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Root Leeb

Don Quijotes

Schwester

Roman

ars vivendi

 

Alle hier genannten Orte und Menschen sind real, aber ich habe sie verfremdet und empfehle, nicht in ihnen spazieren zu gehen oder Bekannte zu suchen.

 

 

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage September 2015)

 

© 2015 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg, unter Verwendung einer Grafik von © frilled dragon/fotolia

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-603-5

 

Für S. und E.

und O. und M.

und H. und I.

und so weiter

 

Inhalt

Prolog

I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 11

 

II

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

 

III

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

 

IV

 

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

 

V

Kapitel 57

Kapitel 58

 

Epilog

 

Die Autorin

 

Die einen werden die Welt für kritisierbar halten, die anderen nehmen sie hin. Die einen werden die Welt für so veränderbar halten, wie man einem Stein mit einem Meißel eine bestimmte Form zu geben vermag, die anderen werden zu bedenken geben, dass sich die Welt samt ihrer Undurchschaubarkeit verändere, wie ein Ungeheuer, das immer neue Fratzen annimmt, und dass die Welt nur insoweit zu kritisieren sei, wie die hauchdünne Schicht des menschlichen Verstandes einen Einfluss auf die übermächtigen tektonischen Kräfte der menschlichen Instinkte besitzt. Die einen werden die anderen Pessimisten schelten, die anderen jene Utopisten schmähen.

 

Friedrich Dürrenmatt, »Das Sterben der Pythia«

 

 

 

 

Natürlich hab ich leider recht

Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht.

Wir wären gut – anstatt so roh

Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.

 

Bertolt Brecht, »Die Dreigroschenoper«

 

Prolog

Alles begann mit dem Hahn. Sie hätte ihn retten müssen. Sie hieß noch Annarosa und war an diesem Tag genau fünf Jahre alt. Auf diesen Geburtstag hatte sie sich besonders gefreut, und dann passierte das.

Sie war mit ihren Eltern und der Schwester in einem Gebirgsdorf in Frankreich angekommen. Die Nachmittagsgewitter waren zum Abend hin stärker geworden, und Annarosa war traurig, weil ein Geburtstag auf Reisen nicht schön ist. Auch bei Sonnenschein nicht. Sie hatte keine ihrer Freundinnen dabei, kannte außer der Familie niemanden, und sie verstand nicht, warum sie ausgerechnet in diesem Ort übernachten sollten, so hoch in den Bergen, so alt, fast wie in der Bibel, und auch so urtümlich und erhaben. Sie wusste als Kind diese Worte noch nicht, aber sie fühlte sie. Der Gasthof eine Trutzburg, mit dicken, nass glänzenden Mauern und gewölbten dunklen Gängen. Es roch modrig, und das Versprechen, dass die Reise gleich am nächsten Morgen weiter in Richtung Süden ans Meer gehen werde, tröstete sie wenig.

Nur das Gepäck für eine Nacht, einen Koffer und zwei kleine Taschen, hatten sie in ihr Zimmer bringen lassen. Zu viert würden sie in diesem einen Raum mit den hohen, grob verputzten Wänden schlafen. Es war klamm und kalt, im Sommer wurde nicht geheizt, auch wenn die Kinder mit den Zähnen klapperten. Annarosa beschloss, zum Schlafen zu ihrer Schwester Melissa ins Bett zu kriechen. Sie flüsterte ihr das ins Ohr, und Melissa, die Ältere, wollte noch überlegen, da sagte Annarosa schnell, sie wünsche sich das zum Geburtstag. Melissa lächelte und legte ihr den Arm um die Schultern. Eine gute große Schwester.

Zum Händewaschen goss die Mutter den Kindern Wasser, kalt wie geschmolzenes Gletschereis, in eine Schüssel. »Kommt direkt vom Nordpol« und »was einen nicht umbringt, macht stark«, sagte der Vater, lachte und rubbelte ihnen die kleinen steifen Finger wieder warm. Dann gingen sie gemeinsam in den großen Speisesaal.

Sie bestaunten die steil gewölbte Decke, die hohen Fenster und die Stühle mit den geschnitzten Lehnen und hatten sich gerade zu den anderen Gästen an den großen runden Holztisch gesetzt, den einzigen im Raum, da kam der Hahn.

Stolz, mit funkelndem Blick, schien er zu sagen »seht her, da bin ich!«. Obwohl er aufgeregt und in Not war. Der Hausherr, wohl gleichzeitig der Koch, trug ihn lächelnd einmal um den Tisch, zeigte Beifall heischend das kräftige Tier, ein Prachtexemplar. Genau richtig für ein feierliches Geburtstagsessen. Annarosa war entsetzt, weil der Mann jetzt den Hals des Tieres mit seiner kräftigen Hand weit zurückbog. So weit, dass der Hahn den Schnabel aufriss. Annarosa erstarrte vor Mitgefühl. Der Hahn funkelte sie an, ja, sie war ganz sicher, dass er ihr zugezwinkert hatte. Nur ihr, obwohl doch auch andere Leute am Tisch saßen.

Der Hahn hatte sie gemeint, vielleicht wusste er, dass sie es war, die Geburtstag hatte, sie die Ursache für das Festessen und seinen Tod sein würde, sie musste ihn retten. Stattdessen begann sie zu weinen.

Was dann kam, sah sie nicht richtig, obwohl sie mit weit aufgerissenen Augen dabeisaß. Ein Helfer, vielleicht ein Küchenjunge, ging zum Wirt, reichte ihm ein langes Messer, das nur kurz durch die Luft schwebte, und schon schoss ein Strahl sehr dunklen Blutes aus dem Hals des Hahns; eine Frau, aus dem Nichts erschienen, drückte ein Gefäß an die Wunde, um die schwarz-rote Flut aufzufangen.

»Doch nicht vor den Kindern«, hörte Annarosa ihre Mutter aus großer Ferne. Es klang entrüstet und zugleich ein bisschen hilflos.

Annarosa würde später keinen Bissen zu sich nehmen. Obwohl sie noch so klein war und gar nichts zur Rettung des Hahns hätte tun können, sah sie das Folgende als Strafe Gottes.

Nach dem Essen, der Regen hatte aufgehört, ein flackerndes Abendrot glühte durch die schmalen Fenster, gingen alle nach draußen, denn es gab ein großes Dorffest mit Musik und Feuerwerk, »extra dir zu Ehren«, sagte der Vater. Was Annarosa glaubte und sie stolz machte.

Die Luft war jetzt wieder sommerlich, wenn auch noch frisch, es roch sehr würzig, und gleich vor dem Tor des Gasthofs wurden sie von Menschenmengen mitgezogen, die zum Marktplatz strömten, wo das Feuerwerk gezündet werden sollte. Die Dunkelheit kam schnell, die Familie blieb eng zusammen, und sobald das Schieben und Drücken es zuließ, zog der Vater sie zu einem freien Platz an einer Hauswand, von der die Erwachsenen ungehinderten Blick auf das Geschehen hatten. Die Kinder reckten die Hälse und schauten in den Himmel.

Da passierte es. Gerade war die erste Salve in die Luft gegangen, hatte sich mit Geknatter, Krachen und scharfem Zischen in rotbunte Glitzersterne zerstäubt, die Menschen auf dem Platz riefen laut Ah und Bravo, da öffnete sich hinter Annarosa die Hauswand, sie schwankte und stürzte nach unten. Sehr tief, sehr schwarz, sehr still war es. Sie war weich gefallen, hatte sich nicht verletzt. Aber sie war wie gelähmt vor Angst. Erst nach einer Weile stand sie auf, zupfte die Strohhalme von ihrem Kleid, zur Feier des Tages hatte sie ihr weißes Kleid mit den aufgestickten Kirschen an, und wartete auf den Auftritt Gottes oder des Teufels. Vielleicht kamen ja beide, um über sie Gericht zu halten. Ich muss ordentlich aussehen, dachte sie und strich sich schnell die Haare aus dem Gesicht.

Sie wartete eine Ewigkeit. Nichts geschah.

Dann begann sie zu rufen, erst zaghaft, dann immer lauter. Jetzt hörte sie auch wieder ein Krachen, wie aus weiter Ferne. Und ein Raunen. Sie hatte große Angst. Alles wegen dieses schönen Hahns, der gestorben war, weil sie es nicht verhindert hatte. Alles, weil sie Geburtstag hatte.

Sie machte ein Gelübde.

Da öffnete sich plötzlich ein großes Tor, dasselbe, durch das sie zuvor in diesen alten verlassenen Stall gefallen war. Lärm schwallte herein, dahinter Menschen, die Mutter, der Vater, Melissa und viele, die sie nicht kannte. Alle sprachen in verschiedenen Sprachen durcheinander, jemand holte eine Fackel. Sie war gerettet. Und hatte die Warnung verstanden.

 

I

 

1

Manchmal endet eine Spanne Zeit mit einem Geräusch wie dem leisen Platzen einer Seifenblase oder, etwas lauter, dem Schnalzen der flachen Zunge am Gaumen. Und manchmal sind in dieser Zeit Dinge geschehen, die lange erinnert werden, die Eindrücke, manchmal tiefe Narben hinterlassen. Zwanzig Jahre waren vergangen, und Annarosa hatte nichts vergessen.

Auch ich war erwachsen geworden, hatte mein Studium abgeschlossen und arbeitete in der psychiatrischen Klinik der Universität. Ich war jedoch oft in der Stadt, in der Annarosa noch studierte, nie ganz zufällig. Auch wenn ich immer so tat, als ob. Ihr Studium würde noch dauern, sie war vier Jahre jünger als ich, und sie wollte den Dingen auf den Grund gehen.

Sie muss zu der Zeit schon diese ganzen Bücher gelesen haben, die dann viel, viel später zu mir, auf mich (wenn man die Belastung in Betracht zieht) gekommen sind. Dicke Wälzer über Zivilisationsgeschichte, Kulturgeschichte, Wirtschaftskritik, Das Prinzip Verantwortung und im Gefolge diese utopischen Weltrettungsmodelle.

Was studiert man, wenn man die Welt retten will? Annarosa hatte sich nach einigen Umwegen, die sie selbst sicher nicht so bezeichnet hätte, für Ethnologie entschieden, im Hauptfach. Sie würde die Menschen, nein, die Menschheit kennenlernen, meinte sie, wenn sie möglichst viele Völker verstand und erforschte. Ihr Professor war Universalienforscher und sah genau darin ein friedenstiftendes Potenzial. Annarosa war natürlich sofort überzeugt. Als Nebenfach (Luxus, wie sie sagte) hatte sie Archäologie gewählt. Auch da suchte sie nach Universalien, wollte etwas finden, das allen gemeinsam war. Nicht nur, was die Menschen der Gegenwart an verschiedenen Orten machten und wie sie es machten, wollte sie wissen, sondern dazu, im Vergleich, wie die Menschen früher gelebt hatten. Vielleicht, sagte sie, gebe es doch eine Verbindung zwischen uns allen, und wir hätten mehr Gemeinsames als Trennendes. Ich nickte nur.

Warum ich Psychologin geworden war, verstand jeder, der unsere Familie kannte. »Problematisch« ist wohlwollend formuliert. Schon vonseiten der mütterlichen Familie, den Nielsens, hatten wir ein gewaltiges Maß, mindestens eine Tonne, an Belastung und krankhaften Störungen vererbt bekommen. Ich konnte also gar nicht anders, als nach Erklärung und Heilung zu suchen. Das entwickelt sich manchmal wie bei einer Gewitterfront, die Probleme kumulieren wie Wolken, türmen sich auf, bis es kracht. Ich hätte der erlösende Platzregen sein sollen, der alles reinigt. Aber es fehlte der Temperaturunterschied. Wir waren uns zu ähnlich, und so war ich selbst oft nur Blitz und Donner, war Begleitmusik ohne Erlösung.

Ich heiße Melissa. Mit dem Namen hatte ich noch Glück, verglichen mit Annarosa. Auch wenn er nur durch das Unglück einer anderen auf mich kam. Die ältere Schwester der Mutter, nein, sie war nicht meine Tante, sie hatte nicht so lange warten können, hatte sich Jahre vor meiner Geburt das Leben genommen. Siebzehn war sie damals gewesen. Dass sie dadurch umgehend zur Familienheiligen werden würde, hatte sie sicher nicht geahnt oder gar beabsichtigt. Jeder fühlte sich ihr gegenüber schuldig. Ihre jugendlichen Depressionen, heute würde man sie wahrscheinlich als Bipolare Störungen diagnostizieren, nahm niemand ernst, und dann hat sie es allen gezeigt. Und ausgerechnet meine Mutter, die zu der Zeit ja noch niemandes Mutter war und einfach Linda hieß und die als Jüngste wirklich nichts hätte tun können, erkaufte sich später ihre Absolution, ihren Ablass, indem sie ihrer Erstgeborenen, also mir, den Namen dieser Schwester gab. Melissa, nicht übel – solange man die Geschichte dahinter nicht kennt. Nur unsere Mutter, nach Aussagen anderer selbst von Anfang an alles andere als stabil, war nach der ganzen Geschichte ängstlich und versteckte sich, als wir dann auf die Welt kamen, hinter einer Fassade aus Stärke und Strenge und beobachtete genau, ob auch alles richtig lief, wir alle »normal«, gesund und glücklich waren. Der Vater übernahm seinen Teil und war also doppelt besorgt, um seine Frau, deren Gefährdung ihm bekannt war, und um uns, seine Töchter. Ich konnte mich durch die Wahl meines Berufes befreien, war zur Fachfrau für die seelische Gesundheit meiner Familie aufgestiegen. Ich würde mich ja jetzt auskennen, dachten sie und strichen mich aus ihrem Sorgenkinder-Fürbittenverzeichnis. Spätestens ab da blieb alles an Annarosa hängen. Kein Wunder, dass sie schlechte Karten hatte. Alle Ängste, alle Fürsorge konzentrierten sich auf sie. Aber sie hatte mich. Ich habe meine kleine Schwester schon als Kind nur dann beschützt, wenn sie das wollte, und später, als sie meinen Schutz nötig hatte, aber nicht mehr darum bitten konnte (warum auch immer), habe ich gelernt, es sie nicht spüren zu lassen. Jetzt ist das vorbei. Ich kann sie nicht mehr beschützen.

Mit ihrem Namen hatte Annarosa mehr Pech. Bei ihr stritten die beiden Großmütter derart eifersüchtig um die Vererbung ihres Namens, dass unsere Eltern sich für einen Kompromiss entschieden und aus Anna und Rosalind kurzerhand Annarosa komponierten. Was wir Mädchen beide sehr schrecklich fanden. Aber Annalind oder Rosanna wäre noch furchtbarer gewesen, in unseren Augen.

Annarosa hat dann an sich gearbeitet. An ihrem Mut und an ihrem Namen. Wenn man Annarosa hieß, gab es nur eine Rettung. Anna alleine war schön, klang nach Blau, war aber zu häufig und würde zu Verwechslungen führen, fanden wir. Rosa kam überhaupt nicht in Frage. Würde nach kleine Mädchen, zickig und Weichspüler klingen, sagte meine Schwester. Keine Frau mit einem Funken Verstand würde sich freiwillig Rosa nennen. Ein schwuler Mann, ja, um ein Zeichen zu setzen, so wie eine lesbische Frau sich vielleicht Lila nennt. Ihr blieb nur diese eine Möglichkeit. Das große R in der Mitte. AnnaRosa. Ich fand das gut. So konnte sie die von den Eltern erzwungene Verbindung der beiden Großmütter zwar nicht aufheben, aber am Schnittpunkt sichtbar machen. Alle stolperten darüber, und ihr machte es Spaß. Sonst hatte sie nicht viel zu lachen, es war eher so, dass die anderen über sie lachten, über ihre Sicht der Welt und ihre Art, die Probleme des Daseins, die diese anderen gar nicht oder anders sahen, zu bekämpfen.

Deshalb war es gut, dass ich da war.

Vor Jahren, als unsere Eltern eines Tages nicht mehr über sie lachen konnten, sie AnnaRosas Sicht der Welt nicht mehr lustig fanden, steckten sie das Mädchen, sie war damals knapp fünfzehn, in eine Nervenheilanstalt. Was aber nichts änderte. Oder vielleicht doch. Irgendwie war AnnaRosa danach erst richtig wunderlich geworden. Vielleicht hatte das aber auch mit dem darauffolgenden Umzug zu tun.

Wenn man ihren Namen hörte, kam man nicht auf die Idee, dass AnnaRosa noch jung war. Fünfundzwanzig Jahre. Auch wenn sie sprach, vor allem mit Fremden, legte sich ihrem Gegenüber das Wort gesetzt auf die Zunge. Ihre Ansichten, ihre Vorlieben, ihr Lebensstil ließen sie wie ein Relikt aus einem anderen Jahrhundert erscheinen, ein Fossil. Und ich selbst kam mir manchmal vor wie eine sehr viel jüngere Schwester.

Wer kannte schon eine Frau, die mit fünfundzwanzig noch nie in einem Club gewesen war. Noch nie in einem Fitnesscenter. Die keine laute Musik mochte und keine Schnelligkeit, die abschätzig, ja ablehnend auf die vielen elektronischen Geräte schaute, die unser Leben erleichtern und bunt machen (sie selbst wählte sehr genau, was sie für ihre Zwecke benützte). Die genau drei Eskapaden, wie sie es nannte, mit Männern hinter sich hatte, glücklicherweise, wie sie betonte. Eine Frau, deren Lebensmotto lautete: brauch ich nicht, mach ich alleine, kann ich selbst am besten.

Was sichtlich nicht stimmte. Man musste nur einen Blick auf ihre selbst gestrickten Pullover, ihre gewebten und genähten Röcke und vor allem auf ihre in Wochenendworkshops hergestellten Schuhe werfen. Sie sah aus wie die Bewohnerin eines Flüchtlingscamps oder wie einem Flyer entsprungen, der zur Rettung indigener Völker aufruft. Alles Natur, Wolle, Baumwolle, echt Leder, sehr schöne Farben – aber nichts passte ihr, alles schlotterte, flatterte, wirkte grob, vor allem die Schuhe. Wir haben uns in der Familie oft über ihr Aussehen lustig gemacht, ja, sie manchmal direkt ausgelacht. Andere dachten wohl einfach: Schade um diese schöne junge Frau. Denn tatsächlich war sie eine hübsche junge Frau. Was ich erst jetzt überdeutlich sehe. Sie hat mir einen Karton mit Fotografien hinterlassen. Jemand (dieser B. vielleicht?) muss eine ganze Serie Aufnahmen von ihr gemacht haben. Nahaufnahmen in Schwarz-Weiß von ihrem Gesicht, der Augen­partie. Wie eine Landschaft mit glasklarem See, tiefes Schwarz in der Mitte, der Schwung des Augenlids die Wiederholung der gewölbten Braue. Auf anderen Bildern meine Schwester in irgendeiner Stadt als elegant anmutende Frau, in einem (für ihre Verhältnisse) engen Rock mit feminin geschnittener Bluse. Und noch ein Bild, meine Schwester im Bikini! Mit nassen, nach hinten fließenden Haaren. Sie lächelt glücklich (verliebt?) in die Kamera. Man sieht ihr Grübchen auf der linken Wange. Sie hatte nur eines, und das nicht von Geburt an, sondern von mir. Das hatte eine eigene Geschichte. Ich drehte das Bild um. Für meine Amorosa, aha, dachte ich, also doch.

Für AnnaRosa war jede Geschichte ein Geschenk (für das Drehbuch des Lebens, wie sie einmal lachend sagte), also das Beste, was einem Menschen passieren konnte, selbst wenn sie schlecht ausging. Für mich jedenfalls war diese Geschichte mit dem Grübchen damals nur schrecklich. Sie war elf Jahre alt, ich gerade fünfzehn geworden, wir waren als Familie wieder einmal unterwegs nach Südfrankreich, und an irgendeinem kleinen, für uns immer namenlos gebliebenen Nebenflüsschen der Yonne machten wir Pause. Die Gegend war mückenreich, was wir sofort, und der Fluss fischarm, was wir erst später feststellten. Nach der kurzen frugalen Mahlzeit legten sich die Eltern unter einem Moskitonetz schlafen, während AnnaRosa und ich mit der neuen Angel loszogen. Eigentlich war es ihre, sie hatte sie vom Vater zum Geburtstag bekommen. Wir hatten beide keine Ahnung vom Angeln (die Einführung stand für Vater erst später auf dem Programm), aber ich als Ältere musste natürlich so tun, als ob. »Schau, so macht man das«, rief ich, holte mit weitem Schwung aus, um die Schnur mit Senkblei, dem Angelhaken und unserem Brotkügelchen möglichst weit in die Mitte des Flusses zu werfen. In dem Moment schrie AnnaRosa hinter mir auf, nicht aus Begeisterung. Das war mir sofort klar, als ich mich umdrehte. Sie hatte den Angelhaken ins Gesicht bekommen, er steckte mitten in der Wange. Natürlich kamen die Eltern sofort. Sie sahen, wie sie später immer wieder erzählten, eine sich vor Lachen biegende AnnaRosa, die das Ganze unglaublich komisch fand. Offensichtlich tat es ihr nicht so weh wie uns allein der Anblick. Ich selbst war wie gelähmt, aus der Stelle, in die sich der Haken gebohrt hatte, lief das Blut in einem dünnen Rinnsal neben ihrem Mund das Kinn entlang. Das Blut erschreckte mich, und auch AnnaRosas Lachen – und meine Schuld. Der Schlag des Vaters in mein Gesicht tat gut (erst später begriff ich, dass es eine Schockreaktion in bester Kombination mit seinem Jähzorn war) und holte mich zurück. Wir mussten den Haken von der Angelschnur abschneiden, der kleine Widerhaken steckte zu fest. Und beim Versuch, ihn herauszuziehen, hatte AnnaRosa begonnen zu schreien. Die Mutter bekam fast einen Nervenzusammenbruch und konnte sich auch nicht beruhigen, nachdem in der nächsten Kleinstadt ein Arzt den Haken schon längst entfernt, die Wunde versorgt und AnnaRosa mit Pflasterverband und einem Vorrat an Desinfektionsmitteln entlassen hatte. Es hätte ins Auge gehen können, lamentierte sie, es hätte einen Nerv treffen, eine Blutvergiftung hervorrufen … hätte, hätte, hätte. Nichts von alldem war und nichts von alldem kam.

Nur dieses Grübchen blieb, das in den folgenden Jahren mit AnnaRosa mitwuchs und eigentlich eine Narbe war.

 

2

Ach, November, man kann so leicht umkommen. Genau die Zeit zu sterben. AnnaRosa litt und ergriff jeden Strohhalm, um nicht unterzugehen. Natürlich konnte Melissa, die begleitende Wolke, die Allgegenwärtige, nicht alles wissen. Auch wenn AnnaRosa ihr so vieles anvertraute und auch wenn Melissa als Psychotherapeutin anderes erforschte, erkannte und als Schwester erahnte. Also vieles von dem wusste, was in AnnaRosa vorging. Das, was vorwiegend nachts über AnnaRosa herfiel, diese grauenhafte Welt-Endzeit-Angst im Paartanz mit schmerzhaften Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühlen, die wiederum der niederdrückenden übermächtigen Verantwortung für diese Misere der Welt entsprangen, konnte sie niemandem schildern. Auch dass sie sich in diesen Nächten mit Beruhigungsmitteln, Tabletten und Tropfen ungeklärter Provenienz ihr Überleben bis zum nächsten Morgen sicherte, behielt sie für sich. Das heißt, sie schrieb es auf, für wen auch immer.

Melissa hatte, zusammen mit den Eltern, AnnaRosa zum Geburtstag eine Jahreskarte für die städtischen Bäder gekauft, das beste Geschenk überhaupt, und AnnaRosa freute sich, denn Schwimmen kann retten, hatte sie bis dahin immer gerettet. Im Sommer war sie nicht gefährdet, da ging sie nur zum Vergnügen, wenn irgendwie möglich, ins Außenbecken, wo sie dann wie ein Pfeil das blaue Rechteck des Beckens durchtrennte, immer und immer wieder, mindestens vierzig Bahnen, und sich anschließend nackt auf die durch einen hohen Zaun aus Bambusmatten vor Spähern geschützte Liegewiese für Freikörperkultur legte. Das ist Paradies, dachte sie dann, und: Es kann so einfach sein.

Doch im November war Schwimmen notwendige Therapie, half gegen das Gefühl, senkrecht nach unten aus der Welt zu fallen, auch Depression genannt. AnnaRosa lief schnell und hielt sich an ihrem Beutel mit den Schwimmsachen fest wie an einem in die Luft steigenden Ballon, ja, sie war wieder einmal so weit und wollte nicht abstürzen. Sie hatte ein Seminar geschwänzt und ging, in eine dieser interessant anmutenden Wollformationen (Ausdruck von Melissa) gehüllt, am späten Nachmittag, es wurde bereits nebelgraudunkel, ins Volksbad. Schon kurze Zeit später tauchte sie ins Wasser, schwamm entspannt, ja selig, die ersten Züge und war entkommen. Und wurde gleich übermütig.

Sie begann ihre Spielchen mit anderen Badegästen zu treiben, fingierte Wettschwimmen, die sie genau dann abbrach, wenn der andere (meist waren es Männer) sich darauf eingelassen hatte und verbissen sein Letztes gab, um als Erster anzukommen. Dann drehte sie sich in schnellen Pirouetten, verharrte anschließend reglos auf dem Rücken treibend und schwamm nach einer Weile, innerlich lachend, gemächlich in der Gegenrichtung davon.

An diesem Tag erfand sie etwas Neues, sie schwamm direkt auf jemanden zu, der auf ihrer Bahn entgegenkam. Sie gab vor, blind zu sein, ihn nicht zu sehen, obwohl sie ihm direkt ins Gesicht schaute. Es war viel Betrieb, und ihr Gegenüber konnte nicht ausweichen, sie wartete, bis sie fast zusammenstießen, dann tauchte sie blitzschnell in die Tiefe und schwamm unter den anderen weiter. In dieser Sphäre war es schön, sie war allein, unter ihr die hellblauen Fliesen, weit über ihr zappelnde und zusammenschlappende Beine. Verschwommene und verschobene Proportionen, ein Gefühl wie im Weltall. Die Geräusche gedämpft wie nach einem Hörsturz (sie hatte nie einen gehabt, aber genau so stellte sie sich das vor). Hier möchte ich bleiben, dachte sie, und erst als sie dringend Luft holen musste, tauchte sie auf, enttäuscht über ihre körperliche Unzulänglichkeit, und reihte sich erneut ein in die geordneten Bahnen.

Sie schwamm weiter und war jetzt wieder in ihrer Welt, das Wasser ein umhüllender Kokon für ihre Gedanken. Seit sie in diesem Seminar war, hatte sie auch da ein neues Spiel. Sie merkte, dass der Dozent ein Auge auf sie geworfen hatte. Sie wusste nur nicht, was dahintersteckte. Ja, er sah gut aus, sympathisch, mit diesem ernsten Blick unter den dunklen Brauen, aber er war Äonen älter, einfach die falsche Epoche, und trotzdem schaute er sie auf diese Weise an. Das machte sie unsicher, aber sie würde es ihm zeigen. Sie zeigte es ihm jetzt schon. Hatte es bereits mehrmals erfolgreich ausprobiert. Nachdem er eine Frage in den Raum gestellt hatte, wartete sie, bis jemand sich meldete – und hob unmittelbar danach auch ihre Hand. Sofort wurde sie aufgerufen. Darauf ließ sie lächelnd dem oder der anderen den Vortritt, sagte nein, du warst zuerst und lehnte sich zurück, bis die Frage (meistens richtig und gut) beantwortet war, dann sagte sie, immer noch lächelnd, ja, genau das wollte ich auch sagen …

Und genoss das Gesicht des Dozenten. Er schien sich darüber zu freuen, dass sie so Anteil nahm und offensichtlich klug war, und hätte sie doch gerne selbst reden hören, sich versichert, dass sie nicht bluffte. Aber sie gab ihm keine Chance. Sie waren ja nicht in der Schule, wo er wahllos jemanden ohne Wortmeldung hätte aufrufen können. Das gab ihr die Gelegenheit, ein bisschen mit ihm spielen. Er wusste ja gar nichts über sie, nicht einmal, warum sie in diesem Seminar saß, dass sie ihre eigenen Ziele hatte und nur blieb, solange es ihr gefiel.

Es war ruhiger geworden im Becken, AnnaRosa konnte eine Runde Schmetterling schwimmen. Außerdem, dachte sie, jetzt schnell atmend, gab es da etwas, das sie ihm ausgesprochen übel nahm. Er (als Archäologe!) kam jeden Tag mit einem roten Sportwagen in die Uni. Welche Marke, wusste sie nicht, auch diesbezüglich lebte sie hinter dem Mond, aber sie fand das geschmacklos. Die Uni lag direkt an einer U-Bahn-Station und an der Schnittstelle von drei Buslinien. So abseits konnte er gar nicht wohnen. Irgendwann einmal würde sie ihn darauf ansprechen, ihm ihre Meinung über Verkehr und Verantwortung, die eine ausgefeilte und wiederholt vorgetragene war, unter die Nase reiben oder ihm einen anonymen Brief schreiben. Ihn fragen, was er sich dabei dächte. Mit einem Sportwagen!

Vielleicht war er ja ein bornierter Schwachkopf. Verantwortungslos, eitel, ein egoistischer Macho. Dann würde sie sich erst recht etwas einfallen lassen.

Sie schwamm noch ein paar Bahnen Brust, die beiden letzten in sehr schnellem Tempo, prestissimo, wie sie sich selbst anfeuerte. Dann ließ sie sich eine Runde auf dem Rücken treiben, fast ohne sich zu bewegen, spürte ihre Haare um den Kopf schweben, stellte sich vor, sie würden sich lösen und strahlenförmig von ihrem Kopf aus losschwimmen, und sie würde kahl aus dem Becken steigen.

Die Treppe war blockiert, ein paar Damen, die aussahen wie eine Gruppe russischer Babuschkas, warteten genau hier auf den Beginn ihrer Wassergymnastik. AnnaRosa, stärker, als man es ihrer zierlichen Gestalt zugetraut hätte, zog sich gegenüber am Rand hoch und stieg aus dem Becken. Eigentlich hießen sie ja Matrjoschkas, hatte sie gelesen, und während sie sich unter der Dusche den Badeanzug vom Körper streifte, fragte sie sich, wie es wäre, wenn in jedem Menschen ein kleinerer wohnen würde, und in dem ein noch kleinerer, alle ganz komplett und lebensfähig, man müsste sich dann nur in der Mitte aufdrehen lassen …

Als sie sich bückte, um ihren Badeanzug aufzuheben, prasselte auf einmal eiskaltes Wasser auf ihren Rücken. Sie schoss hoch.

Kerstin lachte sich fast kaputt. AnnaRosa war zuerst wütend, dann musste auch sie lachen. Sie wusste, wie sie aussah, nackt, mit rotem Rücken, das Wasser war schön heiß gewesen, die Haare ins Gesicht geklatscht, den triefenden Badeanzug in der Hand. Seit fast zwei Jahren wohnten sie schon zusammen. Kerstin. Sie hatte damals einen Zettel mit ihrer Telefonnummer ans Schwarze Brett in der Mensa geheftet, zehn einzelne Papierfransen zum Abreißen. Sie hatte ein helles Zimmer in Zweierwohngemeinschaft, für Frau angeboten. AnnaRosa hatte sie beobachtet und sie sofort angesprochen. Auch damals hatten sie gelacht. Sie hatten den Zettel mit allen Fransen und Telefonnummern gleich wieder mitgenommen, AnnaRosa hatte das Zimmer angeschaut und war zwei Wochen später eingezogen.

»Gehst du oder bist du auch gerade gekommen?«

»Ohne Badeanzug werde ich ja wohl kaum schwimmen«, sagte AnnaRosa. Kerstin war Physiotherapeutin, groß, durchtrainiert und wie prädestiniert, Keulen und Körper zu schwingen, dabei aber attraktiv, mit langen, leicht rötlich schimmernden blonden Haaren und Sommersprossen. Heute sei sie am Ende, sagte sie. Die Leute würden immer schwerer, und sie habe einen Mann mit Knieproblem behandelt. »Der hatte einen Oberschenkel vom Format dieser Frau da drüben. Ja, wie die ganze Frau.« Kerstin zeigte unauffällig auf eine dralle Frau unter der gegenüberliegenden Dusche. AnnaRosa schaute ungläubig. Beide kicherten.

Kerstin arbeitete an der Uniklinik, das Team war engagiert, aber wenn einer fehlte, wurden die Arbeitszeiten für die anderen unerträglich lang. Zurzeit war ständig jemand krank, und Kerstin versuchte sich gegen die kursierende Erkältungswelle abzuhärten, sonst ging sie nicht oft schwimmen, der Eintritt war ihr zu teuer. Außer für Kurzschwimmen oder für die letzte Stunde vor Kassenschluss. AnnaRosa musste, wenn sie ehrlich war, zugeben, dass Schwimmen für sie auch seinen Reiz hatte, wenn sie alleine ihre Bahnen zog. Mit Kerstin hatte es einen anderen Geschmack. Sie redeten dann viel, schwammen nebeneinanderher, und aus Solidarität ging AnnaRosa mit, wenn Kerstins Frist von zwei Stunden abgelaufen war. Obwohl sie selbst unbegrenzt hätte bleiben dürfen. AnnaRosa verzichtete auch auf ihre Spiele, sie hatte Kerstin nie davon erzählt, so etwas kitzelt nur, wenn man es heimlich macht.

Sie duschten, die eine mit, die andere ohne Shampoo, dann schlang AnnaRosa ein großes Badehandtuch um sich, gab Kerstin einen Klaps, wünschte gute Erholung und ging in Richtung der Kleiderspinde und Umkleidekabinen. Kerstin schlüpfte hinter einer anderen Frau durch die Glastür zur Schwimmhalle.

 

3

Sie war ihm gleich aufgefallen. Und dass AnnaRosa nicht in ihre Zeit passte, muss auch er gedacht haben, als er sie das erste Mal in seiner Vorlesung sah. Wäre es ihm gelungen zu verdrängen, dass er fast zwanzig Jahre älter als sie war, hätte er sie etwas gefragt.

Dr. Bruno Maurus war außerplanmäßiger Professor der Archäologie. Interessierte er sich deshalb für das »Fossil«? Er wusste es selbst nicht, er ertappte sich immer wieder dabei, wie er sie studierte. Schon seit zwei Semestern, sie machte das hier nur im Nebenfach, das wusste er mittlerweile. Jetzt hatte sie sich in sein Seminar eingeschrieben. Rotfigurige Vasen aus Unteritalien und Sizilien. Untersuchungen zur Kulturgeschichte, Ikonografie und Mythologie. Sie konnte so verzückt schauen. Im Profil gesehen würde sie selbst gut auf eine solche Vase passen. Er versuchte, nicht daran zu denken.

Stattdessen versuchte er sich auf den Stapel Bücher zu konzentrieren, der bereits vor ihm auf dem Tisch lag. Fabian, Student im fünften Semester und sein Assistent – Bruno Maurus mochte das Wort Hiwi (das Kürzel für Hilfswissenschaftlicher Mitarbeiter) nicht – schleppte immer mehr Bücher herbei, die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern seines Seminars als Erweiterung des Handapparats zur Verfügung stehen sollten. Die wichtigsten Titel waren schon seit Semesterbeginn bereitgestellt, aber es fehlten noch einige Spezialbereiche. Bruno Maurus würde also prüfen, auswählen und einen Teil der Aufsätze von Fabian scannen lassen, für die elektronische Version, die viele mittlerweile ausschließlich nutzten, obwohl er als Dozent immer betonte, dass das nur eine schmale Auswahl der in Buchform angebotenen Titel sei. Schon war er in Gedanken wieder bei dieser Studentin, genau bei dieser war er sich sicher, dass sie ausschließlich die Bücher bearbeitete. Sie machte auch im Seminar, wenn überhaupt, nur Notizen auf Papier, er hatte sie noch nie mit einem Notebook oder Tablet gesehen. Er ertappte sich bei dem verführerischen Gedanken, einen sehr interessanten Aufsatz zurückzuhalten, nicht scannen zu lassen, um ihr einen Vorteil zu verschaffen. Doch sofort schämte er sich. Die Luft in der Bibliothek war wie immer schlecht, abgestanden und trocken. Bruno Maurus stand auf, wischte sich bestimmte Gedanken aus dem Kopf, öffnete das einzige Fenster und stellte sich in den frischen Luftstrom. Draußen nasskaltes Nieseln aus grauer Watte.

Er hatte eine Ehe und viele Trennungen hinter sich. Die letzte lag länger als ein Jahr zurück, und es hatte gedauert, bis er seine Freiheit wieder schätzen gelernt hatte. Er liebte Frauen (Mehrzahl), er liebte seine Arbeit, und er liebte Gedichte. Das sagte er nicht jedem. In seinem Kopf war das etwas Weibliches. Seine Mutter hatte Gedichte geschrieben und manchmal bei Tisch, nach dem Essen, vorgelesen. Das fand er als Jugendlicher ungeheuer peinlich. Weil er aber seine Mutter liebte und auch Angst vor der Reaktion seines Vaters hatte, der sie ebenfalls liebte und nicht zugelassen hätte, dass sie von ihrem eigenen Sohn beleidigt würde, hatte er sich jeden Kommentar verkniffen. Verkrampft, mit angehaltenem Atem hatte er zugehört, immer das Ende ihres Vortrags herbeigesehnt, und war jedes Mal erleichtert gewesen, wenn er es erreicht hatte, ohne eine Miene zu verziehen. Die anschließenden Gespräche, Vaters Kommentare und die Erklärungen der Mutter, waren und blieben Sache der Erwachsenen. Er konnte aufstehen und weggehen, ohne unhöflich zu erscheinen.

Bruno streckte sich, schloss das Fenster und ging zu seinem Platz zurück.

In der Schule hatten sie über Rilke, Brecht und Benn gesprochen, also Männer, die Gedichte schrieben, aber für ihn blieben sie fremd, ja fremdartig. Eine andere Spezies.

Erst viele Jahre später erkannte er, dass die – zugegeben sehr emotionalen – Naturgedichte seiner Mutter durchaus »etwas hatten«, und begann, zunächst verschämt, selbst Gedichte zu schreiben.

Mittlerweile hatte er seine Kreise gefunden, im Lyrik-Kabinett kannte man ihn als ruhigen Zuhörer, keiner wusste, wer er war. Von seinen Studenten und Studentinnen hatte sich bisher noch niemand dorthin verirrt, darüber war er froh. Und auch über die Möglichkeiten, die Online-Kurse boten. Mit seinem Decknamen, es war ein weiblicher, eingeloggt, fühlte er sich wie unter einer Tarnkappe, frei und unbeobachtet, traute er sich mehr zu, seine Beiträge wurden mutiger, gewagt, das letzte Echo, das er bekommen hatte, las sich fast wie eine Laudatio. Das war nach einer Schreibnacht zum Thema Sonne und Gestirn. Müde, aber glücklich war er am nächsten Morgen, seinem vorlesungsfreien Tag, summend mit einem Glas Sekt durch die Wohnung geschlendert. Vielleicht genauso glücklich wie seine Mutter, als sie einmal bei einem Preisausschreiben eine Reise nach Rom gewonnen hatte.

Angefangen hatte alles vor vielen Jahren mit Sappho, der er erst einmal mit archäologischer Neugier begegnet war. Dann nahm ihn das Thema gefangen. Die Liebe zwischen Frauen, der älteren Erzieherin und dem Mädchen. Er liebte den Gedanken, in dieser Konstellation dabei zu sein. Aber vielleicht steckte dahinter nur der Wunsch, als Mann gleichzeitig mit zwei Frauen … Er war gerne Mann, hatte Glück, sah gut aus und liebte das Jagen, das Niederringen, dann den Genuss. Vielleicht machte gerade das seine erotische Ausstrahlung aus. Frauen, die ihm zuflogen, gefielen ihm nicht immer, viele enttäuschten ihn, fantasielose Körper und Gedanken. Die Gespräche dann entsprechend. Aber er genoss es, die Auswahl zu haben.

Diese Studentin hatte offensichtlich keinen Blick für ihn. Vielleicht gab es schon jemand anderen. Mit Sicherheit. Aber der musste dann auch ein komischer Vogel sein. Oder jemand, der hinter Kulissen sehen konnte.

Bruno Maurus sagte seinem Assistenten, er müsse noch einmal weg, Fabian solle alles so liegen lassen, die eingemerkten Aufsätze in den beiseite gestellten Büchern bitte scannen. Gegen Abend, nach dem Seminar, würde er dann noch einmal vorbeikommen.

Kaum aus dem Zimmer, war er wieder bei »seiner« Studentin. Natürlich wusste er ihren Namen, aber in seiner Gedankenwunschwelt war sie noch etwas Amorphes, Verschwommenes, das er nicht benennen wollte. Er lief draußen durch den grauen Nieselregen und nahm außer seinen Schuhspitzen, die schon nach kurzer Zeit vor Nässe glänzten, nichts wahr. Nur das rhythmische Auf und Ab der abgerundeten Dreiecke, dunkle Flächen, links, rechts, links, rechts. Sie sah ein bisschen aus wie diese junge Frau mit Griffel auf dem Wandgemälde von Pompeji. Sie schaute ihn immer direkt an, genau in die Augen, ohne zu blinzeln oder irgendwie Unsicherheit zu zeigen. Offene helle und doch unergründliche Augen, manchmal mit tiefen Schatten darunter, die sie verletzlich aussehen ließen. Vielleicht arbeitete sie nachts, um sich ihr Studium zu finanzieren. Das machten viele. Als Bedienung in Kneipen, als Zeitungsausträger oder irgendwo an der Kasse. Die wenigen Assistentenstellen der Universität waren in fester Hand der Doktoranden. Sie machte bestimmt irgendetwas, das nicht gut bezahlt wurde.

Er schaute immer als Erster weg, täuschte vor, sich um seine anderen Studenten und Studentinnen zu kümmern. Er täuschte vor, in Wirklichkeit zählte in diesem Seminar nur, was sie sagte, wie sie schaute, was sie dachte – über ihn.

Manchmal gab er die Hoffnung auf, das jemals zu erfahren. Manchmal dachte er auch, dass es ihm nicht zustand. Sie war so jung.