Inhaltsverzeichnis


Titel

Ich konnte nicht anders

 Ich

Mein Abschied von mir

Lotte

Ich

Lotte

Ich

Lotte

Ich

Lotte 121

-Kurz und Schmerzvoll- 124

Ich 128

Lotte 132

Ich 136

Lotte 139

Ich 143

Lotte 146

Ich 150

Lotte 153

Ich 158

Lotte 161

Ich 164

Lotte 166

Ich 170

Lotte 173

Ich 177

Lotte 181

Ich 184

Lotte 187

Ich 192

Lotte 195

Ich 199

Lotte 203

Ich 205

Lotte 207

Ich 210

Lotte 214

Lotte & Ich 218

Lotte & Ich 222

Ich 225

Lotte 227

Ich 231

Lotte 234

Ich 238

(Zwei Monate später) 243

Lotte 246


Lotterie auf Sylt

Ben Bertram

Ein Sylt Roman

Besuchen Sie uns im Internet:

www.verlagshaus-el-gato.de

Taschenbuchausgabe

1. Auflage August 2015

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf - auch teilweise - nur mit

Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiß

Bildnachweis: Bild Pärchen
© Depositphotos.com/dimmushka

Bild Wolkenherz
© Depositphotos.com/mihtiander

Satz: Verlagshaus el Gato

Lektorat: Andrea el Gato
Druck: Booksfactory

eISBN: 978-3-943596-84-7

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar


Cat_einzeln


Lotterie

auf Sylt

Ben Bertram

Verlagshaus el Gato

Für meine Eltern,

die mir die Schönheit der Insel Sylt

gezeigt haben.



Für meine Eltern,

die mir die Schönheit der Insel Sylt

gezeigt haben.

Ich konnte nicht anders.

In dem Moment, als mein Herz gegen den Kopf gewann, hatte ich einfach keine Chance, etwas dagegen zu unternehmen. Viel zu lange lebte ich ein Leben, das mir zwar auf eine Art gefiel, andererseits aber auch ein Leben war, dass ich so nicht leben wollte.

Endlich wagte ich den Schritt, den ich schon lange hätte gehen müssen. Dieser Weg faszinierte mich schon eine gefühlte Ewigkeit, doch bisher fehlte mir einfach der Mut, meinem Herzen zu folgen. Mein ganzes Leben lang tat ich das, was andere von mir erwarteten. Ich lebte so, wie meine Eltern es wollten und fühlte mich dabei manchmal wie in einem Gefängnis.

Wie in einem Gefängnis?

Nein, wie in einem goldenen Käfig passte viel besser.

Ich hatte alles, was ich brauchte. Eigentlich sogar noch viel mehr. Egal, was gerade angesagt war oder was ich haben wollte, ich bekam es sprichwörtlich in den Arsch gesteckt.

Über viele Jahre hinweg fand ich es richtig gut. So lebte ich mein Leben, ohne mir auch nur im geringsten darüber Gedanken zu machen.

Mein Beruf war Sohn, und ich genoss es sehr, dorthin zu fahren, wonach mir gerade war. Egal, ob ich nach Kitzbühel zum Skifahren wollte, zur Formel 1 nach Monaco oder ob mir nach einem Tauchurlaub auf den Malediven war.

Ich tat es einfach.

Wie viele Semester ich irgendein blödes Zeug studiert hatte, kann ich gar nicht genau sagen. Zu oft hatte ich abgebrochen, um wieder etwas Neues zu beginnen. Es war schließlich egal, ich war das einzige Kind meiner Eltern und es war vorgesehen, dass ich irgendwann die gut laufende Immobilienverwaltung meines Vaters übernehmen sollte.

Dass ich darauf absolut keine Lust hatte, war meinem Vater völlig egal. Er hatte sein Leben für diese beknackte Firma geopfert, und genau diese Einstellung verlangte er ebenfalls von mir. Es interessierte ihn nicht im Geringsten, ob ich nicht viel lieber etwas anderes gemacht hätte. Leider musste ich aber auch zugeben, dass ich nicht den Arsch in der Hose hatte, es ihm deutlich zu sagen. War es meine Angst vor seiner Reaktion? Wollte ich ihn nicht enttäuschen? Oder war der Grund einfach nur der, dass mir mein derzeitiges Leben als Vaters Sohn doch irgendwie gefiel?

Ich

Mein Vater, machte sich keine Sorgen um mich. Ich sollte mein Leben genießen und zwar so, wie er es selber nie gekonnt hatte. Mein Vater kam aus dem Nichts und baute aus diesem sein Firmenimperium auf.

Erst neulich sagte er zu mir, dass er zur Not einen fähigen Geschäftsführer einstellen könnte, der mir in den ersten Jahren zur Seite stehen würde.

Aber noch war Zeit, mein Vater war siebenundfünfzig Jahre alt und so wie ich ihn kannte, würde er sein Baby wie er seine Firma so gerne nannte, bestimmt auch noch mit achtzig Jahren leiten.

Somit hätte ich noch reichlich Zeit für mein Partyleben gehabt. Doch ich fühlte immer stärker, dass es nicht mein oberstes Ziel im Leben war, viel Geld zu besitzen. Dieses oberflächliche Szene-Party-Leben ging mir gehörig auf den Sack.

Klar war es cool, heute hier und morgen da zu sein. Es gab auch schlimmeres, als zwischendurch mit irgendwelchen geldgeilen Partymäusen in der Falle zu verschwinden.

Trotzdem war ich an einem Punkt angelangt, der mir ganz deutlich zeigte, dass ich etwas ändern musste.

Immer häufiger dachte ich darüber nach, was wohl geworden wäre, wenn ich mit fünfzehn Jahren nicht das gemacht hätte, was mein Vater von mir verlangt hatte.

Vielleicht, wäre ich ein anderer Mensch geworden?

Aber, ich hätte heute vielleicht einen Beruf, der mir Spaß machen würde. Nein, ich wäre keinem Beruf, sondern einer Berufung nachgegangen.

Noch war es nicht zu spät, meinen Träumen nachzujagen. Allerdings wollte ich nicht weiterhin nur davon träumen – nein, ich wollte sie endlich ergreifen.

Sie spüren, halten und nicht wieder loslassen.

Ein Problem blieb.

Wie sollte ich es meinem Vater erklären? Wahrscheinlich würde er mich, wenn ich mein Ding durchziehen wollte, sofort enterben und auf die Liste, der meist gehassten Menschen, ganz oben platzieren.

Andere Väter würden wahrscheinlich fluchen, wenn ihr Sohn an einem Party-Wochenende irre viel Geld ausgab. Meiner nicht.

Ganz im Gegenteil, er drückte mir sogar noch ein paar tausend Euro für neue Klamotten in die Hand. Schließlich sollte ich einen guten Eindruck hinterlassen. Was nicht nur für mich, sondern auch für ihn und seine Firma positiv war.

Dieses Wochenende wollte ich nach Mallorca fliegen. Ein Freund von mir feierte dort seinen dreißigsten Geburtstag, und auf dieser Party durfte ich nun wirklich nicht fehlen. Getreu dem Motto sehen und gesehen werden war es eine Party von Geschäftsleuten, die nebenbei auch noch befreundet waren.

Noch vor einigen Monaten hätte ich mich auf diese Party gefreut. So richtig schön die Sau rauslassen und damit prahlen, was mir später einmal gehören würde. Doch ich merkte immer stärker, dass es nicht mehr meine Welt war und eigentlich wusste ich auch, was ich wirklich wollte.

Doch noch fehlte mir der Mut!

Und nicht nur das. Ich hatte sogar schreckliche Angst etwas falsch zu machen. Konnte ich es tatsächlich schaffen in ein anderes Leben zu starten? Mein jetziges Leben gegen einen Traum von mir austauschen?

Als ich im Flugzeug saß und auf dem Weg nach Mallorca war, versuchte ich mir einzureden, dass es nur eine Phase war. Eine Phase, die auch wieder vorbeigehen würde, und ich schon bald wieder der Christopher sein würde, den mein Vater sich wünschte.

Ja, ich wollte alles versuchen, meinem Vater ein guter Sohn zu bleiben und das zu machen, was er von mir erwartete.

Dass mir dieser Geburtstag jedoch endgültig deutlich machen würde, dass der von meinem Vater für mich vorgesehene Weg nicht mein Weg sein konnte, damit hatte ich nicht im Entferntesten gerechnet.


Mein Abschied von mir

Endlich war ich auf Mallorca angekommen und saß bei sommerlichen Temperaturen vor Toms Finca. Ob Finca der richtige Ausdruck für diesen Prachtbau war? Ich wusste es nicht. Da Tom jedoch immer von seiner Finca sprach, hatte ich diesen Ausdruck, vor vielen Jahren, einfach übernommen. Hier sollte die Party steigen und nach und nach, trafen dann auch die anderen Gäste ein.

Der Catering-Service war dabei, die Tische für das Essensbuffet aufzubauen und auch in der Ecke, in der die Bar aufgebaut war, herrschte bereits ein reges Treiben.

Mein weißes Jackett von Boss hatte ich bereits über einen Stuhl gehängt und war nun dabei mit meiner rechten Hand den Krawattenknoten etwas zu lösen.

Heute kam ich mir zum ersten Mal wie verkleidet vor. Früher hatte es mich nie gestört, wenn ich wie ein Herdentier gestylt auf einer Party gestanden hatte.

Doch heute war es anders.

In meinem weißen Anzug, den weißen Schuhen, dazu weiße Socken und meinem weißen Hemd kam ich mir wirklich lächerlich vor. Die Krönung allerdings war die rote Krawatte, die auffällig wie ein Leuchtturm im Schnee vor meiner Brust hing.

Bei 27 Grad im Anzug, Hemd und Schlips herumzulaufen war an und für sich schon völlig unpassend. Doch Tom hatte, wie immer, einen Dresscode vorgegeben und so durften alle seine Gäste im gleichen Look über die Finca stolzieren.

Wäre Roy Black nicht bereits 1991 gestorben, hätte es mich auch nicht weiter verwundert, wenn er nachher auf die Bühne gekommen wäre, um für uns GANZ IN WEISS zu singen.

Toms Vater war Arzt. Allerdings nicht einfach nur Arzt, sondern Chef einer großen Klinik in München, und so erging es Tom ähnlich wie mir.

Sein Beruf war Sohn.

Mit dem Studieren hatte er allerdings schon längst aufgehört. Er kümmerte sich stattdessen um seine Bar, die sich ebenfalls hier auf Mallorca befand. Natürlich hatte sein Vater die Bar gekauft und auch das Personal wurde von ihm bezahlt. Tom war nur manchmal dort und wenn, dann garantiert nicht, um zu arbeiten.

Die Finca hatte Tom ebenfalls von einem Vater überschrieben bekommen und so lebte er den größten Teil des Jahres auf Malle. Von der Insel ging er nur, wenn irgendwo eine Party angesagt war, bei der er nicht fehlen durfte. Oder, wenn die monatlichen Überweisungen seines Vaters nicht ausreichten, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Dann reiste er für einige Tage nach München, machte dort in den Szeneläden einen auf dicke Hose und flog mit den Taschen voller Geld wieder auf seine Insel zurück.

Die Frage, ob seine Bar gut laufen würde, konnte er seinen Eltern nie korrekt beantworten. Ein Freund kümmerte sich um die Geschäfte, und da Tom jeden Monat einen dicken Betrag von seinem alten Herren aufs Konto überwiesen bekam, interessierte es ihn auch nicht sonderlich.

Die Bar war lediglich ein Spielzeug für ihn, man könnte es auch als seine Schwanzverlängerung bezeichnen, mit der er stolz wie ein Pfau versuchte, Eindruck bei den sogenannten Partyhäschen oder besser gesagt, Partyludern zu erhaschen. Sein Plan ging auf und so war er der unumstrittene Partykönig, der sich ständig mit wechselnden Frauen schmückte. Mir persönlich fiel es manchmal gar nicht auf, wenn er wieder eine neue Blondine an seiner Seite hatte. Alle sahen gleich aus. Sie hatten ausschließlich blond gefärbte Haare, Sonnenbankbräune, aufdringliches Parfüm, prolligen Schmuck und natürlich riesige Brüste.

Die Party schien vielversprechend zu werden. Zwei Tage lang durfte uns der Catering-Service verwöhnen. Wie ich erkennen konnte war das Essen wie immer vom Feinsten. Toms Haushälterin hatte für die Party-Session ebenfalls Verstärkung, in Form von zwei Mädels, bekommen und war bereits ordentlich am Rotieren. Schließlich sollten wir Gäste uns wohlfühlen und uns um nichts kümmern müssen.

Gemeinsam mit zwei anderen Freunden durfte ich auf der Finca wohnen. Selbstverständlich hatte jeder von uns sein eigenes Zimmer. Wobei es die anderen Gäste nicht viel schlechter traf. Sie wurden von Kai-Uwe per Auto abgeholt und auch wieder in ihre Hotels zurück gebracht. Rund um die Uhr musste Kai-Uwe für sie da sein. Wann immer ihnen danach war, konnten sie ihn auf seinem Handy anrufen. Jeden Wunsch musste er ihnen erfüllen.

Wenn jemand mitten in der Nacht Kopfschmerzen bekam, rief er bei Kai-Uwe an und dieser arme Kerl musste dann die Tabletten ins Hotel bringen. Der Weg an die Rezeption wäre, für diese Art von Menschen, wohl zu beschwerlich gewesen. Ganz oft machte ich mir Gedanken darüber, ob die Menschen überhaupt etwas für ihr Verhalten konnten. Sie waren alle in einem goldenen Käfig aufgewachsen und kannten es nur so. Aber, muss man sich mit dreißig Jahren noch immer so verhalten?

Muss man sich überhaupt so aufführen, egal, wie alt man ist?

Kai-Uwe war das Mädchen für alles. Ich schätze, er war bereits über fünfzig Jahre alt und musste damals mit Tom zusammen nach Mallorca gehen. Früher war er im Haus von Toms Eltern das Mädchen für alles. Wobei ich der Meinung war, dass in diesem Fall das Wort Sklave tatsächlich richtiger gewesen wäre. Ob es für ihn hier auf Mallorca nun besser als in München war? Ich vermochte nicht, dies zu beurteilen. Aber immerhin gab es hier nur Tom und nicht die ganze Familie, für die er vierundzwanzig Stunden am Tag zur Stelle sein musste.

Heute hatte Kai-Uwe Stress pur. Er stieg nur aus dem Wagen aus, wenn er irgendwelche, viel zu vollen Koffer durch die Gegend schleppen musste. Ansonsten ging die Fahrt gleich wieder los, um die nächsten Gäste abzuholen oder irgendwohin zu bringen.

Klar, hätten sich die anderen Gäste, genau wie ich es tat, ein Taxi rufen können. Aber, sie machten sich viel lieber einen Spaß daraus, Kai-Uwe schwitzen zu sehen.

Geld hatten alle genug. Komischerweise waren Toms Freunde ausnahmslos gut betucht.

Ob es nur Zufall war, weiß ich nicht. Ich hatte auch Freunde, die wenig Geld besaßen. Da sich Tom aber, im Gegensatz zu mir, nur in noblen Lokalitäten herumtrieb, war es wahrscheinlich gar nicht anders möglich.

Kai-Uwe ein Trinkgeld in die Hand zu stecken, war verboten. Er bekam sein Gehalt von Toms Vater und das musste reichen. Jedes Mal, wenn ich ihm heimlich einen Schein zusteckte, sah er mich verlegen an und lehnte ab. Doch damit kam er bei mir nicht durch und so steckte er den Schein dann doch irgendwann, wenn auch zähneknirschend ganz schnell, in seine Hosentasche. Natürlich nicht, ohne sich vorher einige Male und mit einem fast panischen Blick umzusehen. Ich musste ihm jedes Mal aufs Neue versprechen, dass ich niemanden etwas von unserer kleinen Aktion verraten würde. Ich tat es gerne und er wusste, dass er sich auf mein Wort verlassen konnte.

Als die Sonne dabei war, langsam in das Meer einzutauchen, griff ich mir einen Cocktail und setzte mich auf einen der Liegestühle am Pool. Ich liebte diesen Moment des Tages und genoss es, die Sonne dabei zu beobachten, wie sie ihren Arbeitstag auf unserer Seite des Erdballs beendete. Die Farbenpracht war einmalig und die Stille des Momentes gab die ganze Schönheit unseres Planeten wieder.

In diesen Augenblicken waren meine Gedanken frei und ich sah mich in meinen Träumen dort, wo ich jetzt am liebsten sein würde.

„Irgendwann …“, sagte ich leise zu mir.

Weiter kam ich nicht, da heute nur die Natur still war. Hinter mir dröhnten und hämmerten die Bässe, da die Party dabei war, so richtig in Fahrt zu kommen.

Zwischen den hämmernden Bässen bildete ich mir ein, mitunter ein leises Gitarrenspiel vernehmen. Als ich mir sicher war, mich nicht zu täuschen, trieb die Neugier mich herauszufinden, woher es kam.

Als ich mich umsah, erblickte ich eine Frau, die auf der anderen Seite des Pools ebenfalls auf einem Liegestuhl Platz genommen hatte und leise vor sich hin spielte. An ihrem Outfit konnte ich erkennen, dass sie kein Gast sein konnte, da sie in zerschlissenen Jeans und nur mit einem T-Shirt bekleidet dort saß. Obwohl es warm war, trug sie ein Tuch um ihren Hals und ich konnte erkennen, dass sie mindestens ein Tattoo am Arm hatte. Tattoos waren in unseren Kreisen ein absolutes Tabu. Obwohl eine Tätowierung bereits seit einigen Jahren völlig okay und salonfähig war, gab es noch immer viele Menschen, die es anders sahen. Weshalb auf Toms Körper, auf denen seiner Freunde oder auf meinem keins prangte, lag am Einfluss unserer Väter. Sie waren erfolgreich und meinten, dass Tattoos nicht in die Welt der Geschäfte gehörten. Vielleicht war es das letzte Zeichen von uns an unsere Väter. Ein Zeichen, das verdeutlichen sollte: Schau her alter Herr, ich kann jeder Zeit deine dämliche Firma übernehmen.

In diesem Moment hätte ich gerne ein Tattoo gehabt. Warum es so war, konnte ich mir jetzt zwar nicht erklären, dafür war ich mir aber sicher, mir irgendwann eins stechen zu lassen.

Dann brauche ich jetzt nur noch ein Motiv, dachte ich und lachte über mich selbst, da ich mich plötzlich mit einem eigentlichen No-Go Thema beschäftigte. Was für ein Bullshit, dachte ich und ärgerte mich, dass ich das Gesicht der unbekannten Gitarrenspielerin nicht erkennen konnte, da sie nach vorne gebeugt saß und ihre langen, naturblonden Haare meinen Blick auf ihr Gesicht verhinderten.

Spontan ging ich zur Bar und kehrte bereits kurz darauf mit zwei Cocktail Gläsern in den Händen zurück. Nachdem ich mich kurz umgesehen hatte, machte ich mich auf den Weg zu ihrem Liegestuhl. Eine ganze Weile stand ich hinter der Frau und lauschte ihrem Gitarrenspiel. Bisher konnte ich sie nur von hinten sehen, aber allein dieser Anblick war ein totaler Hammer und ich war schwer beeindruckt, was sich nicht nur alleine auf die Musik bezog.

In einer Spielpause, beugte ich mich zu ihr und sprach sie an: „Es hört sich toll an, wie du spielst.“

Sie zuckte zusammen und drehte sich zu mir herum.

„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Hast du aber.“

„Darf ich mich mit einem Getränk bei dir fürs Erschrecken entschuldigen?“

„Nette Idee. Aber ich darf nichts trinken. Ich habe meine Flasche Wasser dabei.“

„Du darfst nichts trinken? Weil du gleich auftreten musst?“

„Ja und nein.“

Ich sah sie an und war von ihrer Schönheit überwältigt. Fast etwas eingeschüchtert sah ich ihr ins Gesicht und merkte, wie meine Augen dabei waren ihren Körper zu fixieren. Schnell versuchte ich meinen Blick wieder auf ihr Gesicht zu richten und blickte in ihre grünen Augen, die über der Augenbraue des linken Auges mit einem coolen Piercing in Ringform verziert waren.

Der Hammer waren ihre Lachfältchen, die lediglich von ihrem Mund übertroffen wurden. Ihre Lippen sahen einfach toll aus. Man konnte bereits durch das bloße Hinschauen erkennen, dass sie weich sein mussten.

Ich glaube, dass ich in meinem ganzen Leben noch niemals eine so natürliche und schöne Frau gesehen hatte.

Ihre Antwort hatte ich selbstverständlich inzwischen vergessen. Ich war einfach hin und weg von dieser Frau. Ihre Ausstrahlung fesselte mich und ich stand einfach nur vor ihr und suchte vergeblich nach den richtigen Worten. Nein, nicht nach den richtigen Worten. Ich suchte überhaupt nach Worten und fand leider keine. Erneut hielt ich ihr einen der Cocktails hin und erst in dem Moment, als sie mich fragend ansah, fiel mir ihre Antwort wieder ein.

„Was bedeutet ja und nein?“

„Ja, ich darf nichts trinken, da ich gleich auftreten muss. Nein, ich darf nichts trinken, weil ich gleich auftreten muss.“

„Kannst du das für einen Blöden übersetzen?“

„Muss ich das? Schließlich gehörst du doch auch zu dieser komischen Schickimicki-Gang.“

„Ja, bitte.“

„Habe ich richtig gehört? Hast du gerade bitte gesagt?“ Ich sah ihr ins Gesicht und wunderte mich über ihr Verhalten. Aber genauso, wie ich mich wunderte, war ich auch fasziniert.

„Hey, was ist los? Sagst du mir nun, was dein Satz bedeutet? Bitte!“

„Ich könnte vor meinem Auftritt schon etwas trinken. Aber ich darf es nicht. Es wurde mir verboten. Getränke und Essen sind ausschließlich für die Gäste gedacht. Wir sind hier nur zur Belustigung für euch Schnösel da.“

„Warum bist du dann hier? Du hättest doch wegbleiben können.“

„Weil ich das Geld brauche. Ich bekomme für diese zwei Tage so viel Geld, dass ich mir die nächsten Wochen keine Sorgen machen muss.“

„Du hättest doch woanders auftreten können.“

„Ich bin vorher noch nie irgendwo aufgetreten.“

Jetzt verstand ich gar nichts mehr und gerade in dem Moment, als ich die nächste Frage stellen wollte, stand Tom neben uns.

„Hatte ich nicht ausdrücklich gesagt, dass du meine Gäste in Ruhe lassen sollst?“

Was ich da aus dem Mund meines Freundes hörte, konnte ich beim besten Willen nicht glauben. Aber ich war mir sicher, dass ich mich nicht verhört hatte.

Gerade, als ich etwas sagen wollte, sprach Tom weiter: „Deine peinlichen Latschen hast du ja auch noch immer an. Hatte ich nicht deutlich genug gesagt, dass ich so etwas nicht dulde. Hier ist keine Veranstaltung für irgendwelche Heckenpenner. Das ist mein dreißigster Geburtstag und der wird mit Stil gefeiert.“

„Tom, du weißt doch, dass ich keine anderen Schuhe dabei habe. Nur meine Chucks und die musste ich vorhin ausziehen.“

„Die waren ja auch dreckig und zerfetzt.“

„Chucks gehören so.“

„Das ist mir egal. Dann trete halt Barfuß auf. Alles ist besser, als diese peinlichen Pennerschuhe von dir. Los jetzt, mach dich fertig. Du bist gleich mit deinem Auftritt dran.“

Sie griff nach ihrer Gitarre und ging.

Ohne sich umzusehen verschwand sie hinter der, eigens für heute, aufgebauten, Bühne. Leider konnte sie somit auch meinen Blick nicht erkennen, der eine Mischung aus Fremdschämen, Entschuldigen und Verknallt sein, war.

Tom legte seinen Arm um meine Schulter und zog mich zur Bar.

„Ich hoffe, sie hat dich nicht belästigt. Diese Art Frauen ist nichts für uns. Wahrscheinlich hat sie nicht mal genug Geld, um sich vernünftige Schuhe zu kaufen. Aber das ist jetzt auch egal. Gitarre spielen kann sie und blasen auch.“

Ich erkannte den riesigen Siegelring mit dem Familienemblem, den Tom am rechten Ringfinger trug ganz genau und ich vermutete, wenn sein Vater diese Aktion mitbekommen hätte, wäre der Siegelring jetzt nicht mehr an diesem Platz. Zunächst hätte der Ring in der Hosentasche von Toms Vater und anschließend im Banktresor seinen neuen Platz gefunden.

Tom lachte noch immer über seinen blöden Spruch, während ich mich dafür schämte, an der Situation von eben beteiligt gewesen zu sein. Auch, wenn ich gar nichts gemacht hatte, fühlte ich mich schlecht. Oder schämte ich mich gerade deshalb, weil ich nichts gemacht hatte?

Ich hätte etwas sagen sollen.

Nein, ich hätte es machen müssen!

Eigentlich hätte Tom es sogar von mir verdient gehabt, ein paar aufs Maul zu bekommen. Aber ich war nicht nur sprachlos, ich war sogar hilflos. Es war, als hätte eben nicht mein Freund Tom, sondern ein Fremder neben mir gestanden.

Ich sah Tom an. Erst in sein Gesicht, in dem ich noch immer erkennen konnte, wie stolz er darauf war, ein Wahnsinns Typ zu sein.

Während Tom mit seinen Fingerspitzen durch seine schwarzen, mit Gel durchtränkten, kurzen Haare fingerte, ging mein Blick an Tom herunter, und ich erkannte plötzlich, was das ganze Wesen von Tom ausmachte.

Während wir alle in einer, bis auf die rote Krawatte komplett weißer Montur auflaufen durften, war Tom in Rot gekleidet.

Tatsächlich trug Tom einen knallroten Anzug von Joop. Ein dazu abgestimmtes rotes Hemd, rote Socken und natürlich auch rote Schuhe.

Um seinen Hals trug er keine Krawatte. Schließlich trugen seine Gäste welche, und so hatte er sich für eine weiße Designer Fliege, ebenfalls von Joop, entschieden.

Allmählich fand ich meine Worte wieder.

„Sag mal Tom, wann ist ihr Auftritt?“

„In einer Stunde.“

„Okay“, mehr sagte ich nicht. Stattdessen ging ich Kai-Uwe suchen.

Ich fand ihn natürlich bei der Arbeit. Schnaufend schleppte er Getränkekisten und war durch seine Körperfülle reichlich nass geschwitzt.

Nachdem er die letzte Kiste verstaut hatte, nahm er sich Zeit für mich und wir liefen zusammen zu seinem Wagen.

„Wo soll es hingehen, Herr von Reichmann?“

„Irgendwohin, wo ich Klamotten kaufen kann und nenne mich nicht Herr von Reichmann. Wie oft habe ich schon gesagt, dass du mich Chris nennen sollst?“

„Sehr oft.“

„Dann halte dich auch daran. Bitte!“

„Ich werde es versuchen.“

Nach fünfzehn Minuten hielt Kai-Uwe an. Ich sprang aus dem Wagen und fand mich vor einem dieser Läden wieder, in denen ich sonst meine Kleidung gekauft hatte. Doch ich wollte jetzt weder einen Anzug, noch irgendwelche völlig überteuerten Label-Klamotten von Joop, Boss oder Lagerfeld kaufen.

„Hier sind wir falsch.“

„Aber sonst kaufen Sie auch immer hier.“

„Du!“

„Nein, ich nicht. Ich kann es mir nicht leisten, in diesen teuren Boutiquen einzukaufen.“

„Das ist mir schon klar. Ich meinte, du sollst nicht Sie, sondern du zu mir sagen.“

„Ach so. Ich hatte mich schon gewundert.“

Nach kurzem Überlegen hatte ich eine Idee.

Kai-Uwe sah mich mit seinen runden und immer fröhlichen Augen zwar reichlich irritiert an, machte aber was ich mir wünschte, und so hielten wir einen Augenblick später wieder vor einem Klamottenladen.

Wir befanden uns in einer Nebenstraße. Ob man tatsächlich Straße zu diesem Holperbelag sagen konnte, war ich mir nicht sicher. Doch die Straße erfüllte ihren, besser gesagt meinen, Zweck. Es gab Geschäfte, in denen ich die Art Kleidung kaufen konnte, die ich in meinen Gedanken bereits trug. Man könnte fast sagen, nach der ich mich sehnte.

Als ich den Wagen verlassen hatte, kam ich mir ziemlich blöde vor. Meine Aufmachung passte wohl nirgends so schlecht hin, wie an diesen Ort.

Ich fühle mich wie ein Schwan unter Spatzen und musste bei diesem Gedanken lachen, da ich doch tatsächlich komplett weiß gekleidet war.

Der Laden war ein Second-Hand-Shop, was sich nicht so schlimm anhörte, wie der Laden in Wirklichkeit aussah.

Die Jalousie hing kaputt über der Eingangstür, die vom häufigen ins Schloss fallen, bereits einige Risse in der Scheibe verzeichnen konnte.

Die große Schaufensterscheibe war von innen mit Zeitungen beklebt. Wahrscheinlich damit die Kleidung, die sich hinter selbiger befand, so vor der Sonne geschützt werden konnte. Mein Blick auf das Datum von einer der Zeitungen verriet mir, dass sie dort bereits elf Jahre hängen musste. Zumindest war sie elf Jahre alt und wenn ich sie mir ansah, konnte ich mir auch gut vorstellen, dass sie bereits über einen solch langen Zeitraum der Sonne ausgesetzt gewesen sein musste.

Ganz sicher lag es an meinem Gesichtsausdruck, dass Kai-Uwe mich achselzuckend ansah und fragte, ob er mich woanders hinfahren sollte. Doch wir blieben, und gemeinsam gingen wir einen kurzen Augenblick später in den Shop hinein.

Es empfing uns ein seltsamer Duft, den aber anscheinend nur ich realisierte. Es war ein muffiger Geruch, der mich an viel zu lange getragene Socken erinnerte.

Die Regale waren voll mit Klamotten, die ich normalerweise nicht mal zum Autowaschen oder für die Gartenarbeit angezogen hätte.

Plötzlich musste ich schmunzeln. Nicht über den Laden, auch nicht über seinen merkwürdig aussehenden Besitzer und schon gar nicht über Kai-Uwe. Ich schmunzelte über meine Gedanken von eben. Noch nie hatte ich ein Auto gewaschen oder in irgendeinem Garten arbeiten müssen. Für solche Arbeiten hatten wir Personal. Aber ich nahm mir vor, es nachzuholen. Ja, ich war mir in diesem Moment sicher, diese beiden Dinge endlich selbst erleben zu wollen, und ich notierte sie mir gedanklich, auf der soeben entstandenen To-do-Liste.

Ich bemerkte sehr wohl, wie der Ladenbesitzer mich musterte, während ich vor den Regalen stand. Aber es war mir egal. Wahrscheinlich erging es ihm genau wie mir. Er wunderte sich über meinen Auftritt in seinem Geschäft.

Allzu oft wird er noch nicht jemanden in einem weißen Anzug von Boss in seinem Laden zu Besuch gehabt haben.

Er selbst war dem Wetter und der Umgebung gegenüber angemessen gekleidet. In seiner Dreiviertel Hose und dem kunterbunten Hemd sah er aus, als würde besser an den Strand passen, um dort Obst zu verkaufen.

Mein Plan war es eigentlich gewesen, mir selbst meine neuen Klamotten aus den Regalen zusammenzusuchen. Ich wollte mein neues Outfit sozusagen selbst in die Hand nehmen, war jedoch hoffnungslos überfordert.

Es gab keine sortierten Regale in diesem Geschäft, womit ich nicht die Größen der Kleidung meinte. In den Regalen lagen die unterschiedlichsten Klamotten übereinander. Hosen auf Shirts, Jacken unter Mützen und die Schuhe steckten zwischen den Pullis.

Nein, so sehr ich mich auch bemühte, ich hatte keine Chance.

„Ich brauche eine Jeans“, sagte ich und sah den Verkäufer hilflos an.

Er gab sich alle Mühe, eine passende Hose für mich zu finden und als er stolz eine in meiner Größe gefunden hatte, schüttelte ich den Kopf.

„Die anderen Jeans sind noch verschlissener“, hörte ich ihn in seinem gebrochenen, aber guten Deutsch sagen.

„Bitte zeigen sie mir die anderen Hosen. Je kaputter, desto besser.“

Wie gerne hätte ich seine Gedanken gelesen, als er dabei war, in den Regalen zu wühlen. Er gab sein Bestes und präsentierte mir kurze Zeit später eine Uralt-Jeans von G-Star, die ich strahlend entgegennahm.

Sofort probierte ich die Hose an. Sie war etwas zu lang, passte aber an der Hüfte fast perfekt.

„Jetzt ein T-Shirt“, forderte ich ihn auf und während er sofort mit der Suche begann, zog ich mein Sakko und das Hemd aus.

Die Farbe des T-Shirts wird früher hellblau gewesen sein und der Aufdruck war, so vermutete ich, ein Indianerkopf. Genau zu erkennen war es aber nicht mehr.

Ich sah mich im Spiegel an und musste grinsen. Komischerweise fühlte ich mich aber wohl in meinem neuen Outfit.

„Hast Du auch Schlappen?“ Fragend sah mich der Verkäufer an.

„Badelatschen.“

Er ging nach hinten und kam mit zwei Paaren wieder nach vorne. Ich entschied mich für die Latschen, bei denen zwischen dem großen Onkel und dem Zeh daneben dieser komische Nubsi ist.

Schon war ich fertig gestylt und holte fünfzig Euro aus meiner Brieftasche heraus. Der Mann schüttelte seinen Kopf und sagte, dass er mir keine fünfunddreißig Euro rausgeben könnte. Da ich kein Wechselgeld haben wollte, drückte ich ihm den Schein in die Hand und ging. Kai-Uwe kam hinter mir her, da wir uns beeilen mussten. Schließlich wollte ich den Auftritt meiner wunderschönen Gitarrenspielerin nicht verpassen.

Ich wunderte mich zwar über die Gedanken zu dieser mir unbekannten Frau. Doch empfand ich sie gleichzeitig als sehr beglückend.

Der Motor lief bereits als der Verkäufer mit meinem Anzug, dem Hemd und meinen Schuhen aus dem Laden gelaufen kam und mir die Sachen durch das geöffnete Fenster in die Hand drücken wollte.

Doch ich schüttelte nur mit dem Kopf. Diese Klamotten wollte ich nicht mehr.

Kai-Uwe trat das Gaspedal, endlich konnte unsere Fahrt starten. So dachten wir zumindest, bis der Verkäufer vor den Wagen sprang und uns durch seine Gesten deutlich machte, dass wir noch einen Augenblick warten sollten.

„Aber nur eine Minute“, rief ich und hoffte, dass er mich verstanden hatte. Wie auch immer, nach wenigen Sekunden war er zurück und drückte mir eine kleine Tüte in die Hand.

Dann ging es los, und während ich mich über mich selbst wunderte, konnte ich das Grinsen von Kai-Uwe im Rückspiegel erkennen.

Plötzlich musste ich lachen.

Einmal über mein ungewohntes Outfit und dann darüber, dass ich gerade Klamotten im Wert von einigen tausend Euro verschenkt hatte. Sie waren nagelneu, schließlich hatte ich sie mir extra für heute gekauft. Aber der Ladenbesitzer konnte sie garantiert viel besser gebrauchen als ich.

Leider hatte ich nicht mitbekommen, wohin die Gitarrenspielerin verschwunden war und so machte ich mich auf die Suche nach ihr. Nachdem ich mir ein neues Bier geholt hatte, und mit meinen Augen suchend nach ihr blickte, vernahm ich meinen Namen.

„Christopher, kannst du mir deinen Auftritt erklären?“ Tom kam auf mich zu und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Auf seiner Stirn war deutlich seine Zornesfalte zu erkennen, die sich immer dann bildete, wenn er so richtig geladen war.

„Was sollte diese Peinlichkeit und überhaupt, wie siehst du eigentlich aus? Willst du mich vor meinen Freunden blamieren?“

„Welchen Auftritt meinst du?“

„Dein dämliches Klatschen bei dem Gesang von diesem Straßenmädchen und dann trinkst du auch noch Bier aus der Flasche. Was sollen meine Freunde über dich denken? Was sollen sie über mich denken? Die glauben doch, ich habe irgendwelche Asozialen eingeladen.“

„Freunde? Diese Typen nennst du Freunde? Auf solche Freunde würde ich an deiner Stelle liebend gerne verzichten. Die sind doch nicht deinetwegen hier. Sie wollen feiern und gesehen werden. Vielleicht noch das eine oder andere Geschäft abschließen oder Kontakte knüpfen. Aber du bist denen doch scheißegal.“

Tom sah mich an und seine weit aufgerissenen Augen wurden noch größer. Ich sah förmlich, wie er nach Worten suchte und wie ein Fisch auf dem trocknen nach Luft schnappte, da er keine vernünftigen Worte fand. Stattdessen sagte er: „Dein Aufzug geht gar nicht. Hast du die Einladung nicht gelesen? Dort habe ich eine feste Kleiderordnung vorgeben. Aber du musst sie doch gelesen haben.“ Er legte eine kurze Pause ein, schaute mich konzentriert an und sagte: „Immerhin warst du vorhin noch nach meiner Vorgabe gekleidet.“

„So wie ich rum laufe, ist das absolut o.k. Für eine Party auf Malle sind meine Klamotten total angemessen.“

„Woher hast du den Schrott überhaupt? Wahrscheinlich aus einem Second-Hand-Laden.“ Tom lachte.

„Ja“, mehr antwortete ich nicht und es genügte auch, damit sein blödes Lachen verstummte.

„Christopher, so geht das nicht. Mit diesen Sachen kannst du hier nicht auflaufen.“

„Ja, das sind die richtigen Worte. So geht das nicht. Es geht nämlich gar nicht, wie du dich aufführst. Dein Verhalten der den Musikern gegenüber war unmöglich. Wie kann man sich nur so benehmen? Übrigens, wenn du meinst, dass ich deine illustre Gesellschaft störe, gehe ich wohl besser.“

Ich stellte meine Bierflasche mit einem lauten Knall auf den Tresen und ging, während aus dem Flaschenhals der Schaum sprudelte und über den Tresen lief, an Tom vorbei. Sein verwirrter Blick gefiel mir. Ohne mich umzudrehen, machte ich mich auf den Weg zum Haupthaus, in dem sich mein Zimmer befand.

Mit solchen Menschen wollte ich nichts mehr zu tun haben. Solche oberflächlichen Freunde wollte ich nicht mehr in meinem Leben. Ich konnte darauf verzichten und auf ein solch nichtssagendes Getue sowieso.

Nachdem ich meine Sachen gepackt hatte, machte ich mich nochmals kurz auf die Suche nach der Gitarrenspielerin, konnte sie allerdings nicht finden.

Dafür lief mir Kai-Uwe über den Weg, der mir die Bitte, mich zum Flughafen zu bringen, nicht abschlug.

Ohne mich von Tom und den anderen Vollpfosten zu verabschieden, brausten wir davon. Es war still im Wagen und es war eine Stille, die mich an eine Beerdigung erinnerte. Aber irgendwie konnte ich diese Situation ja auch damit vergleichen, da ich meine Freunde und Bekannten einfach hinter mir ließ. Ich wollte dieses Kapitel beenden oder wie ich gerade dachte, beerdigen, und ich hoffte, dass ich den Mut und genügend Kraft dazu fand.

Reden mochte ich nicht, und Kai-Uwe wusste nicht, was er sagen sollte. Erst, als wir am Flughafen angekommen waren und ich mit meinem kleinen Rollkoffer bereits am Gate stand, kamen wieder Worte über Kai-Uwes Lippen: „Dann werden wir uns wohl nicht wiedersehen?“

„Ja, so wird es wohl sein.“

„Das ist sehr schade. Ich habe Sie sehr gemocht. Sie sind so anders als die anderen.“

„Du!“

„Ich bin anders? Klar bin ich anders. Ich habe kein Geld.“

„Nein, Kai-Uwe. Du sollst nicht Sie zu mir sagen.“ Wir lachten.

Wir nahmen uns in die Arme und ich glaubte zu erkennen, dass Kai-Uwes Augen feucht schimmerten.

„Hey, lass dich nicht ärgern. Wenn es dir hier zu blöd wird, mach einfach etwas anderes. Du musst dich nicht so behandeln lassen.“

„Mir geht es gut. Ich kann nichts anderes.“

„Jeder kann etwas anderes machen. Man kann sein Leben ändern.“

„Du hast gut reden Chris. Aber ich habe keine reichen Eltern.“

Ich sagte nichts. Wahrscheinlich, hatte er recht.

Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, dass genau dieser Satz von Kai-Uwe genau der Satz war, der meine Einstellung zu materiellen Dingen komplett verändert hatte.

Leider schnallte ich das damals noch nicht. Mit meinem heutigen Wissen hätte ich die richtige Antwort für Kai-Uwe parat gehabt und dieses dämliche Schweigen wäre mir erspart geblieben.

Kurz bevor ich durch die Schleuse verschwand, rief mir Kai-Uwe noch etwas hinterher: „Sie heißt, glaube ich, Lotte und ist Straßenmusikerin auf Sylt. Mein Boss hat sie bei seinem letzten Aufenthalt auf der Insel getroffen und für seine Feier engagiert. Sie wollte nicht, aber er hat das dicke Portemonnaie seines Vaters gezückt und da konnte sie nicht nein sagen.“

„Lotte?“

„Ja, ich bin der Meinung, dass der Boss sie Lotte genannt hat.“

„Danke, für den Tipp. Mach es gut, mein Bester.“

„Gerne Chris, ich hoffe, wir sehen uns wieder.“

Dann ging die automatische Schiebetür hinter mir zu. Ich lächelte und das aus mehreren Gründen. Jetzt kannte ich ihren Namen, wusste woher sie kam und fand es immer wieder lustig, wenn Kai-Uwe über seinen Boss sprach. Den Namen Tom, nahm er niemals in den Mund.

Nach Hamburg ging heute kein Flieger mehr.

Obwohl sich Hamburg Weltstadt nannte, und meiner Meinung nach die schönste und tollste Stadt der Welt war, durften nach Mitternacht dort keine Flugzeuge mehr landen. Aber nach Hannover ging noch ein Flieger, der aber vollkommen ausgebucht war. In einer Stunde sollte er abheben und komischerweise bekam ich genau in dem Moment den ersten Platz auf der Warteliste, nachdem ich meine superspezial-Kreditkarte auf den Tresen gelegt hatte.

„Machen Sie sich bitte keine Sorgen Herr von Reichmann. Sie werden auf jeden Fall einen Platz bekommen. Möchten Sie am Fenster sitzen?“, hörte ich die freundliche Dame am Schalter sagen, während sie im Computer die Warteliste bearbeitete und ich meinen Namen ganz oben erspähen konnte.

Da war es wieder. Dieses Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Nein, nur Nachteile hatte es nicht, reich zu sein und Wichtigtuer-Karten zu besitzen.

Auf einem Stuhl in der Wartehalle saß eine Frau, die ihr kleines Kind auf dem Schoß hielt. Beide Köpfe waren zur Seite geknickt, und sie schliefen tief und fest. Nur der Platz neben den beiden war noch frei und so setzte ich mich zu ihnen.

Mit meinem Ellenbogen stieß ich versehentlich gegen den Kopf des kleinen Mädchens und weckte sie auf. Mit ihren müden, aber trotzdem strahlenden Augen, sah sie mich an. Ich grinste und zwinkerte ihr mit dem rechten Auge zu. Zur Belohnung erhielt ich ein Lachen und konnte beobachten, wie sie versuchte, ebenfalls zu zwinkern. Nur mit einem Auge gelang es dem Kind nicht und so tat sie es halt zeitgleich mit beiden Augen zusammen.

Eine ganze Weile spielten wir unser Spiel und erst als die Mama aufwachte, beendeten wir unser Gezwinker.

Mir war nach einem Kaffee und als ich losgehen wollte, um mir einen zu besorgen, sah die Kleine mich an.

„Ich hole mir einen Kaffee. Möchtest du auch etwas trinken?“, fragte ich und hörte ein lautes und freudiges: „Ja.“

„Marie, wir haben kein Geld dafür.“ Die Mama mischte sich ein und da ich auf meine Frage, ob sie auch einen Kaffee wollte, keine Antwort bekam, brachte ich ihr einfach einen mit.

„Bitte. Ich hoffe du magst Apfelschorle?“, fragte ich das kleine Mädchen, als ich ihr die Flasche und einen Strohhalm in die Hände drückte.

„Ja, gerne sogar.“

„Was sagt man, wenn man etwas geschenkt bekommt?“, fragte die Mama.

„Danke schön.“

„Das habe ich gerne gemacht. Hier, der ist für dich. Ich habe Milch und Zucker mitgebracht, da ich nicht wusste, wie du deinen Kaffee trinkst.“

„Nur Milch. Danke schön. Aber ich habe wirklich kein Geld. Gib mir deine Bankverbindung, dann überweise ich es, falls ich es irgendwann mal nach Hannover schaffe.“

„Alles ist gut. Der Kaffee geht auf mich.“ Während meiner Worte überlegte ich, was meine Sitznachbarin mit ihrem Satz wohl meinte.

„Fliegt ihr nicht auch mit dem nächsten Flieger?“

„Schön wär‘s Unser Flieger wäre schon vor sechs Stunden gegangen. Er ist aber ausgefallen und seitdem sitzen wir hier und warten darauf, dass irgendein anderes Flugzeug noch zwei freie Plätze hat. Wahrscheinlich können wir auf dem Flughafen übernachten.“

„Seit sechs Stunden hockt ihr hier und wartet?“

„Nein, seit acht Stunden. Wir mussten ja rechtzeitig hier sein.“

„Ohne Geld?“

„Das letzte Geld haben wir vorhin für etwas Essbares ausgegeben.“

Mir ging durch den Kopf, dass ich gerade angekommen war und nicht mal einen Flug hatte. Trotzdem durfte ich den nächsten Flieger nehmen und alles nur Dank meiner tollen Kreditkarte. Wie ungerecht war das Leben eigentlich?

Mir wurde bewusst, dass ich gerade zwei anderen Menschen einen Platz weggenommen hatte. Bisher hatte ich mir noch nie solche Gedanken gemacht, es war einfach so und ich genoss es. Früher hätte ich beim Gang zum Flieger sogar noch blöd zu den Menschen gegrinst, die weiter auf ihren Stühlen auf das nächste Flugzeug warten mussten. War ich tatsächlich ein solches Arschloch? Ich hoffte, dass ich es nicht war und es einfach daran lag, dass ich es von klein auf so gewöhnt war.

Aber jetzt, in diesem Moment, wo ich mich damit beschäftigte, fand ich es echt Scheiße.

„Kannst du kurz auf meinen Koffer aufpassen?“, fragte ich die beiden und ihre Mama nickte

Ich machte mich auf den Weg zum Bäcker und holte verschiedene belegte Brötchen. Bewaffnet mit einer Brötchentüte ging ich wieder zum Schalter und als ich an der Reihe war, sah ich die immer noch freundliche Dame mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. „Die Frau mit dem Kind da vorne, müssen mit dem nächsten Flieger unbedingt nach Hannover.“

„Der Flug ist leider ausgebucht. Da kann ich nichts machen.“ Mein Blick wurde noch ernster und mit energischen Worten sprach ich weiter: „Mich haben Sie auch reingedrückt. Ich durfte mir sogar aussuchen, ob ich am Fenster sitzen möchte. Also werden Sie nun auch etwas für die junge Frau möglich machen können. Wenn ich dafür meine Kreditkarte zücken muss, mache ich es gerne. Seien Sie sich aber sicher, dass spätestens übermorgen ihr Gesicht auf der Titelseite einer großen Tageszeitung abgebildet sein wird. Die passende Überschrift können Sie sich sicherlich denken. Sollten Sie also nicht in den nächsten fünf Minuten dafür Sorge tragen, dass die Mutter mit ihrem Kind in diesem Flugzeug nach Hannover fliegt, nehme ich mein Handy und rufe meinen Vater an. Sie haben die Wahl, Titelseite oder nicht!“

Als ich wieder an meinem Platz angekommen war, öffnete ich die Tüte und hielt sie der Kleinen vor die Nase.

„Käsebrötchen. Wie geil!“

„Geil, sagt man nicht“, mischte sich die Mama ein und ich verkniff mir den Satz, dass in solchen Augenblicken das Wort geil erlaubt war.

„Das ist aber sehr nett von dir.“

„Habe ich gern gemacht. Übrigens, mein Name ist Chris.“

„Ich bin Sophie. Haben die bei dir auch Stress gemacht?“

„Nein, ich musste nur noch meinen Personalausweis vorzeigen. Das hatte ich vorhin vergessen.“

Wir hatten noch nicht richtig von unseren Brötchen abgebissen, da wurden Sophie und Marie zum Schalter gebeten.

„Viel Glück“, rief ich ihnen hinterher, obwohl es gar nicht nötig war.

Dreißig Minuten später saßen wir gemeinsam im Flugzeug und die Reise nach Hannover begann.