Ernst Jünger

Atlantische Fahrt

»Rio – Residenz des Weltgeistes«

Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Detlev Schöttker

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Impressum

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Klett-Cotta

© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Klett-Cotta Design

© Nachlass Ernst Jünger im Deutschen Literaturarchiv (Marbach)

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93952-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10574-2

Dieses E-Book beruht auf der 1. Auflage 2013 der Printausgabe

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung des Herausgebers

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Atlantische Fahrt

Briefe an Friedrich Georg Jünger aus Brasilien

Reaktionen von Lesern

Detlev Schöttker: Vom Amazonas nach Rio de Janeiro –
Ernst Jüngers Brasilienreise

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Zur Edition

Siglen und Abkürzungen

Bild- und Rechtenachweise

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Bildteil

Vorbemerkung des Herausgebers

Erscheinungsort und Thema der ersten Buchveröffentlichung Ernst Jüngers nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren ungewöhnlich. Das Buch erschien 1947 in London in einer Reihe für deutsche Kriegsgefangene unter dem Titel Atlantische Fahrt und enthielt Aufzeichnungen einer Brasilienreise, die den Autor im Jahr 1936 von Hamburg über die Azoren nach Belém, Recife, São Paulo, Rio de Janeiro und Bahia führte. 1948 und 1949 erschienen weitere Ausgaben in der Schweiz und Deutschland. Doch wurden auch sie wenig beachtet, da die zur selben Zeit veröffentlichten Strahlungen, Jüngers Aufzeichnungen über seine Zeit als Besatzungsoffizier in Paris, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zogen.

Inzwischen richtet sich das Interesse auf eine globalisierte Welt. Deren frühe tropische Ausformungen hat Jünger in Atlantische Fahrt dargestellt. Die vorliegende Neuausgabe ist kommentiert und enthält erstmals veröffentlichte Dokumente, die Vorgeschichte und Rezeption des Buches veranschaulichen: sechs Briefe des Autors an seinen Bruder Friedrich Georg aus Brasilien, Briefe von Mitreisenden, mit denen er über lange Zeit Kontakt hatte, und eine in Vergessenheit geratene Rezension Erhart Kästners, die Werk und Rezeption kritisch wertet. Abbildungen zeigen Schiff, Reiseroute, Orte und Passagiere, so dass Jüngers Biographie um ein unbekanntes Kapitel ergänzt wird.

Atlantische Fahrt

Hamburg, 19. Oktober 1936

Goslar; der Stadtwall im Abschiedskleid: in den Farben des Herbstlaubes. Gegen Mittag in Hamburg. Tiefer, einsamer Schlaf im Hotelzimmer: seine Dämonie. Abends in »Spechts Weinstuben«, harmonisch, ohne das übliche Hin und Her zwischen Hippodromen und chinesischen Garküchen, mit den stachligen Diskussionen darum. Gespräch über den Tod, an dem sich Albrecht Erich Günther, Weinreich, Stapel und Ziegler beteiligten.

An Bord, 20. Oktober 1936

Im Wartesaal Begegnung mit Ursula L., auf Grund eines Briefwechsels. Da ich den Vornamen als »Ulrich« entziffert hatte, erwartete ich einen Knaben, etwa einen Sekundaner, und war durch die Erscheinung des Mädchens überrascht.

In einer kleinen Hafenwirtschaft erquickte ich mich dann an einem indischen Reisgerichte, dessen Würzung einen befahrenen Koch verriet. Gegen halb vier Uhr fuhr die »Monte Rosa« von der Überseebrücke ab. In der Kabine fand ich zu meinem Entsetzen einen tollen Schwätzer, der mir einen einstündigen Vortrag über die Kunst des Kofferpackens hielt. Zum Glück gelang es mir, mich seiner Gesellschaft zu entledigen, indem ich den Steward bestach.

An Bord, 21. Oktober 1936

Mein Tischnachbar: flache, doch liebenswürdige Intelligenz. Den großen Speisesaal hellt eine Art von Ferienstimmung auf, von frohgemuter Aussicht, von Freiheit aus der guten alten Zeit der Kindheitserinnerung. Beim Frühstück taucht backbords das Feuerschiff von Terschelling aus hellgrauen Regenschleiern auf. Ein wenig später huscht ein Schwarm von Strandläufern dicht über die trübgrünen Wogen, in einsamem und wagnishaftem Fluge durch den feuchten Dunst.

An Bord, 23. Oktober 1936

Zur Linken blieb die französische Küste mit ihren vorgelagerten, gezackten Inseln hinter uns. Die Farbe des Meeres vertieft sich zu einem stumpfen, fast schwarzen Blau.

An Bord, 24. Oktober 1936

Ich versuchte in meinem neuen Buch zu lesen, von dem ich ein Stück aus Hamburg mitgenommen hatte, und warf es dann über Bord. Es tauchte, ohne eine Spur zu hinterlassen, in den kristallenen Schaum. Woher mag dieser Widerwille kommen, kaum daß die Arbeit abgeschlossen ist? Daraus, daß die Idee stets unerreichbar bleibt und vor dem Traumesglanz die Niederschrift verblaßt?

Merkwürdig bleibt der starke Trieb zu diesen Kompositionen, die, wenn nicht das Wasser, so doch das Feuer verzehren wird, falls sie nicht längst im Schatten der Vergessenheit vermodert sind. Wozu dann diese Anspannung des Geistes, das Wägen der Silben wie beim Eidschwur und auch die Furcht wie vor den Schranken eines bedeutenden und mächtigen Gerichts? Sicher verbirgt sich, wenn etwas transzendiert, in diesem Mühen und Ringen an den Grenzen des Wortes das Überzeitliche, und nicht im ausgeprägten Werk. Die Feder des Autors ist mit einem Storchschnabel verbunden – der zieht die wahren Linien im Unsichtbaren aus. Dort ists getan.

An Bord, 25. Oktober 1936

Hesperische Wärme. Wir suchen den Frühling in seinen Residenzen auf.

Am Horizont kreist ein dunkler Vogel mit schmalen Schwingen von Sensenform. Zuweilen taucht er in die Wogentäler, in Bogen segelnd, bei denen er oft auf der Spitze des Flügels steht. Welch kühner Gedanke, der dieses Leben in seiner unerhörten Einsamkeit erfand.

Ponta Delgada, 27. Oktober 1936

Zwei Tage lag das Schiff vor Ponta Delgada, dem Hauptort der Azoreninsel São Miguel. Bestellte Felder, weiße Gehöfte breiten sich vor dem dunklen Hintergrunde vulkanischer Ketten aus. Wie immer beim Anblick von Inseln hatte ich ein heimatliches, ein wiedererkennendes Gefühl.

An Land, in einem kleinen Boot. Beim Landen genoß ich einen jener Augenblicke gewaltig anschießender Einsicht, die allzu selten sind – und zwar bei der Betrachtung einer leichten Woge, die sich im Sonnenglanz der Mole entfaltete. In ihrem klaren, blaugrünen Lebensschimmer erkannte ich die ungeheure Tiefe und Fruchtbarkeit des Elementes, die hohe Fülle der Heiterkeit, die in neptunischen Palästen wohnt. Wenn unsere Augen immer diese Sehkraft zierte, dann würden wir, wie die Alten, an der Tafel der Götter zugelassen sein. Doch ist sie wohl nur der Vorschmack einer unvergänglicheren Welt.

Ich lernte hier viele neue Pflanzen kennen; und andere, die mir bislang nur in den Gärten und Treibhäusern begegnet waren, sah ich in freier Natur. So Palmen, deren Stämme wie auf den Hals gestellte Flaschen sich erhoben, und andere, die ein Unterbau von Stelzen trug. Eine baumförmige Datura, deren rosa Flor als Glockenspiel im Winde schaukelte, schmückte die Gärten neben einer Euphorbie, deren giftgrüne Büsche von grellroten Scheinblüten wie von leuchtenden Präsentiertellern überhöht wurden. Zu ihren Füßen streckte eine große scharlachene Lilie die Staubgefäße wie Löwenzungen vor. Noch fremder wirkten die hartgeschuppten Zweige ungeheurer Araukarien, die sich wie Schnüre ausbreiten, und die starren Wedel der Drachenbäume, denen, wenn sie verwundet werden, blutrotes Harz entquillt. Das ist ein Hintergrund für Saurier und Echsen, von denen ich freilich nur eine zierliche Vertreterin in einer Mauerfuge sah. Sie war schwarz mit vier lederweißen Rückenstreifen, und auch die kleinen Tatzen waren weiß gescheckt.

Selbst an den Rainen blühten Gewächse, wie man sie bei uns nur in Ziergärten sieht, wie die Lantana, deren violette Dolde einen Kern von gelben Blüten trägt. Während ich durch die Felder einem der Haine von hohen Lorbeerbäumen zustrebte, erquickte ich mich herzhaft an dieser Pracht. Ich fing dabei zur Probe und zur Bereicherung meines Jagdbuches auch einige Coleopteren, ohne besonders danach auf Suche zu gehn. Zu ihrer Bestimmung will ich die Werke des Engländers Wollaston zu Rate ziehen, der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts mit der Yacht eines reichen Freundes die atlantischen Inseln besuchte und ihre Fauna erforschte und beschrieb.

Auffällig sind ungeheure Hecken aus hohen Bäumen, die manche Felder rechteckig umfrieden; sie sollen die Teepflanzungen schützen, die gegen Wind empfindlich sind. An Sonnenhängen leuchten die weißgetünchten Scheiben der Kalthäuser, in denen man Ananasse zieht. Um auszureifen, bedürfen sie nur eines geringen Schutzes, dessen Gewährung durch die billigeren Frachten reichlich aufgewogen wird.

Am Strand, zu einem Seebade. Es war nicht einfach, eine freie Stelle zu finden, da ein zackiger Lavagürtel die Küste dunkel umschnürt. Auch der Sand ist schwarz wie Kohle, da er aus gepulverter Lava besteht. Das teilt dem Strandvergnügen eine melancholische Note mit.

Nahe der Stadt verrosten die Trümmer zerschossener Öltanks; auch zerfällt auf den Klippen das Wrack eines Dampfers, der von einem deutschen Unterseeboot gejagt wurde. Ich fand die Erinnerung an diese Episode aus dem Weltkrieg noch um so lebendiger, als die Beschießung einige Kinder, die am Strande spielten, das Leben kostete. An diesem friedlichen Gestade hat das einen außerordentlichen Eindruck hinterlassen, als Offenbarung einer fremden, dämonisch-bösartigen Welt.

Und dennoch schien mir, auf der anderen Seite, der ferne Archipel ein Sinnbild unserer Lage: als eine Kette von Vulkanen, die sich an den äußersten Grenzen Europas inmitten endloser Einöden erhebt.

An Bord, 30. Oktober 1936

Wieder an Bord des Schiffes, das nun vor den Ufern des Amazonas kein Land berühren wird.

Seit gestern vergnüge ich mich mit dem Studium der Fliegenden Fische, die bald hinter den Azoren auftauchten. Sie schießen vor dem Bug des Schiffes, zuweilen einzeln, häufiger noch in Schwärmen, aus dem Wasser auf. Die ersten, die ich erblickte, waren ziemlich klein; sie schienen mir kaum spannenlang. Auch glaubte ich zunächst an einen Augentrug, an ein reines Erzeugnis der Phantasie. Als sich jedoch das Schauspiel wiederholte und größere Tiere aufstiegen, prägte sich mir bald der Ablauf des Fluges ein. Der Fisch erhebt sich pfeilschnell aus dem Meer und schwebt flach über seinen Spiegel hin. Bevor er sich ablöst, wirbelt der Schwanz noch eine Weile wie eine Schraube auf dem Wasser, dann fliegt der Körper, wie aus einer Schleuder abgeschossen, durch die freie Luft. Im Anfang der Bahn perlt eine Doppelkette von Wassertropfen von den ausgespannten Flossen ab. Nach einer oft ausgedehnten Fahrt, bei der auch Bögen beschrieben werden, taucht der Fisch mit angelegten Flossen wieder ein. Die See spritzt dabei wie unter dem Einschlag eines Geschosses auf.

Kleinere Stücke waren perlgrau opalisierend mit blaugrün schimmerndem Flossengrunde; bei größeren belebten sich die Farben und nahmen Lichter des Pfauenhalses an. Die Form erinnert mehr an eine große Heuschrecke als an einen Fisch. Der hohe Grad von Prägung, von Ausgeformtheit, der dem Schauspiel innewohnt, läßt eher ein Insekt vermuten als ein Wirbeltier.

Es ist schon recht schön warm geworden; heut morgen betrugen sowohl die Luft- als auch die Wassertemperatur 24 Grad Celsius. An Deck ist ein Schwimmbad errichtet, in dem man sich jetzt gern erfrischt.

Unter der gemischten Gesellschaft, die heutzutage nach Phäakenart die Meere durchquert, machte ich einige Bekanntschaften, darunter die von St., mit dem ich die Stunden des Sonnenbades im Liegestuhl verplaudere. Er würde in einen Roman von Joseph Conrad passen, war früh Waise, ging dann zur See und machte den Weltkrieg auf Schiffen mit. Im Frieden betrieb er seltsame Geschäfte, war Mitglied kommunistischer Orden und scheint noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt. Bei solchen Naturen steigen in der Unterhaltung zuweilen fremdartige Gebilde wie Meerestiere vom Grund der Erinnerung auf. Jedoch empfiehlt es sich, zu tun, als ob man sie nicht sähe; es können Köder darunter sein.

C. ist von offener Jovialität, alter Artillerist, jetzt Ingenieur, der sich ballistischen Fragen und der Erfindung von Kanonen zugewendet hat, kurzum: ein Menschenfreund. Er führte mich gestern in die Maschinenräume des Schiffes ein, in denen die großen Dieselmotoren inmitten einer glühenden Luft mit herrlicher Sicherheit arbeiteten. Ich unterhielt mich heute mit ihm über die höllische Hitze; er meinte, die Räume ließen sich gründlicher abkühlen, aber auf Kosten der Wirtschaftlichkeit. Er mußte mir jedoch darin recht geben, daß die vollkommene Wirtschaftlichkeit auch voraussetzt, daß keine Wärme verlorengeht und daß man bei zunehmender technischer Perfektion zugleich an Energie und Bequemlichkeit gewinnen müßte, so wie sich in der guten elektrischen Birne geringerer Wärmeverlust mit höherer Leuchtkraft kombiniert.

An Bord, 31. Oktober 1936

Weiter die Fliegenden Fische betrachtet, die heute noch zahlreicher und in noch stärkeren Schwärmen gaukelten. Ich bediente mich dazu eines Glases, da das Verdeck den Meeresspiegel bedeutend überragt. Dabei fiel mir ein Wesen auf, das sich aalartig neben dem Schiffe schlängelte. Es war gebändert; hellgraue Streifen wechselten mit himmelblauen ab. Seit heute morgen taucht auch die Portugiesische Galeere auf. Das Tier treibt auf der Wasserfläche wie eine zarte gläserne Blase, deren Wölbung den Himmel spiegelt, und senkt die Fangarme als brennend rote Schnüre tief hinab. Die leuchtende Herzfarbe strahlt aus dem kristallhellen Blaugrün des Meeres in herrlicher Frische hervor.

An Bord, 1. November 1936

Das Wetter war windig und regnerisch, doch gab es gegen Mittag beim Baden einige Augenblicke der Sonnenstrahlung, die zur Bräunung hinreichten. Auch der Mond steht nachts jetzt sehr hoch, fast im Zenit. Bekannte Sternbilder verschwinden, unbekannte tauchen auf.

Auch heute setzte ich das Studium der Fliegenden Fische fort und glaube, daß ich ihr Spiel erfaßt habe. Es läßt sich in vier Zeiten teilen, nämlich in:

1. Das Auftauchen. Der Fisch wird als Perlmutterschatten unter der Oberfläche sichtbar und schnellt sich durch rasche, quirlende Schwanzschläge über sie empor. Der Schwanz wirkt dabei wie ein Druckpropeller, der die zum Flug erforderliche Anfangsgeschwindigkeit erzeugt. Zuweilen mißglückt auch der Start.

2. Den Schwirrflug. Die großen Flossen werden aufgespannt und führen einige wirbelnde Schläge aus. Durch diese Bewegung wird die Höhe erreicht, von der aus der eigentliche Streckenflug beginnt.

3. Den Segelflug. Diesen Abschnitt legt der Fisch mit starr gespreizten Flossen zurück, deren Gräten gleich Rippen oder gleich Spangen eines Schirmes sichtbar sind und auch in ähnlicher Weise aus dem Bezug der Flughaut vorstoßen. Die Richtung kann durch Kurven geändert werden; auch ist es dem Tiere möglich, durch einige Schwanzschläge zusätzlich Kraft zu erzeugen, indem es nochmals den Wasserspiegel streift.

4. Das Eintauchen. Der Fisch geht zum Gleitflug über, legt die Flossen an und schlägt in spitzem Winkel in das Wasser ein, in dem man ihn weiterschwimmen sieht.

Am Abend stand vor der Sonne eine blendend weiße Wolke, die sich an der Unterseite vergoldete. Darüber lösten sich silbergrüne und rosenrote Bänder ab, die sich perlmuttrig schieferten. Das Panorama gab Einblick in unermeßliche Lichtreiche.

An Bord, 4. November 1936

Vor Mittag glitt der Dampfer über den Äquator hinweg; ein Sirenensignal verkündete den Augenblick. Gleich darauf tauchte Land zur Linken auf. Wie um die ersten Grüße des neuen Weltteils zu überbringen, überflogen abenteuerliche Vögel das Schiff. Ihr Leib und die sichelförmigen Flügel waren tiefschwarz, der Kopf und der vorgestreckte Hals blendend weiß. Märchenhaft aber wurde ihr Anblick dadurch, daß dieser halb möven-, halb reiherartigen Gestalt ein langer Fasanenschweif nachwogte.

Das Blau des Meeres verfärbte sich am Morgen zu bläßlichem Grün. Dann wurde das Wasser immer trüber und endlich lehmig gelb. Das Schiff schwimmt auf dem Amazonas, ohne daß der Eindruck einer Flußfahrt entsteht – es gleitet am linken Ufer wie an einer Meeresküste den Strom hinauf. Zunächst erscheinen weiße Dünen, über denen Wedel von Kokospalmen winken, dahinter ragen dunkle Laubmauern. Deutlicher wird der Wald auf einer kleinen Insel, auf deren Sandbänken Schilfhütten, ausgespannte Netze und Boote hinter einem Gitter in der Sonne bleichender Mangroven zu erkennen sind. Leider dunkelt es gar zu bald. Im Zwielicht erhaschte ich noch den Umriß eines riesenhaften Fisches, der mit rüsselförmigem Kopfe und pfeilartig zugespitztem Leib als grüner Schemen im Wasser stand.

Beim ersten Anblick solcher Fabelwesen ergreift besonders der Einklang von Erscheinung und Imagination. Das heißt: wir nehmen sie nicht nur als Entdecker, sondern auch als Erfinder wahr. Sie überraschen uns und sind uns doch zugleich im Innersten vertraut als Teile unseres Selbst, das sich im Bilde realisiert. Zuweilen, etwa in manchen Träumen und höchstwahrscheinlich auch in der Todesstunde, ist diese Imagination in uns von ungeheurer Kraft. Das Auge ist aus Bernstein, und die Bilder springen hinzu wie Teilchen, die von ihm elektrisch aufgeladen sind. Mythen entstehen, wo höhere und höchste Wirklichkeiten der Imaginationskraft zugeordnet sind.

An Bord, 5. November 1936

Das Schiff glitt eine der großen Adern des Deltas, den Rio Pará, hinauf und bog dann in andere Wasserstraßen ein. Nachdem es die Siedlung Breves hinter sich gelassen, ankerte es bis zum Morgen auf dem Strom.

Als stärkster Eindruck einer solchen Fahrt, dem alle anderen sich einfügen und unterordnen, drängt sich die riesenhafte Weite auf. Man scheint sich auf Meeresarmen zu bewegen, und in den Wäldern, die ohne Lichtung die Gewässer säumen, entfaltet das Wachstum eine alles bezwingende Gewalt. An manchen Punkten glaube ich das Äußerste an Üppigkeit zu ahnen, das unsere Erdzeit entfalten kann. Wahrscheinlich fügt auch ein tieferes Eindringen diesem Eindruck wenig hinzu.

Das Grün der dichten Laubmassen ist nicht eintönig, sondern vielfach schattiert und abgestuft. Nicht nur der Unterschied der Farben, sondern auch der Formen gibt der Baumwand ihre verwirrende Vielfalt, die jedoch immer vereint, beherrscht wird durch die triebhafte Wucht, die Massenhaftigkeit an sich. Zwischen das Laubwerk sind die Wedel und Fächer der Palmen eingesprengt, deren Stämme silbern aus dem Dunkel aufleuchten. Gleich welken Fahnen hängt unter dem Grün der frischen Sprossen die alte Blattgarnitur. Gelbe und weiße Blütenbüsche beleben die Ränder, dazwischen steht in duftigen, zart violetten Wolken der »Brasilianische Weihnachtsbaum«. Auch strahlen die Kronen riesenhafter Stämme gleich brennend roten Kandelabern, die prächtig die Wälder überhöhen. Im Schlamm des Ufers wuchern hinter dem Gürtel der Wasserpflanzen Dickichte von Aroideen und Philodendren mit speer- und pfeilspitzförmigen oder rippenartig ausgespreizten Blättern, dahinter zierliche Rohrpalmen, dann wehren Vorhänge von Schlingpflanzen den tieferen Einblick ab. Hin und wieder taucht eine niedrige Schilfhütte auf, umringt von Bananenbüschen, Mangobäumen und den zugleich grandios und zierlich zugeschnittenen astlosen Kronen der Papayas – sie gäben gute Feigenblätter für die Blöße schöner Titaninnen. Ihr Umriß kündet verlassene Gärten an, denn schnell ergreift die Wildnis von den Rodungen Besitz.

An Tieren erblickte ich einen großen Reiher und Kormorane, die auf schwimmenden Baumstämmen nach Fischen ausspähten. Im Uferdickicht flatterten weiße Papageien, und in Kolonien von flaschenförmig an hohe Zweige gewobenen Nestern sah man drosselartige Vögel mit leuchtend orangerotem Schwanzgefieder ein- und ausfliegen. Über den Siedlungen kreisten Geier, und am abgestorbenen Ast eines Gummibaums hing eine große, rostbraune Fledermaus.

Während dieses Vorübergleitens malte ich mir ein Dasein aus, das zwischen den Armen und Inseln dieses ungeheuerlichen Deltas zu führen wäre, sei es, daß man als Jäger, Fischer, Gärtner oder einfach als Beobachter des Stromes und seiner gewaltigen Fülle lebendiger Vorgänge sich ansiedelte. Doch würde man es wohl nicht lange treiben; das Wachstum ist zu ungeheuer, als daß man ihm auf die Dauer standhielte. Man würde im reinen Sauerstoff verbrennen und müßte mit einem frühen Tode, mit geistiger und körperlicher Verheerung rechnen, mit einem Schicksal, ähnlich dem Rimbauds.

Das Photographieren und Filmen der Reisegesellschaft an der Reling kulminierte in Augenblicken, in denen das Schiff ganz dicht, fast streifend, am Ufer fuhr. In dieser Spanne, die gänzlich der Vermählung des Auges mit den Dingen gewidmet werden sollte, beschäftigt sich der Mensch mit solcher Schemenfängerei und ihrer Apparatur. Er mechanisiert die Erinnerung.

Übrigens kommt mir an manchen Zeitgenossen die Optik als das eigentlich Wertvolle vor. Der Mensch wird rudimentär, ein Anhang oder bedienendes Organ des herrlichen Apparates, mit dem er ausgerüstet ist. So sah ich bei marinen Tieren große, sehstarke Augen, die ein unscheinbarer, wurmhafter Körper trug.

Zur Form der Blätter und ihres seltsamen Zuschnittes, wie etwa dessen, den Huysmans treffend als »fischkellenförmig« bezeichnete: Diese Aussparungen könnten den Sinn haben, die Sonnenbestrahlung zu vermindern, durch Oberflächenverringerung. Indessen wird diese Aufgabe weit einfacher durch Drehung der Blattflächen gelöst, die sich je nach Bedarf den Strahlen aussetzen, wie im Eukalyptuswald. Hier kommt es wohl eher auf Beschleunigung der Wasserverdunstung an – ähnlich wie wir, um schnell die Hand zu trocknen, sie mit gespreizten Fingern hin und her schwenken. Sollte das stimmen, so müßte diese Bildung die Tropen bevorzugen.

An Bord, 6. November 1936

Frühmorgens, noch bei völliger Dunkelheit, gingen wir bei einer kleinen Siedlung von nur wenigen Hütten an Land. Bei dieser Gelegenheit sah ich zum ersten Mal das Kreuz des Südens und mußte der Meinung der meisten Reisenden, daß dieses Sternbild mit den Konstellationen unseres nördlichen Himmels nicht wetteifern könne, beistimmen. Besonders finden die beiden hohen Lichter des Großen Bären und des Orion nicht ihresgleichen in der gestirnten Welt.

Um sechs Uhr ging die Sonne auf. Es wurde sogleich sehr warm. Ich streifte gerade durch eine Rodung, auf der bereits ein neuer Bewuchs mächtiger Büsche aufgeschossen war. Sobald sie der erste Sonnenstrahl berührte, erscholl, als ob ein unsichtbarer Meister den Taktstock erhoben hätte, ein grelles, vielstimmiges Konzert. Die schrillen Laute überwogen – das Schnarren von Zikaden, der Anschlag heller Glockenklänge, das Schwirren, mit dem die Säge im Holze kreist. Dazu durchschnitten helle, langgedehnte Pfiffe den Morgen, als ob Lokomotiven anführen. Vergebens spähte ich nach den verborgenen Musikanten aus. Merkwürdig war auch, daß der Trubel so plötzlich verstummte, wie er sich erhoben hatte, als ob Gott Helios einen Motor angeworfen hätte, der nun unhörbar weiterlief.

Mein Glücksstern gönnte mir einige schöne Stunden in diesen Wäldern, während deren ich vieles lernte, vieles sah.

An Bord, 7. November 1936

Früh mit dem Tender im Hafen von Pará an Land, begierig nach der Bilderfülle, die ich in dieser äquatorialen Großstadt vermutete.

Am Landeplatz empfingen uns Gruppen von Negern, die Papageien, Schlangen und zierliche Affen feilboten, andere balancierten schwere Schildkröten auf dem Kopf. Besonders führte mich eine kleine, schön gescheckte Katze in Versuchung, doch hielt mich der Gedanke, daß alle diese Tiere sterben müssen, wenn man sie in unseren Winter bringt, vom Kaufe ab. Einer der tiefschwarzen und bis zum Gürtel nackten Gesellen wollte mir für drei Mark eine junge, etwa armlange Riesenschlange aufschwatzen, die er sich spielend über den Körper gleiten ließ. Die Boa schien sich auf der sammetdunklen Haut zu gefallen, an der sie eng, fast saugend, haftete. Gefleckt mit Ringen von blasser Goldfarbe, bot sie auf dieser Unterlage ein Bild ophitischer Harmonie. Übrigens hält man diese Schlangen hier vielfach als Haustiere, als Rattenvertilgerinnen in den Speichern der Kaufleute.

Längs der Strandstraße wurden in Körben Fische feilgeboten, darunter scheibenförmige, mit bunten Augenflecken gezierte Arten, wie man sie bei uns zulande nur hinter den Fenstern geheizter Aquarien sieht. In Mengen war auch ein spannenlanges, molchartiges Wesen ausgestellt, das einen groben, wie aus Eisenschuppen geschmiedeten Flossenpanzer trug. Ein riesiger Wels wurde als »Dorado« bezeichnet, mit einem Namen also, den ich bislang für den der Goldmakrele gehalten hatte; indessen gibt es nichts Ungewisseres als die Namen der Tiere und Pflanzen im Volksmunde.

Was beim Ausweiden auf das Pflaster fiel, wurde im Nu von dunklen Geiern verschlungen, die träge auf den weißen Dächern der Häuser Gruppen bildeten. Es waren Rabengeier – einfarbig schwarze Vögel, die man wie Hühner auf dem Pflaster hüpfen sah, wo sie mit ihren hakigen Schnäbeln den Unrat durchmusterten. Natürlich verfehlte einer meiner Begleiter nicht, sie als »Gesundheitspolizisten« zu bezeichnen, wie das nun einmal der angestammte Titel dieser Tiere in allen Reisebeschreibungen ist. Die Residenzen auf den Dächern waren durch Kotgüsse kräftig gekalkt, daher sah man die Firste der ansehnlicheren Häuser durch Glasscherben oder Büschel von eisernen Spießen gegen den Anflug geschützt. Der Anblick erinnerte mich an die Schilderung des Tempels von Zion durch Flavius Josephus und an die goldenen Speere, mit denen er gegen Verunreinigung durch Vögel gefirstet war.

Ein inneres Hafenbecken dient den Booten, die das Stromsystem befahren, als Markt- und Ankerplatz. Hier sieht man unter bunten Segeln abenteuerlich zerlumpte Gestalten hinter Waren kauern, die jenseits der Zivilisation den großen Wäldern und Wassern abgewonnen sind. Auch werden Fische geröstet und sonderbare Ragouts gekocht. Obwohl stets unbekannter Gerichte begierig, fühlte ich bei ihrem Anblick kein Gelüst sich regen – zu fremd, zu unentzifferbar erschienen mir die Zutaten.

Dann fuhr ich mit der Straßenbahn zum Horto zoologico, der mir gerühmt worden war. Da es mir an kleiner Münze fehlte, machte mir der Schaffner den Fahrschein zum Geschenk, und als ich ihn nicht annehmen wollte, bezahlte ein junger Mann, der neben mir saß. Die Höflichkeit, eine der großen romanischen Tugenden, ist hier zu einer Art Bravour gesteigert, wie überhaupt dem Volke eine Hilfsbereitschaft innewohnt, in der ritterliche und demokratische Züge sich wechselseitig erhöhen.

Der Zoologische Garten von Pará beherbergt vor allem Tiere des Amazonasbeckens, von deren Frische und Lebenskraft man hier allein die rechte Vorstellung gewinnt. Ich sah das an den Pfefferfressern, die mir aus Berliner und Leipziger Volièren in Erinnerung waren: hier schienen alle Farben sich in Flammen umzuwandeln, so daß ich glaubte, ganz unbekannten Geschöpfen gegenüber zu stehen. An diesen Vögeln ist die Verbindung von Zartheit und Leuchtkraft des Gefieders wunderbar. Herrlich war auch ein roter Ibis im lotrechten Mittagslicht.

An diesem Garten war das Besondere, daß das Leben vor den Gittern nicht minder anziehend als das dahinter war. So flogen bunte Vögel und große Schmetterlinge um die Hibiskusblüten, und riesige Zikaden schwirrten von den Zäunen ab. An Mauern und Stämmen huschte ein langes Tier, halb weinrot, halb grün gleich unserer Smaragdeidechse, doch leuchtender, wie mit Brillantstaub bestreut. Die Lebenskraft, das funkelnde Dahinschießen all dieser Geschöpfe hatte etwas Außerordentliches, fast Unbegreifliches.

Zu Mittag ging ich an Bord und sah die Stadt im grellen Lichte wie einen weißen Schemen, von schwarzen Geiern überkreist. Ich legte einen Leinenanzug an und setzte einen Strohhut auf, da ich bemerkt hatte, daß die europäische Kleidung Aufsehen erregt. Insbesondere sind die englischen »Knickerbockers« unmöglich, und unliebsames Aufsehen erregen würde der Tropenhelm. Das liegt einmal daran, daß der Brasilianer Wert darauf legt, nicht in einem wilden Lande zu wohnen, und ferner wohl auch daran, daß sich in dieser Bedeckung ein Rang- oder Kastenabzeichen innerhalb der kolonialen Welt verbirgt.

Der Rigorismus in Anzugsfragen berührt merkwürdig angesichts der zerlumpten Indianer, die man am Hafen und auf den Straßen lungern sieht. Doch muß man bedenken, daß es im Bannkreis des tropischen Überflusses und der Wachstumsanarchie Grade der Vernachlässigung kaum gibt. Die Ordnungskräfte müssen immer angespannt und wachsam sein. Natürlich bietet sich dem flüchtigen Reisenden nur die grobe soziale Oberfläche dar. Doch fiel mir an einer Gruppe von Straßenarbeitern auf, daß diejenigen, die das Werkzeug führten, von der Schwärze des Ebenholzes waren, während ihre Aufseher eine Farbe zeigten, die etwa der eines guten Milchkaffees entsprach. Bedeutend heller war ein Beamter, der für Augenblicke den Stand der Arbeit prüfte, während wahrscheinlich noch hellere in den Büros saßen.

Ich stellte diese Beobachtungen vor einem Café an, dessen Hauptmöbel aus einem riesenhaften, höchst sinnreich konstruierten Eisschrank bestand, der köstliche Früchte und Getränke kühlte – so einen Orangensaft, der aus kindskopfgroßen, sehr süßen Apfelsinen gepreßt wurde. Hier lernte ich die Papaya kennen, eine Baumfrucht von der Größe und ungefähr auch vom Aroma einer Melone, mit Kernen, die wie Kaviarkörner auf das rotgelbe Fleisch gebettet sind. Sie schmecken eigentümlich pfeffrig und sollen die Verdauung fördern, wie der Kellner behauptete. Die Frucht bringt also das Gewürz, mit dem sie genossen wird, und auch ihr eigenes Digestivum mit. Ich dachte bei ihrem Genusse an Lisa van Swieten, der Baudelaire ein kleines Gedicht gewidmet hat.

An Bord, 9. November 1936

Das Schiff scheuchte Massen Fliegender Fische hoch, anscheinend von einer anderen Art als jener, die hinter den Azoren auftauchte. Zuweilen stoben so dichte Schwärme empor, daß sie im grellen Sonnenlicht an Schneegestöber erinnerten und blendeten. Auch sah ich zweimal Quallen vorübertreiben, auf deren irisierend durchsichtige Kuppel violette Rippen aufgetragen waren wie Leisten auf ein gewisses Zuckerwerk, das ich als Kind zu Weihnachten bewunderte.

Zum Frühstück wurden tropische Früchte gereicht, darunter die Laputilha mit fadem, sachariniertem Fleisch. Sie ähnelt einem derbhäutigen Boskopapfel mit wenigen lackschwarzen Kernen vom Umfang einer Türkenbohne, die am Nabel dornförmig ausgezogen sind. Köstlich dagegen ist die Mangopflaume, die einem prächtig goldgelb und violett bemalten Marzipanherzen gleicht, das man mit beiden Händen kaum umschließt. Der Mangobaum, üppig belaubt wie eine große Weide, trägt von diesen Früchten eine schwere Last. Die Haut ist lederartig, leicht abzuziehen, das rötliche Fleisch darunter saftig, derb faserig und vom Geschmacke einer überreifen Aprikose, deren Süße durch einen harzigen Gerbstoff gemildert wird.

Recife, 11. November 1936

Nachmittags lief das Schiff den schönen, durch ein Riff geschützten Hafen von Pernambuco oder Recife an. Der erste Name gilt seit langem für die Provinz und wird für die Stadt nur in Europa angewandt. Er zählt zu denen, die sich wie Batavia oder Guinea ein gewürzhaftes Arom bewahrten, einen Hauch aus großen Zeiten der Kolonisation.

Spät kam ich an Land, die Lichter brannten schon. Die Straßen waren erfüllt von Tausenden von dunklen Herren