cover
Titelseite

 

Für Brenna, die gut darin ist, Dinge zu finden

Düster in das Dunkel schauend
stand ich lange starr und grauend,
Träume träumend, die hienieden
nie ein Mensch geträumt vorher …

 
EDGAR ALLAN POE
 
 
 
Denn ein Träumer ist, wer seinen Weg nur im Mondschein finden kann, und seine Strafe ist, daß er vor der übrigen Welt den Tag grauen sieht.
 
OSCAR WILDE

PROLOG

Blue Sargent wusste mittlerweile schon gar nicht mehr, wie oft ihr gesagt worden war, dass sie ihrer wahren Liebe den Tod bringen würde.

Ihre Familie verdiente ihr Geld mit Weissagungen. Diese waren jedoch meist nicht allzu konkret. Beispielsweise: »Ihnen wird heute etwas Schreckliches zustoßen. Möglicherweise spielt dabei die Zahl sechs eine Rolle.« Oder: »Sie werden zu Geld kommen. Empfangen Sie es mit offenen Händen.« Oder: »Eine wichtige Entscheidung liegt vor Ihnen und sie wird sich nicht von alleine treffen.«

Die Menschen, die zu dem kleinen, hellblau gestrichenen Haus im Fox Way kamen, störten sich nicht an der ungenauen Natur dieser Prophezeiungen. Im Gegenteil, so wurde das Ganze zu einem Spiel, zur Herausforderung, den exakten Moment zu erkennen, in dem das Schicksal sich erfüllte. Wenn also zwei Stunden nach dem Wahrsagertermin eines Kunden ein Wagen mit sechs Insassen in dessen Auto krachte, so konnte dieser gleichermaßen wissend und befreit nicken. Wenn der Nachbar einer anderen Kundin anbot, ihr den alten Rasenmäher abzukaufen, dann fiel ihr das Versprechen, dass sie zu Geld kommen würde, wieder ein und sie hatte das Gefühl, der Handel sei genauso vorhergesagt worden. Und wenn ein dritter Kunde von seiner Frau ermahnt wurde: »Das ist eine wichtige Entscheidung«, dann dachte er daran, dass er dieselben Worte schon von Maura Sargent über einem Tisch voller Tarotkarten gehört hatte, und ging die Sache umso energischer an.

Doch ihre ungenaue Natur beraubte die Prophezeiungen auch eines Teils ihrer Macht. Traten sie ein, so ließ sich das ebenso als purer Zufall abtun. Sie waren für nicht viel mehr als ein Schmunzeln auf dem Supermarkt-Parkplatz gut, wenn einem wie versprochen ein alter Freund über den Weg lief. Einen Schauder, wenn auf der Stromrechnung die Zahl siebzehn auftauchte. Die Erkenntnis, dass sich, selbst wenn man seine Zukunft kannte, nichts am Leben in der Gegenwart änderte. Sie spiegelten die Wahrheit wider, aber nun einmal nicht die ganze Wahrheit.

»Eins müssen Sie wissen«, erklärte Maura neuen Kunden stets, »was ich Ihnen nun erzähle, wird zwar korrekt sein, aber nicht konkret.«

So war es einfach leichter.

Blue jedoch hatte diesen Satz nie zu hören bekommen. Immer wieder war ihre Hand ergriffen, das Liniengeflecht darauf studiert worden, waren ihre Karten aus einem Satz mit schon ganz samtig weich abgegriffenen Rändern gezogen und auf dem flusigen Teppich im Wohnzimmer ausgebreitet worden. Man hatte ihr den Daumen auf das mystische unsichtbare dritte Auge gepresst, das angeblich jeder zwischen den Brauen trug. Es waren Runen geworfen und Träume gedeutet, Teeblätter gelesen und Séancen durchgeführt worden.

Doch alle Frauen hatten ihr stets dasselbe versichert, unverblümt und unerklärlich konkret. Jede war, auf ihre ganz eigene hellseherische Weise, zu folgendem Schluss gekommen: Wenn Blue ihre wahre Liebe küsste, dann würde dieser Junge sterben.

Lange Zeit ließ die Warnung Blue keine Ruhe. Ja, konkret war sie schon, aber eben auf eine Art, wie es auch Märchen waren. Sie enthüllte nicht, wie der Junge sterben würde. Oder wie lange er nach dem Kuss noch zu leben hatte. Musste es ein Kuss auf die Lippen sein? Oder würde ein keusches, flüchtiges Küsschen auf den Handrücken sich als genauso tödlich erweisen?

Bis zu ihrem elften Lebensjahr war Blue davon überzeugt, dass sie sich unbemerkt mit einer ansteckenden Krankheit infizieren würde. Und wenn ihre Lippen dann die ihres hypothetischen Seelenverwandten nur einmal streiften, würde auch er langsam seinem Ende entgegensiechen und selbst die moderne Medizin wäre machtlos. Mit dreizehn entschied Blue, dass es stattdessen Eifersucht sein würde, die ihn das Leben kostete – bei ihrem ersten Kuss würde plötzlich ein Exfreund auftauchen, verrückt vor Liebeskummer, in der Hand eine Pistole.

Mit fünfzehn kam Blue zu dem Schluss, dass Tarot nichts als ein albernes Kartenspiel war und die Träume ihrer Mutter und der anderen Wahrsagerinnen eher durch hochprozentige Cocktails als überirdischen Scharfblick befeuert wurden und sie daher der Prophezeiung keinen besonderen Glauben schenken musste.

Doch im Grunde wusste sie es besser. Was im Fox Way vorausgesagt wurde, mochte vielleicht nicht sonderlich konkret sein, aber es entsprach unbestritten der Wahrheit. Ihre Mutter hatte im Traum Blues gebrochenes Handgelenk an ihrem ersten Schultag vorhergesehen. Ihre Tante Jimi hatte Mauras Steuerrückzahlung bis auf zehn Dollar genau prophezeit. Und ihre Cousine Orla fing jedes Mal an, ihren Lieblingssong zu summen, ein paar Minuten bevor er im Radio lief.

Niemand in ihrem Zuhause zweifelte je ernsthaft daran, dass es Blue vorbestimmt war, ihre wahre Liebe mit einem Kuss zu töten. Doch dieses drohende Unheil schwebte schon so lange über ihren Köpfen, dass es seinen Schrecken verloren hatte. Dass die sechsjährige Blue sich eines Tages verlieben würde, war eine so abwegige Vorstellung, dass sie schon fast an Einbildung grenzte.

Und mit sechzehn hatte Blue sich sowieso vorgenommen, sich niemals zu verlieben, also schien das Problem fürs Erste gelöst.

Aber ihre Entschlossenheit wurde auf die Probe gestellt, als Neeve, die Halbschwester ihrer Mutter, der Kleinstadt Henrietta einen Besuch abstattete. Neeve war damit berühmt geworden, dass sie in aller Öffentlichkeit praktizierte, was Blues Mutter im Stillen ausübte. Mauras Sitzungen fanden zu Hause in ihrem Wohnzimmer statt und ihr Kundenstamm beschränkte sich weitgehend auf die Einwohner Henriettas und des umliegenden Tals. Neeve hingegen war als Medium jeden Morgen um fünf Uhr im Fernsehen zu bewundern. Sie hatte eine Website, auf der sie dem Betrachter mit durchdringendem Blick von alten, weichgezeichneten Fotos entgegenstarrte. Außerdem prangte ihr Name auf den Umschlägen von gleich vier Büchern über das Übernatürliche.

Blue hatte Neeve nie kennengelernt, darum gründete ihr Wissen über ihre Halbtante lediglich auf einer flüchtigen Suche im Internet und nicht auf persönlicher Erfahrung. Sie war nicht ganz sicher, warum Neeve überhaupt zu ihnen kam, doch sie ahnte, dass ihre bevorstehende Ankunft der Grund der unzähligen geflüsterten Gespräche zwischen Maura und ihren beiden besten Freundinnen Persephone und Calla war – die Art Gespräche, bei denen, sobald Blue den Raum betrat, nur noch schweigend Kaffee geschlürft und ungeduldig mit Kugelschreibern auf den Tisch getippt wurde. Dabei war diese nicht mal sonderlich interessiert an Neeves Besuch – wen kümmerte schon eine Frau mehr in einem Haus, das vor weiblichen Bewohnern bereits aus allen Nähten platzte?

Eines Frühlingsabends, an dem die ohnehin schon langen Schatten der Berge noch länger schienen als gewöhnlich, stand Neeve schließlich vor der Tür. Als Blue ihr öffnete, hielt sie sie einen kurzen Moment lang für irgendeine fremde alte Frau, dann aber gewöhnten sich ihre Augen an die letzten purpurnen Sonnenstrahlen, die durch die Bäume fielen, und sie erkannte, dass Neeve nur unwesentlich älter war als ihre Mutter – die gar nicht so furchtbar alt war.

Draußen, irgendwo in der Ferne, ertönte Hundegeheul. Blue kannte das Geräusch gut; im Herbst zog der Jagdklub von Aglionby fast jedes Wochenende mit Pferden und Hunden in den Wald. Blue wusste, was das hysterische Jaulen bedeutete, das sich in diesem Moment erhob: Die Meute hatte eine Spur aufgenommen.

»Du bist Mauras Tochter«, stellte Neeve fest und fügte, bevor Blue antworten konnte, hinzu: »Dies ist das Jahr, in dem du dich verlieben wirst.«

1

Schon bevor die Toten kamen, war es eiskalt auf dem Kirchhof.

Jedes Jahr begaben Blue und ihre Mutter Maura sich an diesen Ort und immer war es kühl. Doch dieses Mal, ohne Maura, kam es Blue noch kälter vor als sonst.

Es war der vierundzwanzigste April, der Vorabend des Markustags. Für die meisten Menschen kam und ging dieser Tag, ohne dass es ihnen bewusst war. Man bekam nicht schulfrei. Keine Geschenke wurden ausgetauscht. Kostüme oder Festlichkeiten gab es auch nicht. Keinen Markustag-Ausverkauf, keine Markustag-Karten in den Geschäften, keine besonderen Fernsehsendungen, die nur ein Mal im Jahr gezeigt wurden. Niemand strich sich den fünfundzwanzigsten April im Kalender an. Tatsächlich wussten die meisten Lebenden nicht einmal, dass es einen Tag zu Ehren des heiligen Markus gab.

Die Toten aber dachten daran.

Während Blue bibbernd dasaß, tröstete sie sich damit, dass es dieses Jahr immerhin nicht regnete. Wenigstens etwas.

An jedem vierundzwanzigsten April fuhren Maura und Blue hierher, zu dieser fernab gelegenen Kirche, die so alt war, dass sich niemand auch nur an ihren Namen erinnerte. Kaum mehr als eine Ruine, schmiegte sie sich an die dicht bewaldeten Hügel außerhalb Henriettas, immer noch mehrere Meilen von den eigentlichen Bergen entfernt. Nur die Außenmauern standen noch; das Dach und die Böden waren schon vor langer Zeit eingebrochen. Was nicht verrottet war, lag unter gierigen Ranken und modrig riechenden Schösslingen verborgen. Die Kirche war von einer Steinmauer umfriedet, deren einzige Öffnung ein überdachtes Tor war, gerade breit genug für einen Sarg und seine Träger. Ein Pfad, der jeglichem Unkraut zu trotzen schien, führte bis vor die alte Kirchentür.

»Ah«, hauchte die rundliche Neeve, die dennoch seltsam elegant neben Blue auf der Mauer hockte. Wie schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen bemerkte Blue abermals Neeves auffallend schöne Hände. Die plumpen Handgelenke gingen in weiche, kindliche Handflächen und schließlich schlanke Finger mit ovalen Nägeln über.

»Ah«, murmelte Neeve wieder. »Heute ist so eine Nacht.«

Sie betonte es so: »Heute ist so eine Nacht«, und Blue überlief unwillkürlich ein Schauder. Seit zehn Jahren hatte sie mit ihrer Mutter an den Vorabenden des Markustags hier Wache gehalten, aber dieses Mal war es anders.

In der Tat, heute war so eine Nacht.

In diesem Jahr hatte Maura, zum ersten Mal und aus für Blue unerfindlichen Gründen, auf die Kirchenwache verzichtet und an ihrer Stelle Neeve geschickt. Dann hatte sie Blue gefragt, ob sie trotzdem mitgehen würde, obwohl die Frage eigentlich überflüssig war. Blue war immer mitgegangen, sie würde es auch dieses Mal tun. Als ob sie sich an diesem Abend je etwas anderes vornehmen würde. Aber sie musste nun einmal gefragt werden. Irgendwann vor Blues Geburt hatte Maura nämlich beschlossen, Kinder herumzukommandieren sei barbarisch, und so war Blue inmitten von lauter Fragezeichen mit Befehlscharakter aufgewachsen.

Blue spreizte die eiskalten Finger und ballte die Hände dann wieder zu Fäusten. Die Säume ihrer fingerlosen Handschuhe begannen bereits auszufransen – sie hatte sie erst letztes Jahr mit nicht allzu großer Sorgfalt gestrickt –, aber immerhin verlieh ihnen das einen gewissen ramponierten Schick. Wäre sie nicht so eitel gewesen, hätte Blue die wärmeren, nur leider auch wesentlich langweiligeren Fäustlinge tragen können, die sie zu Weihnachten bekommen hatte. Aber sie war nun mal eitel, also hatte sie sich für die verschlissenen Exemplare ohne Finger entschieden, tausendmal cooler, aber eben auch weniger warm, und das, obwohl sie dabei sowieso niemand sehen würde außer Neeve und den Toten.

Der April brachte in Henrietta oft schöne, milde Tage hervor und entlockte den schlafenden Bäumen die ersten Knospen, während vor den Fensterscheiben liebeskranke Marienkäfer brummten. Aber nicht in dieser Nacht. In dieser Nacht war es kalt wie im Winter.

Blue warf einen Blick auf ihre Uhr. Kurz vor elf. Die alten Legenden empfahlen Mitternacht für die Kirchenwache, aber die Toten gaben nun mal nicht besonders viel auf Pünktlichkeit.

Anders als Blue, die kein sonderlich geduldiger Mensch war, thronte Neeve auf der alten Kirchenmauer wie die Statue einer Königin: die Hände gefaltet, die Fußknöchel unter dem langen Wollrock gekreuzt. Blue dagegen, zusammengekauert, kleiner und dünner, wirkte wie ein nervöser, blinder Wasserspeier. Blind, weil ihre Augen ihr in dieser Nacht nichts nutzten. Es war eine Nacht für Seher und Weissager, für Hexen und Medien.

Mit anderen Worten: für den gesamten Rest ihrer Familie.

Aus der Stille heraus fragte Neeve: »Kannst du irgendetwas hören?« Ihre Augen glitzerten im Dunkeln.

»Nein«, antwortete Blue, weil sie wirklich nichts hörte. Im nächsten Moment überlegte sie, ob Neeve wohl gefragt hatte, weil sie etwas hörte.

Neeve betrachtete sie mit demselben Blick, den sie auf ihren Website-Fotos aufgesetzt hatte – diesem eindringlichen, überirdischen Starren, das man immer ein paar Sekunden länger ertragen musste, als einem lieb war. Ein paar Tage nach Neeves Ankunft war Blue davon so zermürbt gewesen, dass sie sich bei Maura darüber beklagt hatte. Sie hatten sich gerade zusammen in das einzige Badezimmer des Hauses gequetscht, um sich fertig zu machen, Blue für die Schule und Maura für die Arbeit.

Blue, die versucht hatte, ihre unterschiedlich kurzen dunklen Haarsträhnen mithilfe von Clips zu einem kümmerlichen Pferdeschwanz zusammenzufassen, hatte gefragt: »Muss sie einen immer so anglotzen?«

Ihre Mutter hatte unter der Dusche Muster auf die beschlagene Glastür gemalt. Nun hatte sie lachend innegehalten und ihre Haut hatte durch die langen, sich überschneidenden Linien geblitzt, die sie gezogen hatte. »Ach, das ist nun mal Neeves Markenzeichen.«

Blue war der Meinung, dass es doch wahrhaftig bessere Dinge gab, für die man bekannt sein konnte.

Jetzt, auf dem Kirchhof, murmelte Neeve geheimnisvoll: »Es gibt so viel zu hören.«

Gab es aber eigentlich gar nicht. Im Sommer waren die Hügel voller Leben: Insekten summten, Spottdrosseln führten zwitschernde Unterhaltungen und Raben krächzten empört den Autos hinterher. In dieser Nacht aber war es zu kühl, als dass viel davon sich bemerkbar gemacht hätte.

»Solche Sachen höre ich nicht«, entgegnete Blue, etwas überrascht, dass Neeve darüber nicht längst Bescheid wusste. Das Hellseher-Gen, mit dem ihre gesamte Familie gesegnet war, hatte um Blue einen weiten Bogen gemacht, und so war sie in der Welt, zu der ihre Mutter, ihre Tanten und Cousinen Kontakt hielten und die doch den meisten Menschen verborgen war, nur Zaungast. Das einzig Besondere an ihr war etwas, das sie selbst nicht spüren konnte. »Ich höre von so einem Gespräch genauso wenig wie ein Telefon. Ich mache es bloß für andere lauter.«

Neeve hatte den Blick noch immer nicht abgewandt. »Also darum wollte Maura unbedingt, dass du mitkommst. Bist du etwa auch bei ihren Sitzungen dabei?«

Bei dem Gedanken durchlief Blue ein Schauder. Ein nicht unwesentlicher Teil der Kunden, die zum Fox Way kamen, waren unglückliche Frauen, die darauf hofften, dass Maura in ihrer Zukunft Liebe und Geld sah. Allein die Vorstellung, den ganzen Tag mit denen zu Hause zu sitzen, war unerträglich. Blue wusste, dass ihre Mutter sehr versucht sein musste, sie als Verstärkung ihrer hellseherischen Fähigkeiten an den Sitzungen teilnehmen zu lassen. Als sie kleiner war, hatte Blue es noch nicht zu schätzen gewusst, dass Maura sie so selten zu Hilfe rief, mittlerweile aber, da sie langsam begriff, was für einen starken Einfluss sie auf die Gabe anderer hatte, war sie beeindruckt von Mauras Zurückhaltung.

»Nur, wenn es besonders wichtig ist«, antwortete sie.

Neeves Blick hatte nun endgültig die Grenze zwischen verunsichernd und einfach nur gruselig überschritten. Sie sagte: »Darauf solltest du stolz sein. Die seherischen Kräfte eines anderen steigern zu können, ist eine sehr seltene und kostbare Gabe.«

»Pffft«, schnaubte Blue, aber sie meinte es nicht böse. Eher scherzhaft. Sie hatte sechzehn Jahre lang Zeit gehabt, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie keinerlei Zugang zur Welt des Übernatürlichen hatte. Sie wollte nicht, dass Neeve dachte, sie hätte deswegen eine Identitätskrise oder so etwas. Verlegen zupfte sie an einem Fädchen am Saum ihres Handschuhs.

»Außerdem hast du noch so viel Zeit, deine eigenen intuitiven Fähigkeiten zu entwickeln«, fuhr Neeve fort. Ihr Blick wirkte geradezu gierig.

Blue antwortete nicht. Ihr lag nichts daran, anderen die Zukunft vorauszusagen. Viel lieber wollte sie sich ins Leben stürzen und ihre eigene entdecken.

Endlich senkte Neeve den Blick. Träge ließ sie einen Finger durch den Schmutz auf den Steinen zwischen ihnen gleiten, dann sagte sie: »Ich bin auf dem Weg in die Stadt an einer Schule vorbeigekommen. Aglionby Academy. Gehst du da hin?«

Blues Augen weiteten sich vor Belustigung. Aber gut, wie hätte Neeve als Fremde es auch besser wissen sollen? Andererseits hätte sie sich beim Anblick des riesigen Steingebäudes mit seinem Parkplatz voller Nobelkarossen vielleicht denken können, dass dies nicht unbedingt die Art von Schule war, die sie sich leisten konnten.

»Das ist eine reine Jungenschule. Für die Söhne von Politikern und Ölmagnaten und« – Blue musste einen Moment überlegen, wer überhaupt reich genug sein könnte, um seine Kinder auf die Aglionby zu schicken – »die Söhne von Geliebten, die von Schweigegeld leben.«

Neeve hob, ohne aufzusehen, eine Augenbraue.

»Nein, im Ernst, die Jungs, die da hingehen, sind total schrecklich«, erklärte Blue. Der April ließ die Aglionby nie in einem guten Licht erscheinen: Je wärmer es draußen wurde, desto mehr Cabrios sah man auf den Straßen, aus denen Jungs in so geschmacklosen Shorts stiegen, dass sich wirklich nur Reiche damit vor die Tür wagten. Unter der Woche trugen sie ihre Schuluniform, schicke Stoffhosen zu einem Pullover mit V-Ausschnitt und Rabenemblem. So fiel es leicht, die anrückende Armee zu identifizieren: die Raven Boys.

Blue fuhr fort: »Die halten sich alle für was Besseres und denken, wir Normalsterblichen reißen uns für sie beide Beine aus, und dann saufen sie sich jedes Wochenende fast ins Koma und sprühen Graffiti auf das Ortsschild von Henrietta.«

Die Aglionby Academy war der Hauptgrund für die beiden großen Regeln in Blues Leben. Nummer eins: Halte dich von Jungs fern – die machen nur Ärger. Und Nummer zwei: Halte dich von den Aglionby-Jungs fern – die sind alle Mistkerle.

»Du scheinst mir ein sehr vernünftiger Teenager zu sein«, sagte Neeve, was Blue ärgerte, denn das wusste sie selbst nur zu gut. Wenn man so wenig Geld hatte wie die Sargents, wurde einem Vernunft in jeglichen Belangen schon früh eingeimpft.

Im fahlen Licht des beinahe vollen Mondes erkannte Blue, was Neeve in den Staub gemalt hatte. Sie fragte: »Was ist das? So was hat Mom vor Kurzem auch gezeichnet.«

»Ach, wirklich?«, entgegnete Neeve. Sie betrachteten das Muster. Es bestand aus drei gekrümmten Linien, die einander überschnitten, sodass sie eine Art lang gezogenes Dreieck bildeten. »Aber sie hat dir nicht erklärt, was es ist?«

»Sie hat es an die Tür der Dusche gemalt. Ich habe nicht nachgefragt.«

»Ich habe davon geträumt«, sagte Neeve mit so ausdrucksloser Stimme, dass ein unangenehmes Kribbeln Blues Nacken hinunterlief. »Ich wollte wissen, wie es in der Realität aussieht.« Sie wischte die Linien fort und hob dann abrupt eine ihrer schönen Hände. »Ich glaube, sie kommen.«

»Sie« waren der Grund, aus dem Blue und Neeve überhaupt hier waren. Jahr für Jahr saß Maura auf dieser Mauer, starrte, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, ins Leere und sagte eine Liste von Namen auf. Für Blue wirkte der Kirchhof so leer wie immer, für Maura aber war er voll mit Toten. Nicht mit Menschen, die zu diesem Zeitpunkt bereits tot waren, sondern mit den Geistern derjenigen, die innerhalb der nächsten zwölf Monate sterben würden. Blue musste sich stets damit begnügen, nur eine Hälfte des Gesprächs zu hören. Manchmal erkannte ihre Mutter die Geister, meistens jedoch beugte sie sich vor und fragte sie nach ihren Namen. Maura hatte ihr einmal erklärt, dass sie die Toten ohne Blue nie dazu bringen könnte, ihr zu antworten – wenn Blue nicht dabei war, sahen sie Maura ganz einfach nicht.

Blue hatte natürlich gern das Gefühl, gebraucht zu werden, manchmal aber wünschte sie sich, sie käme sich dabei weniger vor wie ein besonders praktisches Werkzeug.

Die Kirchenwache war von entscheidender Bedeutung für eine der außergewöhnlichsten Dienstleistungen, die Maura anbot. Diese bestand darin, ihre Kunden, die in der Gegend wohnten, zu informieren, falls sie selbst oder ein Mitglied ihrer Familie innerhalb der nächsten zwölf Monate sterben würden. Wer würde für so einen Service nicht gutes Geld bezahlen? Tja, die Antwort lautete leider: die meisten Menschen, denn der Glaube an Hellseher war leider nicht sonderlich weit verbreitet.

»Kannst du schon was sehen?«, erkundigte sich Blue. Sie versuchte, ihre tauben Finger wachzurubbeln, und griff nach einem Notizblock und einem Stift, die neben ihr auf der Mauer bereitlagen.

Neeve saß vollkommen still. »Irgendetwas hat gerade mein Haar gestreift.«

Gänsehaut kroch Blues Arme hinauf. »Einer von ihnen?«

Neeve antwortete mit heiserer Stimme: »Die zukünftigen Toten müssen dem Leichenweg durch das Tor folgen. Das eben war vermutlich eine andere Art von … Geist, den deine Energie angelockt hat. Ich hatte ja keine Ahnung, was für eine Wirkung du haben würdest.«

Maura hatte nie irgendwelche anderen Toten erwähnt, die Blue angezogen haben sollte. Vielleicht hatte sie ihr nur keine Angst einjagen wollen. Oder Maura hatte sie einfach nicht gespürt – vielleicht erkannte sie diese anderen Geister genauso wenig wie Blue.

Blue war sich nun unangenehm der leisesten Brise bewusst, die ihr übers Gesicht strich und Neeves lockiges Haar anhob. Unsichtbare, sittsame Seelen noch gar nicht toter Menschen waren ja okay. Aber Geister, die nicht einmal auf den Wegen blieben, das war etwas ganz anderes.

»Sind die …«, fing Blue an.

»Wer sind Sie? Robert Neuhmann«, unterbrach Neeve sie. »Wie heißen Sie? Ruth Vert. Und Sie? Frances Powell.«

Bemüht, nicht den Anschluss zu verlieren, kritzelte Blue die Namen rein nach Gehör so nieder, wie Neeve sie aussprach. Hin und wieder hob sie den Blick und versuchte, wenigstens irgendetwas auf dem Pfad zu entdecken. Aber wie immer war dort nichts zu erkennen außer der verwilderten Fingerhirse, den kaum erkennbaren Eichen. Dem Kircheneingang, gähnend wie ein schwarzer Schlund, der die unsichtbaren Geister empfing.

Nichts zu hören und nichts zu sehen. Kein Hinweis auf die Anwesenheit der Toten, mit Ausnahme der Namen auf dem Notizblock in ihrer Hand.

Vielleicht hatte Neeve ja recht. Möglicherweise durchlief Blue tatsächlich so etwas wie eine Identitätskrise. An manchen Tagen fand sie es wirklich ein kleines bisschen ungerecht, dass bei all den Wundern und der Magie in ihrer Familie für sie nur die Schreibarbeit blieb.

»Zumindest kann ich so überhaupt daran teilhaben«, dachte Blue grimmig, obwohl sie sich in etwa so einbezogen fühlte wie ein Blindenhund. Sie hielt sich den Notizblock vors Gesicht, dicht, dichter, um im Dunkeln ihre Schrift lesen zu können. Das Ganze wirkte wie eine Aufstellung der beliebtesten Namen von vor siebzig oder achtzig Jahren: Dorothy, Ralph, Clarence, Esther, Herbert, Melvin. Auch viele der Nachnamen wiederholten sich. Das Tal wurde von ein paar alteingesessenen Familien beherrscht, die, wenn schon nicht mächtig, dann doch zumindest groß waren.

Irgendwo außerhalb von Blues Gedanken wurde Neeves Ton plötzlich eindringlicher.

»Wie heißt du?«, fragte sie. »Hallo, Entschuldigung? Wie ist dein Name?« Aus purer Gewohnheit folgte Blue Neeves Blick in die Mitte des Kirchhofs.

Und dort sah sie jemanden.

Blues Herz hämmerte gegen ihr Brustbein wie eine Faust. Und auf der anderen Seite dieses Herzschlags war er, immer noch. Wo eigentlich absolut nichts hätte sein dürfen, stand ein Mensch.

»Ich sehe ihn«, flüsterte Blue. »Neeve, ich sehe ihn.«

Blue hatte sich die Prozession der Toten immer wie eine äußerst geordnete Angelegenheit vorgestellt, dieser eine jedoch schien aus der Reihe getanzt zu sein und stand nun zögernd da. Es war ein junger Mann in Stoffhose und Pullover, das Haar zerzaust. Er war nicht unbedingt durchscheinend, aber wirklich da war er auch nicht. Seine Silhouette war so verschwommen, als sähe man sie durch trübes Wasser, sein Gesicht nicht zu erkennen. Außer seiner Jugend verfügte er über kein hervorstechendes Merkmal.

Er war so jung – diese Tatsache bestürzte sie am meisten.

Während Blue ihn beobachtete, hob er die Hand und betastete zuerst die Seite seiner Nase, dann seine Schläfe. Es war so eine seltsam lebendige Geste, dass Blue ein wenig übel wurde. Im nächsten Moment stolperte er einen Schritt vorwärts, als hätte ihm von hinten jemand einen Stoß verpasst.

»Frag ihn nach seinem Namen«, zischte Neeve. »Mir antwortet er nicht und ich muss mich noch um die anderen kümmern!«

»Ich?«, entgegnete Blue, ließ sich jedoch bereits von der Mauer gleiten. Ihr Herz pochte noch immer wie wild. Sie fragte – nicht ohne sich ein bisschen albern dabei vorzukommen –: »Wie heißt du?«

Er schien sie nicht zu hören. Ohne ein Zeichen, dass er sie bemerkt hatte, wandte er sich, ganz langsam und immer noch verwirrt, der Kirchenpforte zu.

»So gehen wir also in den Tod?«, fragte sich Blue. »Wir stolpern ins Vergessen, anstatt bewusst abzutreten?«

Während Neeve den anderen Toten ihre Fragen stellte, näherte sich Blue dem verirrten Wanderer.

»Wer bist du?«, rief sie aus sicherem Abstand. Er vergrub die Stirn in den Händen. Sein Körper, das erkannte sie jetzt, hatte keinerlei Konturen und sein Gesicht keine Züge. Eigentlich hatte seine Gestalt überhaupt nichts an sich, das ihn als menschlich kennzeichnete, dennoch sah sie einen Jungen vor sich. Irgendetwas schien ihrem Kopf zu sagen, was er war, auch wenn es ihren Augen diese Information vorenthielt.

Ihn zu sehen, hatte nichts Faszinierendes an sich, wie sie zuvor geglaubt hatte. Alles, woran sie denken konnte, war: »In einem Jahr wird er tot sein.« Wie ertrug Maura das nur?

Blue schlich sich dichter an ihn heran. Als sie ihm so nah war, dass sie ihn hätte berühren können, setzte er sich wieder in Bewegung, schien sie jedoch immer noch nicht wahrzunehmen.

So dicht bei ihm waren ihre Hände plötzlich eiskalt. Genauso wie ihr Herz. Unsichtbare Geister, die keine eigene Körperwärme mehr besaßen, schienen alle Energie aus ihr herauszusaugen und ließen sie frösteln.

Der junge Mann hatte nun die Kirchentür erreicht und plötzlich wusste Blue – sie wusste es einfach –, dass ihre Chance, seinen Namen zu erfahren, dahin wäre, sobald er hindurchging.

»Bitte«, sagte Blue, leiser als zuvor. Sie streckte die Hand aus und berührte den äußersten Saum seines nicht existenten Pullovers. Kälte durchströmte sie wie eine plötzliche Welle des Grauens. Sie versuchte, sich mit dem zu beruhigen, was ihr seit jeher eingebläut worden war: Geister zogen ihre Energie aus ihrer Umgebung. Alles, was sie spürte, war also, wie er sie benutzte, um sichtbar bleiben zu können.

Und doch fühlte es sich immer noch grauenerregend an.

Sie bat: »Verrätst du mir deinen Namen?«

Er wandte sich ihr zu und sie sah mit Entsetzen, dass er einen Aglionby-Pullover trug.

»Gansey«, sagte er. Seine Stimme war leise, aber kein Flüstern. Es war eine echte Stimme, die aus so großer Ferne zu kommen schien, dass sie kaum hörbar war.

Blue konnte den Blick nicht von seinem zerzausten Haar wenden, von der Andeutung durchdringender Augen, dem Raben auf seinem Pullover. Seine Schultern waren triefnass, wie sie jetzt erkannte, und auch der Rest seiner Kleider glänzte feucht von einem Gewitter, das noch nicht stattgefunden hatte. So nah bei ihm konnte sie einen minzeartigen Duft wahrnehmen, von dem sie nicht wusste, ob er speziell zu ihm gehörte oder zu Geistern im Allgemeinen.

Er wirkte so real. Als es so weit war, als sie ihn endlich sehen konnte, kam es ihr gar nicht vor wie Magie. Es war, als starrte sie in ein offenes Grab und das Grab erwiderte ihren Blick.

»Mehr nicht?«, flüsterte sie.

Gansey schloss die Augen. »Mehr ist da nicht.«

Er fiel auf die Knie – eine lautlose Bewegung bei einem Jungen ohne wirklichen Körper. Mit einer Hand stützte er sich auf dem Boden ab und grub die gespreizten Finger in den Schlamm. Blue konnte die Schwärze der Kirche deutlicher erkennen als die Krümmung seiner Schulter.

»Neeve«, sagte Blue. »Neeve, er … stirbt.«

Neeve hatte sich erhoben und stand jetzt direkt hinter ihr. Sie antwortete: »Noch nicht.«

Gansey war nun fast nicht mehr zu sehen, er verschmolz mit der Kirche oder die Kirche mit ihm.

Blues Stimme klang belegter, als ihr lieb war. »Warum … warum kann ich ihn sehen?«

Neeve warf einen Blick über die Schulter – entweder weil noch weitere Geister kamen oder weil das Gegenteil der Fall war, Blue konnte es nicht sagen. Als sie sich wieder umdrehte, war Gansey vollkommen verschwunden. Im nächsten Moment spürte Blue, wie die Wärme in ihre Haut zurückkehrte, doch irgendwo hinter ihren Lungen blieb etwas Eisiges zurück. Ein gefährlicher, trauriger Sog schien sich in ihrem Inneren zu bilden: Kummer oder Bedauern.

»Es gibt nur zwei Gründe, warum eine Nicht-Sehende am Vorabend des Markustags einen Geist erblickt, Blue. Entweder du bist seine wahre Liebe«, sagte Neeve, »oder du hast ihn getötet.«

2

Ich bin’s«, meldete sich Gansey.

Er wandte sich zu seinem Auto um. Die leuchtend orangefarbene Motorhaube des Camaros war hochgeklappt, mehr als Zeichen seiner Kapitulation als aus irgendwelchen praktischen Gründen. Adam mit seinem Händchen für Autos hätte vielleicht zu sagen vermocht, was diesmal mit dem Wagen nicht stimmte, Gansey jedoch hatte nicht die leiseste Ahnung. Er hatte es gerade noch geschafft, den Wagen von der Fahrbahn zu lenken, und jetzt stand der Camaro mit seinen breiten Reifen leicht schräg auf den verstreuten Grasbüscheln am Rand des Highways. Ein Sattelzug brauste vorbei, ohne auch nur abzubremsen, und brachte den Wagen zum Schwanken.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich sein Mitbewohner Ronan Lynch: »Du hast Geschichte verpasst. Dachte schon, du liegst irgendwo tot im Graben.«

Gansey drehte sein Handgelenk herum und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er hatte wesentlich mehr verpasst als nur den Geschichtsunterricht. Es war elf Uhr und schon jetzt erschien ihm die Kühle der vergangenen Nacht wie ein Traum. Eine Mücke klebte im Schweiß neben dem Armband der Uhr fest; er schnippte sie weg. Als er noch jünger war, war Gansey ein einziges Mal campen gewesen. Dabei hatte ein Zelt eine Rolle gespielt. Und Schlafsäcke. Und ganz in der Nähe war ein Range Rover geparkt gewesen, für den Fall, dass sein Vater und er die Lust verloren. Es war eine völlig andere Erfahrung gewesen als die Sache letzte Nacht.

Er fragte: »Hast du für mich mitgeschrieben?«

»Nein«, antwortete Ronan. »Ich dachte ja, du liegst irgendwo tot im Graben.«

Gansey blies sich etwas Staub von den Lippen und schob das Handy an seinem Ohr zurecht. Er hätte für Ronan mitgeschrieben. »Pig ist liegen geblieben. Komm mich abholen, ja?«

Ein Wagen fuhr vorbei und wurde langsamer; die Insassen starrten zu ihm heraus. Gansey sah ganz gut aus und auch der Camaro war alles andere als hässlich, aber die Aufmerksamkeit hatte weniger etwas mit Attraktivität zu tun als mit dem ungewohnten Anblick eines Aglionby-Jungen neben einem unverschämt orangefarbenen, liegen gebliebenen Auto am Straßenrand. Gansey war nur zu bewusst, dass die Einwohner des ruhigen Städtchens Henrietta in Virginia nichts lieber sahen, als dass einem Schüler der Aglionby Academy etwas Erniedrigendes widerfuhr – es sei denn, es widerfuhr gleich seiner ganzen Familie.

»Mann, muss das sein?«, stöhnte Ronan.

»Jetzt tu mal nicht so, als wärst du scharf drauf, dich brav in den Unterricht zu setzen. Und gleich ist sowieso Mittagspause.« Dann fügte er, der Form halber, noch ein »Bitte« hinzu.

Ronan schwieg eine Weile. Darin war er ziemlich gut; er wusste, welches Unbehagen Schweigen anderen Leuten bereitete. Doch Gansey hatte schon längst eine Immunität dagegen entwickelt. Während er auf Ronans Antwort wartete, beugte er sich ins Auto, um nachzusehen, ob er irgendetwas zu essen im Handschuhfach hatte. Außer einer Allergiespritze fand er dort eine Stange Trockenfleisch, deren Haltbarkeitsdatum allerdings schon vor zwei Jahren abgelaufen war. Wahrscheinlich hatte sie bereits im Auto gelegen, als er es gekauft hatte.

»Wo bist du denn?«, fragte Ronan schließlich.

»Auf der 64, gleich neben dem Henrietta-Ortsschild. Bring mir einen Burger mit, ja? Und einen Kanister Benzin.« Dem Wagen war zwar nicht das Benzin ausgegangen, aber schaden konnte es wohl nicht.

Ronan klang ziemlich angesäuert. »Gansey.«

»Und bring Adam mit.«

Ronan legte auf. Gansey schälte sich aus seinem Pullover und warf ihn in den Camaro. Auf dessen winziger Rückbank fristete ein buntes Sammelsurium aus Alltagsgegenständen sein Dasein: ein Chemiebuch, ein Schreibblock mit Frappuccinoflecken, eine CD-Mappe mit halb offenem Reißverschluss, aus der ein paar nackte Scheiben auf den Sitz gerutscht waren – sowie die Ausrüstung, die er sich während seiner achtzehn Monate in Henrietta zusammengestellt hatte. Zerknitterte Landkarten, Computerausdrucke, sein allgegenwärtiges Notizbuch, eine Taschenlampe, ein Weidenstab. Als Gansey ein digitales Aufnahmegerät aus dem Chaos zog, flatterte eine Imbissquittung (eine große Pfannenpizza, zur Hälfte mit Würstchen, zur Hälfte mit Avocado belegt) zurück auf den Sitz und gesellte sich zu einem halben Dutzend weiterer ihrer Art, die bis auf das Datum allesamt identisch waren.

Die letzte Nacht hatte er mit laufendem Aufnahmegerät und gespitzten Ohren vor der geradezu monströs modernen Erlöserkirche verbracht und gewartet – ohne wirklich zu wissen, worauf. Die Atmosphäre war alles andere als magisch gewesen. Wahrscheinlich hätte es bessere Orte gegeben, um mit den Toten der Zukunft in Kontakt zu treten, aber Gansey hatte große Hoffnungen in die Macht des Datums gesetzt – schließlich war es der Abend vor dem Markustag gewesen. Und er hatte ja auch gar nicht erwartet, tatsächlich Tote zu Gesicht zu bekommen. Laut seiner Quellen musste man für eine Kirchenwache über die »Gabe des Sehens« verfügen, und die war bei Gansey bereits im herkömmlichen Sinn miserabel ausgeprägt, wenn er seine Kontaktlinsen nicht trug. Er hätte sich nur gewünscht …

Dass irgendetwas passierte. Und dieser Wunsch war ihm auch erfüllt worden. Er war sich bloß noch nicht sicher, was dieses »Irgendetwas« gewesen war.

Das Aufnahmegerät in der Hand, setzte Gansey sich auf den Boden und lehnte sich zum Warten an einen der Hinterreifen, sodass der Wagen ihn vor den vorbeirauschenden Autos abschirmte. Auf der anderen Seite der Leitplanke erstreckte sich eine allmählich wieder ergrünende Wiese bis hinunter zum Waldrand. Und über allem erhoben sich die geheimnisvollen blauen Gipfel der Berge.

Gansey zeichnete die Form der verheißenen Energielinie, die ihn hierhergeführt hatte, auf seine staubige Schuhspitze. Der Wind aus den Bergen, der ihm um die Ohren heulte, klang beinahe wie ein gedämpftes Rufen – kein Flüstern, sondern ein lauter Schrei, der aus so großer Ferne zu kommen schien, dass er kaum hörbar war.

Henrietta wirkte tatsächlich wie ein Ort, an dem Magie möglich war. Das Tal schien unablässig Geheimnisse vor sich hin zu raunen. Die Vorstellung, dass es sie Gansey nur nicht preisgeben wollte, erschien ihm glaubhafter als die, dass es einfach keine gab.

Bitte sag mir doch, wo du bist.

Sein Kopf schmerzte vor Sehnsucht und dieser Schmerz war kein bisschen weniger schlimm, nur weil er schwer zu erklären war.

Ronan Lynchs haigesichtiger BMW hielt hinter dem Camaro, sein normalerweise so glänzend anthrazitgrauer Lack grün überpudert mit Blütenstaub. Gansey spürte den Bass aus der Stereoanlage unter den Füßen, bevor er die Melodie erkannte. Als er aufstand, öffnete Ronan gerade seine Tür. Auf dem Beifahrersitz saß Adam Parrish, das dritte Mitglied des Vierergespanns, das Gansey und seine engsten Freunde bildeten. Adams Krawattenknoten saß tadellos über seinem Pulloverkragen. Mit einer seiner schlanken Hände presste er sich Ronans flaches Handy ans Ohr.

Gansey und Adam wechselten einen flüchtigen Blick durch die offene Autotür. Adams zusammengezogene Augenbrauen fragten: Hast du was gefunden?, und Ganseys geweitete Augen antworteten: Sag du’s mir.

Adam runzelte die Stirn, drehte die Musik leiser und sagte irgendetwas ins Telefon.

Ronan knallte die Autotür zu – er knallte immer alles zu – und ging zum Kofferraum. Er sagte: »Mein Arsch von Bruder will sich nachher mit uns im Nino treffen. Mit Ashley.«

»Ist das er da am Telefon?«, erkundigte sich Gansey. »Und wer oder was ist Ashley?«

Ronan hievte einen Benzinkanister aus dem Kofferraum und gab sich dabei nur minimale Mühe, den verschmierten Behälter von seiner Kleidung fernzuhalten. Wie Gansey trug er die Aglionby-Schuluniform, nur dass es ihm stets irgendwie gelang, sie so schäbig wie möglich aussehen zu lassen. Die Methode, nach der er seine Krawatte geknotet hatte, ließ sich wohl am besten mit »Verachtung« beschreiben und unter dem Pulloversaum lugten zerknittert seine Hemdzipfel hervor. Sein Lächeln war schmal und messerscharf. Wenn sein BMW einem Hai ähnelte, dann hatte der Wagen sich lediglich seinem Besitzer angepasst. »Declans aktuelle Flamme. Wir sollen uns extrahübsch für sie machen.«

Gansey war alles andere als begeistert, sich bei Ronans großem Bruder einschleimen zu müssen, aber er verstand die Notwendigkeit. Freiheit war in der Familie Lynch eine komplizierte Angelegenheit und momentan lag der Schlüssel dazu nun mal bei Declan.

Ronan reichte ihm den Benzinkanister im Austausch für das Aufnahmegerät. »Er will es unbedingt heute machen, weil er ganz genau weiß, dass ich da eigentlich keine Zeit habe.«

Der Tankdeckel des Camaros lag versteckt hinter dem Kennzeichen und Ronan sah schweigend zu, wie Gansey mit dem Tankdeckel, dem Kanister und dem Kennzeichen zugleich kämpfte.

»Das hättest auch gerne du machen können«, beschwerte sich Gansey. »Dir ist schließlich egal, ob du dir das Hemd versaust.«

Ohne eine Spur von Mitgefühl kratzte Ronan an einer alten braunen Kruste unter den fünf zusammengeknoteten Lederbändchen an seinem Handgelenk. Letzte Woche hatten Adam und er einander abwechselnd auf einem Rollbrett hinter dem BMW hergezogen und dabei zahlreiche Blessuren davongetragen.

»Jetzt frag schon, ob ich was gefunden habe«, forderte Gansey Ronan auf.

Seufzend hob Ronan das Aufnahmegerät. »Und, hast du was gefunden?«

Ronan klang nicht sonderlich interessiert, aber das war einfach seine Masche. Man konnte unmöglich sagen, wie tief sein Desinteresse wirklich ging.

Benzin sickerte langsam in Ganseys teure Chinos, schon das zweite Paar, das er sich in diesem Monat ruinierte. Er war nicht mit Absicht so nachlässig – obwohl Adam ihm immer wieder predigte: »Diese Sachen kosten alle Geld, Gansey« –, sondern er begriff die Konsequenzen seines Tuns irgendwie immer erst, wenn es zu spät war. »Ja, aber ich bin nicht sicher, was. Ich habe ungefähr vier Stunden Tonaufnahmen und da ist … irgendwas. Aber ich weiß nicht, was es bedeutet.« Er deutete auf das Gerät. »Schalt mal ein.«

Ronan wandte sich der Autobahn zu und drückte die PLAY-Taste. Einen Augenblick war nichts außer dem frostig klingenden Zirpen von Grillen zu hören. Dann ertönte Ganseys Stimme:

»Gansey.«

Eine lange Pause folgte. Gansey rieb bedächtig mit dem Finger über die pockige Chromstoßstange des Camaros. Es war immer noch seltsam, seine eigene Stimme auf dem Band zu hören, ohne dass er sich daran erinnern konnte, die Worte ausgesprochen zu haben.

Dann erklang, wie von sehr weit weg, eine weibliche Stimme, kaum zu verstehen: »Mehr nicht?«

Argwöhnisch huschte Ronans Blick zu Gansey.

Der hob den Finger: Warte. Gemurmel, noch leiser als zuvor, zischte aus dem Lautsprecher; Worte waren nicht auszumachen, nur der Tonfall: Fragen und Antworten. Schließlich drang abermals seine körperlose Stimme aus dem Gerät:

»Mehr ist da nicht.«

Ronan sah sich wieder zu Gansey um, der noch immer neben dem Auto stand, und Gansey registrierte das, was er immer Ronans Raucheratmung nannte: tiefes Einatmen durch geblähte Nasenlöcher, langsames Ausatmen durch geöffnete Lippen.

Dabei rauchte Ronan nicht einmal. Er zog einen gepflegten Kater vor.

Ronan schaltete das Aufnahmegerät aus und bemerkte: »Du tropfst dir die ganze Hose mit Benzin voll, alter Junge.«

»Willst du mich nicht vielleicht mal fragen, was los war, als ich das aufgenommen habe?«

Ronan fragte nicht. Er sah Gansey einfach weiter an, was auf dasselbe rauskam.

»Nichts war los. Gar nichts. Ich habe rumgesessen und auf einen Parkplatz voller Krabbelviecher gestarrt, die bei dieser Kälte nachts gar nicht lebendig sein dürften, und da war überhaupt nichts.«

Gansey war nicht davon ausgegangen, dass er auf dem Parkplatz etwas finden würde, selbst wenn der Ort stimmte. Den Fachleuten zufolge, mit denen er gesprochen hatte, kam es vor, dass Ley-Linien Stimmen über ihre gesamte Länge hinweg transportierten und Laute Hunderte von Kilometern oder Dutzende von Jahren von der Position entfernten, an der sie ursprünglich erklungen waren. Eine Art Audio-Spuk also, eine unvorhersehbare Radiosendung, bei der so gut wie alles, was sich auf der Ley-Linie befand, als Empfänger dienen konnte: ein Aufnahmegerät, eine Stereoanlage, ein geeignetes Paar menschlicher Ohren. Da er über keinerlei seherische Kräfte verfügte, hatte Gansey den Digitalrekorder mitgebracht; außerdem waren die Geräusche meistens ohnehin erst bei der Wiedergabe zu hören. Das Eigenartigste an dieser Sache war jedoch nicht die weibliche Stimme auf dem Band, sondern Ganseys eigene – er war sich ziemlich sicher, dass er kein Geist war.

»Ich habe keinen Ton gesagt, Ronan. Die ganze Nacht lang. Also wie kommt meine Stimme auf das Band?«

»Und wie hast du gemerkt, dass sie da ist?«

»Ich habe die Aufnahme auf der Rückfahrt abgespielt. Nichts, nichts, nichts, und dann: meine Stimme. Und in dem Moment ist Pig liegen geblieben.«

»Zufall?«, fragte Ronan. »Wohl kaum.«

Das war sarkastisch gemeint. Gansey hatte schon so oft »Ich glaube nicht an Zufälle« gesagt, dass es mittlerweile jeder wusste.

Er fragte Ronan: »Und was sonst?«

»Na, der Heilige Gral natürlich. Das wurde aber auch Zeit«, antwortete der, zu sarkastisch, um auch nur im Geringsten hilfreich zu sein.

Tatsache war jedoch: Gansey hatte sich in den letzten vier Jahren mit den winzigsten Beweisstückchen zufriedengeben müssen und die kaum hörbare Stimme war alles, was er an Bestätigung brauchte. In seinen achtzehn Monaten in Henrietta hatte er sich an die unwahrscheinlichsten Schnipsel überhaupt geklammert, um endlich die Ley-Linie zu finden – einen schnurgeraden, übernatürlichen Energiepfad, der spirituelle Orte miteinander verband – und das mythische Grab, das er darauf vermutete. Aber das gehörte eben dazu, wenn man nach einer unsichtbaren Energielinie suchte. Immerhin war sie … nun ja, unsichtbar.

Und möglicherweise auch rein hypothetisch, aber Gansey weigerte sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. In seinen siebzehn Lebensjahren hatte er schon Dutzende Dinge gefunden, von denen niemand geglaubt hatte, dass sie möglich waren, und er war fest entschlossen, dieser Liste die Ley-Linie, das Grab und den darin ruhenden König hinzuzufügen.

Ein Museumskurator in New Mexico hatte einmal zu Gansey gesagt: »Mein Junge, du hast ein geradezu unheimliches Talent dafür, Seltsames zu entdecken.« Von einem verblüfften römischen Historiker stammte der Kommentar: »Du cleveres Kerlchen drehst Steine um, die sonst niemand auch nur beachten würde.« Und ein uralter britischer Professor hatte gestaunt: »Für dich kehrt die Welt ihre Taschen nach außen.« Der Schlüssel zu all diesen Dingen war, so schien es zumindest Gansey, an ihre Existenz zu glauben; man musste sich bewusst machen, dass sie nur Teil von etwas Größerem waren. Manche Geheimnisse offenbarten sich allein denjenigen, die sich als ihrer würdig erwiesen.

Ganseys Standpunkt war folgender: Wenn man schon in der Lage war, solche Dinge zu finden, dann war man es der Welt auch schuldig, nach ihnen zu suchen.

»Hey, ist das Whelk?«, fragte Ronan.

Ein Auto rollte auffällig langsam an ihnen vorbei und gewährte ihnen einen Blick auf den allzu neugierigen Fahrer. Gansey musste zustimmen, dass der Mann ihrem verbitterten Lateinlehrer, einem Aglionby-Absolventen mit dem unglücklichen Namen Barrington Whelk, tatsächlich sehr ähnlich sah. Gansey, der eigentlich Richard »Dick« Campbell Gansey III. hieß, war im Grunde ziemlich immun, was derlei hochtrabende Namen anging, doch selbst er konnte nicht leugnen, dass an »Barrington Whelk« nun wirklich nicht viel schönzureden war.

»Nein, bleiben Sie bloß nicht stehen und helfen uns oder so was«, blaffte Ronan dem Wagen hinterher. »Hey, Zwerg. Was war denn jetzt mit Declan?«

Letzteres richtete sich an Adam, der gerade aus dem BMW stieg, in der Hand noch immer Ronans Handy. Er hielt es ihm hin, doch Ronan schüttelte nur verächtlich den Kopf. Ronan hasste Telefone, sein eigenes eingeschlossen.

Adam antwortete: »Er kommt heute Nachmittag um fünf.«

Anders als Ronans Aglionby-Pullover war der von Adam secondhand gekauft, immerhin aber hatte er peinlichst darauf geachtet, dass er sich in untadeligem Zustand befand. Adam war groß und schlank, mit staubbraunem, unregelmäßig kurz geschnittenem Haar und einem feinknochigen, gebräunten Gesicht. Er war eine fleischgewordene Sepia-Fotografie.

»Oh Freude«, entgegnete Gansey. »Du bist doch dabei, oder?«

»Bin ich denn eingeladen?« Adam konnte manchmal eigentümlich höflich sein. Immer wenn er unsicher wurde, kam plötzlich sein Südstaatenakzent durch, und auch jetzt war er deutlich zu vernehmen.

Adam brauchte normalerweise keine Extraeinladungen. Er und Ronan mussten sich gestritten haben. Was keine große Überraschung war, Ronan stritt sich mit allem, was eine Sozialversicherungsnummer besaß.

»Sei nicht albern«, sagte Gansey und nahm freudig die fettfleckige Fastfood-Tüte entgegen, die Adam ihm hinhielt. »Danke.«

»Hat Ronan besorgt«, erklärte Adam. Wenn es um Geld ging, sorgte er gern schnell für Klarheit, wem Dank oder Tadel gebührte.

Gansey sah zu Ronan hinüber, der am Camaro lehnte und geistesabwesend an einem der Lederbändchen an seinem Handgelenk kaute. »Ist da auch keine Soße auf dem Burger?«, vergewisserte er sich.

Ronan ließ von dem Bändchen ab und schnaubte. »Also bitte.«

»Und auch kein Gürkchen«, fügte Adam hinzu und ging hinter dem Wagen in die Hocke. Er hatte nicht nur zwei kleine Kanister Kraftstoffzusatz mitgebracht, sondern auch einen alten Lappen, mit dem er seine Hose vor Flecken schützte. Das alles sah bei ihm völlig selbstverständlich aus – Adam gab sich zwar große Mühe, seine Wurzeln verborgen zu halten, in solch kleinen Gesten zeigten sie sich jedoch immer noch.

Gansey grinste, als der Gedanke an seine Entdeckung ihn mit Wärme durchflutete. »Kleines Quiz, Mr Parrish. Welche drei Dinge tauchen oft in der Nähe von Ley-Linien auf?«

»Schwarze Hunde«, spielte Adam gutmütig mit. »Dämonische Erscheinungen.«

»Camaros«, warf Ronan ein.

Gansey tat, als hätte er ihn nicht gehört. »Und Geister. Ronan, sei so nett und spiel uns mal das Beweisstück vor.«

Zu dritt standen sie in der späten Morgensonne, während Adam den Tankdeckel wieder zuschraubte und Ronan die richtige Stelle auf dem Tonband suchte. In weiter, weiter Ferne, irgendwo über den Bergen, stieß ein Rotschwanzbussard einen dünnen Schrei aus. Ronan drückte auf PLAY und sie lauschten, wie Gansey der Luft seinen Namen mitteilte. Adam runzelte leicht die Stirn und hörte konzentriert zu, die Wangen von der Hitze des Tages gerötet.

Es hätte so ziemlich jeder Morgen der letzten anderthalb Jahre sein können. Früher oder später würden sich Ronan und Adam wieder vertragen, die Lehrer würden ihm verzeihen, dass er ihren Unterricht verpasst hatte, und dann würde er mit Adam, Ronan und Noah Pizza essen gehen – vier gegen Declan.

»Versuch mal, den Wagen zu starten«, forderte Adam Gansey auf.

Er ließ sich auf den Fahrersitz fallen und hielt sich nicht damit auf, die Tür zuzuziehen. Im Hintergrund spielte Ronan die Aufnahme erneut ab. Aus irgendeinem Grund sorgte die Stimme aus dieser Entfernung dafür, dass sich die Härchen auf seinen Armen ganz langsam aufrichteten. Irgendetwas sagte ihm, dass diese unbewussten Äußerungen den Anfang von etwas Neuem markierten, auch wenn er nicht sagen konnte, was es sein würde.

»Komm schon, Pig«, knurrte Ronan. Irgendjemand hupte, als er auf dem Highway an ihnen vorbeiraste.