Cover

Über dieses Buch

»100 Menschen, die man kennen sollte« lautete der Arbeitstitel für das Biografien-Projekt, dessen zweiter Band nun vorliegt. Wie im ersten Band werden 50 Persönlichkeiten porträtiert. Ob Otto Lilienthal, Coco Chanel oder Mark Zuckerberg – sie alle eint der unbedingte Wille, die Welt zu verändern.

Einfühlsam erzählt Manfred Mai über ihr Leben und Wirken. Dieter Wiesmüller hat dazu beeindruckende Bilder geschaffen.

Manfred Mai, 1949 im schwäbischen Winterlingen geboren, zählt zu den bedeutendsten Kinder- und Jugendbuchautoren Deutschlands. Er hat Geschichte, Politikwissenschaft und Deutsch studiert und war Lehrer, bevor er sich 1984 ganz für das Schreiben entschied. Seither sind rund 150 Bücher erschienen. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

Dieter Wiesmüller, geboren 1950 in Rotenburg, studierte Grafik, Malerei und Illustration in Hamburg. Er hat neben zahlreichen Umschlägen für Bücher viele Jahre Titelbilder für den »Spiegel« und den »Stern« illustriert sowie eigene Bilderbücher geschrieben und gezeichnet. Von 1982 bis 1992 war er als Lehrbeauftragter an der Hamburger Fachhochschule tätig. Dieter Wiesmüller lebt als freischaffender Künstler in Hamburg.

Inhalt

Vorwort

Wilhelm Conrad Röntgen

Thomas Alva Edison

Otto Lilienthal

Vincent van Gogh

Sigmund Freud

Theodor Herzl

Henry Ford

Wilbur und Orville Wright

Marie Curie

Mohandas Karamchand Gandhi

Lenin

Maria Montessori

Roald Amundsen

Konrad Adenauer

Lise Meitner

Albert Einstein

Alexander Fleming

Pablo Picasso

Franz Kafka

Coco Chanel

Le Corbusier

Mao Zedong

Bertolt Brecht

Walt Disney

Charles Lindbergh

Hannah Arendt

Frida Kahlo

Astrid Lindgren

Simone de Beauvoir

Konrad Zuse

Willy Brandt

Nelson Mandela

Hans und Sophie Scholl

Hermann Gmeiner

Christiaan Barnard

Martin Luther King jr.

Anne Frank

Neil Armstrong

Michail Gorbatschow

Elvis Presley

Muhammad Ali

Steve Jobs

Tim Berners-Lee

Bill Gates

Madonna

The Beatles

Joanne K. Rowling

Mark Zuckerberg

Malala Yousafzai

Felix Finkbeiner

Worterklärungen

Impressum

Vorwort

Es gab in den vergangenen 2500 Jahren so viele bedeutende Menschen, dass ihre Lebensgeschichten nicht alle in ein Buch passen würden. Auch nachdem wir uns entschlossen haben, zwei Bände zu machen, war nicht genügend Platz. Die schwierigste Frage bei der Vorbereitung dieses Werkes war also: Wer muss dabei sein? Irgendwann hatte ich eine Liste mit knapp 300 Persönlichkeiten. Aber es durften eben insgesamt nur 100 sein. Deswegen musste ich Namen um Namen streichen.

Bei manchen war ich lange Zeit hin und her gerissen, habe sie erst weg-, dann wieder dazugenommen und während der Recherche endgültig gestrichen. Von anderen habe ich erzählt, die fertigen Texte aber dann doch nicht aufgenommen. Zu ihnen gehört der Prophet Mohammed. Und das hat einen besonderen Grund: Das Konzept des Werkes sah vor, dass der Künstler Dieter Wiesmüller die 100 Menschen im Porträt darstellt. Weil der Prophet Mohammed nicht bildlich dargestellt werden darf, wir aber nicht »eine« Ausnahme machen wollten, mussten wir leider auf ihn verzichten – obwohl man ihn und seine Botschaft wirklich kennen sollte.

Das entscheidende Kriterium für die Aufnahme in das Werk war, dass ein Mensch etwas zum ersten Mal gedacht, gemacht oder geschaffen hat. Dass manche das ohne die Leistungen anderer nicht geschafft hätten, ist keine Frage. So konnte zum Beispiel Neil Armstrong nur als erster Mensch den Mond betreten, weil viele Wissenschaftler und Techniker dafür jahrelang »Vorarbeiten« geleistet hatten. Aber er war eben der erste Mensch auf dem Mond, deswegen wird von ihm erzählt.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, dass sie an seiner Geschichte und an den Geschichten der 99 anderen Menschen viel Freude haben – und alle am liebsten noch besser kennenlernen möchten.

Manfred Mai, im April 2014

Wilhelm Conrad Röntgen

(1845–1923)

Jeden Tag verletzen sich Menschen. In der Schule, bei der Arbeit und in der Freizeit. Bei manchen Verletzungen ist von außen nicht eindeutig festzustellen, wie schwer sie sind.

»Das müssen wir röntgen«, heißt es dann.

Mithilfe des Röntgens können Ärzte sozusagen in den Körper hineinschauen und die Art der Verletzung erkennen – ohne ihn vorher aufzuschneiden. Das ist aber erst seit etwas mehr als 100 Jahren möglich und dem Physiker Wilhelm Conrad Röntgen zu verdanken.

Er war das einzige Kind einer wohlhabenden Familie, die in Lennep (das heute zu Remscheid gehört) eine Textilfabrik besaß. Als es 1848 in Deutschland zu Unruhen und revolutionären Aufständen kam, zogen die Röntgens in die Niederlande, wo die Mutter herstammte. Dort besuchte Wilhelm die Schule, bis er 17 war. Dann warf man ihm vor, auf einer Zeichnung seinen Klassenlehrer lächerlich dargestellt zu haben. Deshalb wurde er von der Schule verwiesen, hatte kein Abitur und konnte nicht studieren. Doch genau das wollten seine Eltern unbedingt und sie fanden eine Möglichkeit: In der wenige Jahre zuvor gegründeten »Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich« entschied nicht ein Abiturzeugnis, ob jemand studieren durfte, sondern eine Aufnahmeprüfung. Röntgen wurde zugelassen, entschied sich für Maschinenbau und machte ein glänzendes Examen. Anschließend studierte er noch Physik und erhielt am 22. Juni 1869 seinen Doktortitel.

Er kehrte zurück nach Deutschland, zunächst an die Universität in Würzburg, wo er als Assistent eines Professors arbeitete. Röntgen wollte möglichst schnell selbst Professor werden, was er aber in Deutschland nicht konnte, weil er kein Abitur hatte. Deswegen wechselte er an die Universität Straßburg, wo er Professor werden konnte und es auch wurde. Nach Stationen an weiteren Universitäten erhielt er 1888 an der Universität in Würzburg endlich einen Lehrstuhl für Physik.

Sieben Jahre lang forschte und experimentierte Röntgen, ohne dabei etwas Weltbewegendes zu entdecken. Das änderte sich durch einen Zufall am 8. November 1895. An diesem Tag machte er Versuche mit einer Kathodenstrahlröhre. Dabei bemerkte er, dass ein beschichtetes Stück Papier, das auf einem Tisch lag und mit dem Versuch nichts zu tun hatte, plötzlich leuchtete (fluoreszierte). Er war verblüfft und suchte nach einer Erklärung. Es musste etwas mit den Strahlen in der Glasröhre zu tun haben. Er deckte die Röhre mit schwarzer Pappe ab, verdunkelte den Raum und wiederholte den Versuch – wieder leuchtete das beschichtete Stück Papier; ebenso bei weiteren Versuchen mit dickem Karton, Holz und Blech. Zuerst behielt Röntgen seine Entdeckung für sich, weil er befürchtete, die Leute würden ihn für verrückt halten. Wochenlang experimentierte er weiter und durchleuchtete am 22. Dezember die Hand seiner Frau. Das war die erste Röntgenaufnahme der Welt.

Röntgen nannte die Strahlen, die das ermöglichten, X-Strahlen. Diese beschrieb er in der Abhandlung »Über eine neue Art von Strahlen«. Schnell wurde klar, welche Bedeutung Röntgens Arbeit für die Wissenschaft, vor allem für die Medizin haben würde. Das Wort »Zauberstrahlen« machte die Runde. Aber es dauerte nicht lange, bis die Strahlen nach ihrem Entdecker benannt wurden: Röntgenstrahlen.

Wilhelm Conrad Röntgen verzichtete darauf, seine Entdeckung beim Patentamt anzumelden, um damit Geld zu verdienen; seine Strahlen sollten möglichst schnell zum Wohl der Menschen eingesetzt werden.

1901 wurde er als Erster mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Das Preisgeld stiftete er der Universität Würzburg.

Thomas Alva Edison

(1847–1931)

Thomas Alva Edison gilt als der größte Erfinder aller Zeiten. Wenn man Leute fragt, was er denn alles erfunden habe, fällt den meisten zuerst die Glühbirne ein. Doch gerade die hat er genau genommen nicht erfunden, sondern bereits vorhandene Modelle »nur« so weit verbessert, dass seine Glühbirne viel länger brannte und billig herzustellen war. Erst dadurch konnte sie zum Massenprodukt werden und die Nacht zum Tag machen. Aber auch ohne die Glühbirne hält Edison den Weltrekord an Erfindungen: Rund 2000 hat er in seinem Leben gemacht und davon 1093 als Patent angemeldet. Und das alles, obwohl er nur kurze Zeit eine Schule besuchte.

Thomas Alva Edison wurde am 11. Februar 1847 als siebtes Kind von Samuel Edison und seiner Frau Nancy in Milan (Ohio) geboren. Als sein Vater seinen gesamten Besitz verlor, zog die Familie 1855 nach Port Huron (Michigan) um. Hier ging Thomas in die Schule, allerdings nur für ein paar Monate. Sein Lehrer nannte ihn einen »Hohlkopf«, der nichts kapiere. Dabei hörte der Junge so schlecht, dass er vom Unterricht wenig mitbekam. Seine Eltern nahmen ihn von der Schule, und die Mutter, eine ausgebildete Lehrerin, unterrichtete ihren Sohn zu Hause. Am meisten Freude machte ihm das Lesen.

Schon als Zwölfjähriger musste Thomas mithelfen, Geld zu verdienen. In einer Eisenbahn, die von Port Huron nach Detroit und wieder zurück fuhr, verkaufte er Zeitungen, Süßigkeiten und Erfrischungen an Reisende. Die langen Haltezeiten des Zuges in Detroit nutzte er und ging in die dortige Bibliothek, wo er vor allem naturwissenschaftlich-technische Bücher las. Von dem verdienten Geld durfte er einen Teil für sich behalten. Davon richtete er sich ein Labor ein, in dem er eifrig experimentierte.

Eines Tages sah Thomas einen kleinen Jungen auf den Bahngleisen spielen – und einen Güterwagen heranrollen! Thomas reagierte blitzschnell, zog den Jungen von den Gleisen und rettete ihm so das Leben. Der Vater des Jungen arbeitete als Telegrafist bei der Eisenbahn und brachte Thomas aus Dankbarkeit das Telegrafieren bei. Er verschaffte ihm auch eine Stelle als Telegrafist, ebenfalls bei der Eisenbahn. Dort arbeitete Thomas fünf Jahre – und machte dabei seine erste Erfindung. Zur Kontrolle seiner Anwesenheit musste er an die Zentrale jede halbe Stunde das Morsezeichen für »6« durchgeben. Er bastelte einen Apparat, der das pünktlich für ihn besorgte. So konnte er lesen oder auch mal ein Nickerchen machen. Bei einer überraschenden Kontrolle fand man ihn schlafend und feuerte ihn.

Das war 1868. Noch im gleichen Jahr meldete er zum ersten Mal eine Erfindung beim Patentamt an: einen elektrischen Stimmenzähler zur Beschleunigung von Abstimmungen. Doch die Abgeordneten wollten ihn nicht, also gab es keine Nachfrage. Das war für Edison eine wichtige Lehre. Fortan überlegte er sich bei seiner Arbeit, wofür es Nachfrage geben könnte. Das war bereits bei seiner nächsten Erfindung der Fall: Edison hatte ein Gerät entwickelt, mit dem die Aktienkurse an der Börse laufend aktualisiert werden konnten, den sogenannten Börsenticker. Eine Firma bot ihm viel Geld für das Patent. Auch seine nächsten Erfindungen brachten ihm Geld ein, und so konnte er 1876 ein großes Labor einrichten, den Menlo Park, und Mitarbeiter einstellen.

Hier hatte Edison auch die Idee für einen Apparat, der Worte speichern kann. Einige Monate tüftelten und experimentierten er und sein Mitarbeiter an einer »Sprechmaschine« herum. Heraus kam eine Walze mit Metallfolie, in die eine Nadel die Schallschwingungen drückte, der Phonograph. Beim ersten Versuch sang Edison das Kinderlied: »Mary had a little lamb …« Alle waren sehr gespannt, ob der Versuch gelungen war. Edison setzte die Nadel am Beginn der eingedrückten Spur auf die Metallfolie, drehte die Walze – und hörte als erster Mensch seine eigene Stimme.

Bald nannten die Leute ihn ehrfurchtsvoll den »Zauberer vom Menlo Park«. Als er am 18. Oktober 1931 starb, bat der amerikanische Präsident seine Landsleute, zu Ehren von Edison die elektrischen Lampen auszuschalten.

Otto Lilienthal

(1848–1896)

Fliegen können wie ein Vogel, wer möchte das nicht? Davon haben schon unsere frühen Vorfahren geträumt. Und immer wieder gab es Menschen, die nicht nur geträumt, sondern daran gearbeitet haben, den Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

Einer von ihnen war Leonardo da Vinci, ein anderer der längst vergessene Albrecht Ludwig Berblinger (1770–1829). Der »Schneider von Ulm«, wie er genannt wurde, hatte jahrelang Vögel, vor allem Eulen beobachtet, viele Aufzeichnungen gemacht und ein Fluggerät entwickelt, das schon Ähnlichkeit mit den heutigen Drachenfliegern aufwies. Seinen ersten Flug wollte er vom Ulmer Münster herab wagen, doch das erlaubte der Bürgermeister nicht. Stattdessen sollte er über die Donau fliegen. Weil dort völlig andere Windverhältnisse herrschten, landete er im Wasser, wurde ausgelacht und als Spinner verspottet. Viele Jahre später baute jemand sein Fluggerät nach und bewies, dass es flugfähig war.

Berblinger war längst gestorben, als in Anklam, im heutigen Mecklenburg-Vorpommern, Otto Lilienthal geboren wurde. Als er zwölf Jahre alt war, wollten seine Eltern mit den drei Kindern nach Amerika auswandern. Doch kurz vor der Abreise starb der Vater völlig überraschend und die Mutter blieb mit den Kindern in Anklam. Sie tat alles dafür, ihnen eine gute Schul- und Ausbildung zu ermöglichen.

Nach der Schule arbeitete Otto in einer Maschinenfabrik und studierte anschließend drei Jahre lang Maschinenbau an der Gewerbeakademie Berlin. Schon in dieser Zeit beschäftigte er sich mit der Technik des Fliegens. Wie viele vor ihm hatte er – gemeinsam mit seinem Bruder Gustav – immer wieder Vögel beobachtet, ganz besonders Störche. Aber anders als andere taten die Lilienthal-Brüder das genauer und sie werteten ihre Beobachtungen wissenschaftlich aus. Dann führten sie Experimente durch, um zu messen, wie viel Gewicht durch Flügelschläge angehoben werden konnte. Ihre Erkenntnisse fasste Otto Lilienthal 1889 in dem Buch »Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst« zusammen. Darin begründete er, dass Menschen nicht mit Muskelkraft abheben und fliegen können, dafür seien sie einfach zu schwer. Wenn der Mensch fliegen wolle, brauche er einen Flugapparat; in dem müsse er sich, so gut es gehe, »verstecken«, damit er das Fliegen nicht störe.

So einen Apparat wollte Lilienthal bauen. Nach zwei Jahren und einigen Fehlversuchen fand er im Frühjahr 1891 einen geeigneten Flugplatz in der Nähe des Städtchens Derwitz. Von einem Hügel aus startete er mit seinem »Derwitzer Apparat« und flog 25 Meter weit. Deswegen gilt 1891 als das Jahr, in dem zum ersten Mal ein Mensch mit einem Flugzeug flog. Doch Lilienthal gab sich damit nicht zufrieden; er verbesserte seinen Apparat und flog noch weiter. Insgesamt konstruierte er etwa 30 Fluggeräte, mit denen er über 2000 Flugversuche unternahm. Bei vielen landete er ziemlich unsanft auf dem Boden, sodass er häufig an Beinen und Armen verletzt war. Trotzdem machte er weiter. Mit den immer besseren Fluggeräten schaffte er es schließlich, bis zu 300 Meter weit zu fliegen. Das war eine Sensation! Die Presse im In- und Ausland berichtete über den ersten fliegenden Menschen, natürlich mit beeindruckenden Fotos.

Lilienthal war aber nicht nur ein mutiger Flieger, sondern auch ein tüchtiger Geschäftsmann. Er hatte eine Fabrik gegründet, in der er unter anderem Fluggeräte herstellte. Einen Hängegleitflieger nannte er »Normalsegelapparat«. Der war das erste Fluggerät, das in Serie hergestellt und verkauft wurde. Neben der Betriebsanleitung bekam jeder Käufer ein Papier, auf dem vor den Gefahren des Fliegens gewarnt wurde. Zum Schluss hieß es: »Also bedenken Sie, dass Sie nur ein Genick zum Zerbrechen haben.« Lilienthal tüftelte auch schon an einem Flügelschlagapparat, den ein Motor antreiben sollte; doch den konnte er nicht mehr verwirklichen: Am 9. August 1896 stürzte er mit seinem Normalsegelapparat ab und verletzte sich so schwer, dass er am nächsten Tag starb.

Vincent van Gogh

(1853–1890)

In den Augen seiner Mitmenschen war Vincent van Gogh ein Versager. Was er auch anpackte, nichts gelang ihm.

Nach der Schule machte er eine Ausbildung in der Kunsthandlung eines Onkels. Als dieser starb, wurde Vincent vom Nachfolger entlassen, weil er sich geweigert hatte, den Leuten Bilder anzupreisen, die er nicht gut fand. Vincent blieb in London und arbeitete in einem Armenviertel als Hilfslehrer. Dabei lernte er die Not der Arbeiter kennen und war entsetzt, unter welch unmenschlichen Bedingungen sie leben mussten. Er half, wo er nur konnte, arbeitete bis zur völligen Erschöpfung, wurde krank und wieder entlassen. Ende des Jahres 1876 kehrte er zu seinen Eltern nach Holland zurück. Sein Vater ließ ihn die Enttäuschung über das erneute Versagen spüren. Er drängte Vincent, endlich einen ordentlichen Beruf zu ergreifen und der Familie keine Schande mehr zu machen. Vincent hatte nicht die Kraft, Widerstand zu leisten, und arbeitete einige Monate in einer Buchhandlung. Aber sein sehnlichster Wunsch war inzwischen, Pfarrer zu werden, um das Wort Gottes zu verbreiten. Er wollte Theologie studieren, bemühte sich, »strengte sich an wie ein Hund, der einen Knochen abnagt«, aber vergeblich. Nach einem Jahr gab er auf. »Muss man denn so viel wissen, um den Menschen das Wort Gottes zu vermitteln?«, fragte er seinen Bruder Theo in einem Brief.

Seine allerletzte Chance sah er in einer Missionsschule in Brüssel. Dort wurden in Schnellkursen Missionare für besonders verwahrloste Gebiete ausgebildet. Obwohl ihn die Prüfer für ungeeignet hielten und nicht zum Missionar ernannten, durfte er probeweise als Hilfsprediger im Borinage, dem elendsten Gebiet Belgiens, arbeiten. In dem Steinkohlerevier lebte er bei den Grubenarbeitern. Die Not war noch schlimmer als in London. Die Bergleute verdienten so wenig, dass auch ihre Kinder in den Gruben arbeiten mussten, damit sie überleben konnten. Vincent setzte sich mit aller Kraft für die Leute ein, pflegte die Kranken, verteilte sein bisschen Geld und gab den Ärmsten seine Kleider. Weil Vincent nach Meinung seiner Vorgesetzten »durch sein Aussehen und sein Verhalten das Ansehen der Kirche verletzt«, wurde ihm jede weitere Tätigkeit verboten.

Vincent gab auf. Abgemagert und mutlos irrte er monatelang umher, ohne Ziel, ohne Arbeit, ohne Geld. Er litt darunter, als arbeitsscheuer Spinner zu gelten. In dieser Zeit schrieb er seinem Bruder Theo in einem Brief: »Es gibt den Nichtstuer wider Willen, der innerlich von einem leidenschaftlichen Wunsch nach Tätigkeit verzehrt wird … Ich bin doch zu irgendetwas gut, ich habe eine Daseinsberechtigung. Ich weiß, dass ich ein ganz anderer Mensch sein könnte! Wozu nur könnte ich taugen, wozu könnte ich dienen? Es ist etwas in mir. Was ist es nur?«

Vincent van Gogh war wieder oder immer noch auf der Suche. Nun begann er zu zeichnen und zu malen; nicht mehr gelegentlich wie schon früher, sondern mit der gleichen Hingabe, mit der er zuvor bei den Bergleuten gearbeitet hatte. Dabei ging es ihm vor allem darum, sich selbst besser kennenzulernen; außerdem wollte er die Menschen und Dinge so darstellen, wie er sie sah, wollte der Wahrheit näher kommen. Das konnte er nur, indem er die gültigen Vorstellungen von falsch und richtig, von schön und hässlich überschritt.

Doch die Leute rieten ihm, entweder das Malen richtig zu lernen oder einen anderen Beruf zu wählen. Nur sein Bruder Theo glaubte an ihn und schickte ihm jeden Monat Geld, damit er leben und malen konnte.

In nur zehn Jahren entstanden etwa 850 Gemälde und weit über 1000 Zeichnungen. Zu seinen Lebzeiten konnte van Gogh nur ein einziges Bild verkaufen. Es dauerte lange, bis die Leute erkannten, dass er ein Genie war. 100 Jahre nach seinem Tod explodierten die Preise für seine Bilder. 1987 wurden die »Fünfzehn Sonnenblumen in einer Vase« für 39,9 Millionen Dollar ersteigert. Damit war es das teuerste Bild der Welt. Für andere Bilder von ihm wurden später noch viel höhere Summen bezahlt.

Gestorben ist Vincent van Gogh schon mit 37 Jahren. Weil er krank war und es in dieser Welt nicht mehr aushielt, schoss er sich eine Kugel in die Brust.

Sigmund Freud

(1856–1939)

»Träume sind Schäume«, lautet eine bekannte Redensart. Sie will sagen, dass Träume nichts bedeuten und zerplatzen wie Seifenblasen.

Allerdings haben die Menschen den Träumen immer auch eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Schon im Altertum gab es Männer und Frauen, die Träume deuteten und daraus die Zukunft voraussagten. Das funktionierte natürlich nicht; aus Träumen kann man viel herauslesen, aber sicher nicht die Zukunft.

Mit der Bedeutung von Träumen beschäftigte sich auch der Wiener Arzt Sigmund Freud. Er interessierte sich besonders für das Innenleben des Menschen. Damit meinte er nicht Organe wie Herz, Lunge, Leber, Magen und so weiter, sondern das Gehirn und – was noch schwieriger zu fassen ist – die Seele, die man modern Psyche nennt. Warum verhalten sich Menschen so oder so? Warum tun sie Dinge, die niemand von ihnen erwartet hätte? Warum werden Menschen krank, ohne dass es dafür eine äußerlich erkennbare Ursache gibt? Solche und ähnliche Fragen stellte Freud. Weil er mit den herkömmlichen Methoden keine befriedigenden Antworten fand, suchte er nach neuen Möglichkeiten, um an die Ursachen heranzukommen. Eine Möglichkeit sah er in der Deutung von Träumen. Im Jahr 1900 veröffentlichte er das Buch »Die Traumdeutung«, das zu den meistgelesenen und einflussreichsten Büchern des 20. Jahrhunderts gehört. Darin formulierte Freud zum ersten Mal die Grundgedanken der »Psychoanalyse«. Das ist eine Methode zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Freud ging davon aus, dass der Mensch im Traum Erlebnisse verarbeitet sowie unterdrückte und verdrängte Wünsche, Bedürfnisse und Fantasien auslebt. Er ging weiter davon aus, dass die oft wirren Träume entschlüsselt werden müssen, um zu erkennen, was sie wirklich bedeuten. Dazu ließ er seine Patienten in der sogenannten »freien Assoziation« alles erzählen, was ihnen zu bestimmten Wörtern oder Bildern und darüber hinaus einfiel. Meistens kamen dabei verdrängte Erlebnisse und Wünsche wieder zum Vorschein, die zum Teil weit zurücklagen. Die Patienten unternahmen sozusagen eine Reise in ihre unbewussten Bereiche. Bei diesen Reisen erkannte Freud, dass psychische Erkrankungen, wie zum Beispiel Angstzustände, ihre Ursache oft in der frühkindlichen Phase haben. Indem diese ausgesprochen und bewusst gemacht werden, können die Patienten sich von ihnen befreien und damit geheilt werden.