Der Tau in ihren Augen

Das Leben des Malers Amedeo Modigliani in der Pariser

Bohème von Montmartre und Montparnasse

Roman




Für meine Freunde

Gerald Kriedner: ›Ikaros‹, der stets wieder zur Sonne aufsteigt, obgleich seine wächsernen Flügel schmelzen,

Friedhard Meyer: ›Sisyphos‹, der stets seinen Stein wieder zum Gipfel des Berges wälzt, obgleich dieser ihm entgleitet und herabrollt,

Peter Wolf: ›Odysseus‹, der immer wieder zu Penelope nach Ithaka heimkehrt, obgleich er über Land und Meer fährt –

Der Tau in ihren Augen

Das Leben des Malers Amedeo Modigliani in der Pariser

Bohème von Montmartre und Montparnasse

Band 1

Roman

Ähnlichkeiten zwischen Personen dieses Romans und lebenden Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt. Für den Inhalt des Werkes

ist der Autor verantwortlich


»Jedes große Kunstwerk sollte wie jedes andere Werk der Natur betrachtet werden. Zuerst in seiner ästhetischen Wirklichkeit, dann, ohne Rücksicht auf seine Entwicklung und das Geheimnis seiner Erschaffung, als das, was seinen Schöpfer erregt und bewegt hat.

Wir haben andere Maßstäbe als die andern; denn wir haben andere Bedürfnisse, die uns – ich glaube und sage es – über ihre Moral stellen. Es ist Deine Pflicht, nie im Opfer aufzugehen, eine reale Pflicht, Deinen Traum zu bewahren. Die Schönheit hat auch traurige Pflichten; sie aber verhelfen der Seele zu ihren schönsten Leistungen. Jedes überwundene Hindernis bedeutet eine Stärkung unseres Willens, führt zur notwendigen progressiven Erneuerung der Ziele unseres Strebens. Hege eine heilige Verehrung für alles, was Deinen Geist zu erregen und zu erheben vermag. Versuch sie zu nutzen, diese fruchtbaren Anregungsmittel, denn sie allein können den Geist auf die Höhe seiner Schaffenskraft tragen. Um sie müssen wir kämpfen – können wir uns in den ›engen‹ Ring ihrer Moral zwingen? Such Dir überall Bestätigung und überwinde Dich ständig. Ein Mensch, der nicht aus sich selbst ununterbrochen neue Forderungen ausgehen lassen kann, dazu bestimmt, gleich neuen Individuen, sich immer wieder zu bestätigen und das Alte und Verweste niederzuschlagen, ist kein Mensch, sondern ein Spießbürger, ein Krämer, was immer Du willst. Du leidest, Du hast Grund dazu – kann Dein Leid nicht zum Ansporn werden, wenn es Dir gelingt, Dich immer wieder zu verjüngen und Dein Ideal noch höher zu setzen und noch erstrebenswerter zu machen? Gewöhne Dich daran, Deine ästhetischen Bedürfnisse über Deine Pflichten der Gesellschaft gegenüber zu stellen.«

Amedeo Modigliani:

Brief an seinen Freund und Kollegen Oscar Ghiglia 1901/02 während einer Studienreise durch Mittel-und Süditalien



Erster Teil

Helena und Aphrodite

Cagnes-sur-Mer – Nizza 1918

Kapitel 1

Der 28. Juni 1918 war ein herrlicher Sommertag wie man ihn nur träumen konnte. An einem solch sonnigen Tag, dem ›Veitstag‹, hatte vor vier Jahren der Serbische Nationalist Gavrilo Princip in Sarajewo die Schüsse in die Körper des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand von Habsburg und dessen Gemahlin Sophie Chotek peitschen lassen. Jene Schüsse, die von einer uneinsichtig und gnadenlos regierenden Vorsehung dazu bestimmt waren, in überstürzter, schicksalhafter Folge den Ersten Weltkrieg auszulösen. Vier Jahre wütete nun schon dieser Krieg; vier bittere, mörderische Jahre. Unmengen von Blut hatte die französische Erde getrunken. Junges, kostbares Blut: französisches Blut, deutsches Blut, englisches Blut, zuletzt auch amerikanisches Blut. ›Blutsäufer‹ nannten die französischen Soldaten ihren General Georges Robert Nivelle nach der Rückeroberung des Fort Douaumont bei Verdun und nach der Doppelschlacht an der Aisne und in der Champagne. ›Blutpumpe‹ nannten die deutschen Soldaten die Schlachtfelder an der Marne, von Ypern und von Verdun.

In Südfrankreich waren die Greul des Krieges weniger zu spüren. Die Gefahr, man könne in Kampfhandlungen einbezogen, mit Bomben belegt und von deutschen Truppen besetzt werden, war im Süden Frankreichs kaum gegeben. Diese Gefahren allerdings hatten jüngst die Einwohner von Paris fürchten müssen; jedenfalls hatte solche Befürchtung panikartig um sich zu greifen begonnen, ob begründet oder unbegründet, das mochte dahingestellt bleiben. Nicht wenige Franzosen waren daher aus dem Norden und aus der Île-de-France in den Süden Frankreichs geflohen. Wer immer konnte, der setzte sich ab in den vom Glück begünstigten ›Le Midi de la France‹. Glücklich die, die sich eine solche Flucht leisten konnten!

Zu diesen Glücklichen zählte der aus Livorno stammende Maler Amedeo Modigliani, der seit 1906 in Paris lebte. Der Krieg war allerdings nicht der einzige Grund für Modiglianis Flucht gewesen. Ein längerer Aufenthalt im Süden sollte auch der Besserung seines Lungenleidens dienen. Noch in seiner Geburtsstadt Livorno – 1895, im Alter von elf Jahren – war Amedeo an einer Rippenfellentzündung erkrankt, die nicht hatte ausheilen wollen. Die Erkrankung hatte sich bereits drei Jahre später erneut zurück gemeldet, und zwar in Form einer heftigen Lungenentzündung, die schließlich als Tuberkulose erkannt worden war. Seit dieser Zeit waren die Lungen des hochbegabten, frühen Genies geschwächt. Die chronische, unheilbare Lungentuberkulose – tückisch und unversöhnlich – hatte Amedeo Modigliani bereits in seinen jungen Jahren wiederholt darnieder geworfen. Das Klima der grauen, großen Stadt Paris und auch der grünen, ländlichen Île-de-France – ungeachtet meist warmer Sommer – mag wohl durch Kühle und Feuchte im Herbst und im Frühling, besonders aber nicht selten durch Eiseskälte, schneidenden Wind und anhaltenden Schnee im Winter einer Besserung oder gar einer erhofften Heilung im Wege gestanden haben. Beheizte Ateliers hatte Amedeo Modigliani sich nicht leisten können. Alkohol und Drogen hatten wohl ein wenig helfen können, Kälte und Hunger zu ertragen. Die Pariser Kälte und den Hunger eines erfolglosen, unbekannten Malers und Bildhauers recht und schlecht zu überleben, das hatten Branntwein und Absinth, Haschisch und Opium wohl über einige Jahre möglich gemacht, – mag sein! – nicht unbedingt jedoch das fragwürdige Schicksal, mit Lungentuberkulose leben zu müssen und diese vielleicht sogar überleben zu können; eine Angst und Schrecken verbreitende Seuche, die noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht selten das ganze Leben und den ganzen Menschen dahinraffte und endlich wie ein gieriges Raubtier mit Haut und Haar auffraß, oft tückisch und schleichend im Zeitmaß der Jugend, nicht selten aber in jedem anderen Lebensalter, wild und ungestüm und rasch wie im Augenblick eines flüchtigen Lidschlags.

Von einem längeren Verweilen unter dem klaren Himmel des Südens – unter dem Amedeo schließlich geboren war – von einem Verweilen in der Sonne und in dem milden Klima der Côte d´Azur wagte man nun auf Besserung oder gar auf Heilung der angegriffenen Lungen zu hoffen. Dieser Hoffnung hatte der Hausarzt der Familie von Monsieur Léopold Zborowski Ausdruck verliehen, eines Kunsthändlers an der ›Académie des Beaux-Arts‹, der sich Amedeos Wohlergehens angenommen hatte. Auch eine gesunde, ländliche Umgebung würde der geschwächten Gesundheit des Künstlers gut tun. Hier bestand kaum die Versuchung und nur schwerlich die Möglichkeit, die Nacht zum Tag zu machen, wie dies Amedeo Modigliani in den belebten Straßen um die place du Tertre auf dem Montmartre und um das ›Café de la Rotonde‹ in Montparnasse zur Gewohnheit geworden war. Die Côte d´Azur lag weit entfernt von jenem rauschhaften Taumel, von jenem mehr der Nacht als dem Tag zugehörigen, von jenem endlosen Fest der Sinne, das den heraufdämmernden Morgen in seinem fahlen, nüchternen Licht hasste – hasste wie alle jene Wesen den Morgen hassten, die diesem Fest verfallen waren und sich den Träumen der Nacht mehr als den Notwendigkeiten des Tages hingegeben fühlten; – hingegeben wie ein jeder eben, der ein rechter Pariser Künstler in der berüchtigten Bohème von Montmartre und von Montparnasse sein wollte. – Von jenem ausschweifenden Leben also – manche wagten in der Tat dieses Leben sogar ›lasterhaft‹ zu nennen – von jenem ausschweifenden Leben also, das Amedeo Modiglianis geschwächter Widerstandskraft, unter der zerstörerischen Mithilfe von Alkohol, Haschisch und zahllosen erotischen, entkräftenden Abenteuern Vorschub geleistet hatte und einer Gesundung im Wege stand – von einem solchen Leben also lag die Côte d´Azur weit entfernt. Weit genug, wollten Amedeo Modiglianis Freunde meinen, jedenfalls stand dies zu hoffen. Dies jedenfalls war nicht nur die Hoffnung des Arztes, es war auch die feste Überzeugung von Léopold Zborowski. Léopold Zborowski, ein seit 1910 in Paris ansässiger polnisch-jüdischer Dichter und Kunsthändler aus Warschau, hatte Amedeo Modigliani vor zwei Jahren durch die Vermittlung des Malers Moise Kisling kennengelernt, der mit Modigliani befreundet war. Zborowski fühlte sich von den Bildern Modiglianis nicht nur persönlich außerordentlich angezogen und verzaubert; sie entsprachen nicht nur seinem Form-und Farbempfinden, nicht nur seinem Verständnis von einer neuen, von einer in die Zukunft weisenden Bildniskunst. Er erkannte auch die ganz eigene, unvergleichliche, in der Tat eigenwillige Gestaltungskunst Modiglianis, die keiner der aktuellen avantgardistischen Stilrichtungen – wie etwa dem Kubismus, dem Fauvismus oder dem Expressionismus – im strengen Sinne entlehnt und anzugehören schien. Und Zborowski witterte, dass mit dieser Kunst, deren Bedeutung noch kaum einer der Kritiker und Galeristen von Rang und Namen zu ahnen oder zu sehen vermochte, in nicht allzu ferner Zeit blendende Geschäfte zu machen seien. Zborowski hatte ohne zu Zögern den unbekannten Italiener – diesen Niemand Amedeo Modigliani! – gewissermaßen unter Vertrag genommen. Er war nicht nur Modiglianis ausschließlicher Galerist geworden. Er zahlte dem Maler auch eine monatliche Rente von 500 Franc und hatte ihm ab dem Sommer 1916 seine Wohnung in der rue Joseph-Bara Nr. 3 als Atelier zur Verfügung gestellt. Natürlich hatte der geschäftstüchtige Zborowski sich ausbedungen, dass Modigliani auch regelmäßig arbeite – nicht nur hin und wieder wie bisher, wenn er gerade einmal nüchtern war – und dass er für die Aufwendungen zu seiner Unterhaltung mit seinen Bildern seinen Wohltäter wenn auch nicht gänzlich schadlos halten, so doch wenigstens symbolisch entlohnen würde. Léopold Zborowski war eben als jüdischer Geschäftsmann wesentlich begabter denn als polnischer Dichter! – Léopold Zborowski war es auch gewesen, der Amadeo Modigliani zu einem längeren Erholungsaufenthalt an der Côte d´Azur überredet hatte. Amedeo war nur schwer zu überzeugen gewesen, sein geliebtes Paris zu verlassen und Zborowski in den Süden zu folgen. Deutsche Bomben auf Paris, die Gefahr einer Besetzung der Hauptstadt durch deutsche Truppen: sei´s drum! Amedeo waren diese möglichen Gefahren in Wirklichkeit gleichgültig. Der Maler konnte sich nicht vorstellen, außerhalb seiner vertrauten und geliebten Bohème in Montmartre und in Montparnasse zu leben. Die Gewohnheit, sein croissant ausgiebig in Absinth zu tauchen, bevor er das Gebäck als Nahrungsmittel missbrauchte, sich allemal für eine Flasche Calvados´ oder Pommeaus oder irgendeines Branntweins anstelle einer warmen Mahlzeit zu entscheiden, – wenn mangels Franc in seiner Tasche nur eine der beiden Alternativen zur Wahl stand, – sich tags und nachts mit irgendjemand zu prügeln oder mit leicht zu erobernden Schönheiten und mit mademoiselles aus dem Rotlichtmilieu in den Cafés oder in den nächtlichen Straße zu tanzen, derlei liebgewordenen Gewohnheiten zu frönen war ihm allemal lieber, als sich im milden Klima des Südens ausreichend Schlaf, frische Luft und gesunde Ernährung zur Wiederherstellung seiner Gesundheit gefallen zu lassen. Rücksicht auf seine Gesundheit? Seine Gesundheit – was spielte die schon für eine Rolle! Wenn es nicht anders gehen wollte, dann musste seine Gesundheit eben in den Straßen und in den Cafés von Montmartre und von Montparnasse seinem Werk geopfert werden! Schließlich erschuf er sein Werk aus den Ingredienzen der zwar sündhaften, verruchten, zugleich aber von allen Zwängen befreienden und zu außerordentlicher Kreativität stimulierenden Pariser Bohème, und nicht aus der Quelle ausreichenden Schlafes, frischer Luft und bekömmlicher Ernährung in ländlichen, langweiligen, wenngleich keuschen und der Gesundheit förderlichen Regionen, wie etwa in der Normandie oder im ›le midi‹. Endlich war es Léopold Zborowski auch nur gelungen, Amedeo Modigliani zu diesem Aufenthalt an der Côte d´Azur zu überreden, als er dem Maler versprach, auch dessen jüngste erotische Eroberung, die zwanzigjährige Jeanne Hébuterne, sowie Modiglianis Malerfreund Chaim Soutine mit in den Süden einzuladen. Und als Amedeo Modigliani sich immer noch starrköpfig gebärdete und von seiner Pariser Bohème nicht lassen wollte, da lockte ihn Zborowski mit der Begleitung von Lunia Czechowska.

Modigliani schätzte Lunia Czechowska nicht nur als Modell. Trotz seines leidenschaftlichen Verhältnisses mit Jeanne Hébuterne und ungeachtet der vor Gott und den Menschen geschlossenen Ehe der Czechowska mit einem durchaus ehrenwerten, leider jedoch an die Front abkommandierten Jugendfreund Zborowskis, warb Amedeo seit langem insgeheim um die Gunst der schönen, sensiblen, geheimnisvoll tiefgründigen, zugleich aber lebhaften und verführerischen Polin Lunia Czechowska. Vier Porträts hatte er bis zu diesem Tag von Lunia gemalt: vor einem Jahr drei Brustbilder der Lunia Czechowska, zwei mit weißer Bluse und eines mit schwarzem Kleid noch in Paris, und in diesem Jahr, kurz nach der Ankunft in Cagnes-sur-Mer, ein Portrait. Alle in Paris entstandenen Bildnisse waren von düsterem, bläulichem Kolorit. Sie zeigten Lunia mit nach rechts gewandtem Gesicht, einmal sogar im Halbprofil; eine Perspektive, wie sie Amedeo Modigliani bei seinen Porträts eher selten wählte. Das an der Côte d´Azur entstandene Porträt hingegen war auf Türkis und warmes, rötliches Umbra gestimmt und entfaltete einen wesentlich helleren, belebteren Fleischton. Das Gesicht war dem Betrachter frontal zugewandt, die Lippen leicht geöffnet, so als würde Lunia gerade aufseufzen, allerdings mit trotzig und sperrig sichtbaren, aufeinandergepressten Zähnen. Wollte der Maler mit diesem in seltsamer Prätention und Deutlichkeit ausgeführten Zahngatter auf die Zurückweisung seiner Leidenschaft durch die schöne Polin hinweisen? Vielleicht! Wahrscheinlich aber wusste er dies selbst nicht genau. –

Es war unübersehbar: Modiglianis Palette hellte sich unter der südlichen Sonne auf, seine Farben wurden strahlender und durchsichtiger; so wie seine Hoffnung sich aufhellte, vielleicht nun doch die Gunst Lunias gewinnen zu können. Dennoch: bisher war seinem Werben um die Gunst der schönen Lunia Czechowska kein Erfolg beschieden gewesen. Die schöne Polin hing offenbar ihrem Ehemann treu an, auch wenn dieser an der Erfüllung seiner ehelichen Pflichten durch ein widriges Fatum verhindert war. Sie hatte die Erwartungen des feurigen Künstlers auf eine heiße, leidenschaftliche Liebesnacht hartnäckig abzuweisen gewusst. Vielleicht aber würde sich der Erfolg nun an dem blauweißen Gestade der Côte d´Azur, unter den Kronen der Palmen und unter den Amedeo vertrauten Gestirnen der samtblauen südlichen Nacht einstellen, so wagte Amedeo jedenfalls zu hoffen.

Auch die zu einer verhaltenen Schwermut neigende, an äußerlichem Reiz der schönen Lunia Czechowska allerdings nachstehende Hanka Zborowska, die sich als angebliche Ehefrau Léopold Zborowskis gerne ›Anna Zborowski‹ rufen ließ, hatte für Amedeo eine Versuchung dargestellt, dem Drängen seines Freundes und Wohltäters nachzugeben und dessen Einladung in den Süden zu folgen. Allerdings blieb es ein Geheimnis, ob Anna wirklich die angetraute Ehefrau Léopold Zborowskis oder nur dessen Geliebte und Lebensgefährtin war. Amedeo sah in diesem Geheimnis durchaus eine Versuchung, auch um die Gunst der etwas verschlossenen Polin Anna Zborowski zu buhlen. Zwei Bildnisse hatte Amedeo von der geheimnisvoll-kühlen Anna vor einem Jahr geschaffen. Das eine der Bildnisse fiel durch seine lichte, auf Gelb und Rot gestimmte Farbigkeit auf. Anna wandte in dem Porträt dem Betrachter ihr Antlitz frontal zu, sah ihn aber nicht in die Augen, sondern hielt ihren Blick nach links gerichtet. Ein ornamental ausladender, plissierter Kragen in strahlendem Weiß umrahmte den schlanken Hals, der allerdings nicht so auffallend überhöht war, wie dies Amedeo ansonsten bevorzugte. Das andere der Bildnisse zeigte Annas schlanken, eleganten Körper bis zu den Knien als uniforme Fläche, verhüllt von einem langen, schwarzen Gewand. Ihre Gestalt zerschnitt diagonal von links oben nach rechts unten die Bildfläche, lehnend auf einem Diwan, lang hingestreckt, zerbrechlich und ätherisch, wie schwebend. Das Gesicht am oberen linken Bildrand war im Vergleich zum Körper eher klein und im Halbprofil nach links gewandt, das beruhigende Oval von gescheiteltem, dem Kopf streng anliegendem, schwarzem Haar umrahmt. Von ebenderselben lichtlosen Schwärze wie Kleid und Haar waren auch die mandelförmigen Augen ohne Pupillen und ohne Lichtreflexe. Dennoch wirkten die Augen nicht tot, nicht wie ausgestochen, sondern eigenartig lebendig und interessiert. Obgleich die Augen leer schienen, wirkte ihr Blick nicht wie auf ähnlichen Porträts Modiglianis nach innen gerichtet. Das in hellem Gelb leuchtende Oval des Gesichtes wurde von einem schlanken, überhöhten, ebenfalls als hellgelbes Oval gestalteten Hals getragen, dessen vertikale Form sich in den seitlich auf der Diwanlehne gelagerten, ineinandergefügten, überschlanken und überlangen Händen wie in einer horizontal gefestigten Abstützung vor einem chromoxyd-grünen Kissen wiederholte. Gegen die Schwärze der Gestalt schien der Hintergrund von einer dunkelrot und rußgrün wabernden Glut erfüllt; ein verhaltenes, geheimnisvolles, dennoch aber leidenschaftlich brennendes Glühen, das hinter der ruhigen Schwärze der unbewegten Gestalt eine sehnsuchtsvolle erotische Zuwendung des Malers zu seinem Modell verraten mochte. –

Amedeo Modigliani liebte Frauen über alles. Mehr als die anderen Maler von Montmartre und von Montparnasse war er dem Zauber und der Verlockung schöner Frauen verfallen. Aber Amedeo liebte Frauen nicht in jenem esoterischen Sinn, den man einem Künstler mit sublimiertem Geschlechtstrieb bereit ist im Allgemeinen zuzubilligen. Nein, Amedeo bedurfte der Frauen wie ein Hungriger der Nahrung: er verzehrte sie förmlich, er verzehrte ihr Fleisch, ihre Glieder, ihre Scham. – Er verzehrte sogar ihre Augen! – Amedeo Modigliani verzehrte die Frauen und verbrauchte sie wie eine Speise. Er war ein zivilisierter Kannibale, der in einem der Kunst huldigenden Ritus aus Genuss und Trance, aus Zerstörung und Neubildung seinen Hunger nach weiblichem Fleisch stillte – nach Frauen, – nach schönen Frauen, nach verführerischen Frauen, – nach reifen Frauen, nach wissenden Frauen, – aber ebenso nach unschuldigen Mädchen, – nach scheuen Mädchen, nach furchtsamen Mädchen, nach erschrockenen Mädchen, – nach erweckungsbedürftigen Mädchen. – Er streichelte ihre pfirsichfarbene Haut, er versenkte sich in den Duft ihres Haares, er schmiegte sich in die Biegung ihre schlanken Hälse – in die schwanengleichen Beugen ihres Nackens. Er wühlte sich in die feuchte Wärme und in den Geruch ihrer Achselhöhlen und ihrer Scham. Köstlicher als alle seine Malerfreunde verherrlichte und überhöhte Amedeo Modigliani Frauen. Ohne Frauen und ohne Liebschaften vermochte Amedeo nicht zu leben und nicht zu arbeiten. Flüchtige Amouren gehörten für Amedeo Modigliani – für »unseren ›Modi‹, den letzten wirklichen Bohémien«, wie der deutsche Maler und Freund Ludwig Meidner ihn einmal genannt hatte – zum Leben und zum Arbeiten. Frauen und Rausch waren für Amedeo Modigliani Leben. Alles andere war der Tod. – Das Fleisch schöner Frauenkörper, Alkohol und Haschisch: das waren für Amedeo das Leben und zugleich der Tod, das Feuer und zugleich das Wasser, die Glut und zugleich die Asche, die Hitze und zugleich die Kälte, die Erde und zugleich der Himmel. Das war der Urgrund, aus dem ihm seine Gesichte zuwuchsen. Was diese archaischen, animalischen Gesichte aber zu Kunstwerken überhöhte, das war Amedeo Modiglianis analytischer und kontrollierender, planender und ordnender Intellekt, wie nur selten bei einem Künstler gepaart mit Affekt und mit Sensibilität. Ein kühler Verstand und ein heißes Herz führten seine Hand. –

Paul Dermée nannte Amedeo Modigliani einen ›Königsohn, einen Geistesprinzen, einen Aristokraten im Pullover‹ –



Kapitel 2

Ein das Herz und alle Sinne erfreuender und kräftigender Sonnentag war dieser Veitstag des Sommers 1918, der vor vier Jahren solch unsägliches Leid in die Welt geboren hatte. Frieden und Licht lagen an diesem Tag über dem prächtigen Anwesen Auguste Renoirs ›Les Collettes‹ in Cagnes-sur-Mer. Von reinstem, tiefstem Blau war der hohe Himmel im Zenit, unter dem an jenem Nachmittag noch eine zitronenhelle, gleißende Sonnenfackel brannte. Hinter den Kronen der Palmen, die in Orange und Goldgrün wie Flammengarben loderten, lag tief unten das azurblaue Meer, ruhig und weit hingebreitet vor dem wie von einem Zauber geblendeten Auge, bis in unendliche Fernen, in denen Wasser und Himmel in einer anderen, fliederfarbenen, ungewiss dunstigen und verschleierten Welt miteinander verschmolzen. Die Landschaft um Nizza schien in ein zitronenfarbenes Licht getaucht – oder war das Licht von einem sehr hellen, silbernen Blau? Man wusste nicht zu sagen, ob es ein zitronengelbes oder silberblaues Licht war. Dieses Licht durchdrang und erhellte selbst die türkisfarbenen Schatten. In diesem Licht wirkte sogar das Laub der Olivenbäume, zu anderer Zeit von dumpfgrauer Farbe, silbrig hell und wie durchsichtig.

Auguste Renoir, weltbekannter Altmeister der Impressionisten, saß in einem Rollstuhl auf der dem Meer zugewandten, von einer Markise beschatteten Terrasse seines Hauses; eng neben ihm, in einem bequemen Korbsessel, sein Nachbar und Malerfreund Anders Osterlind. Renoir hatte gearbeitet. Auf der Staffelei stand noch sein Gemälde ›Ruhe nach dem Bad‹. Die beiden großen Frauenakte im Vordergrund waren bereits vollendet. Mit der Silhouette des lockeren Laubes im Mittelgrund war Renoir allerdings noch nicht zufrieden gewesen; im Licht dieses Sommertages waren ihm die Blätter zu grün und die Zweige zu schwer und zu undurchsichtig erschienen. Mit zart gewischten Tupfern von Kobalt und Oker hatte er über das Laub eine vorsichtige Retusche gelegt und auf das zitronengelbe und blaue Licht eingestellt, wie es an diesem Tage alles durchdrang, was sich dem Auge des Malers darbot. Renoir hatte seine Arbeit unterbrochen, als sich Anders Osterlind zu einem nachbarlichen Besuch eingefunden hatte. Die Palette hatte er auf einem Klapptisch neben seinem Rollstuhl abgelegt. Von seinem ältesten Sohn Pierre hatte er sich den Pinsel aus den Fingern der rechten Hand binden lassen. Osterlind war Zeuge dieser erschütternden Geste geworden. –

Der 77-jährige Renoir litt seit sechsundzwanzig Jahren an einer rheumatischen Gelenkentzündung. Die chronische, fortschreitende Erkrankung hatte seinem Rückgrat und seinem Gehvermögen schwer zugesetzt. Mit gekrümmten Rücken und mit eingesunkener Brust saß Renoir daher im Rollstuhl; ein abgemagertes Häufchen Elend, dem jede Bewegung Schmerzen bereitete. Was dem Maler am meisten zusetzte war aber, dass das teuflische Rheuma – »diese Erfindung der Hölle‹«, wie er seine Erkrankung nannte – dass das teuflische Rheuma zu einer Verkrüppelung seiner Hände geführt hatte; dieser begnadeten Hände und Finger, die doch neben seinem Auge sein kostbarster Besitz als Maler waren. – Es war ein unfassbares Wunder, dass Renoir trotz seiner Schmerzen und seiner Behinderung noch malen konnte. Aber er musste malen; ohne zu malen konnte er nicht leben. Jedenfalls vermochte er sich kein Leben ohne seine Malerei vorzustellen. So vollbrachte Renoir das Wunder – trotz seiner Schmerzen und in ständigem Kampf mit seiner Behinderung! – die Schönheiten der Welt auch in seinen späten Bildern zu feiern. Krankheit und Schmerz, Leid und Tränen vermochten seine unvergleichliche Palette von hellen, freudvollen Farben, glitzernden Edelsteinen verwandt, nicht zu trüben; vermochten seinen Gesang, der sich wie das Lied der Lerche jubelnd aus den sonnigen, farbigen, klaren Himmeln über die von ihm neu und rein erschaffene Welt hernieder senkte, nicht zu verderben oder gar verstummen zu lassen. Nein: gleich der unverzagt empor steigenden und unermüdlich jubilierenden Lerche, konnte Auguste Renoir nicht davon ablassen, in den Sonnenhimmel empor zu steigen und seinen Gesang zu trällern bis in seine letzte Stunde. –

»Wenn mir nicht nur die Kraft und Beweglichkeit meiner Finger genommen wäre, wenn mir auch mein Augenlicht genommen wäre, dann wäre ich besser dran. Dann könnte ich leichter leben! Dann müsste ich nicht unter Schmerzen mit einem an meine rechte Hand gebundenen Pinsel malen! … Da ich nun aber mit meinen wachen Augen immer noch sehen kann, muss ich mit meinen verkrüppelten Händen malen, was ich sehe! ... Vielleicht sehe ich aber gar nicht mehr, vielleicht sind auch meine Augen längst vertrocknet und blind … vielleicht träume ich nur, wer weiß?! … Aber auch Träume müssen gemalt werden …«, gestand er oft klagend seinen Söhnen und seinen Freunden, »… Degas war da besser dran, der war tatsächlich blind, der sah wirklich nichts mehr, oder er sah kaum noch was … jedenfalls hat es nicht mehr zum Malen gereicht. Monet ist auch besser dran, der sieht auch fast nichts mehr, jedenfalls sieht er keine Farben mehr … keine Farben! … wie herrlich! … Monet malt zwar riesige Bilder mit Seerosen, aber das werden allenfalls bequeme Zielscheiben! Zielscheiben zum Üben für die französischen Soldaten, oder Ziele für die deutschen Granaten! … Wenn es sein müsse, dann wolle er sich vor seinen Seerosen, vor seinen ›Nympheas‹ vom Feind niedermetzeln lassen, hat Monet mir geschrieben …«

Renoir konnte den Pinsel nicht mehr aus eigener Kraft halten. Also ließ er sich seine Pinsel von seinen Söhnen mit einer Art breitem Gummiband an die Finger der rechten Hand binden. Auch seine Paletten richteten ihm seine Söhne Pierre und Jean zu, ebenso wie die Leinwände und die Staffeleien. Sie kümmerten sich auch rührend um die Bereitstellung sonstigen Arbeitsgerätes. Pierre Renoir war zwar schon zu Beginn des Krieges schwer verwundet worden, hatte sich aber bislang von seiner Verwundung einigermaßen glimpflich erholt.

Ungeachtet der warmen Witterung war Renoir mit einer dicken, grüngrauen Tweedjacke bekleidet. Zusätzlich hatte Pierre ihm ein grünbraun kariertes Plaid um die Schultern gelegt. Auf Grund seines chronischen Rheumatismus, der nicht nur seine Gelenke zerstört hatte, sondern auch seinen Körper zum Skelett hatte abmagern lassen, fühlte Renoir auch bei Wärme – selbst im Sonnenschein! – eine widerliche Kälte in seinem Inneren und in all seinen Gliedern; eine lebensfeindliche, unwürdige Kälte, wie ihm scheinen wollte; eine Kälte, für die er sich geradezu schämte. Aber die Kälte war nun einmal in ihm; es hatte keinen Sinn, sie zu verbergen, sich ihrer zu schämen und auf warme Kleidung zu verzichten. Oft musste er sich bequemen, sogar bei warmem Wetter Handschuhe zu tragen. Auch trug er stets eine Mütze, selbst im milden Schatten, so wie auch an diesem warmen Sommernachmittag; – eine eigenartige Mütze – eine flache, tellerförmige Mütze mit einem kleinen Schild über der Stirne. Über die Mütze war ein Band geführt, das unter dem Tellerrand an beiden Seiten über den Ohren entsprang und sodann nach oben über den Scheitel geführt war, wo die beiden Bandhälften mit drei Druckknöpfen zusammengehalten wurden, als müssten sie den Gewalten eines Sturmes trotzen. Niemand hätte zu sagen gewusst, welchen Zweck dieses Band habe. Eine wirklich seltsame Mütze! Aber Auguste Renoir hing an dieser Mütze. Er hatte sich gerne und oft gerade mit dieser seltsamen Mütze fotografieren lassen.

Nicht nur Gliedmaßen und Rumpf schienen abgemagert, auch Renoirs Gesicht wirkte hager und fleischlos. Sein gesamter Schädel schien geschrumpft. Unschönes, krankhaftes, bläuliches Geäder war unter der durchsichtigen Haut der knöchernen Schläfen zu sehen. Über dem silbernen, etwas schütteren Backenbart gewahrte man die Wagen eingefallen und die Jochbeine stachen scharf hervor. Unter dem Weiß des etwas ungepflegten, zu langen Oberlippenbartes wirkten die schmalen Lippen trocken und farblos und fleischlos. Die auch schon in jungen, gesunden Jahren schmale und etwas lange Nase stach jetzt scharf hervor wie der Schnabel eines Adlers. Die Augen – diese einst übergroßen, glutvollen Augen, die die Welt neu gesehen hatten – jetzt wollten diese Augen klein und müde scheinen; tief zurückgesunken, lagen sie freudlos und zweifelnd, gelegentlich auch misstrauisch und lauernd in den eingefallenen Höhlen unter den spärlichen Brauen. Hin und wieder aber – wenn auch nur selten, wenn er etwa sein Gegenüber verärgert oder verzückt sehr intensiv und wissbegierig ansah – erwachte in Renoirs Augen wieder das alte, verzehrende Feuer, das einst alles zu entfachen und in farbige Glut zu verwandeln vermocht hatte; alles, was dieses Feuer in Renoirs Augen mit seinem heißen Hauch berührt hatte. »Renoir sieht wie ›Der weinende Petrus‹ von El Greco aus«, dachte Anders Osterlind bei sich, als er sein Gegenüber unauffällig musterte, »wie ›Der weinende Petrus‹, … besonders seine Augen sehen so aus …«

»Wie schön, wie friedlich das alles ist …«, störte Auguste Renoir die Betrachtungen Osterlinds, »ich meine den Himmel, das Meer, die Palmen, die Olivenbäume … wie schön ist doch die Welt! ... Wenn nur der Mensch sie nicht so schrecklich machen würde … vier Jahre haben wir nun schon Krieg. Vier Jahre! … ›Veitstag! Veitstanz‹! … Wenn man das alles hier so sieht, dann will man kaum glauben, dass Krieg ist, nicht wahr? … Monet hat mir geschrieben, dass er seinem Freund Georges Clemenceau versprochen habe, er werde zwei seiner Tableaus mit Seerosen und mit Himmelsspiegelungen auf dem Wasser seines Teiches in Giverny der französischen Nation zum Geschenk machen. Zwei riesige Gemälde mit ›Nympheas‹, eingebettet in eine Wasserlandschaft, in eine ›Paysage d´eau‹, wie Monet seine Dekorationen nennt. Beide Tableaus seien in Grün gehalten. ›Reflects verts‹ habe er die Gemälde genannt, die er für seine Schenkung ins Auge gefasst habe. Dem ›Musée des Arts decoratifs‹ sollen sie gehören. »Am Tage des Sieges« wolle er sie signieren, … schrieb mir Monet, … ›am Tage unseres Sieges‹ wolle er die Gemälde signieren …«

»Wenn wir denn siegen!« zweifelte Osterlind.

»Ja, wenn wir siegen! … Das steht ja noch nicht einmal fest, … dass wir siegen …«, zweifelte auch Renoir.

»Nach dem Frieden von Brest Litowsk am 3. März dieses Jahres steht der Sieg weniger fest als je zuvor, meine ich jedenfalls …«, gab Osterlind zu bedenken, »im Osten sind die Deutschen ja nun entlastet, nach dem Ausscheiden der Russen aus dem Kriegsgeschehen. Jetzt können sie ihre gesamten Kräfte nach Westen werfen, geballt gegen uns werfen. Und das tun die ›Boche‹ ja auch. Bereits wenige Tage nach dem Friedensvertrag mit Russland, am 21. März, haben sie ihre Frühjahrsoffensive an der Westfront eröffnet.«

»So, haben die elenden ›Boche‹ das? …« stöhnte Renoir. »Wissen sie, ich tue mir schon schwer, das alles noch bewusst mitzukriegen! … Mir schwindelt jeden Tag, wenn ich mir das alles merken sollte, all die Namen, die man nie zuvor gehört hat … Brest Litowsk? … Wo liegt das Kaff eigentlich?«

»In Weißrussland …«

»In Weißrussland? … So so … in Weißrussland, … so weit im Osten … weiter im Osten als Moskau? …«

»Nein, viel westlicher, im Südwesten von Moskau, am Bug, an der Grenze zu Polen.«

»An der Grenze zu Polen? … so so … ich dachte, das Kaff läge vielleicht in Sibirien! … Ach wissen sie, mein lieber Osterlind, mir ist das alles ja eigentlich auch egal. Bedenken sie: ich bin siebenundsiebzig! … Sie können sich alles noch gut merken. Sie sind ja gerade mal fünfunddreißig! … Ich kann mir die ganze Politik ja überhaupt nicht mehr merken. Und sie interessiert mich auch nicht, wenn ich ehrlich bin. Sie hat mich nie interessiert … die Politik, und alles, was damit zusammenhängt. Wenn sie mich unbedingt was fragen wollen, dann fragen sie mich lieber was über Malerei … meinethalben über meine Zeit mit Monet an der Grenouillère oder in Argenteuil, oder über unsere erste Ausstellung in den Atelierräumen des Fotografen Nadar am Boulevard des Capucines im Jahr 74. Wir nannten uns damals ja noch ›Société anonyme cooperative des artistes, peintres, sculpteurs et graveurs‹. Die uns feindlich gesonnen Traditionalisten um Léon Gérôme taten uns ab als die ›Bande von Verrückten‹ … ›Impressionisten‹ nannte man uns schließlich ja erst abfällig … eigentlich um uns lächerlich zu machen! … nachdem Monet sein Bild ›Impression, aufgehende Sonne‹ 74 bei Nadar ausgestellt hatte. Der Kritiker Louis Leroy bediente sich abfällig dieses Namens … erfunden allerdings hat diese Bezeichnung ein anderer Kunstkritiker, ich glaube es war Jules Castagnary, wenn ich recht erinnere. Der hoffte, uns mit dieser Erfindung zu diffamieren und zu karikieren! Wenn der geahnt hätte, welchen Gefallen er uns mit seiner Boshaftigkeit getan hat! … Ich stellte bei Nadar meine ›Orchesterloge‹ aus … gelegentlich wird das Bild heute auch einfach ›Die Loge‹ genannt. Mein Bruder und ein bezahltes Modell hatten mir für die beiden Figuren gesessen. Der Kunsthändler Pierre-Firmin Martin, den wir nur ›Père Martin‹ nannten, kaufte das Bild für 200 oder für 250 Franc, wenn ich recht erinnere, und das auch nur aus Mildtätigkeit, weil wir alle hungerten, … auch ich hungerte! … Paul Cézanne wagte in dieser Ausstellung 74 sein Bild ›Eine moderne Olympia‹ auszustellen. Édouard Manet fand das »Machwerk« Cézannes so unmöglich, dass er sich weigerte, unserer ›Société anonyme cooperative‹ beizutreten … oder auch nur eines seiner Bilder neben Cézannes ›Eine moderne Olympia‹ zu hängen! … Die echte ›Olympia‹ Manets hat übrigens Monet für Frankreich gerettet. Nach dem Tod Manets hat Monet Geld gesammelt, um Édouard Manets Meisterwerk dessen Witwe abzukaufen und dem Louvre zu schenken. Die ›Olympia‹ sollte nämlich für nur 20 000 Franc nach Amerika verkauft werden! … Oder fragen sie mich über Gustave Courbet oder über Édouard Manet! … Haben sie schon mal Courbets Akt ›Der Ursprung der Welt‹ gesehen? … Mein Gott, wenn ich an den Skandal denke, den Manets ›Olympia‹ 1868 ausgelöst hat! … Heute kann man sich eine solche Aufregung über ein Gemälde … über einen harmlosen, durchaus anständigen Akt! … gar nicht mehr vorstellen. Aber damals ... nun gut, alle Welt wusste, dass ›Olympia‹ der gebräuchliche Name für eine Hure war, und alle Welt wusste, dass eine gewisse Victorine Meurent … Monets Modell der ›Olympia‹ … seine Geliebte war, oder … genauer gesagt, pardon! … eine seiner Geliebten war …«

»In ihre Welt passt kein Krieg, Maître Renoir …«, kam Anders Osterlind auf den Beginn der Unterhaltung zurück, da ihm wohl an der aktuellen Beurteilung der politischen und militärischen Lage mehr gelegen war, als an den – wenngleich interessanten – so doch einer längst vergangenen Zeit angehörigen Erinnerungen eines zwar großen, dennoch aber bereits einer musealen Vergangenheit zugeordneten Künstlers, » … und in ihrer Welt gibt es auch keinen Krieg, Monsieur Renoir, … in ihrer Welt gibt es nur Schönheit! … schöne Mädchen, schöne Frauen, Kinder, Blumen … Sonne! … vielleicht mit Ausnahme der ›Regenschirme‹ … auf ihrem Gemälde ›Regenschirme‹ scheint natürlich keine Sonne ...«

»Degas meinte einmal, ich sei ›eine Katze, die mit bunten Garnfäden spielt‹, so oder so ähnlich …«, beharrte Renoir auf seinen Rückerinnerungen. »Er meinte damit meinen Malstil, als ich noch in meiner impressionistischen Phase war, will ich mal so sagen … als ich noch im Stile Monets, Sisleys und Pissarros malte, will ich mal so sagen. … In der Tat: unsere Bilder aus jener Zeit vermag man ja kaum zu unterscheiden …«

»Da würde ich ihrem Urteil nicht unbedingt zustimmen, Monsieur Renoir! Ihre Bilder haben ein lichteres Kolorit … ihre Farben sind reiner, durchsichtiger! Außerdem spielt in ihrem Werk das Porträt eine Rolle, überhaupt hat bei ihnen das Figürliche eine Bedeutung, wie eine solche bei keinem anderen Impressionisten zu finden ist! … Ihre Motive sind einfach anders, ihr Bildbau und ihre Pigmenttextur sind lockerer, sind ›spielerischer‹, wenn ich so sagen darf … und, wie gesagt, ihr Kolorit ist vielfältiger, ihre Farben sind ungebrochener, ihre Farben kommen dem impressionistischen Ideal der Lichtfarben am nächsten. … Ich jedenfalls erkenne einen ›Renoir‹ sofort aus der Gruppe der Impressionisten jener Tage heraus!« behauptete Osterlind – wahrscheinlich hoffte er mit diesen Worten Renoir ein wenig zu schmeicheln. –

»Genau das meinte Degas, als er mich »eine Katze, die mit bunten Garnfäden« … oder sagte er mit »bunter Wolle«? … als er mich »eine Katze, die mit buntem Garn spielt« nannte. Er bezog sich mit dieser liebenswerten Kritik allerdings nicht nur auf mein Kolorit, sondern vor allem auf die mangelhafte Zeichnung, auf den vernachlässigten Bildaufbau … will sagen, auf die vernachlässigte Form! … auf dieses Defizit an Festigkeit also bezog er sich, unter dem der en-plein-air-Impressionismus litt und immer noch leidet. Degas legte größten Wert auf die Zeichnung, auch unter der Oberfläche seiner Gemälde. Degas malte ja nie im Freien. Er malte stets nur in sorgsam arrangierter künstlicher Beleuchtung in seinem Atelier! … Sonnenlicht konnte er wegen eines Augenleidens nicht vertragen. Auf einem seiner Augen war er schon in jungen Jahren nahezu erblindet. Heute sieht der Ärmste fast nichts mehr. Er malt nicht mehr, aber sein Tastsinn ist noch voll erhalten. Daher betätigt er sich als Bildhauer, allerdings in recht eigenartiger Weise. Er macht kleine Statuetten von Tänzerinnen aus Ton oder aus Wachs. Die eine oder andere dieser Statuetten lässt er in Bronze gießen, glaube ich jedenfalls. Eine dieser Balletteusen trägt sogar ein echtes Röckchen aus Baumwollgaze. Aus echtem Stoff! Angeblich hat sich die hochwohlgeborene Kritik über diesen faux pas … über diesen ›Materialfehler‹ gewissermaßen! über diesen ›Naturalismus‹ … aufs Heftigste zu erregen gewusst, als Degas seine ›Tänzerin von 14 Jahren‹ auf der Sechsten Impressionisten-Ausstellung 1881 präsentiert hat.«

Anders Osterlind fiel auf, dass Auguste Renoir von Edgar Degas zuletzt in der Gegenwart gesprochen hatte, obgleich Degas seit bereits einem Jahr tot war. Aber obgleich er betreten war, korrigierte er Renoir nicht.



Kapitel 3

»Ich habe auch noch einmal eine Plastik gemacht …«, nahm nach einer bedächtigen Pause Renoir seine Erinnerungen wieder auf, »eine Büste von meiner geliebten Aline. Ein Jahr nach ihrem Tod. Drei Jahre sind es ja nun schon her, dass meine Frau verstorben ist. Vor zwei Jahren habe ich ihre Büste in Ton geformt und dann in Bronze gießen lassen … Haben sie die Plastik schon gesehen? Nein? … Ich habe Aline so geformt, wie ich sie aus glücklichen Tagen in Erinnerung hatte. So, wie ich sie 80 auf meinem Bild ›Das Frühstück der Bootsfahrer‹ und wie ich sie 85 als Porträt und 86 mit unserem Pierre an der Brust gemalt habe. Ich war in ihr rundes Gesichtchen mit der Stupsnase und mit der aufgeworfenen Oberlippe verliebt. Aline hatte immer ein Kindergesicht. Und in ihr Strohhütchen war ich verliebt, das sie immer trug. Auch auf meinem Bild ›Das Frühstück der Bootsfahrer‹ trägt sie diesen Hut. Aline hatte immer ein Gesicht wie ein kleines Mädchen mit roten Backen ... ›Aline Charigot‹ … sie war ein typisches Kind aus der Champagne. Ihre Haut war so weiß und rein wie die Kreideklippen ihrer Heimat, und ihre Wangen waren so rot wie die Äpfel der Normandie. Aline war ein wunderbares Modell, eine begabte Geliebte und eine mütterliche Frau. Ich habe sie sehr geliebt …«

»Da ist ein Mann, der dich sprechen will, Vater …«, ließ sich plötzlich eine Stimme vernehmen. Pierre Renoir war aus der geöffneten Flügeltüre auf die Terrasse getreten. Er hatte sich den beiden in ihr Gespräch vertieften Männern genähert, ohne dass diese ihn zunächst bemerkt hatten. »Der Mann wünscht unbedingt dir seine Aufwartung zu machen. Er trug diesen seinen Wunsch sehr ehrerbietig vor … wirklich, sehr ehrerbietig! Zugleich aber auch mit einer ungewöhnlichen Heftigkeit, mit einer krankhaften Heftigkeit, möchte ich sagen, fast wie eine Forderung. … Amadeo Moliani oder Maligioni ist sein Name, oder so ähnlich. Ich konnte den Namen nicht richtig verstehen. Der Mann schien sehr erregt und sprach sehr schnell und undeutlich. Er stieß seinen Wunsch, dich sehen zu dürfen, und die Worte seines Namens in einer fast krankhaften Hektik förmlich aus sich heraus! … Früher muss der Mensch einmal ein sehr schönes Gesicht gehabt haben … ein klassisch schönes Gesicht, mit einem etwas trotzigen Mund allerdings, etwa so wie Michelangelos ›David‹. Man kann diese Schönheit auch heute noch erkennen, aber sie wirkt irgendwie verwaschen, oder verdorben, oder verbraucht, … oder wie soll ich sagen? … Der ungepflegte, schwarze Vollbart passt nicht recht in dieses ehemals sicher sehr schöne Gesicht! … Die Augen sind mandelförmig und sehr groß und grüngrau, und die Augen glühen, und die Wangen glühen rot. Ich würde sagen, der Mann sieht krank aus, fiebrig, fanatisch … vielleicht sogar gefährlich … ja, vielleicht hat er Fieber … oder er ist angetrunken.«

» … ›angetrunken‹? … weise den ungebetenen Gast ab, Pierre … bitte! … sage ihm, ich sei krank, oder ich hätte keine Zeit, weil ich mitten in der Arbeit sei! … oder sage ihm irgendwas, was weiß ich! Sage ihm, er habe den falschen Tag erwischt! … aber weise den Kerl ab! … wo käme ich hin, wenn …« –

Es war unübersehbar: Renoir hatte keinen guten Tag. – Er hatte überhaupt nur noch äußerst selten gute Tage. Seine Schmerzen und die Behinderung seiner Hände versetzten ihn meistens in eine grimmige, unwillige und jedermann zurückweisende Laune, wie man sie früher nicht an ihm gekannt hatte.

»Amedeo Modigliani …«, stellte sich der Mann vor, der Pierre Renoir auf dem Fuße gefolgt war, ohne eine Einladung oder eine Willkommensbezeigung abgewartet zu haben. Auf Einladungen oder auf Willkommensbezeigungen zu warten war nicht Modiglianis Sache. Überhaupt war Geduld nicht Modiglianis Sache. Er lehnte schlichtweg jede Abhängigkeit seiner Wünsche und Entscheidungen von der Zustimmung anderer Menschen ab; gleichgültig, ob er diesen gewogen war, oder ob er diesen von vornherein mit Ablehnung begegnete; gleichgültig, ob er von diesen abhängig war, oder ob er nicht auf diese angewiesen war; gleichgültig, ob er diesen zu Dank verpflichtet war, oder ob er diesen nichts schuldete. Die eigenen Wünsche und deren Erfüllung, die eigenen Vorstellungen und deren Verwirklichung: das war das unverrückbare Gesetz, nach dem Modigliani lebte und dem er starrköpfig anhing. – »Modigliani …«, wiederholte Amedeo, »… Maler und Jude.« –

Mit der Floskel ›Maler und Jude‹ stellte sich Amedeo stets vor. Als ›Maler und Jude‹ hatte er sich im ›Café de la Rotonde‹ auch Nina Hamnett vorgestellt, als diese – nur leicht bekleidet – vor seinen verzückten Augen auf einem Tisch getanzt hatte. Warum er sich nicht nur als ›Maler‹ und als ‹Modigliani‹, sondern sich stets mit dem Zusatz ›Jude‹ vorstellte, das wusste Amedeo selbst nicht recht zu sagen; oder aber, er gab sich selbst einmal diese, ein anderes Mal jene Antwort auf diese ihm eigentlich überflüssig scheinende Frage. Wollte er damit provozieren? – Vielleicht, schließlich war ihm Antisemitismus nicht unbekannt geblieben, auch in Paris nicht! – Wollte er mit dieser ungewöhnlichen Vorstellung seinem Gefühl der Besonderheit, des Andersseins, einer gewissen Vereinsamung oder Abgesondertheit Ausdruck verleihen? – Vielleicht! – Oder wollte er mit ›Jude‹ das Gefühl eines Auserwähltseins verdeutlichen? – Vielleicht! – Schließlich entstammte er ja sowohl vom Vater wie von der Mutter her tatsächlich zweier iberisch-jüdischer Familien! – Sowohl die väterlichen Modiglianis aus Livorno wie die mütterlichen Garsins aus Marseille waren sefardische Juden. Die Familie Garsin war sogar davon überzeugt, sie dürfe zu ihren Vorfahren sage und schreibe den berühmten jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza zählen. Man rechnete sich allerdings nicht der einer hebräischen Tradition verpflichteten, religiös oder gar orthodox geprägten Judenheit einer abgeschotteten, nach eigenen Gesetzen und nach tradiertem Kultus lebenden Diaspora zu. Nein: man legte in den Familien Modigliani und Garsin größten Wert darauf, adaptiert, emanzipiert, kosmopolitisch und im umfassendsten Sinne gebildet zu sein. Von seiner Mutter Eugénie Garsin hatte Amedeo Französisch als zweite Muttersprache gelernt. Er sprach es perfekt. Amedeos gebildete, kunstsinnige Mutter Eugénie war es auch gewesen, die ihn weltoffen erzogen und auf eine umfassende, vornehmlich aber klassische Bildung Wert gelegt hatte. Sie hatte auch darauf bestanden, dass das Jüngste ihrer vier Kinder – ihr stets kränkelnder, eigenwilliger und daher ihrer besonderen Zuwendung und Fürsorge bedürftiger Sohn Amedeo, der von ihr nur mit dem Kosenamen ›Dedo‹ angesprochen wurde – dass dieses ihr Sorgenkind an den von ihr organisierten Fünf-Uhr-Tees im Hause des Großvaters Isaaco Garsin teilzunehmen habe. Im Rahmen dieser Salongespräche frönte Eugénie ihrer Leidenschaft für klassische und zeitgenössische Literatur und Philosophie. Sie brachte das kunstsinnige, hochbegabte, wenngleich zum Eigensinn neigende Kind mit dem Geist jener großen Männer in Berührung, denen sich Amedeo in seiner Kunst ein Leben lang verbunden fühlen wird: Dante Alighieri, Francesco Petrarca, Gabriele d´Annunzio, Oscar Wilde, Friedrich Nietzsche, Henri Bergson. Der Philosophie Bergsons, vornehmlich dessen ›L´Évolution créatrice‹ von 1907, fühlte sich Amedeo in seinen reifen Jahren allerdings wesentlich zugeneigter als den Gedanken Nietzsches. Bergsons Gedanken über die ›Schöpferische Entwicklung‹ prägten Amedeos Vorstellung von seinem eigenen künstlerischen Wirken tief. Von Nietzsche hatte Amedeo wohl nur den Begriff des ›Übermenschen‹ in sein Denken einfließen lassen. Nicht selten nahm er für sich eine Charakterisierung als ›Übermensch‹ – als ›uomo superiore‹ – in Anspruch, was nicht eben für Bescheidenheit, für Selbstzweifel und für Selbstkritik sprach. Seiner einzigen Vertrauten – seiner Mutter Eugénie Garsin – hatte ›Dedo‹ im Alter von vierzehn Jahren – während eines typhösen Fieberwahns – den heißen Wunsch eröffnet, er wolle unbedingt Künstler werden. Maler, oder besser noch, Bildhauer! Ja, Bildhauer – er wolle Bildhauer werden: er erging sich in seinem deliranten Fieberanfall in erstaunlich präzisen Vorstellungen von den großen Meisterwerken der Renaissance in den italienischen Museen und Kirchen, so als sei er bei klarstem Bewusstsein. – Als Amedeo vom Typhus genesen war, erfüllte Eugénie Garsin ihrem Liebling ›Dedo‹ diesen Wunsch, von dem das frühreife, selbstbewusste Kind auch nach seiner Gesundung nicht lassen wollte. ›Dedo‹ durfte das Lyzeum, das er zwei Jahre besucht hatte, verlassen, erhielt Privatunterricht und begann 1898 seine Künstlerkarriere als Schüler an der Kunstakademie in Livorno. Sein Lehrer in den klassischen Fächern Landschaft, Stilleben, Akt und Porträt war Guglielmo Micheli, ein Schüler des bekannteren und bedeutenderen Giovanni Fattori, der den italienischen Impressionisten – den ›Macchiaioli‹, den ›Fleckenmalern‹ – zugerechnet werden durfte. Zusätzlich besuchte Amedeo eine Klasse für Aktzeichnen im privaten Atelier von Gino Romito in Livorno.

Gewiss, Amedeo war Jude, dessen war er sich b