, die sich in Gebeten und Liedern ihrer Vorfahren artikulieren und sie im Wechselspiel mit ihrer eigenen Lebenssituation neu interpretieren. Weil in den Psalmen Menschen zu Wort kommen, die genauso unsicher und auch begeisterungsfähig sind wie wir, ist es einfach, sich mit ihnen zu identifizieren, ihre Eigenheiten zu akzeptieren und neue Antworten für Glauben und Handeln zu suchen und zu finden, die unseren Lebensumständen heute Rechnung tragen.

Gießen, Januar 2014

Erhard S. Gerstenberger

Einführung

Wer alte (aber auch zeitgenössische) Schriften verstehen will, sollte sich nach zwei Seiten hin Klarheit verschaffen: Welche Art von Literatur liegt vor? Wie kann sie entstanden und gebraucht worden sein? Und: Von welchem Standort aus lesen wir den Text? Welche Lebensumstände, Denkmuster und gesellschaftlichen Konditionen bestimmen unsere Interpretation?

Der erste Fragenkomplex kommt unten in Kap. I zur Sprache. Punkt zwei, die eigene Positionsbestimmung, fehlt fast vollständig in der deutschen (europäischen) Bibelauslegung. Dahinter steht möglicherweise unbewusst der Anspruch, allgemein verbindliche Exegese liefern zu können. In der Tat wurde die protestantische wissenschaftliche Bibelinterpretation im 19. und 20. Jh. international oft als Norm angesehen. Weil diese Ansicht überholt und die kontextuelle Einfärbung jeder Auslegung anerkannt ist, müsste auch eine selbstkritische Besinnung auf die Besonderheiten des eigenen Standorts stattfinden, idealerweise vor Beginn der Textarbeit (wie das in Lateinamerika oft der Fall ist). Eine Studiengruppe sollte also fragen: Wo stehen wir in Bezug auf Auslegung und Umsetzung der biblischen Botschaften?

Fragen zur Standortbestimmung: Sind uns Bibelinterpretationen aus anderen Ländern bekannt, die einen eigenen Stempel verraten (typisch „britisch“; „französisch“; „russisch“ etc.)? Wie beurteilen wir sie? Gibt es in unserem Erfahrungshorizont sozial geprägte Auslegungen (z. B. Andachten für Arbeiter; Landbevölkerung; Soldaten; Banker usw.)? Wie stehen wir zu bewusst gruppenbezogenen Leseweisen der Bibel (z. B. die feministische; schwul-lesbische; queere usw.)? Was sagen wir zu Vorwürfen aus der Dritten Welt, europäische Bibellektüre habe die kolonialistische oder imperiale Anmaßung noch nicht aufgegeben? Gibt es Anzeichen für eine Minderbewertung ausländischer exegetischer Fachliteratur in Deutschland? Welches sind die obersten Werte in unserer demokratischen Wohlstandsgesellschaft? Haben sie Einfluss auf unser Denken? Erheben wir in unseren theologischen Schulen den Anspruch auf Alleingeltung unserer Theorien (z. B. die historisch-kritische, sozialgeschichtliche, feministische o.a.)?

Eine zweite Diskussionsrunde könnte den konfessionellen Horizont der SeminarteilnehmerInnen sichtbar machen. Lohnt eine Vorstellung verschiedener kirchlicher Gesangbücher?

Fragen zu kirchlichen Positionen: Sind konfessionelle Kirchenlied-Traditionen bekannt? Was zeichnet lutherische und reformierte Psalmen-Nachdichtungen aus? Worauf legen katholische Missale gesteigerten Wert? Fühlen einzelne Gruppenmitglieder sich einer besonderen exegetischen Linie oder kirchlichen Liturgie verbunden? Wie weit herrscht in der Gruppe ein ökumenischer Geist? Bezieht er andere Kontinente mit ein? Nutzen wir Gelegenheiten, andere Konfessionen und Religionen in unserem Umkreis zu besuchen? Wie halten wir es mit dem Alleinvertretungsanspruch christlicher oder anderer Gemeinschaften?

Tipps: Nach Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten, 1970, sollten Lernende nahe an und mit der gelebten Wirklichkeit arbeiten. Lehrer und Schüler sind gleichberechtigt: Sie lernen gemeinsam, von- und miteinander. – TeilnehmerInnen mit Migrationshintergrund beleben das Gespräch. Homogene Gruppen in Schule, Gemeinde, Hochschule dürfen auf kritisches Hinterfragen hoffen. Für dramatische Inszenierung von Psalmen im Schulunterricht vgl. Ingo Baldermann, Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen, Neukirchen-Vluyn 51995; Kritik: Godwin Lämmermann, Arbeitsbuch Religionspädagogik, Gütersloh 2005.

Neben der eigenen Erfahrung und dem Grundwissen, das jeder und jede mitbringen, stehen Hilfsmittel in großer Zahl zur Verfügung (theologische Bibliotheken!). Die mit * bezeichneten Werke setzen keine bzw. wenig Kenntnis antiker Sprachen voraus. Vollständige Angaben über Internet-Suchmaschinen (s. u.) oder das Portal der Deutschen Nationalbibliothek.

• Hebräische Texte (s. auch Internet, für alle Ausgaben: www.Die-Bibel.de)

Weithin gebraucht werden die Ausgaben der „Deutschen Bibelgesellschaft Stuttgart“ (DBG; zuletzt „Biblia Hebraica Stuttgartensia“, 51997; neue Ausgabe „Biblia Hebraica Quinta“ im Erscheinen begriffen). Die Hebräische Universität in Jerusalem und die Oxforder Universität arbeiten an Neuausgaben.

 

• Alte Übersetzungen (s. auch Internet)

Das „Göttinger Septuaginta-Unternehmen“ hat seit 1908 die griechischen Versionen des AT in 23 Bänden herausgegeben. Zweibändige Ausgabe bei der DBG. Lateinische Ausgaben, besonders der Vulgata („Allgemeine Bibel“) sind zahlreich vorhanden (auch in DBG). Antike syrische, koptische, äthiopische, armenische, arabische Übersetzungen werden in Westeuropa nur von wenigen Spezialisten herangezogen.

• Grammatiken und Wörterbücher

Sprachkurs Hebräisch von Martina Kepper (CD bei der DBG); Grammatiken: Heinz-Dieter Neef; Jutta Körner; Frank Mattheus; Rüdiger Bartelmus; Wolfgang Schneider. Wörterbücher: Wilhelm Gesenius; Ludwig Köhler. Griechisch: Grammatiken: Jörg Dittmer (im Internet); Friedrich Blass; Wörterbücher: Walter Bauer; Henry George Liddell (und Robert Scott).

 

*• Moderne Übersetzungen

Deutsch: Luther; Zürcher; Einheitsübersetzung; Gute Nachricht; Bibel in gerechter Sprache; Elberfelder; Menge; Englisch: New Revised Standard Version; Common English Bible; Today’s English Version; Jewish Study Bible (NJPS); Französisch: La Bible (Genf); Traduction Oecumenique; La Bible en Français courant; Italienisch: La Bibbia (Genf); Nueva Riveduta (450 weitere Sprachen). (s. Internet, manche synoptisch angeordnet, DBG).

 

*• Konkordanzen

Den Lexemen antiker und moderner Bibeltexte kann man in Buchkonkordanzen, besser noch in elektronischen Datenbänken nachspüren, vgl. Gerhard Lisowsky, Konkordanz zum Hebräischen AT; Große Konkordanz zur Lutherbibel (Calwer Verlag, Stuttgart); vgl. DBG.

 

*• Geschichte und Geographie Israels

Herbert Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen (GAT 4/1+2), Göttingen, Bd. 1 42007; Bd. 2 42008; Israel Finkelstein, Neil Asher Silberman, Keine Posaunen vor Jericho, München 2001; Shlomo Sand, Die Erfindung des Volkes Israel, Berlin 2010; Erhard S. Gerstenberger, Israel in der Perserzeit (BiEnz 8), Stuttgart 2005; Siegfried Mittmann, Götz Schmitt, Tübinger Bibelatlas, Wiesbaden 2001; Herder Bibelatlas.

 

*• Landes-, Sozial- und Sittenkunde

Gustaf Dalman, Arbeit und Sitte in Palästina, 9 Bde., Gütersloh, 1928–1942 (Neudrucke seit 1964); Roland de Vaux, Das Alte Testament und seine Lebensordnungen, 2 Bde., Freiburg 1962; Rainer Kessler, Sozialgeschichte des alten Israel, Darmstadt 22008.

 

*• Religion, Literatur, Gesellschaft im Alten Orient

Studien zu den Kulturen des Alten Orients und (z. B. sumerisch-akkadisch; hettitisch; westsemitisch; ägyptisch; altpersisch) füllen Bibliotheken. Zugang durch: Enzyklopädien (z. B. Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, Berlin, seit 1928; bis 2014 sind 13 Bde. erschienen); Textsammlungen (z. B. Otto Kaiser, Bernd Janowski u. a., Hg., Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, TUAT, Gütersloh seit 1982; bis 2014 erschienen 9 Bde.); Bibliographien (z. B. Manfred Krebernik, Götter und Mythen des Alten Orients, München 2012; frei zugänglich: www.chbeck.de/fachbuch/zusatzinfos/Bibliographie_9783406605222.pdf; s. u. „Online-Datenbanken“.

 

*• Biblische Kommentare

Das Alte Testament Deutsch (ATD), Göttingen seit 1949 (Psalmen, 2 Bde., von Artur Weiser); Echter Bibel, Würzburg seit 1947 (Psalmen, Neubearbeitung in 3 Bden, von Erich Zenger und Frank L. Hossfeld); Zürcher Bibelkommentare, Zürich seit 1976 (Psalmen noch nicht erschienen). Mehr wissenschaftlich: z. B. Biblischer Kommentar Altes Testament (BKAT), Neukirchen-Vluyn seit 1956 (Psalmen, 3 Bde., von Hans-Joachim Kraus; Neubearbeitung durch Friedhelm Hartenstein und Bernd Janowski); Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, Freiburg seit 1998 (Psalmen, 3 Bde., Erich Zenger†, Frank L. Hossfeld).

 

*• Bibellexika

NBL = Neues Bibel-Lexikon, hg. von Bernhard Lang und Manfred Görg, 3 Bde., Zürich 1991–2001; ThWAT = Theologisches Wörterbuch zum AT, hg. von G. Johannes Botterweck, Heinz-Josef Fabry und Helmer Ringgren, Stuttgart 1973–1995; www.wibilex.de, DBG Stuttgart.

 

*• Fachzeitschriften und Monographienreihen

Bibel und Kirche (Stuttgart); Welt und Umwelt der Bibel (Stuttgart); Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft (mit „Beiheften“, Berlin); Vetus Testamentum (mit Supplements, Leiden); Journal of Biblical Literature (Atlanta, GA); Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament (WMANT; Neukirchen-Vluyn); Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments (FRLANT; Göttingen); Forschungen zum Alten Testament (FAT; Tübingen); Stuttgarter Bibelstudien (SBS; Stuttgart); Biblische Studien (BS; Neukirchen-Vluyn); Alter Orient und Altes Testament (AOAT; Münster); Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament (BWANT; Stuttgart).

 

*• Online-Datenbanken

Bibelwissenschaftliche Datenbank der Universität Innsbruck (BILDI); Universitätsbibliothek Tübingen (www.opac.ub.uni-tuebingen.de).

Technische Hinweise:

Frageboxen dienen der Gruppendiskussion. Exkurse (evtl. Impulsreferate) tragen Hintergrundwissen bei. Beispielhafte Psalmenaufrisse sollen eigene Beobachtungen provozieren.

Psalmen und Psalmverse sind nach dem hebräischen Text nummeriert. Die griechischen (vor allem Septuaginta = LXX), lateinischen und manche modernen Übersetzungen weichen davon ab: LXX überliefert Ps 9 und 10, sowie 114 und 115 als je einen Psalm und teilt Ps 116 und 147 jeweils in zwei Gedichte. Weiter bezieht der Hebräische Text (TM) die Psalmenüberschriften als Vers 1 (evtl. 1 und 2) in den Korpus des Psalms mit ein. Manche Editionen zählen sie nicht mit, haben folglich weniger Verse. – Ein einfacher Test zeigt, welcher Tradition die von uns gebrauchte Übersetzung folgt: Hat Psalm 9 in Ihrer Bibel 21 oder 38 (39) Verse?

 

Grundliteratur: Hermann Gunkel, Einleitung in die Psalmen, hg. v. Joachim Begrich, Göttingen, 1933 (Nachdrucke bis 1985); Sigmund Mowinckel, The Psalms in Israel’s Worship, 2 Bde., New York, 1962; Erhard S. Gerstenberger, The Psalms, 2 Bde. (FOTL XIV, XV), Grand Rapids 1988 und 2001; Patrick D. Miller, They Cried to the Lord, Minneapolis, 1994; Erich Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart, 82011; ders. und Frank Lothar Hossfeld, Psalmen 51–100, Freiburg 2000; Psalmen 101–150, Freiburg: 2008; Peter Flint, The Dead Sea Psalm Scrolls and the Book of Psalms, Leiden 1997; ders. u. a. (Hg.), The Book of Psalms: Composition and Reception, Leiden, 2005; Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament, Göttingen 51996; Ulrike Itze und Edelgard Moers, Psalmen: gestalten – erleben – verstehen, Hamburg 2012; Beat Weber, Werkbuch Psalmen, 3 Bde., Stuttgart 2001–2010; William P. Brown, The Oxford Handbook of the Psalms, Oxford 2014.

Kapitel I
Psalter und Psalmengattungen

 

Ziel: Vor uns liegt ein Mittelstück der jüdisch-christlichen Bibel. Welche Sorte Literatur ist das? Wir wollen erste Eindrücke vom Psalter und seinen Komponenten bekommen.

Beobachtungen: 150 durchnummerierte Texteinheiten: Wozu? – Verschiedene Titel: Hebräisch: „Loblieder“; griechisch: „Psalter(instrument)“. – Viele Einheiten mit z.T. unverständlichen „Überschriften“ (Autor; Instrument; Melodie; Regie; Davidbiographie). – Unterschiedliche Länge, Sprache, Stimmung, Struktur, Inhalte der einzelnen Psalmen: Wo und wie können diese Gedichte gebraucht worden sein?

Tipps: Ein Gesamtüberblick über den Psalter ist so schnell nicht zu gewinnen. Man sollte darum zwei oder drei Psalmen herausgreifen und auf Differenzen und Gemeinsamkeiten untersuchen: z. B. Ps 7 und 8; 18 und 19; 21 und 22; 23 bis 25; 32 und 33; 26 und 51; 37 bis 39; 68 und 69 usw.

Die Psalmen stammen offensichtlich aus höchst verschiedenen Lebenssituationen.

Grundfragen der literarischen und situationsbezogenen Analyse: Welche Art von Kommunikation begegnet uns in den Psalmen des AT? Wer spricht zu wem? Wer antwortet wem? Wer sind die Protagonisten der Texte? Welche Stimmungen kommen zum Ausdruck (Freude, Trauer, Dank etc.)? Danach: Wer hat diese Gebete geschrieben und für welche Leser oder welches Publikum? Was war das Ziel der Autoren? Wann und warum wurden die gesprochenen oder gedachten Worte verschriftlicht? Ist eine mündliche Vorgeschichte erkennbar? Was können wir in Bezug auf die Nachgeschichte annehmen (z. B. Ergänzungen, redaktionelle Änderungen)?

Nicht viele antike Texte verraten die Umstände ihrer Entstehung. In der modernen Literatur sind die Verfasser meistens bekannt, dennoch fehlen normalerweise nähere Erläuterungen zum Kontext und über die Absichten der Autoren. Viele Psalmen scheinen auf den ersten Blick von David, Asaf, Korach, Etan, Moses usw. zu stammen, aber leider erscheinen die Namen nur in später hinzugefügten Überschriften. Die Psalmen waren ursprünglich anonym, sie gehörten der Gemeinschaft, oder uns unbekannten Sängern (s. auch Kap. XI).

Der Psalter entstammt einer alten vorderorientalischen Kultur. Seine Texte wurden hebräisch komponiert und überliefert, dann nach und nach in verschiedene antike und neue Sprachen übersetzt. Weitergabe und Veränderungen der Dichtungen, ihrer rituellen Einbettungen und spirituellen Botschaften bis heute erfordern spezielle Aufmerksamkeit.

Grundfragen angewandter Hermeneutik: Die Kunst, Wörter aus einer Sprache in eine andere zu „übersetzen/übertragen“ (griechisch: hermeneuein), erfordert Einfühlung in vortechnische Lebenswelten und das Verständnis antiker wie moderner Denkmuster. Was ist unser kultureller Horizont, insbesondere wenn wir religiöse Lieder beurteilen? Unterscheiden wir heilige und profane Texte? Können wir – schon als Kinder alphabetisiert – uns eine Gesellschaft ohne Zeitungen, Bücher und Computer überhaupt vorstellen? Wie bewerten wir mündliche und schriftliche Überlieferungen? (Öffentliche Erzähler und Sänger fungierten bis ins christliche Mittelalter, auf dem Lande weit darüber hinaus, als Informanten und Animateure analphabetischer Bevölkerungsgruppen, so z. B. im Nordosten Brasiliens oder auf dem Balkan).

Tipps: Es ist ratsam, Fragen und vorgeschlagene Lösungen schriftlich festzuhalten. Entscheidend dabei ist, a) Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen antiken und modernen Kulturen hinsichtlich der Funktionen liturgischer Texte zu erkennen, und b) Schritt für Schritt Analysemethoden für anonyme Dichtungen kennen und anwenden zu lernen, welche die jeweiligen Lebensumstände und Kommunikationsabsichten berücksichtigen. Der Vergleich mit heutigen Gedichten und Liedern kann zum Verständnis beitragen.

Fragen: Warum bringt man Lieder in einem „Album“ zusammen? Sind längerer Gebrauch, erhöhter Lustgewinn gute Gründe? Im kirchlichen Umfeld gibt es Mess-, Gebets-, Gesangbücher usw. Welche Inhalte haben sie? Wer trifft die Auswahl der Texte? Können wir Gattungen ausmachen? Wie sind die Bücher angeordnet, wie werden sie gebraucht?

Die Diskussion sollte Eigenheiten heutiger liturgischer Anthologien offenlegen: ihre interne Struktur (Vorwort, Anleitung, Verzeichnisse, Erklärungen, Liturgien, Gebets-, Liedtexte, Anmerkungen usw), Verfasserschaft (Autoren, Experten-Kommissionen), Individual- und Gemeindegebrauch. In den Kommissionen sind selten DichterInnen vertreten. Sie nutzen weitgehend schon vorhandenes Material. So stellen unsere Gesangbücher überwiegend schon lange verinnerlichte Gedichte und Liturgien zusammen. Die Psalmen sind ähnlich entstanden, aber über längere Zeiträume hin, und sie tragen Spuren einer unbekannten Ritualkultur.

Textsorten im Buch der Psalmen

Am Entstehen des Psalters haben Unzählige über Jahrhunderte mitgewirkt. Welche Stimmen sind im Chor der Dichter, Schreiber, Redaktoren und Gemeinden zu erkennen? Mindestens an einer Stelle spricht ein Schreiber (Ps 72,20); mehrmals kommen Redaktoren oder Chorleiter zu Wort (Ps 41,14; 72,18–19; 89,53; 106,48). Gewichtig sind die Überschriften zu den einzelnen Psalmen: Sie stammen von Sammlern, Sängern oder Herausgebern der Lieder, denn sie gehen auf liturgische, musiktechnische und biographische Gegebenheiten ein (im MT sind 115 Psalmen mit und 35 ohne Überschrift überliefert; die LXX weicht vielfach, die syrische Übersetzung, Peschitta, völlig vom MT ab, ausführlich in Kap. XI). Lieder, Gebete, Meditationen, Predigten stellen die Masse des Psaltertextes dar.

Die Gedichte an sich

Der titel- und unterschriftlose Text jedes Psalms ist Hauptgegenstand der Gruppenarbeit. Über- und Unterschriften sind sekundär. Sie sind wichtig für die Überlieferungsgeschichte der Gedichte. Kontrollfragen: Ist die Trennung von Überschrift und Psalm plausibel? Gegenargumente (z. B. 1 Sam 16,14–18; 2 Sam 22,1; Dtn 31,19–22)?

Tipps: Alle Fragen sollten gemeinsam erörtert werden. Textlesung (verschiedene Übersetzungen!), Austausch von Beobachtungen, Arbeitsaufträge an einzelne TeilnehmerInnen bringen Erkenntnisfortschritte. Man durchsuche den Psalter oder ausgewählte Gedichte nach Passagen, Textgruppen, Themen, Schlüsselwörtern (Konkordanzen!). Die Präsentation der Ergebnisse lässt das Buch der Psalmen wie ein Kaleidoskop erscheinen.

Einige Beobachtungen, die üblicherweise bei der Gruppenarbeit auftauchen:

•  Die Textlänge variiert sehr stark (vgl. Psalm 117 = 3 Zeilen; Psalm 119 = 176 Zeilen; Zeile oft = Vers). Was bedeutet dieser große Unterschied? (vgl. Kap. XI)

•  Es kommen viele Ausdrücke für Schmerz, Freude, Bitte, Lob und Dank vor.

•  Zeilen oder Halbzeilen (Verse/Halbverse) wiederholen manchmal denselben Gedanken (parallelismus membrorum, „Parallelität der Glieder“, vgl. Kap. XI).

•  In manchen Gedichten werden Übeltäter oder Feinde angeklagt und verdammt.

•  Die Abfolge der Psalmen scheint keiner bestimmten Ordnung zu folgen. Gibt es durchlaufende Themen, Erzählzusammenhänge, Argumentationsketten?

•  Durch eingefügte Lobsprüche ist der Psalter in fünf „Bücher“ eingeteilt: Ps 41,14; 72,18–19; 89,53; 106,48 (baruk jhwh, „gesegnet sei Jahwe“ + Erweiterungen). Ps 72,20: „[Hier] enden die Gebete Davids, Sohn des Jesse.“

•  Der Aufbau eines Psalms folgt keiner gedanklichen oder erzählerischen Logik.

Exkurs: Die form- und gattungsgeschichtliche Interpretation

Die ersten christlichen Kommentatoren haben die Psalmen als Gebete Davids gelesen oder direkt als Worte Christi aufgefasst. Die Suche nach „echteren“ historischen Quellen im 19. Jh. scheiterte. Die Autoren der Psalmen blieben unbekannt. Angesichts dieser wissenschaftlichen Sackgasse schlug Hermann Gunkel (1862–1932; lehrte in Berlin, Gießen und Halle), eine Kategorisierung der Psalmen anhand ihrer linguistischen Formen und literarischen Gattungen vor. Das bedeutet: Anonyme Literatur – zur Zeit Gunkels eine absurde Idee – entstammt dem Volk und wird den alltäglichen Sprach- und Verständigungsmustern entsprechend modelliert. So manifestiert sich die Bitte an Gott gemäß dem sozialen Bittverhalten, vor allem von Armen und Bedürftigen gegenüber Mächtigen und Besitzenden. Zwischenmenschliche Danksagungen und Huldigungen wurden als Muster für das Gotteslob herangezogen. Die Psalmen waren somit ursprünglich eher gemeindlich genutzte Gemeinschaftsprodukte. Gunkel unterschied fünf Haupttypen, die zu bestimmten Festen und Riten der jüdischen Gemeinde gehörten: 1.) Hymnen: Sie waren an Versammlungen anlässlich von Ernten, Siegen oder sonstigen Feierlichkeiten gebunden (vgl. Kap. IV). 2.) Klagelieder: Sie gingen bei Lebensgefahr und drohenden Katastrophen sowohl von der Gemeinschaft als auch von Einzelpersonen aus (vgl. Kap. II); 3.) Königspsalmen: Diese Lieder erklangen z. B. bei Thronbesteigungen, Hochzeitszeremonien und Messiasfeiern (vgl. Kap. V). 4.) Danksagungen: Ein von Gott Geretteter löste sein Gelöbnis ein (vgl. Kap. III). 5.) In der fünften Gruppe fasste Gunkel alle weniger häufigen Gattungen zusammen.

Ein berühmter Schüler Gunkels war der Norweger Sigmund Mowinckel (1884–1965). Er übernahm die Formkritik seines Lehrers und – indem er den Fokus verschob – entwickelte eigene Ansichten über Ursprünge und Funktionsweisen der Psalmen bis zu ihrer Aufnahme in den Psalter. Seiner Theorie nach war das entscheidende, generative Fest für die Mehrheit der Psalmen die jährlich im Herbst stattfindende Volksversammlung, bei der zum einen die Ernte als Geschenk Gottes gefeiert wurde, und gleichzeitig zum anderen sich die Schicksale des Königtums erneuerten, sowohl Gottes als auch seines Repräsentanten, des davidischen Monarchen. Mowinckel publizierte seine Forschungsarbeiten seit den 1920er Jahren und fasste sie später in „The Psalms in Israel’s Worship“ zusammen.

 

Bibl.: Hermann Gunkel, Die Psalmen, Göttingen 1913, 4. Ausgabe, 1926 (Nachdrucke bis 1986); ders., Einleitung in die Psalmen, hg. von Joachim Begrich, s. o.; Sigmund Mowinckel, The Psalms in Israel’s Worship, 2 Bde., New York 1962; Patrick D. Miller, They Cried to the Lord, Minneapolis 1994.

Psalmengattungen

Seit Gunkel und Mowinckel und zahlreicher darauf aufbauender Studien sind wir in der Lage, die Gedichte des Psalters gattungsmäßig einzuordnen. Manchmal sind diese Klassifizierungen allerdings unsicher. Einige Texte haben einen liturgischen Ortswechsel durchgemacht (vgl. Psalm 12: von der Klage des Einzelnen zur gemeindlichen Bitte). Andere scheinen Teilelemente bestimmter Riten zu sein (z. B. Psalm 16; 23; 62; 123; 131 = „Vertrauensäußerungen“: aus Bittritualen). Den religiösen Grundaktivitäten „Bitten“, „Danken“, „Lobpreisen“, „Meditieren“ und ihren zugehörigen Riten entsprechend möchte ich vier Haupttypen unterscheiden (s. Tabelle unten).

Exkurs: Riten und Feste unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen werden im AT häufig als produktive soziale Kontexte von Liedern, Gedichten und Gebeten erwähnt. Drei große Feste bilden den Kern des hebräisch-jüdischen Kalenders; sie sind bis heute das Grundgerüst auch des christlichen liturgischen Jahres (vgl. Ex 23,14–19; 34,18–24; Dtn 16,1–17; Lev 23): die Erntezeiten für Gerste (Frühjahr), Weizen (Frühsommer), Trauben und Oliven (Herbst, vgl. Ex 23,14). Ursprünglich kam die Bevölkerung an regionalen Heiligtümern zusammen (vgl. 1 Sam 1–2), später in Jerusalem. Die oben erwähnten Kalender zeigen von Ex 23 über Dtn 16 bis Lev 23 hinsichtlich ihrer zeremoniellen und theologischen Schwerpunkte eine klare Entwicklung: z. B. wird in Lev 34,21 der Sabbat eingeführt; das Wohnen in Zelten in Dtn 16,13.16; der Versöhnungstag in Lev 23,26–30; vgl. Lev 16,3–34. – Tipp: Die Festkalender erarbeiten!

Vor der Zentralisierung des jüdischen Gottesdienstes in Jerusalem (Dtn 12) gab es, das ist sicher, eine reiche Vielfalt an lokalen Feiern, die – von Städten oder Clans organisiert – in kleineren Heiligtümern stattfanden (vgl. 1 Sam 9,12; 20,6,28f) und bis zum Fall des Reiches Juda im Jahr 587 v. Chr. frei nebeneinander existierten. Die spätere Polemik der Deuteronomisten gegen diese (heiligen) „Hügel“ (hebr. bamot, vgl. 1 Kön 12,26–33; 15,14; 22,44; 2 Sam 12,3) beweist die Existenz dieser Kulte. In den Büchern Richter, Samuel und Könige werden viele solcher Heiligtümer namentlich erwähnt. Sie wurden entsprechend den Bedürfnissen der Besucher genutzt und von Priestern mit mehr oder weniger großer Reputation geleitet (vgl. Ri 17). Ganz gewiss besaßen sie eigene Rituale mit heiligen Texten.

Religiöses Fundament jener Zeit waren – sind sie es heute noch? – die häuslichen Riten, auf die es leider nur wenige biblische Hinweise gibt (vgl. Gen 31,30–32.34; Ex 21,5f; 1 Sam 19,13; Psalm 127; 133). Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die redaktionelle Arbeit an den Büchern der Bibel in früher nachexilischer Zeit stattfand, die jegliche religiöse Aktivität außerhalb des Tempels und der entstehenden Synagogen ächtete (vgl. Dtn 18,9–14). Aber die moderne Archäologie hat nachgewiesen, dass im antiken Israel eigenständige Kulte im Kreis der Familien bis ins 5./4. Jh. fortbestanden haben. In den Städten Altisraels wurden Hunderte von (meist weiblichen) Figurinen, kleine Altäre sowie Räucherständer in Privathäusern gefunden.

Wenn diese Beobachtungen stimmen und die These von der engen Verbindung zwischen Text und Lebenswelt Gültigkeit hat, können wir festhalten: Die Psalmen des AT entstammen verschiedenen Ritualen, die auf mehreren Ebenen gesellschaftlicher Organisation ausgeführt wurden. Während Hymnen und kollektive Klagelieder bei Festen oder Gemeindeversammlungen vorgetragen wurden, waren individuelle Bitt-und Danklieder Bestandteile von privaten Familien- oder Clan-Zeremonien. Natürlich erheben diese Zuweisungen nicht den Anspruch auf Exklusivität und Unantastbarkeit. In der Weltliteratur und den Ritual- und Liturgie-Wissenschaften sind Phänomene der Migration literarischer Genres wohlbekannt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der uralte hebräische Ausruf „Halleluja!“ („Lobt Jahwe!“) findet sich heute in unzähligen anderen Lebenskontexten wieder. – Die Internetsuche nach „Halleluja“, „Amen“ usw. bringt erstaunliche Resultate!

Eine Bestätigung der These, die Psalmen seien im zeremoniellen Leben sozialer Organismen verwurzelt, ergibt sich aus der Tatsache, dass es sowohl im antiken Mesopotamien als auch in Stammeskulturen auf allen Kontinenten Parallelen gibt. Kollektive Freudenfeste werden genauso wie Heilungsriten und Bittgebete von jeher weltweit zelebriert (vgl. Kap. II–VI).

Bibl.: Darcy Ribeiro, Der zivilisatorische Prozess, Frankfurt 1971; Karel van der Toorn, Family Religion in Babylonia, Syria and Israel, Leiden 1996 ; Erhard S. Gerstenberger, Der bittende Mensch (WMANT 51), Neukirchen-Vluyn 1980 [Neudruck: Eugene, OR: Wipf & Stock 2009]; ders., Theologien im Alten Testament, Stuttgart 2001; Corinna Körting, Festverständnis/Festkalender im AT, www.bibelwissenschaft.de/stichwort/18305/; Erhard Blum und Rüdiger Lux (Hg.), Festtraditionen in Israel und im Alten Orient, Gütersloh 2006; Silvia Schroer, In Israel gab es Bilder (OBO 74), Göttingen 1987. Julius Wellhausen, The Book of Psalms, Leipzig 1895; Karl Budde, Die schönsten Psalmen, Leipzig 1915; Rudolf Kittel, Die Psalmen, Leipzig 1914; Thomas Römer, ‘Higher Criticism’, in: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible Old Testament Bd. III/1: The Nineteenth Century, Göttingen 2013, 393–423, 582–602; Klaus Seybold, Studien zur Psalmenauslegung, Stuttgart 1998.

Versuch einer Klassifikation der Psalmen

A)   Klage- und Bittgebete Einzelner: Ps 3–7; 11; 13; 16; 17; 22; 23; 26; 27; 28; 31; 35; 36; 38; 40; 41; 42/43; 51; 54–57; 59; 61; 62; 64; 69; 70; 71; 86; 88; 92; 102; 109; 120; 130; 140–143. Danklieder Geretteter: Ps 30; 32; 63; 116; 118; 138.

B)   Klage und Bitte der Gemeinde: Ps 12; 20; 21; 44; 60; 74; 79; 80; 83; 89; 94; 106; 108; 123; 125; 131; 137. Danklieder der Gemeinde: Ps 66; 67; 124; 126; 129.

C)   Festhymnen für verschiedene Anlässe: Ps 2; 8; 15; 18; 19A; 24; 29; 45–48; 65; 68; 72; 76; 82; 84; 87; 93; 95–100; 101; 103; 104; 105; 110; 113; 114; 115; 117; 121; 122; 132–136; 144–149.

D)   Geistliche Gedichte, Lehrpsalmen, Meditationen: Ps 1; 9/10; 14; 19B; 25; 33; 34; 37; 39; 49; 50; 52; 53; 58; 73; 75; 77; 78; 81; 85; 90; 91; 107; 111; 112; 119; 127; 128; 139; 150.

Nicht alle Zuordnungen sind sicher. Zweifel bleiben, weil sich Gattungselemente oft unerwartet vermischen. Einzelstudium und kontroverse Diskussion sind angesagt!

Kapitel II
Klage- und Danklieder des Einzelnen

Ziel: Die erste Psalmengattung (s. Kap. I, Tabelle, A) ist in ihrer literarischen Form, Lebenssituation und Wichtigkeit für unseren Glauben zu erarbeiten. Dazu wollen wir ausgewählte Beispiele analysieren und Schlüsse für die heutige Zeit ziehen.