Umschlag

Uli Aechtner studierte Germanistik, Philosophie und Kunstwissenschaften in Bonn. Als Journalistin arbeitete sie für das Französische Fernsehen TF1, für den Südwestrundfunk und für das ZDF. Seit zwei Jahrzehnten lebt sie als freie Autorin in der Wetterau.
 
Belinda Vogt studierte Publizistik, Psychologie und Jura in Mainz. Sie arbeitet seit vielen Jahren als Redakteurin beim Fernsehen. Davor war sie als Drehbuchautorin und Regisseurin für die Hoechst AG und andere große Unternehmen im Rhein-Main-Gebiet tätig. Ihre zahlreichen Reisen führten sie zuletzt in die alten Hochburgen der Kelten.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.de/Astonishing
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-251-7
Originalausgabe

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»Wir, unserer eigenen Vorzeit fremd geworden, können nur täppisch versuchen, das Neue mit dem Alten zu verknüpfen.«

Jakob Grimm, Zeitschrift für deutsches Altertum – 1841

 

»Bei keinem Volke ist der Glaube an die Unsterblichkeit stärker gewesen als bei den Kelten; man konnte Geld bei ihnen geliehen bekommen, um es in der anderen Welt wiederzugeben.«

Heinrich Heine (1797  1856)

PROLOG

Sie hatte noch nie einen Toten berührt. Aber sie wusste, dass es heute sein musste. Sie durfte keine Angst haben, sonst würde es mit Ronan, Fionn und Lugh nie mehr so sein wie jetzt. Die drei vertrauten ihr. Und sie vertraute ihnen. Gemeinsam ließen sie ein Reich der Phantasie entstehen, viel schöner und stärker als jede Realität.

»Heute Nacht steht das Tor zur Anderswelt offen.« Fionns Stimme klang rau und schwer. Er hatte sich reichlich Mut angetrunken. »Die Toten sind bereit, mit uns zu reden.«

»Ja, heute.« Sie zitterte, ihr war kalt. »Es muss tatsächlich heute sein.« Sie vermied Fionns Blick und tat, als starre sie ins Feuer. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, dass sein Gesicht im Schein des Lagerfeuers glühte.

Ronan und Lugh saßen auf der anderen Seite der Feuerstelle auf einem Baumstamm. Sie hatten den Fremden in die Mitte genommen, lachten mit ihm und klopften ihm auf die Schulter. Noch ahnte er nicht, was ihm bevorstand. Er genoss es, sich die Nacht im Freien mit ein paar jungen Leuten um die Ohren zu schlagen.

Fionn kippte den Rest Wein hinunter, schenkte sich nach und füllte auch ihren Becher bis zum Rand. Wortlos reichte sie ihm die kleine Metalldose mit den getrockneten Pilzen, und er bediente sich. Dann hielt er sie den Freunden hin. Als auch der Fremde zugreifen wollte, riss Ronan ihm die Dose weg und gab sie Fionn zurück. Alle wussten, dass es nur vier Portionen Fliegenpilz gab.

Der Mond stand tief am Himmel, eine riesige flache Scheibe. Die Äste der großen Eiche, unter der sie saßen, sahen wie gespenstische Schattenrisse aus.

»Du weißt, dass man die Götter gnädig stimmen muss.« Fionn redete nun langsamer, der Wein hatte sich auf seine Stimme gelegt. »Wenn du den Göttern ein Opfer bringst, helfen sie dir. Dann läuft alles besser, du wirst sehen.«

Sie atmete schwer. Sie betrachtete den Fremden, den sie im Auto mitgenommen hatten. Aufgelesen auf der Landstraße.

»Was machen wir mit ihm, wenn er stirbt?«

Fionn legte tröstend den Arm um sie. »Keine Sorge«, raunte er ihr ins Ohr. »Wir machen ihn ja nicht ganz tot.« Er lachte kurz auf. »Nur ein bisschen.«

Sie sah, wie Ronan sich davonschlich, während Lugh dem Fremden noch mehr Wein in den Becher kippte. Der Mann war vorsichtig geworden, er trank nicht weiter, hielt den Becher unschlüssig in den Händen und starrte hinein. Vielleicht war er aber auch nur müde.

Sie spürte, wie die Kälte unter ihren langen Rock zog, selbst der Alkohol wärmte nicht mehr. Die Lichtung weitete sich, und die Bäume schlenkerten hin und her, als wären sie aus Gummi. Der Mond war eine Wasserpfütze. Sie konnte eine Delle in den Mond drücken, wenn sie ihn mit dem Finger antippte.

Ronan war mit dem Seil zurück, er hielt es hinter seinem Rücken verborgen, stellte sich hinter den Fremden und sah zu Fionn herüber. Fionn nickte, und Ronan warf das Seil um den Hals des Mannes und zog zu. Der Mann kippte rücklings von dem Baumstamm herunter; Ronan mühte sich ab, ihn unter die Eiche zu zerren.

»Kommt schon, helft mir!«, brüllte er. »Der Kerl ist verdammt schwer.«

Lugh sprang auf und umklammerte die Beine des Mannes. Doch der Kerl hatte es geschafft, rechtzeitig in die Schlinge zu greifen. Deshalb gab er keine Ruhe. Er grunzte und wand seinen Körper wie eine gefangene Echse.

Fionn ließ seinen Becher ins Gras fallen und stürzte hinzu. Zu dritt schleiften sie den Mann bis zum Stamm der Eiche. Ronan schleuderte das Ende des Seils über einen starken Ast und fing es auf der anderen Seite wieder auf. Der Mann warf panisch seinen Kopf hin und her und versuchte, seinen Hals zu befreien.

»Hoch mit ihm, beeilt euch.«

Eine seltsame Erregung hatte sie alle erfasst. Ronan und Lugh stemmten sich in den Boden; ruckweise zogen sie den Mann hoch. Seine Augen waren weit aufgerissen. Keine Schreie, kein Röcheln. Sie hörte ihn nur schnaufen. Als Fionn seine Beine losließ, trat er um sich. Zappelte und strampelte. Als würde er einen grotesken Tanz in der Luft aufführen.

»Aideen, du hast den Vortritt.« Fionn streckte einladend die Hand nach ihr aus. Sie raffte ihren Rock über den Knien zusammen und stolperte um das Lagerfeuer herum. Schwer atmend stand sie vor dem zuckenden Mann. Wie sollte sie ihn berühren? Er musste still hängen, sonst ging es nicht.

Endlich wurden seine Bewegungen schwächer. Zwischen seinen Beinen zeigte sich ein dunkler Fleck. Sie reckte sich und legte ihm eine Hand auf die Brust. Sein Herz raste. Gleich war es vorbei. Nur einen Moment noch.

Ihre Hand schien zu brennen. Ein prickelndes Gefühl. Sie musste lachen. Alles würde gut werden.

EINS

Peter Grubers Herz schlug für einen Moment höher, als er etwas Goldenes in der Erde blitzen sah.

Die Schicht, die er gerade bearbeitete, war über zweitausend Jahre alt. Lange vor Christi Geburt hatte hier ein Mensch den kleinen Gegenstand fallen lassen. Mit einem weichen Pinsel begann er, das Fundstück freizulegen.

Vielleicht eine Münze? Oder der Teil eines Goldschmucks?

Langsam konnte er Konturen erkennen.

Peter Gruber saß in einer akkurat ausgestochenen Grube in der Nähe des antiken Gordion. Neunzig Kilometer südwestlich von Ankara suchten er und ein kleines deutsch-türkisches Team nach keltischen Überresten in der ehemaligen Hauptstadt des phrygischen Reiches.

Gordion, die Stadt, in der Alexander den Gordischen Knoten zerschlug.

Der Archäologe hatte die Wand der Grube mit Wasser besprüht. Wenn die Erde feucht war, konnte man dunkle Flecken erkennen. Das waren Spuren von vermodertem Holz. Vermutlich Überreste von Pfosten, die einmal ein Gebäude getragen hatten.

Gruber konnte nun kleine Einbuchtungen am Rand seines Fundstücks erkennen. Ohne zu zögern, griff er in die Grubenwand und pulte den Gegenstand heraus. Er klopfte die Erde ab und reinigte die Oberseite mit dem Daumen. Enttäuschung machte sich in ihm breit.

Als er den Kopf hob, sah er, wie sich Hüseyin Yildiz näherte. Der türkische Wissenschaftler begleitete die Ausgrabung für die Antikensammlung des staatlichen Museums in Ankara. Er trug ein Tablett, das wie eine Gondel in seiner Hand schaukelte. Darauf standen goldverzierte Gläschen mit Tee, auf den winzigen Untertassen lagen jeweils zwei Stück Zucker.

Gruber lächelte gequält. »Willst du mir Tee servieren oder nur nachsehen, ob ich es schon entdeckt habe?«

»Das war nicht meine Idee.« Hüseyin hob die Schultern und sah Gruber bedauernd an. Der hielt den schimmernden Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe. Auf der glatten Oberfläche war ein Aufdruck zu erkennen: Efes. Der Name des einheimischen Bieres. Ein Kronkorken.

Die Teamkollegen, die einige Meter entfernt auf dem Grabungsfeld arbeiteten, schauten bereits zu ihnen herüber und lachten. Sascha Urban, einer der deutschen Archäologen, hob einen Spaten in die Höhe. Wohl zum Zeichen, dass er damit heimlich ein Loch in die Grubenwand gestoßen und den Kronkorken darin versenkt hatte.

»Haha, sehr witzig.« Gruber warf den Kronkorken verärgert weg und griff nach dem Tee.

Vor einigen Jahren erst hatte man in Gordion keltische Überreste gefunden. Die Galater, keltische Speermänner, waren im 3. Jahrhundert vor Christus als Söldner nach Anatolien gekommen und hatten für König Nikomedes I. gekämpft. Zum Dank bekamen sie für sich und ihre Familien eine neue Heimat geschenkt. Ihre erste große Siedlung nannten sie den »Anker«. Das heutige Ankara. Obwohl fern der Heimat, behielten die Galater ihre Bräuche bei. Ihre Sprache und ihr Kunsthandwerk ähnelten stark denen der gallischen Stämme in Nordfrankreich. Ebenso ihre Art, Menschen zu opfern. Grausam zugerichtete Skelette hatte man in Gordion gefunden: abgehackte Schädel, verstreute Knochen. Um die Götter gnädig zu stimmen, opferten die Galater nicht nur Tiere, sondern auch Männer, Frauen und Kinder. Strangulierten sie, enthaupteten sie. Steckten ihre Köpfe auf Lanzen.

Gruber hatte sich schon als Jugendlicher mit den grausamen Menschenopfern der Kelten beschäftigt. Ihn faszinierten die Tötungsarten, die sie sich ausgedacht hatten.

Sie zwängten ihre Opfer in Kisten, um sie im Moor zu versenken. Sie schlugen Heerscharen die Köpfe ab und positionierten die kopflosen Toten mitsamt ihren Waffen als Wächter auf einem Podest. Die Schädel ihrer Lieblingsfeinde präparierten sie und reichten sie bei Festgelagen unter ihren Gästen herum.

Aber warum, zum Teufel, liebten sie diese Grausamkeit?

Gruber glaubte, dass die Menschenopfer erst eingesetzt hatten, nachdem ein Meteorit auf die Erde gestürzt war. Manche hielten ihn deswegen für einen Spinner, aber hatte man das nicht auch von Galilei behauptet? Er war davon überzeugt, dass die Kelten den Meteoriteneinschlag als Zorn der Götter gedeutet hatten. Ihnen war der Himmel auf den Kopf gefallen, und sie hatten nicht gewusst, warum. Deshalb mussten sie die mächtigen Götter besänftigen; je grausamer die Hinrichtung, desto gnädiger würden sie sein. Für das Opfer war der Tod eine Ehre: Es rettete dem Clan das Überleben und ging ein in die paradiesische Anderswelt.

Die beiden Männer saßen jetzt auf dem Rand der Grube und ließen die Füße baumeln. Ungefährlich war das nicht. Wer die Kante abbrach, musste einen Kasten Bier ausgeben. Ein ungeschriebenes Gesetz. Sie griffen zu den kleinen Tellern mit den Teegläsern, warfen die Zuckerwürfel in die Gläschen und genossen schweigend das heiße Getränk.

Grubers Blick ging über die Grabung hinaus. Weit und breit war kein Baum, kein Strauch zu sehen. Nur trockenes Gras und graubraune Hügel, bis zum Horizont.

Jetzt im Juni war es trocken. Und heiß. Fünfunddreißig, vierzig Grad. Die brennende Sonne verwandelte den Himmel in eine weiße Fläche, die sich weit über das karge Land erstreckte. Doch Gruber ignorierte die Hitze. Wenn die anderen in der Mittagszeit den Schatten suchten, arbeitete er weiter. Den Strohhut fest auf den Kopf gedrückt, saß er am Boden seiner Grube und kratzte mit einem Spachtel über das Erdreich. Sollten die anderen Siesta halten, er wollte jede Minute für seine Arbeit nutzen. Es machte ihm auch nichts aus, mal einen Tag lang nichts zu essen oder in schäbigen Unterkünften zu hausen. Er brauchte keine weiche Matratze und kein fließendes Wasser. Hauptsache Abenteuer.

Vier Wochen vor Semesterende hatte er sich unter einigen Mühen vom Mainzer Unibetrieb freistellen lassen, um sich der Grabungskampagne in Gordion anzuschließen. Er war jetzt Mitte dreißig, und sein Job als Dozent am Institut für Vor- und Frühgeschichte füllte ihn nicht wirklich aus. Jahr für Jahr führte er Exkursionen mit Studenten durch. An den immer gleichen Stellen im Saarland, in Burgund oder in Österreich. Mit mehr oder weniger ähnlichen Funden: Scherben, Bronzefibeln, Münzen. Umso glücklicher stimmte ihn sein Abstecher in die Türkei, wo er endlich wieder das Gefühl hatte, Neuland zu erforschen. Vielleicht würde er in Gordion auf etwas Außergewöhnliches stoßen, etwas, das dazu beitrug, dass sein Name in die Annalen der Wissenschaft einging.

Auf einen Beweis für die Meteoritenthese.

Der Klingelton seines Handys ließ ihn aufschrecken. Er zog das summende, vibrierende Ding aus seiner Hosentasche und schaute aufs Display. Deutsche Vorwahl, unbekannte Nummer. Schnell sprang er auf.

»Vorsicht, Kante«, warnte Hüseyin.

Gruber entfernte sich ein paar Schritte von ihm, um außer Hörweite zu kommen. Mit gemischten Gefühlen nahm er das Gespräch an.

Hoffentlich zieht mich die Uni nicht vorzeitig ab.

»Hallo?«

»Spreche ich mit Dr. Peter Gruber?«

»Ja.«

»Mein Name ist Max Dwyer«, sagte der Anrufer förmlich. »Ich bin ein Mitarbeiter von Dr. Mara Jordan. Ich soll Sie in ihrem Auftrag um einen Rat bitten. Sie erinnern sich doch an Frau Dr. Jordan?«

»Natürlich.« Gruber schubste mit dem rechten Fuß einen kleinen Erdklumpen hin und her.

Mara Jordan. Was will die plötzlich von mir?

Er sah sie im Geiste vor sich: langes Haar, schlanke Figur, kritischer Blick. Ein ungeschminktes, aschblondes Wesen, dessen Schönheit man erst bei näherem Hinsehen bemerkte.

»Was hat Frau Jordan denn für ein Problem?«, fragte Gruber.

»Dr. Jordan leitet eine Notgrabung am Glauberg in der Wetterau. Dort ist eine Baumaßnahme geplant, und wir müssen zuvor prüfen, ob sich archäologische Funde im Erdreich befinden.«

»Routine also«, wiegelte Gruber ab. Er überlegte, wie er den Kerl wieder loswerden konnte. »Ist Ihnen übrigens klar, dass ich mich gerade in der Türkei befinde?«

»Ich weiß genau, wo Sie sind«, erwiderte der Mann. »Dr. Jordan würde sich nicht mit Ihnen in Verbindung setzen, wenn es nicht wichtig wäre. Sie möchte von Ihnen wissen, ob …«

Die Verbindung brach ab. Gruber starrte auf das Display, das wieder Datum und Uhrzeit anzeigte. Er unterdrückte ein Stöhnen. Eigentlich kam ihm die Unterbrechung aber gelegen, er hatte ohnehin keine Lust, auf irgendwelche banalen Fragen zum Verlauf einer Rettungsgrabung einzugehen. Damit musste die schlaue Mara schon allein fertig werden.

Er hatte Mara Jordan bei ihrer Magisterarbeit betreut. Sie war ihm gleich aufgefallen, als sie an die Uni gekommen war. Wenn ihre tiefe Stimme erklang, wenn sie ihr langes Haar zurückwarf oder wenn sie mit diesem geschmeidigen Gang auf ihn zukam, hatte er seine Augen kaum von ihr losreißen können.

Sie hatte ihn an seine Jugendliebe erinnert. An die Pfarrerstochter, die allen den Kopf verdreht hatte.

Doch während die anderen Studentinnen auch Zeit für ein bisschen Vergnügen fanden, konzentrierte Mara sich nur auf ihr Examen. Zäh und verbissen klammerte sie sich an ihre Bücher. Dass die kessen Erstsemester ihre Noten aufzuwerten versuchten, indem sie besonders nett zu ihren Dozenten waren, war für sie gleich der moralische Weltuntergang.

Ein einziges Mal war Mara aus sich herausgegangen, da hatte sie schon fast fertig studiert.

Oh Mann, war das eine Show gewesen!

Auf einer Fete im Institut hatte ihr jemand einen »Zombie« serviert, und nach dem starken Cocktail war Mara nicht mehr sie selbst gewesen. Die Shakira-Imitation, die sie auf dem Tisch hinlegte, fand rasenden Beifall, ihr Hüftschwung war so erregend wie der des Originals. Erhitzt war sie vom Tisch getaumelt, und er hatte sie in seinen Armen aufgefangen. Hatte sie mitgenommen und in seine Wohnung gebracht. Doch von Dankbarkeit keine Spur. Am nächsten Tag hatte sie sich pikiert und beleidigt gegeben. Und so verschlossen wie eine Muschel.

Mara, die Miesmuschel.

Das Handy klingelte erneut. Wieder war der Anrufer aus Deutschland dran.

»Ja bitte, was noch?« Gruber war gereizt. Eine Fliege hatte sich in seinen verschwitzten Nacken gesetzt. Er versuchte, sie mit der flachen Hand totzuschlagen, doch seine langen krausen Haare, die er zum Zopf zusammengebunden hatte, waren ihm dauernd im Weg.

»Frau Doktor ist hier vor wenigen Stunden auf etwas sehr Außergewöhnliches gestoßen.« In Max Dwyers Stimme lag ein gewisser Triumph. »Sie hat das Skelett einer keltischen Fürstin entdeckt.«

»Wo?« Gruber presste sein Handy fester ans Ohr. »Am Glauberg? Der ist doch längst abgegrast. Was soll man denn da noch finden?«

»Am Fuß des Glaubergs, im freien Feld. Ein weibliches Skelett mit Schmuck und Grabbeigaben.«

Gruber schwieg angespannt. Seine Gedanken rasten. Konnte da tatsächlich noch irgendwo eine keltische Herrscherin im Tal liegen? Ein Menschenopfer, den Göttern dargebracht vom eigenen Volk?

Mara ist auf etwas gestoßen, das niemand je finden sollte.

Sein Mund wurde trocken, und in seinem Hinterkopf meldete sich ein stechender Schmerz. Wie gebannt starrte er auf das öde Land, das sich vor ihm ausbreitete. Die bäuerliche Landschaft der Wetterau legte sich vor seinem inneren Auge über die karge Ebene Anatoliens. Er sah Mara vor sich, wie sie staunend über ihrer Entdeckung stand. Die großen Augen geweitet vor Aufregung, während sie ihre Haare nervös nach hinten band.

Mühsam konzentrierte er sich auf eine Antwort.

»Der Glauberg war ein spirituelles Zentrum der Kelten«, holte er aus. »Man hat dort die Gräber von drei Herrschern entdeckt, aber keines von ihren Frauen. Andererseits haben die Kelten …« Er brach ab. »Wie weit ist Frau Jordan denn mit der Freilegung?«

»Deshalb rufe ich an. Sie überlegt gerade, ob sie eine Blockbergung machen soll, und wüsste gern Ihre Meinung dazu.«

»Gute Idee. Sie soll vorgehen wie bei der Bergung der Fürstengräber, alles am Stück und dann ins Labor.« Das würde Zeit kosten.

»Ich werde es Frau Dr. Jordan ausrichten.«

Gruber schüttelte sich, die Fliege saß ihm schon wieder im Nacken. Der Anrufer war ihm unsympathisch, er fand ihn steif und arrogant.

»Nein, danke, nicht nötig. Ich werde mich selbst bei ihr melden.«

Wie in Trance beendete er das Gespräch.

Als er zu Hüseyin zurückkam, hatte der seine Teestunde beendet. Neugierig sah er ihm entgegen.

»Was ist los?«, wollte er wissen. »Du schaust so grimmig drein. Schlechte Nachrichten?«

»Kann man so sagen«, wich Gruber aus. »Ich muss sofort nach Deutschland zurück.«

* * *

Mara Jordan beugte sich über das Skelett, das sie tags zuvor im Acker entdeckt hatten. Mit einem dicken Pinsel wischte sie ihm etwas Sand aus den Augenhöhlen. Es war eine fast beiläufige Bewegung, eine kleine, routinierte Drehung. Doch es wirkte wie eine zärtliche Geste.

Es war noch früh am Morgen. Die Luft war klar, und die Sonne begann, über die Bergkuppe zu steigen. Bis auf das Zwitschern einiger Vögel war kein Laut zu hören. Selbst die Pendler, die bald in ihre Autos klettern und mit dröhnenden Motoren zur Arbeit fahren würden, schliefen noch.

Mara kniff die Augen zusammen und betrachtete den Schädel noch einmal genau. Die Stirn war gewölbt, die Augenhöhlen waren rund, es gab keine knöchernen Verdickungen darüber. Das alles ließ eher auf eine verstorbene Frau schließen als auf einen Mann. Die Zähne waren fast vollständig, was für eine relativ junge Person sprach. Den Schädel umgaben Reste eines groben Stoffes, die vielleicht von einem Schultertuch stammten, das ihr um den Kopf gelegt worden war. Auf dem Brustkorb lagen noch Erdkrumen, darunter konnte Mara weitere Überreste der Kleidung sehen, Fetzen von halb verrottetem Leinen. Mehr hatte sie von der Toten noch nicht freigelegt. Auf Höhe des linken Ellbogens steckte ein längliches Metallgefäß in der Erde. Ein Teil des Henkels ragte aus dem Boden, und man konnte die Form des Fundstücks bereits erahnen. Vielleicht eine Kanne für Met, den keltischen Honigwein? In Umrissen zeichnete sich außerdem ein Armreif ab, vermutlich Bronze.

Schon bei der ersten Begehung der Fläche war ihnen die Vertiefung im Boden aufgefallen. Ausgerechnet ihr freiwilliger Grabungshelfer Max hatte sie entdeckt. Der ältere Mann musste schon auf vielen Grabungen gewesen sein, so gut, wie er sich mit auffälligen Veränderungen im Boden auskannte. Sie hatte den Baggerfahrer angewiesen, den Oberboden mit äußerstem Fingerspitzengefühl abzutragen, aber dann war er doch ein wenig zu tief in die Erde eingedrungen. Ein vermutlich antiker Schädel war zum Vorschein gekommen, und Mara hatte gerade noch verhindern können, dass auf der nächsten Schaufel das ganze Skelett lag.

Nun musste es geborgen werden, bevor die Presse Wind davon bekam und Schaulustige die Grabung belagerten und zertrampelten. Bevor irgendetwas abhandenkam. Das Team hatte Mara zum absoluten Stillschweigen verdonnert. Bis der Fund in Sicherheit war, durfte niemand darüber reden.

Sie reckte sich und drückte das Kreuz durch. Ihr Rücken schmerzte von der unbequemen Haltung. Doch schon nach wenigen Sekunden beugte sie sich wieder über ihren Fund.

Ganz in der Nähe hatte man Anfang der neunziger Jahre Gräber aus der Keltenzeit freigelegt. Oben am Glauberg war einmal ein großer Grabhügel gewesen, der im Laufe der Jahrhunderte eingesunken und abgetragen worden war. Dort fand man die Urnenbestattung eines Kriegers und die Grabkammer eines hochgestellten Mannes, eines Keltenherrschers. Ein drittes Grab in der Mitte war leer gewesen.

Die Bergung hatte sich als schwierig erwiesen. Die Grabkammern waren vom Gewicht der Erde eingedrückt, die Knochen der Toten durch die Feuchtigkeit halb verrottet. Also stach man rund um die Gräber große Erdblöcke aus und schaffte sie ins Labor, um sie dort in monatelanger Kleinarbeit auseinanderzunehmen. Die Mühe hatte sich gelohnt: Man fand keltische Schwerter, Bronzekannen und Halsreifen aus Gold. Doch die große Sensation war eine vollständig erhaltene Steinskulptur, die einen der Toten darstellte. Bald hatte sie einen Namen: der Fürst vom Glauberg.

Auf der anderen Seite des Skeletts schimmerte nun etwas Grünliches. Mara ging in die Hocke, arbeitete fieberhaft, wischte immer wieder mit dem Pinsel über ihren Fund, blies die trockene Erde fort. Endlich konnte sie sehen, was es war: ein Bronzespiegel!

Den Griff bildete eine kleine Frauenfigur aus Eisen, die mit ausgestreckten Armen eine Scheibe aus Bronze hielt. Jeder Laie wäre enttäuscht gewesen, so dreckig und voller Grünspan war das gute Stück. Aber Mara wusste um seinen Wert. Ein Hochgefühl überwältige sie. Der Spiegel war ganz eindeutig eine Grabbeigabe, wie man sie einer keltischen Herrscherin mitgegeben hätte, für ein Leben im Jenseits. In der Anderswelt.

Mara fotografierte den Handspiegel in seiner ursprünglichen Lage. Dann legte sie das Fundstück in einen flachen Holzkasten und fotografierte es erneut.

Tausend Fragen stürzten auf sie ein.

Wie alt mochte die Frau gewesen sein, als sie starb? Warum lag sie hier draußen im Feld – und nicht näher am Plateau, bei den anderen Bestattungen? Warum hatte sie keine Grabkammer? War die leere Kammer im Grabhügel ursprünglich für sie bestimmt gewesen?

Als sie die Kamera sinken ließ, sah sie, wie ein Mann mit großen Schritten auf sie zukam. Sie erkannte den Lokalreporter, der dem Team schon seit Beginn der Grabung auf die Pelle rückte. In seiner Aufmachung – Cargohosen, kariertes Hemd und eine Weste mit vielen Taschen – war er von einem Archäologen kaum zu unterscheiden.

Der passt problemlos auf jede Grabung.

Mara bückte sich nach der Plane, um ihren Fund abzudecken, doch sie war nicht schnell genug.

»Hallo, Frau Doktor.« Der Journalist hatte sie erreicht und begutachtete das Skelett, das vor ihnen aus der Erde ragte, mit fachmännischem Blick. »Was haben Sie denn da entdeckt? Etwa ein weiteres Fürstengrab?«

»Korrekt wäre es, von einer prunkvollen Bestattung zu sprechen«, gab Mara zurück, verärgert über den ungebetenen Augenzeugen. »Bis heute weiß niemand, wie die Kelten ihre hochgestellten Persönlichkeiten nannten. Wertvolle Grabbeigaben, Goldschmuck – das allein hat diesen Toten den Beinamen ›Fürsten‹ eingebracht.«

»Ich dachte, die Fürsten lägen weiter oben«, meinte der Reporter trocken. »Da, wo jetzt das Museum steht.«

Mara nickte. Der Mann hatte ja recht. Wenn die Bezeichnung aus wissenschaftlicher Sicht auch nicht korrekt war, so genoss sie im allgemeinen Sprachgebrauch dennoch weite Verbreitung. Sie selbst war davon nicht ausgenommen. »Ich habe auch noch keine Theorie, warum diese Dame hier unten liegt. Und dazu noch im freien Feld, ohne Grabkammer. Aber wir werden es herausfinden.«

»Ich mach mal ein Foto.« Er nahm seine Umhängetasche von der Schulter und packte seine Kamera aus.

»Wagen Sie es bloß nicht!«, zischte Mara. »Ich will den Fund in Ruhe bergen. Ein Zeitungsartikel zieht den nächsten nach sich. Wenn die Fotografen sich dann aber hier auf die Füße treten, kommen wir mit der Arbeit nicht mehr voran. Es gibt später eine offizielle Pressekonferenz.«

»Na ja, ich weiß nicht. Wir haben schließlich eine Chronistenpflicht.« Der Reporter ließ seine Kamera nur zögernd sinken. »Wo sind eigentlich Ihre Leute?«

»Die anderen kommen gleich.«

Maras Blick wanderte an das Ende der Planfläche, wo ein Container stand. Er war ihr mobiles Büro, ihre Fundsammelstelle und ihr Aufenthaltsraum. Das Team, das sie leitete, bestand aus fünf Leuten. Simon und Tinka waren Kollegen von der Landesarchäologie; mit Simon hatte sie schon auf einer Grabung gearbeitet. Und mit Tinka hatte sie in Mainz am Institut für Vor- und Frühgeschichte studiert. Von dort kamen auch die beiden studentischen Hilfskräfte. Max Dwyer hatte sich als freiwilliger Helfer angeboten, kurz nachdem sie mit der Grabung begonnen hatten. Der kleine Trupp hatte die Aufgabe, das Terrain auf archäologische Funde zu untersuchen, weil eine kanadische Firma hier in der Tiefe ein seltenes Metall abbauen wollte. Molybdän. Soweit Mara wusste, wurde es für die Stahlherstellung gebraucht.

»Und was liegt dort in der Kiste?« Der Reporter hatte den verwitterten Bronzespiegel entdeckt.

»Das muss heute noch ins Labor nach Wiesbaden. Damit wir wissen, aus welcher Periode das Grab stammt.«

»Hallstatt- oder La-Tène-Zeit«, meinte der Reporter.

»Ja, genau.« Mara musste lächeln. Die Einheimischen wussten viel über Archäologie. Sie hatten die Entdeckung der Gräber damals miterlebt. Man war stolz auf die keltische Vergangenheit und hoffte nun auf das Geld der Touristen.

Wenn man die Leute hier hörte, hatte der bevorstehende Molybdänabbau die Gemüter diesbezüglich heftig erhitzt. Das neue Keltenmuseum, das über dem rekonstruierten Grabhügel stand, sollte in eine unberührte, keltisch anmutende Landschaft eingebettet bleiben, in der es weder Abraumhalden noch Förderbänder gab.

Die Geräusche eines herannahenden Autos beendeten ihr Gespräch. Von der Straße bog ein Mitsubishi-Van ab und hielt neben dem Container. Nach und nach stiegen die Teammitglieder aus. Sie hatten eine Fahrgemeinschaft gebildet und legten die fast neunzig Kilometer lange Strecke von den Büros in Wiesbaden-Biebrich bis zum Glauberg täglich gemeinsam zurück.

Mara hatte die vergangene Nacht auf der Ladefläche ihres VW Caddy verbracht und ihren Fund bewacht. Ausgestreckt auf einer Isomatte hatte sie kaum ein Auge zugetan, war beim geringsten Geräusch immer wieder hochgefahren.

Ihre Angst vor Grabräubern war zu groß.

»Ich muss los.« Mara sah den Journalisten eindringlich an. »Kann ich Ihnen vertrauen, oder muss ich Ihnen die Kamera wegnehmen?«

Der Mann hielt den Fotoapparat hinter seinen Rücken und trat einen Schritt zurück. »Ich hab’s schon kapiert«, murmelte er unwirsch. »Keine Fotos.«

Der Container war etwas zu eng für sechs Leute. Da sie aber die meiste Zeit auf dem Grabungsfeld waren, kamen sie gut zurecht. Mara überließ den anderen die Sitzplätze und blieb stehen. Sie beugte sich über die Karte des Terrains, die sie auf dem schmalen Tisch an der Wand ausgebreitet hatte, und wies mit dem Finger auf die Stelle, an der sich die Grabstätte befand.

»Hier liegt unser Fund. Er muss so schnell wie möglich ins Labor. Ich denke, wir machen eine Blockbergung.«

»Soll ich einen Schwertransporter organisieren?«, fragte Tinka.

»Nein. So aufwendig wird es nicht werden. Schließlich müssen wir keine komplette Grabkammer bewegen, sondern nur ein Skelett mit Grabbeigaben. Im Labor haben wir dann genug Zeit, alles zu präparieren.«

»Wieso hat sie eigentlich keine Grabkammer?«, wollte Simon wissen. »Bei den anderen Bestattungen hat man sich die Mühe gemacht, große Kammern aus Holz zu zimmern. Warum nicht auch hier?«

Mara zögerte. »Möglicherweise wurde die Frau, die wir gefunden haben, umgebracht.« Darüber hatte sie die ganze Nacht gegrübelt. »Irgendetwas Schreckliches könnte geschehen sein, und ihr Volk hat sie geopfert, um die Götter zu versöhnen. Die einfachen Leute hatten vielleicht nicht die Möglichkeit, ihr eine pompöse Grabkammer zu bauen.«

»Du denkst an ein Menschenopfer?« Tinka zwirbelte an einer Haarsträhne, was sie immer tat, wenn sie aufgeregt war.

Max, der freiwillige Helfer, räusperte sich. »Dr. Gruber meint auch, wir sollten eine Blockbergung machen.«

»Wer bitte?«, fragte Mara gereizt.

»Dr. Gruber, der Keltenexperte. Ich dachte, es wäre hilfreich, seine Meinung einzuholen.«

»Sie haben … seine Meinung eingeholt?« Mara starrte den älteren Mann fassungslos an, doch er schien sich keiner Schuld bewusst. Sein rundes Gesicht unter dem hellgrauen Haar strahlte Liebenswürdigkeit und Unschuld aus.

»Ja, ich habe ihn gestern gleich angerufen. Auf seinem Handy. Er arbeitet gerade in der Türkei. Ich soll Sie schön grüßen.«

»Was haben Sie ihm denn erzählt, Max?«

»Nicht viel. Nur dass wir eine Routinegrabung machen und dabei ein keltisches Skelett entdeckt haben.«

Mara fühlte, wie sich ihr Körper anspannte, bereit, vor Zorn zu explodieren.

Peter Gruber. Ausgerechnet der weiß nun als Erster Bescheid.

Sie presste die Lippen aufeinander, um die aufsteigende Wut zurückzuhalten. Es gelang ihr nicht.

»Sind Sie wahnsinnig geworden, Max?«, brüllte sie. »Rufen einfach hinter meinem Rücken einen Kollegen an und plaudern alles aus! Woher hatten Sie überhaupt seine Nummer?«

Max wirkte irritiert. »Von der Mainzer Uni, die Sekretärin war sehr nett.«

Mara ballte die Fäuste, bis sie ihre Fingernägel schmerzhaft in den Handballen spürte. »Wir haben kaum mit unserer Grabung angefangen, da posaunen Sie die Nachricht von der keltischen Fürstin schon in die Welt hinaus! Max, Sie sind nur ein Helfer, kein Wissenschaftler. Auch wenn wir hier gemeinsam arbeiten, heißt das nicht, dass Sie uns gleichgestellt sind. Sie dürfen keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen.«

»Ich wollte nur helfen.«

Mara blickte in seine hellen Augen, die von Lachfältchen umzogen waren.

Versteht er mich nicht, oder nimmt er mich nicht ernst?

»Sie sind gefeuert.«

Alle sahen sie erschrocken an.

»Aber wieso denn?« Simon fasste Mara am Arm. »Der Gruber ist doch einer von uns. Außerdem gehört er wirklich zu den Besten.«

Sie schüttelte seine Hand ab. »Das ist kein Grund, ihn ohne jede Absprache anzurufen. Ich bin selbst Keltenexpertin, unser Team kommt ohne einen Peter Gruber zurecht.«

»Tut mir leid, ehrlich.« Max sah auf seine schwieligen Hände. »Ich dachte, er wäre so eine Art Vorbild für Sie. Weil Sie doch sein Buch hier liegen haben, sogar mit Widmung.«

Mara schaute zu der kleinen Sammlung von Fachbüchern neben dem Computer. »Kelten – Einführung in die Welt der Eisenzeit« von Peter Gruber war eins davon. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie das Buch nicht längst in den Müll geworfen hatte. Peter hatte es ihr nach einem Proseminar überreicht, in dem er ihre Hausarbeit verrissen und Auszüge daraus zur Belustigung der versammelten Studenten vorgelesen hatte. Zwar war das große Gelächter ausgeblieben, nur hier und da war ein verstohlenes Glucksen im Seminarraum zu hören gewesen, dennoch hatte seine Demütigung sie tief getroffen. Mit süffisantem Lächeln hatte er nach dem Seminar an der Tür auf sie gewartet und ihr sein erstes Werk in die Hand gedrückt. »Für Mara – auf den ganz großen Erfolg!«, lautete die Widmung. Ein Foto prangte auf dem hinteren Buchdeckel. Darauf blickte er den Betrachter aus dunklen Augen an und lächelte geheimnisvoll. Das lange krause Haar war streng zurückgekämmt und zum Künstlerzopf gebändigt.

»Nein, er war kein Vorbild«, sagte Mara. »Ich habe nur meine Magisterarbeit bei ihm geschrieben.«

Und ich bin in seinem Bett aufgewacht.

»Darf der Max nicht trotzdem bleiben?«, bettelte Tinka. »Er hat es doch nicht böse gemeint. Und wir brauchen seine Hilfe, um unser Pensum zu schaffen. Ein Mann weniger wäre …«

»Meinetwegen«, lenkte Mara ein. »Aber fragt mich in Zukunft, bevor ihr mit jemandem redet. Das Skelett und die Grabbeigaben liegen noch schutzlos im Feld. Die Sondengänger und Hobbyarchäologen warten nur auf eine solche Gelegenheit. Ich schlage mir hier nicht grundlos die Nacht um die Ohren.«

»Ich kann die nächste Wache übernehmen«, bot Max an. »Als Wiedergutmachung für meinen Fehler.«

»Das wird vorerst nicht nötig sein«, sagte Mara. »Aber vielleicht komme ich später auf Ihr Angebot zurück.«

Im Container machte sich Erleichterung breit. Tinka suchte im Internet nach einer Transportfirma, Simon erklärte den beiden Studenten die Ergebnisse des Georadars.

Mara atmete tief durch; langsam beruhigte sie sich. Peter Gruber war in der Türkei, dreitausend Kilometer entfernt.

Dreitausend Kilometer und drei Jahre sind eine gute Distanz.

Ihr Ausbruch tat ihr nun leid. Sie betrachtete Max, der etwas verloren auf seinem Stuhl saß. Voller Begeisterung für die Archäologie, freundlich und hilfsbereit, war er eigentlich genau der Richtige für ihre Grabung. Er war bestimmt schon an die sechzig, aber robust gebaut und hatte sich gut in Schuss gehalten. Seine Ruhe und sein Interesse an den Kelten beeindruckten sie. Außerdem erinnerte er sie an ihren Großvater.

Vermutlich hab ich ihn vor allem deshalb eingestellt.

»Kommen Sie, Max, gehen wir wieder an die Arbeit.« Sie wandte sich zum Fenster. Wie lange hatten sie wohl noch Tageslicht?

Draußen auf dem Grabungsfeld beugte sich der Reporter über das Skelett. Er hatte seine Kamera gezückt und hielt sie auf den Fund gerichtet.

Mara verspürte den Impuls, zu ihm zu laufen und ihm die Kamera doch noch wegzureißen, doch im selben Moment richtete er sich auf, sah sie und rannte über das Feld davon.

»Den holen Sie nicht mehr ein.« Max war zu ihr ans Fenster getreten. »Solchen Typen dürfen Sie nie vertrauen.«

* * *

Peter Gruber parkte seinen Oldtimer, ein Mercedes Cabrio, in sicherer Entfernung des Containers. Die letzten Meter hatte er den Wagen im Leerlauf rollen lassen und die Scheinwerfer ausgeschaltet. Nun stieg er leise aus. Es war drei Uhr morgens. Nacht genug, um nicht gesehen zu werden. Und ausreichend Dämmerung, um etwas zu erkennen.

Nach dem Anruf von Maras Mitarbeiter hatte er ein paar Telefonate geführt und einen alten Freund in Bewegung gesetzt. Am Tag darauf war er nach Ankara gefahren, um den nächsten Flug nach Frankfurt zu nehmen. Seinen Aufbruch aus Gordion hatte er mit einer dringenden Familienangelegenheit erklärt. Schon sehr bald würde er zurück sein. Ein Taxifahrer hatte ihn in sein Haus chauffiert, wo er gewartet hatte, bis es an der Zeit war.

Und nun war er hier, in der Wetterau. Die vertraute Landschaft seiner Kindheit lag vor ihm wie ein Schwarz-Weiß-Foto, dunkle Schatten auf den Feldern zeigten sanfte Mulden an. Im Dämmerlicht konnte er das Bauschild der kanadischen Firma erkennen, die hier im Boden nach Rohstoffen suchen wollte. Mara hatte Humuserde abtragen lassen, sie war am Rand zu einem Wall zusammengeschoben. Dicht daneben wartete der Bagger auf den nächsten Einsatz.

Mara ist weit gekommen. Beinahe zu weit.

Er warf einen letzten Blick auf die Grabung, um sich zu orientieren, prägte sich die Lage der einzelnen Ausschachtungen ein, den Verlauf des Trampelpfads. Lautlos ging er um seinen Wagen herum und öffnete den Kofferraum.

Ein Motorgeräusch ließ ihn innehalten. Auf der anderen Straßenseite kämpfte sich ein Kleinbus aus dem Acker und bog auf die Landstraße ab. Ein Ford Transit, grau wie die Nacht.

Sicher ein Liebespaar. Der Dorfjugend fehlen nach wie vor die warmen Plätzchen.

Instinktiv hatte Gruber hinter seinem Wagen Deckung gesucht, nun richtete er sich wieder auf. Er klemmte sich den Klappspaten und die Rolle blaue Mülltüten unter den Arm und ließ den Kofferraumdeckel leise einrasten.

Er wollte sich gerade auf den Weg machen, als er am Straßenrand über etwas stolperte. Im fahlen Licht der Dämmerung konnte er nicht gleich erkennen, was es war. Er drehte es mit der Schuhspitze um und stellte fest, dass es sich um eine tote Katze handelte. Genau genommen war es nur noch ihr Gerippe, an dem hier und da etwas Fleisch und Fell klebte. Der Stubentiger war längst in seine nächste Inkarnation übergegangen, vermutlich war er schon vor einiger Zeit von einem Autofahrer erwischt worden. Gruber betrachtete seinen Fund mit sachlichem Interesse.

Der Kleine könnte Mara gefallen. Die Art, wie er die Zähne bleckt, ist irgendwie niedlich.

Er ließ den Klappspaten aufschnappen, riss einen Müllsack von der Rolle und beförderte den Katzenkadaver hinein. Dann endlich trabte er los, den Müllbeutel über der Schulter. Dass ihn nun ein unangenehmer Geruch umwehte, störte ihn nicht weiter. Nichts, was der Natur anhaftete, war ihm fremd. Schon als Kind hatte er Regenwürmer zerteilt, Käfer mit der Lupe gegrillt und Spinnen die Beine ausgerissen, um zu sehen, was danach mit ihnen geschah. Die Aufregung, mit der die Erwachsenen auf seine Experimente reagierten, wenn sie davon erfuhren, hatte er nie verstanden. In ihrer moralischen Überheblichkeit hatten sie ihm unterstellt, er würde sich am Leid der kleinen Kreaturen weiden und die Geschöpfe des Herrn nicht respektieren. Doch das waren unrechte Beschuldigungen. Niemand begeisterte sich leidenschaftlicher für die Natur und ihre Geschöpfe als er.

Der Trampelpfad, den das Team hinterlassen hatte, führte ihn geradewegs zu der Stelle, die er suchte. Seine Augen hatten sich nun an das Dämmerlicht gewöhnt. Reglos betrachtete er einen Moment lang die flache Vertiefung, in der die Tote lag. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und schaute zum Container hinüber.

Mara war so zäh und ehrgeizig, es hätte zu ihr gepasst, ihre Grabung rund um die Uhr zu bewachen. Wenn er daran dachte, dass sie einmal Tausende von Tonscherben auf keltische, germanische und römische Namen hin untersucht hatte, nur um zu beweisen, dass die keltischen Treverer in der römischen Bevölkerung aufgegangen waren …

Doch im Container war alles dunkel und still.

Noch einmal sah er das Skelett an, dann bückte er sich und fing an zu graben. Er arbeitete mit dem Klappspaten, bis ihm warm wurde. Dann half er mit bloßen Händen nach. Tastete nach dem Schädel unter den Stoffresten, fühlte nach der Kanne. Er schämte sich, dass er so unwissenschaftlich zu Werke ging, er wollte nichts zerstören. Doch nun kam alles darauf an, dass er Maras Fund so rasch wie möglich vollständig barg und abtransportierte. Die Zeit lief ihm davon, der Lichtstreifen am Horizont wurde zusehends breiter, dunkle Wolken jagten über den Himmel. Ein Unwetter zog auf.

Aus der Ferne rollte bereits der Donner heran, hinter den Hügeln zuckte ein Blitz.

Sein Atem ging nun stoßweise, er war in Schweiß gebadet und verlor bald jedes Gefühl für die Zeit. Immer wieder lockerte er abwechselnd die Erde um den Fund herum mit dem Spaten und fuhr mit den Händen unter das Skelett, um es der Erde zu entreißen. Kurz vor Ausbruch des Gewitters spürte er die elektrisch aufgeladene Luft. Ein gleißender Blitz jagte über den Himmel, und Grubers Kopfhaut zog sich vor Anspannung zusammen.

Was für eine verfluchte Geschichte!

Ein Windstoß zerrte an dem Müllsack, als er die Katze auf den Acker gleiten ließ. Schnell legte er die Knochen der Toten hinein. Dann stopfte er die Grabbeigaben in einen zweiten Sack.

Nur eine Kanne und ein Armreif? Das kann doch nicht sein …

Er kniete sich noch einmal in die Vertiefung, durchwühlte die Erde mit bloßen Händen. Da war noch ein Stück von ihrem Schultertuch, sonst nichts. Fluchend warf er es zu den Knochen in den Müllsack. Schwer atmend riss er sich schließlich von der Grabungsstelle los und kickte mit einem Fußtritt die tote Katze hinein.

Bei der Vorstellung, was Mara für ein Gesicht machen würde, wenn sie den Kleinen entdeckte, musste er innerlich lachen.

So was Schönes findet man nicht jeden Tag, liebe Mara.

Die Kanne im Müllsack schlug schwer gegen seine Beine, als er über das Feld zur Straße zurücklief. Den zweiten Plastiksack mit den Knochen hielt er an seine Brust gedrückt.

Wie leicht ein Mensch doch ist, wenn nur das Skelett übrig bleibt.

An seinem Wagen angekommen, legte er seine Beute sachte auf den Rücksitz. In diesem Augenblick setzte der Regen ein, schwere Tropfen prasselten in sein Cabrio, durchnässten sein Haar und rannen ihm in den Kragen. Leise fluchend mühte er sich mit dem Autodach ab, um es zu schließen; eine Sturmbö riss es ihm beinahe aus der Hand.

Endlich hatte er es geschafft.

Als er am Container der Archäologen vorbeifuhr, sah er Licht im Innern schimmern. Ein schwacher Schein nur, wie vom Monitor eines Computers.

* * *

Mara hatte sich von der Ladefläche ihres Wagens in den Container zurückgezogen, weil der Wetterdienst Regen angesagt hatte. Es war die zweite Nacht, in der sie ihren Fund bewachte.

Eine Weile hatte sie über dem Grabungsbericht gesessen und zu arbeiten versucht, doch ihre Gedanken waren immer wieder abgeschweift.

Sie hatte zu dem schmalen Band über die Kelten gegriffen, den Peter Gruber ihr damals überreicht hatte, und darin herumgeblättert. Schließlich klappte sie ihn zu und betrachtete sein Foto auf der Rückseite des Einbands.

Dieses Selbstbewusstsein. Der leicht überhebliche Blick des ausgewiesenen Intellektuellen. Der Zopf, der ihm gleichzeitig das Aussehen eines kompromisslosen Künstlers verlieh, eines Individualisten, der sich seine Freiheit beharrlich erkämpft hatte. Er wirkte anziehend, ja. Weil man so unabhängig und stark durchs Leben gehen wollte wie er und weil man hoffte, man könne dies in seiner Nähe lernen.

Auch Mara war von ihm beeindruckt gewesen, im ersten Semester. Sie hatte seine Nähe gesucht und sich bemüht, ihm aufzufallen. Dass er ständig von jungen Mädchen umringt war, hatte sie als Herausforderung betrachtet. Bis sie hörte, wie die älteren Studentinnen über ihn redeten. Dass er jedes Semester »das Frischfleisch abgriff«.

Mara wollte kein Frischfleisch sein, keine Nummer unter vielen. Sie war Peter Gruber von da an aus dem Weg gegangen. Prompt hatte er angefangen, sie zu umwerben. Und jede Zurückweisung hatte ihn noch mehr angespornt.

Der Jäger und seine Beute, das alte Spiel.

Als der Container von einem Donnerschlag erschüttert wurde, schreckte Mara hoch.

So ein Mist, sie war eingeschlafen!

Mit verschränkten Armen hatte sie dagesessen, nachgedacht und gegen den Schlaf angekämpft, aber das leise Surren des noch angeschalteten Computers hatte sie schließlich eingelullt.

Sie stieß den Stuhl von sich, auf dem ihre Füße gelegen hatten. Im Aufstehen wollte sie sich an der Tischplatte abstützen, doch ihre Hand landete schmerzhaft in der kleinen Holzkiste voller Kleinfunde. Tinka und Simon hatten sie hier abgestellt. Spitze Scherben aus einer antiken Abfallgrube auf dem Gelände.

Mara leckte sich das Blut vom Finger und bedachte die Kiste mit einem bösen Blick. Die Bronzestücke könnten Teile von Waffen gewesen sein, Messerspitzen oder Reste von Schwertern.

Sie hatten Tiere getötet, vielleicht sogar Menschen.

Den blutenden Finger im Mund, ging sie zur Tür des Bürocontainers und öffnete sie. Der Wind riss ihr die Klinke fast aus der Hand.

Ein gewaltiger Blitz erhellte das Gelände, gefolgt von krachendem Donner. Es goss in Strömen, Mara konnte durch den Wasserschleier gerade noch den kleinen Vorplatz erkennen, auf dem sie Holzkisten, Spaten und Schaufeln abgestellt hatten. Sie zog sich eine Regenjacke über und stieg hastig in ihre Gummistiefel.

Ich muss nachsehen, was die Fürstin macht.

Sie schlug die Tür hinter sich zu und rannte los. Nach wenigen Metern war ihr Haar durchnässt; wie ein Wasserfall prasselte der Regen auf sie herab. Das Gewitter war jetzt direkt über ihr, Blitz und Donner folgten einander in kurzen Abständen. Sie hatte Mühe, den schmalen Pfad zu erkennen, den das Team in den Acker getreten hatte. Dicke Tropfen liefen ihr in Rinnsalen über Stirn und Augen und nahmen ihr die Sicht.

Sie wischte sie weg und lief weiter.

Wenn mein Großvater mich jetzt sehen könnte!

Als Kind hatte sie diese Gegend oft mit ihrem Großvater durchstreift. Gemeinsam waren sie über die Wiesen und Äcker gezogen und hatten nach Überresten vergangener Völker gesucht, hatten hier etwas aus der Erde gepult und dort etwas ausgegraben.

Konnte dieses Stück Holz von einem Fürstenhof stammen? Gehörte jene Scherbe zu einem sagenhaften Gefäß?

Während andere Kinder mit Eimer und Schaufel im Sandkasten gespielt hatten, war Mara auf Schatzsuche gegangen.

Der Großvater hatte als junger Mann mit dem Reichsarbeitsdienst am Glauberg gegraben. Der Grabungsleiter ließ damals einen langen Suchgraben in das zu der Zeit noch dicht bewaldete Plateau schlagen, um die Besiedlung der Heimat bis in die graue Vorzeit hinein zu erforschen. Die Nationalsozialisten hatten der Welt vor Augen führen wollen, wie geschichtsträchtig das deutsche Volk war. Ihre Grabungsergebnisse belegten schnell, dass der Glauberg auf eine lange, wechselvolle Geschichte zurückblicken konnte, von der mittleren Jungsteinzeit bis ins Hochmittelalter. Zum Leidwesen der braunen Machthaber fand man jedoch nicht die erhofften germanischen Überreste, die geeignet gewesen wären, die arische Propaganda zu untermauern.

Die Grabung war aufgegeben worden, doch den Großvater hatte die Archäologie nie mehr losgelassen. In glühenden Farben hatte er Mara das Leben ausgemalt, das sich vor Jahrtausenden hier abgespielt hatte. Von Kelten und Römern hatte er ihr erzählt, von Fürsten, Druiden und Kriegern. Geschichten, die sie nie vergessen hatte und die sie noch in ihrem Erwachsenenleben begleiteten.

Schon von Weitem erkannte Mara, dass etwas an der Grabungsstelle nicht stimmte. Die Plane war halb aufgeschlagen und flatterte im Wind. Womöglich war Wasser eingedrungen. Sie musste sich beeilen, die schützende Abdeckung wieder über das Skelett und die Grabbeigaben zu ziehen.

Am Fundort angekommen, griff sie nach der Plane und hielt Ausschau nach dem Stein, der sie beschwert hatte. Als ein Blitz das Grab erhellte, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen.

In einer braunen Pfütze schwamm das Skelett einer Katze.

Das Tier lag auf der Seite und hatte die Pfoten leicht gekrümmt, der Schädel war ihr zugewandt. An der Schnauze klebten durchweichte Fellreste, und nur in der rechten Augenhöhle befand sich noch ein Auge, das sie mit leerem Blick anstarrte. Der Regen prasselte dem toten Tier ins Maul, dass es aussah, als würde es sich recken, um etwas zu trinken.

Während der Donner über sie hinwegrollte, sank Mara auf die Knie und durchwühlte mit beiden Händen das trübe Wasser. Sie schob die Katze zur Seite und grub ihre Finger in den Schlamm. Aber da war nichts mehr. Kein Gefäß für Met. Kein Schmuckreifen aus Bronze. Und nicht ein Knöchelchen der keltischen Fürstin.

Wütend schlug Mara beide Fäuste auf die nasse Erde.

Also doch! Grabräuber!

ZWEI

Felix Kaltwasser stand im großen Saal des Frankfurter Congress Centers auf der Bühne, die Arme ausgebreitet wie ein Prediger.

»Warum stürzten die Twin Towers in New York ein? Warum barst die Ölpipeline in Alaska? Ganz einfach: minderwertiger Stahl. Stahl, der spröde ist und rostet, der Risse bekommt und zerbricht. Solchen Stahl will heute niemand mehr, nicht die Baufirmen, nicht die Flugzeugindustrie, nicht die Ölförderer. Erst Molybdän macht Stahl ausreichend elastisch.«

Das Publikum folgte ihm gebannt. Er war in Hochstimmung. Auf dem dritten Global Investment Meeting war er der prominenteste Redner. Die meisten Besucher kannten ihn bereits aus dem Fernsehen, wo er als Experte für Rohstoffe regelmäßig von den Wirtschaftssendern interviewt wurde. Nun war er fast am Ende seiner PowerPoint-Präsentation. Der Titel: »Deutschland – Land der Rohstoffe«. Über eine Stunde lang hatte er die Anwesenden darüber aufgeklärt, dass in Deutschlands Grund und Boden unvorstellbare Reichtümer lagen. Clevere Firmen stiegen heute wieder in Kupferminen ein, bohrten nach Zinn und Nickel und versuchten ihr Glück sogar als Öl- und Gasförderer. Andere suchten nach seltenen Erden oder Hightech-Metallen, die auf dem Weltmarkt Höchstpreise erzielten. So wie Molybdän.

Kaltwasser wusste, dass seine Zuhörer nicht alles verstanden, was er sagte. Aber das brauchten sie auch nicht. Es genügte, wenn sie ein Geschäft witterten, das sie sich keinesfalls entgehen lassen durften.

DAX